[Jugendrezension] Verborgene Erinnerungen

janafreyKassandra Armadillo ist die jugendliche Hauptfigur aus dem Roman Weil du fehlst von Jana Frey. Kassandra ist in den Staaten geboren, zieht aber, seit dem Tod ihres Vaters, mit ihrer Mutter und ihrer hochbegabten kleinen Schwester Oya von einer Stadt in die nächste, da ihre Mutter es nirgendwo lange aushält.

So hat sie schon in einem kleinen Dorf in Rumänien, in Prag, auf der italienischen Insel Stromboli und in Paris gelebt. Als Kassandra siebzehn ist zieht die kleine Familie (inklusive Kater Billyboy) zurück nach Amerika. Dort wird Kassandra mit ihrer Vergangenheit konfrontiert…

Jana Frey hat einen unglaublichen Schreibstil, der sehr eigenwillig ist, an den man sich jedoch schnell gewöhnt und ihn schätzen lernt. Man kann sich zu Beginn gut in Kassandra hineinversetzen und selbst die Randcharaktere haben ausgeprägte Persönlichkeiten. Die Geschichte ist gut durchdacht, obwohl man schon am Anfang ahnt, was passieren wird. Sie wird langsam aufgebaut, wie ein Turm, eine Skulptur, die etwas in ihrem Inneren versteckt. Teilweise droht sie zu zerbrechen und zu zeigen, was sie versteckt. Leider ist es nicht wirklich witzig, abgesehen von ein  paar Stellen die (wahrscheinlich unfreiwillig) komisch sind. Zu Beginn ist die Geschichte sehr spannend, flacht dann aber merklich ab und wird fast langweilig.

Das Familiendrama ist gut überlegt und wirklich interessant geschrieben, aber bei etwa der Hälfte scheint die Autorin diesen Strang der Geschichte leider zu verlieren und verzettelt sich in einem absurden wie unnötigen Handlungsstrang über die Beziehung zwischen Kassandra und ihrem Vertrauenslehrer Mr. Rosen.
Es ist sehr schade das die Geschichte über ihre Familie so unvollkommen im Nichts verläuft und durch eine Liebesgeschichte abgelöst wird, deren trauriges Ende vorherzusehen ist. Das Handeln der Personen wird undurchschaubar und verwirrend und man möchte es eigentlich so machen wie Oya: Wenn es seltsam wird, nach Schweden ziehen und alles vergessen. Auch das Buch.

Dieses Buch ist vor allem etwas für Mädchen und keinesfalls für unter 14-Jährige geeignet.

Emilia (15)

Jana Frey: Weil du fehlst, Fischer KJB, 2013,  224 Seiten, ab 12, 12,99 Euro

Von Feldgrauen und Strickstrümpfen

Nesthäkchen2014 wird das Jahr der Weltkriege. Hundert Jahre ist der Ausbruch des ersten, 75 Jahre der des zweiten Weltkrieges her. Doppelter Grund, sich mit dem Thema Krieg ausführlich zu beschäftigen. Zudem ist es ja nicht so, dass unsere Welt im Frieden lebt.

Nachdem ich vor ein paar Monaten bereits über die Erst-Weltkriegs-Geschichte Feldpost für Pauline geschrieben habe, ist mir nun – mehr oder minder durch Zufall – Else Urys Band Nesthäkchen und der Weltkrieg in die Finger gekommen.
Mit den Nesthäkchen-Büchern bin ich groß geworden, als Kind habe ich sie geliebt, von diesem Band habe ich lange nichts gewusst, ist er auch nicht mehr im Buchhandel erhältlich.
Obwohl ich vor ein paar Jahren in Nesthäkchen wieder hineingelesen habe und mich mit der alten Erzählart und dem antiquierten Erziehungskonzept überhaupt nicht mehr anfreunden konnte, war meine Neugierde auf diesen zehnten Band ungebrochen.

