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Das filmreife pralle Leben

leben

Der Mensch hat so seine Bedürfnisse, nicht nur nach Essen und Schlafen, sondern auch nach Aufmerksamkeit und Anerkennung. Der Mensch möchte gesehen werden, und das oftmals nicht nur von seinem direkten Umfeld, sondern von einer größeren Masse an anderen Menschen. Das Konzept des »Berühmtseins« ist faszinierend und selbst kleinen Kindern nicht mehr fremd, wie ich neulich feststellte, als meine Nichte, 7, mich fragte, ob ich denn berühmt sei. Ich konnte getrost verneinen.
Berühmt werden ist aber auch harte Arbeit und fällt einem nicht in den Schoß. Davon ahnt Karl, 13, im neuen Roman von Kathrin Schrocke noch nicht besonders viel. Für ihn ist es – wie vielleicht für manchen Jugendlichen heutzutage – durchaus erstrebenswert auf YouTube ein Star zu werden. Diesen Wunsch hegt Karl, seit ihm sein Opa diese Idee im Traum offenbart hat. Doch über was soll Karl Filmchen drehen? Während er darüber grübelt, grätscht ihm das Leben in all seinen Facetten in die Star-Pläne.

Familienbande

Da ist zum einen Irina, seine Nachbarin, die aber in einen anderen Jungen verknallt ist, was Karl so gar nicht verstehen kann. Dann eröffnet Oma der gesamten Familie, dass sie nun, ein Jahr nach Opas Tod, in ein Mehrgenerationenhaus ziehen will, um nicht zu vereinsamen. Karls Eltern, eine Neurowissenschaftlerin und ein Biologie-Professor, sind entsetzt, dass sie die schöne große Wohnung gegen eine Hippie-WG tauschen will.
Als Opa Karl erneut im Traum erscheint und ihn dieses Mal um Hilfe für Oma bittet, tut sich Karl mit seinen Cousins Master und Desaster zusammen. Gemeinsam organisieren die Jungs heimlich den Umzug von Oma ins Generationenhaus. Dabei lernt Karl die schräge Larissa kennen und verknallt sich in die 17-Jährige.

Ehekrise

Derweil bekommt die Ehe von Karls Eltern einen Knacks, da der neue Chef der Mutter sich scheinbar als äußerst nett herausstellt, und die Mutter nun viel öfter unterwegs ist und abends immer später nach Hause kommt. Die Eltern streiten sich heftig und einigen sich schließlich auf eine Ehe-Pause. Der Vater zieht aus der Wohnung aus … was die Lage für Karl und für Oma nicht gerade entspannt.

Das mit der Liebe im Leben hört nie auf…

Kathrin Schrocke lässt Karl als Ich-Erzähler mit einer gewissen Komik und einem Hauch von Selbstironie von den Irrungen und Wirrungen in der Familie berichten. Das ist zum einen überaus kurzweilig, zum anderen durch den beständigen YouTube-Wunsch von Karl und seinen ersten Verliebtheitsgefühlen dicht an der Realität von 13-jährigen Jungs dran. Gleichzeitig aber vermittelt sie, dass jede Generation ihre Wünsche, Sehnsüchte und Liebesbedürfnisse hat. Fast nebenbei erfährt Karl, dass auch Menschen jenseits der 60 sich noch neu orientieren und lang begangene Weg verlassen können. Das kann eine neue Behausung sein oder aber auch neue Freunde.
Die Beziehung der Eltern ist ebenfalls nicht in Stein gemeißelt. Denn auch eine Ehe ist harte Arbeit, an sich, gemeinsam mit dem Partner, aber auch im Job und in der Familie ganz allgemein.
Karl lernt zudem, dass man in Sachen Liebe manchmal einfach nur fragen muss, um zu einer Verabredung zu kommen. Und dass 17-jährige Mädchen sich eher nicht mit 13-jährigen Jungs einlassen.

