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Botschaft der Freiheit

gritt poppe abgehauenNeulich gab es im Fernsehen mal wieder eine dieser Umfragen, mit der das vermeintliche Unwissen der Bevölkerung dokumentiert werden sollte. Dieses Mal: Was wissen die Jugendlichen vom Fall der Mauer, der Wiedervereinigung und den Geschehnissen in der DDR vor 23 Jahren? Nicht viel, wie die zusammengeschnittenen Film-Schnippsel propagieren sollten. Darüber kann man sich natürlich sofort aufregen und die scheinbar mangelnde Qualität des Geschichtsunterrichts in den Schulen anprangern – oder aber die perfiden Mittel der TV-Macher, die mit Zuspitzung und Auslassung arbeiten. Bleibt die Frage, wie man geschichtliche Ereignisse und vergangenen Lebensverhältnisse so vermittelt, dass sie auch bei denen im Bewusstsein bleiben, die sie nicht selbst miterlebt haben.

Im Fall der Wendezeit und dem zum Teil schwierigen Leben der Jugendlichen in der DDR bieten die Romane Weggesperrt und Abgehauen von Grit Poppe eine alternative Möglichkeit der Geschichtsvermittlung. Hatte die Autorin, die in der DDR geboren und aufgewachsen ist, bereits 2009 in Weggesperrt die Geschichte von Anja erzählt, die im Jugendwerkhof Torgau zu einer sozialistisch angepassten Genossin geformt werden sollte, so hat sie nun die Fortsetzung dazu geliefert.

In Abgehauen schildert sie das Schicksal der 16-jährigen Gonzo, der besten Freundin von Anja. Das Mädchen ist ebenfalls in Torgau inhaftiert. Sie wird von den Aufsehern schikaniert, psychisch und physisch gequält, in der Dunkelzelle tagelang mit Isolierhaft bestraft. Erst als Gonzo sich selbst so stark verletzt, dass sie ins Krankenhaus gebracht wird, gelingt ihr die Flucht. Orientierungslos irrt sie durch das Land – auch der Leser erfährt nie, wo sie sich genau aufhält – und trifft in einem Kleingarten schließlich René. Der Junge, der zu seinem Vater in der Bundesrepublik will, hat einen Plan und nutzt den Stimmungswandel im Land. Zusammen schlagen sich die Jugendlichen nach Prag durch, um in der westdeutschen Botschaft Zuflucht zu suchen.

Zunächst müssen sich die beiden in der tschechischen Hauptstadt durchfragen, bevor sie  schließlich auf der Kleinseite zum Palais Lobkowitz gelangen. Zusammen mit anderen Flüchtlingen klettern sie über den Zaun auf der Rückseite des Gebäudes und befinden sich nun offiziell auf dem Gebiet der Bundesrepublik. Doch Gonzo, deren Seele durch die unfassbaren Erlebnisse im Jugendwerkhof Torgau Schaden genommen hat, traut dem Ganzen nicht. Immer wieder piesackt ihr innerer Punk sie mit Selbstzweifeln und der Skepsis gegenüber ihrer Umwelt. So traut sie weder den anderen Flüchtlingen noch René und auch den möglichen Veränderungen nicht.

Die Zustände in der Botschaft werden immer unerträglicher. Immer mehr Menschen flüchten auf das Gelände, die Schlafplätze werden knapp, der Botschafter selbst gräbt Zierbüsche aus, um Platz für die Flüchtenden zu schaffen, für Toilettengänge und Essensausgabe müssen die Menschen stundenlang anstehen. Gonzo bewegt sich in dieser Masse wie eine Außerirdische, vom ständigen Zweifel und dem Punk in ihrem Kopf gepeinigt. Als endlich am 30. September 1989 Hans-Dietrich Genscher auf den Balkon der Botschaft tritt und den berühmtesten Halbsatz der Geschichte spricht, keimt die erste richtige Hoffnung bei Gonzo auf …

Über die Zustände in der deutschen Botschaft in Prag habe ich so bis jetzt noch nirgendwo gelesen (vielleicht ist mir da was entgangen, dann bitte ich um Aufklärung). Die Fernsehbilder von Herrn Genscher auf dem Balkon kenne ich natürlich und irgendwie treiben sie mir jedes Mal wieder Tränen in die Augen – und genau diesen Effekt hatte nun auch die entsprechende Szene im Buch auf mich. Man ist ganz nah dran am Geschehen, wird scheinbar Teil der deutschen Geschichte, leidet und freut sich mit der Heldin. Genau das ist die Art von Geschichtsdarstellung, die sich unvergesslich ins Hirn der Leser einbrennt, denn die Kombination von Fakten und Gefühlen macht es einem leicht, Geschehnisse nachzuempfinden und somit auch zu behalten. Das ist Grit Poppe hier ausgesprochen gut gelungen. Nach der Lektüre von Abgehauen wird wahrscheinlich kein Jugendlicher mehr sagen, dass er nichts über den Mauerfall und die Deutsche Einheit weiß.