Vielleicht liegt das an meiner Leidenschaft, Quellen, soweit es mir möglich ist, im Original zu lesen. So habe ich das Gefühl, unmittelbarer in die Zeit und die Geschehnisse eintauchen zu können. Bei Nesthäkchen und der Weltkrieg ist das eine Gratwanderung und ein zweifelhaftes Vergnügen, denn das Buch wird zu Recht nicht mehr aufgelegt, ist doch der Patriotismus, der aus jeder Seite tropft, für uns erwachsene Nachgeborene kaum zu ertragen. Da wehen beständig die Fahnen des Deutschen Reichs, die Siege der deutschen „Krieger“ werden bejubelt, feindliche Staaten – England, später Italien – verunglimpft, die polnische Mitschülerin Vera von Nesthäkchen als Feindin und Spionin gebrandmarkt. Das liest sich heute nicht schön und ist in keiner Zeile akzeptabel. Selbst wenn sie ihre Protagonisten wegen überzogenem Patriotismus auch immer mal wieder abmahnt und bestraft. Diese so leis geäußerte Kritik an dem ganzen Kriegsgerummel geht in dem Getöse jedoch fast unter, dass man sie leicht überlesen könnten.

Doch fand ich in der Geschichte um die Kriegsjahre 1914 bis 1916 in Berlin auch Details, die Aha-Momente bei mir auslösten. Das waren die Stellen, in denen Else Ury als getreue Zeitzeugin und Dokumentarin den Kriegsalltag der Frauen und Kinder schildert. Da wurden die Schulen zu Lazaretten umfunktioniert, Rohstoffe wie Kupfer und Wolle gesammelt, Lebensmittel rationiert. Nesthäkchen strickt Strümpfe für die Feldgrauen an der Front, sie steht für die eingeschränkte Butterration an, hilft ärmeren Menschen, erlebt den Tod von Bekannten und sieht sich mit dem Leid der Flüchtlinge aus Ostpreußen konfrontiert. Zudem muss sie 1916 erleben, dass die Sommerzeit eingeführt wird, um Ressourcen zu sparen.
Auch der Wandel in der arbeitenden Gesellschaft geht an dem Mädchen nicht unbemerkt vorbei: Auf einmal arbeiten Frauen als Briefträgerinnen, Schaffnerinnen und Taxichauffeurinnen. Das, was neulich die Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen im Zuge einer Forschungsarbeit über die Darstellung des Krieges im Film festgestellt hat, dass die Kriege des 20. Jahrhunderts den Frauen „gut“ taten, im Sinne, dass sie Arbeit fanden, erkennt man auch bei Ury.
Die Autorin wertet diesen Wandel allerdings nicht, so kann man also nur vermuten, dass sie diesem Faktum durchaus auch etwas Positives abgewinnen konnte. Denn Else Ury, assimilierte Jüdin, die 1943 in Auschwitz-Birkenau ermordet wurde, war geprägt durch die wilhelminische Zeit, erlernte keinen Beruf, weil das damals für Mädchen nicht üblich war – und emanzipierte sich quasi durch ihre Arbeit als Schriftstellerin. So soll sie allein von diesem Nesthäkchen-Band angeblich 300.000 Exemplare verkauft haben. Durch ihre schriftstellerische Arbeit wurde Ury zu einer der erfolgreichsten und bekanntesten Frauen der Weimarer Republik.

Wie gesagt – ich bin hin und hergerissen, wie Nesthäkchen und der Weltkrieg heute gesehen und gewertet werden kann. Anders als historisch-dokumentarisch eigentlich nicht. Ury gibt trotz all ihrer Naivität und dem Patriotismus, der bei den Intellektuellen der damaligen Zeit ja durchaus nicht ungewöhnlich war, immerhin einen authentischen Einblick in die Zeit des ersten Weltkriegs. Dabei ist ihr Text von der eigenen Biografie als Kind einer gutbürgerlichen Familie durchzogen, das spürt man deutlich. Daneben zeigt sie jedoch auch durchaus menschlich und mitfühlend, wie die Kinder weit entfernt von der Front vom Krieg betroffen waren. Dem patriotischen Nesthäkchen stellt sie die Schicksale vom Flüchtlingskind Max, der armen Trude und der Deutsch-Polin Vera entgegen. Und im Laufe der Zeit und der Lektüre werden die Schrecken des Krieges unmittelbarer, sowohl für Nesthäkchen, die aus ihrer heilen Kinderwelt ein kleines Stück vertrieben wird, als auch für den Leser.