Filmreif

Bei dieser lockeren Verflechtung der Schicksale der Figuren in dieser Geschichte habe ich die Verfilmung bereits vor meinem inneren Auge flimmern gesehen. Gespickt mit einem Hauch von gefühlter Tschick-Verpeiltheit drin (ohne Road-Movie und ohne dass ich das gerade genau belegen könnte). Aber es gibt genug absurde Slapstick-Szenen, die von deutschen Jungschauspielern perfekt umgesetzt werden könnten. Die Figuren im Mehrgenerationenhaus bieten die ganze Bandbreite von jungen bis alten Charakterköpfen, die nervtötende basisdemokratische Versammlungen abhalten. Es gibt genug Drama (Polizei, Krankheit), Wendungen und Herzschmerz. Und für jede Generation das richtige Identifikationspotential. Das ist beim Lesen schon ein Spaß und wäre auf der großen Leinwand sicher perfekt.

So geht Inklusion

Das liegt auch an solchen Szenen, bei denen mir das Herz aufgeht. Generationshaus-Bewohnerin Selma, die wegen der Krankheit MS an Krücken geht, bedankt sich bei Karl, dass er Yussuf beim Fliesenverlegen geholfen hat. Sie: »Jetzt ist hier alles endlich wieder behindertengerecht.«
»Wohnen hier auch Behinderte?«, fragte ich verwirrt. Bislang war ich keinem begegnet.«

Genau. So. Soll. Es. Sein. Nonchalant, ohne großes Aufhebens. Menschen mit Behinderung sind ein Teil des Ganzen, ein Teil des Lebens, die weder ausgeschlossen, noch diskriminiert werden sollten, sondern so selbstverständlich dazugehören, dass die Behinderung nicht mal mehr auffällt. Doch so weit sind wir leider noch lange nicht. Aber für diese Szene liebe ich dieses Buch besonders.

Kathrin Schrocke: Immer kommt mir das Leben dazwischen, mixtvision, 2019, 181 Seiten, ab 12, 14 Euro

[Jugendrezension] Voll normal

schrockeIn dem Buch Mein Leben und andere Katastrophen von Kathrin Schrocke geht es um die 13-jährige Barnie, mit richtigem Namen Bernadette, ein eigentlich ganz normales Mädchen, mit dem einen Unterschied, dass sie statt Vater und Mutter zwei Väter hat.

Wie ist das Leben wohl mit zwei Vätern? Im Grunde genommen passiert nichts Ungewöhnliches in ihrem Leben. Barnie ist ein klein wenig verliebt in Sergej, der sie allerdings nicht beachtet, die Schule ist wie immer langweilig und ein neues Handy bekommt sie leider auch nicht.
Doch an einem ganz gewöhnlichen Schultag kündigt ihre Lehrerin der Klasse ein besonderes Projekt an. Die ganze Klasse soll sich, aufgeteilt in zweier Gruppen, jeweils für zwei Wochen um eine Babypuppe kümmern.
Natürlich möchte Barnie dies gemeinsam mit ihrer besten Freundin machen, solange, bis Sergej plötzlich anbietet, die Vaterrolle zu übernehmen. Barnie’s beste Freundin ist total sauer auf Barnie, dennoch nimmt Barnie das Angebot von Sergej an.
Nun kommt Sergej jeden Tag zu Barnie nach Hause, doch bei einem seiner Besuche trifft er auf die beiden Väter. Was daraufhin Blödes passiert, das musst du nun selbst herausfinden…

Ich finde das Buch Mein Leben und andere Katastrophen lustig und spannend, außerdem gibt es ein vollkommen unerwartetes Ende.
Ich empfehle das Buch Mädchen im Alter zwischen 10 und 13 Jahren und hierbei besonders denjenigen, die gern einmal ausprobieren möchten, wie es wäre, ein kleines Baby zu haben…

Bücherwurm (13)

Kathrin Schrocke: Mein Leben und andere Katastrophen, FISCHER Sauerländer, 2015, 
192 Seiten, ab 12, 12,99 Euro

Blind für die anderen

gehörlosDa es diesen Blog erst seit gut eineinhalb Jahren gibt, sind die Hardcover, die vor Herbst 2011 erschienen sind, an mir vorbeigegangen. Gut, dass manche Bücher später noch einmal als Taschenbuch erscheinen. Daher bin ich jetzt wirklich froh, dass ich so doch noch auf Freak City von Kathrin Schrocke gestoßen bin.