Grit Poppe: Abgehauen, Dressler Verlag, 2012, 334 Seiten, ab 14, 9,95 Euro

Grit Poppe: Weggesperrt, Oetinger Taschenbuch Verlag, 2012,  Ausgezeichnet mit dem Gustav-Heinemann-Friedenspreis 2010, 330 Seiten, ab 14, 6,95 Euro

Verratene Kindheit

Gerade habe ich ein „Kinderbuch“ der anderen Art zu Ende gelesen und bin noch ganz berührt. Das Sachbuch Stasi-Kinder von Ruth Hoffmann befasst sich mit einem der dunklen Kapitel der DDR-Geschichte.

23 Jahre nach dem Fall der Mauer hat die Autorin die Familiengeschichten von 13 Menschen aufgezeichnet, deren Eltern hauptamtlich bei der Stasi tätig waren. Was sich im ersten Moment vielleicht völlig unspektakulär anhört, entpuppt sich beim Lesen als reinster psychologischer Horror. Denn die Zugehörigkeit der Väter zum Überwachungsapparat der Deutschen Demokratischen Republik wirkte sich auch unmittelbar auf das Klima in den Familien aus. Gehorsam war oberste Pflicht, systemkonformes Benehmen eine Grundvoraussetzung. Kritik an den bestehenden Verhältnissen durfte auf gar keinen Fall geübt und unbequeme Fragen schon gar nicht gestellt werden. Taten die Kinder und Heranwachsenden dann doch, was in ihrem Alter nur natürlich ist und zu einer selbstbewussten Entwicklung gehört – also kritisch hinterfragen, sich auflehnen, den eigenen Weg suchen – konnte es sein, dass die Väter ihren Dienstherren davon berichteten und Sohn und Tochter verrieten. Was sich heute ungeheuerlich anhört, war bei den hauptamtlichen Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit anscheinend üblich, hatten sie sich doch eidesstattlich zu absoluter Treue verpflichtet. Die leidtragenden waren zumeist die Kinder, die sich nicht gegen das wehren konnten, was nicht zu durchblicken und zu verstehen war. Und die im schlimmsten Fall ins Gefängnis gesteckt wurden.

Die Geschichten von Frank, Vera, Pierre, Edina oder Martin gehen ans Herz, lösen Unbehagen und gleichzeitig ein immenses Mitgefühl aus. Denn die heute Erwachsenen kämpfen zum Teil immer noch mit den Folgen dieser überwachten und schockierenden Kindheit. Manche konnten Vergangenes aufarbeiten, die Eltern befragen, sich im besten Fall mit ihnen aussöhnen, anderen ist dieser Trost verwehrt geblieben, sei es, weil die Eltern sich von den Kindern losgesagt haben, weil sie beharrlich schweigen oder weil sie verstorben sind, bevor es zur klärenden Aussprache kommen konnte.

Ruth Hoffmann gelingt es fabelhaft die Gefühlslagen der Kinder in den 70er und 80er Jahren in Worte zu fassen. Der Leser spürt förmlich am eigenen Leib die Eiseskälte, die Härte und das Misstrauen, die in diesen Familien geherrscht haben. Gleichzeitig schafft die Autorin so plastische Bilder, dass auch die Orte, hauptsächlich die trostlosen grauen Plattenbau-Viertel Ost-Berlins, vor dem inneren Auge des Lesers sichtbar werden, in denen aber Häkeldeckchen Heimeligkeit verbreiten und die man auf einem knallroten Dreirad ziemlich gut erkunden kann. So fern die DDR mittlerweile ist, so gegenwärtig ersteht sie auf diesen Seiten wieder auf.

Die Berichte der Kinder wechseln mit Exkursen, in denen die Autorin die Struktur des MfS, das Selbstverständnis der Mitarbeiter, die Disziplin und das Funktionieren dieses Überwachungsungetüm umreißt und erklärt. So fügen sich die Texte zu einer Facette eines Psychogramms zusammen, dem Psychogramm eines ganzen Staates. Manches des untergegangenen sozialistischen Staates versteht man als Westdeutscher nach der Lektüre besser, anderes bleibt einfach nur unfassbar.

Der Aufarbeitung der DDR-Geschichte fügt die Hamburger Journalistin mit ihrem bewegenden Buch ein wichtiges Puzzleteil hinzu, in dem die schwächsten Bürger der DDR endlich ein Forum bekommen und gehört werden. Man kann nur hoffen und wünschen, dass weitere Stasi-Kinder dadurch den Mut finden, sich zu öffnen und zu erzählen – damit weder sie noch ihre Familien und Kinder weiter an Unausgesprochenem leiden müssen.

Ruth Hoffmann: Stasi-Kinder. Aufwachsen im Überwachungsstaat, Propyläen, 2012, 317 Seiten, 19,99 Euro