Sind die heute noch erhältlichen Nesthäkchen-Bände von jeglichen Hinweisen auf die Historie bereinigt, so lässt sich in diesem Band die Geschichte nicht herausstreichen, ist sie doch der eigentliche Protagonist. In diesem Sinne kann man diese Nesthäkchen-Episode folglich nur als eines lesen: als einen O-Ton aus dem Jahr 1917.

Else Ury: Nesthäkchen und der Weltkrieg, Hoch Verlag, 1917/1924.

Entronnen

kindertransportDie Zeitzeugen, die den zweiten Weltkrieg und vor allem die Judenverfolgung überlebt haben, werden immer weniger. Umso wichtiger ist es, die wenigen, die noch erzählen können, anzuhören. So kann man jetzt die Geschichte der Jüdin Marion Charles nachlesen und zwar in ihrem autobiografischen Roman Ich war ein Glückskind, den Anne Braun souverän ins Deutsche übersetzt hat.

Mit Hilfe von alten Briefen und ihrem Tagebuch erzählt Marion Charles der Schülerin Anna von ihrem Schicksal. Marion wächst in Berlin-Dahlem in einer wohlhabenden Fabrikanten-Familie auf. Die Familie empfindet sich nicht als jüdisch, sondern als durch und durch deutsch. Marions Vater hat im ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft und ist schwer verletzt zurückgekehrt. Das Gebaren der Nazis scheint die Familie zunächst nicht zu betreffen.
Doch mit der Progromnacht vom 9. November 1938 ändert sich alles. Die Familie muss ihre Villa verlassen und in eine kleine Wohnung ziehen. Marion muss sich von Möbeln und Spielzeug trennen. Auch in ihrer alten Schule kann sie nicht mehr bleiben, sie wechselt auf eine rein jüdische Schule. Da die Situation immer bedrohlicher wird, beschließen Marions Eltern, ihre Tochter mit dem Kindertransport nach England in Sicherheit zu bringen.

Marion entkommt den Nazihäschern, bricht aber dennoch in eine ungewisse Zukunft auf. Denn in England wird sie nur scheinbar mit offenen Armen empfangen. Die 12-jährige muss feststellen, dass es den Menschen, die ihr helfen, nicht unbedingt nur um sie geht. So will die erste Frau ihr Image als Wohltäterin in der Gemeinde aufpolieren, die zweite Familie ist auf das Kostgeld angewiesen, das sie für Marions Unterbringung erhält, und in der dritten Station trifft Marion auf eine Antisemitin. Trotz all dieser Widrigkeiten verliert das Mädchen jedoch nie die Hoffnung, ihre Familie wiederzusehen, auch wenn es Jahre dauern soll …

Der Ton in dem Marion Charles ihre Geschichte erzählt ist überaus persönlich und dadurch zutiefst authentisch. Dabei ist sie nicht von Ressentiments oder Hass geprägt, sondern vom Wunsch durchdrungen, gegen das Vergessen zu erzählen. Gebannt verschlingt man dieses Schicksal und sieht so über ein paar strukturelle Schwächen hinweg. So zitiert Charles nämlich anfangs die Briefe der Eltern nicht, und der Leser erfährt nichts von dem bedrohten Leben in Deutschland. Dies ändert sich jedoch im hinteren Teil, so dass eine Ahnung von den Schrecken in Berlin entsteht, aber auch von dem Mut und der Gewitztheit von Marions Mutter, die den Nazis ebenfalls entkommt.