Der 15-jährige Ich-Erzähler Mika hat Liebeskummer. Sandra hat ihm nach gerade einmal einem Jahr den Laufpass gegeben, im Schwimmbad. Mitten im Wasser und eigentlich ohne richtige Begründung. Mika hadert fürchterlich und möchte Sandra zurück haben. In diesem Drama läuft ihm Lea über den Weg. Mit ihren wilden Locken, dem Tattoo am Hals und dem Minirock macht sie ihn auf den ersten Blick schon ganz wuschig. So wuschig, dass er überhaupt nicht mitbekommt, dass Lea gehörlos ist. Erst, als er sie im Jugendtreff Freak City wiedersieht, realisiert er ihre Einschränkung. Mika, der nicht gerade zu der Kategorie der Blitzmerker gehört und sich eigentlich für gar nichts richtig interessiert – außer für Sandra – rutscht eher ungewollt und ziemlich spontan in einen Gebärdensprachkurs.

Mehr und mehr lernt er die Welt der Gehörlosen kennen und entwickelt ein Bewusstsein für Menschen mit Behinderungen. Die oberflächliche, rotzige Art seines Kumpels Calimero geht ihm dabei mehr und mehr auf den Keks. Statt mit ihm abzuhängen oder mit dem Vater in die Kletterhalle zu gehen, verabredet Mika sich lieber mit Lea und erkundet die und das Unbekannte, zu dem auch ein Konzert eines gehörlosen Rappers gehört. Als er Lea eines Tages Zuhause überrascht, erlebt er allerdings auch, dass ihre Familie das Mädchen ganz anders wahrnimmt als er.

Als Sandra mitbekommt, dass Mika sich für eine andere interessiert, startet sie einen Wiederversöhnungsversuch …

Mit lockerer, aber nicht anbiedernder Sprache führt Kathrin Schrocke junge Leser in die Welt von Gehörlosen. In Zeiten, in den um Inklusionsschulen gestritten wird, Behinderte aber in einer „normalen“ Gesellschaft kaum sichtbar sind, weil sie auf die eine oder andere Art doch irgendwie „wegorganisiert“ sind, ist die Geschichte von Mika und Lea ein wichtiger Beitrag für Verständnis und Miteinander von Menschen jeglicher Art. Schrocke hat genau recherchiert und bietet einen Einblick in die Welt ohne Geräusche. Und die ist vielfältiger, aber auch tückischer, als ein Hörender oftmals denkt. Auch die verschiedenen Ansätze, wie einzelne Familien mit gehörlosen Kindern umgehen, zeigt die Autorin, ohne zu urteilen: In Leas Familie kann niemand Gebärdensprache, weil Lea nicht „verwöhnt“ werden und sich in der „normalen“ Welt zurechtfinden soll. Bei Leas Freundin Franzi hingegen kommunizieren alle Familienmitglieder mit Gesten und kommen dem gehörlosen Mädchen ganz selbstverständlich entgegen. Welcher Ansatz der sinnvollere ist, muss jeder Leser für sich entscheiden. Schrocke illustriert zudem eindringlich, dass Nicht-Behinderte Menschen mit Einschränkungen – welcher Art auch immer – oftmals für intellektuell zurückgeblieben halten. Gegen dieses Vorurteil kämpft sie mit ihrem Roman auf leichte und mitfühlende Art an.

Freak City ist eine wunderbar herzergreifende Liebesgeschichte zwischen zwei Teenagern und ein wichtiges Plädoyer für eine Gesellschaft, in der auch die Menschen, die nicht der vermeintlichen Norm und der vermeintlichen Normalität entsprechen, gesehen, gehört, angenommen und vorbehaltlos akzeptiert werden. Das würde sicherlich eine Bereicherung für alle sein.

Kathrin Schrocke: Freak City, Carlsen Taschenbücher, 2013, 240 Seiten, ab 12, 6,99 Euro