Marion Charles‘ Ich war ein Glückskind ist ein eindrucksvolles Zeugnis einer Facette der Judenverfolgung. Ihre Sehnsucht nach den Eltern berührt. Dafür, dass Marion der Vernichtung entgangen ist, hat sie also durchaus einen Preis gezahlt. Dennoch hält sie sich selbst für ein Glückskind und kehrt später sogar nach Deutschland zurück. An Judith Kerr und Anne Frank kommt Marion Charles zwar nicht heran, doch sie liefert jungen Lesern eine weitere Stimme, die die Geschichte einer jungen Jüdin erzählt, die glücklicherweise überlebt hat. Dass Marion Charles bei all dem nicht verbittert ist, ist wahrscheinlich das Beeindruckendste.

Marion Charles: Ich war ein Glückskind. Mein Weg aus Nazideutschland mit dem Kindertransport, Übersetzung: Anne Braun, cbj, 2013, 224 Seiten, ab 12, 9,99 Euro

Ein Kleinod

PoesieSprache kann bekanntermaßen Bilder erzeugen. Dies natürlich nur im Kopf von Lesern und Zuhörern. Jeder  macht sich so seine ganz eigenen Bilder zu Worten und Texten. Illustratoren bringen diese inneren Bilder dann aufs Papier und oftmals kommen bei ihrer Arbeit mit Sprache ganz besondere Bilder dabei heraus und werden zu einem eigenen Kunstwerk. Wie in Regina Kehns Buch Das literarische Kaleidoskop.

Siebzehn Gedichte und kurze Texte von bekannten Autoren wie James Krüss, Joachim Ringelnatz, Theodor Storm, Rose Ausländer oder Friederike Mayröcker hat Kehn ausgesucht und in Bilder(-Geschichten) verwandelt. Mit dickem Pinselstrich schreibt sie die Texte direkt in ihre aquarellierten Illustrationen hinein oder stempelt sie auf Packpapier. Mit zarten Bleistiftstrichen zaubert sie die graue Stadt am Meer aufs Papier. Die Worte geraten aus den Fugen und vermitteln dem Betrachter und Leser eine Ahnung davon, was Poesie alles kann. Der arme Sauerampfer leidet zwischen den Bahngleisen, die Krähe verschüttet vor Ärger den Kaffee, das Hühnerding im Garten von Herrn Ming offenbart die Absurdität der Liebe.
Alltägliches und Kurioses wechseln sich hier ab und lassen das Herz aufgehen.
Manche Gedichte sind düster – sowohl in Wort, als auch im Bild. Doch genau das macht die Stärke dieser Anthologie aus. Gerade mit diesen nicht immer lieblichen Kunstwerken macht Regina Kehn auch junge Leser und Betrachter neugierig auf Kunst, Poesie und Literatur. Und die Verbindung, die sie eingehen können.

Wer mag, kann die Originaltexte im Anhang in der konservativen Druckversion und vollständig (Paul Zechs „Traum vom Balkon“) noch einmal lesen. Dann kann man versuchen, sich eigene Bilder zu schaffen, doch die faszinierenden Illustrationen von Regina Kehn tauchen wahrscheinlich vielen beständig vor dem inneren Auge auf. Denn ihre Bilder wird man so schnell nicht wieder los – was durchaus kein Nachteil ist.
Vor allem aber begreift der Betrachter und Leser, wie eng Schrift und Bild zusammengehören können. In solchen Glücksfällen gehen sie eine untrennbare Verbindung ein und schaffen etwas Neues, ganz Kostbares. Genau das ist es, was dieses Buch zu einem Kleinod macht, nicht nur für Kinder.

Regina Kehn: Das literarische Kaleidoskop, Fischer KJB, 2013, 224 Seiten, 16,99 Euro

Das überhetzte Rößlein

hesseIm vergangenen Juli verbrachte ich eine wunderschöne Urlaubswoche im Schwarzwald, inklusive Ausflüge nach Calw und Kloster Maulbronn. Da war es fast selbstverständlich, mir mal wieder Hermann Hesses Unterm Rad vorzunehmen. Jetzt bin ich endlich dazu gekommen.

Meine Erinnerung an die Schullektüre von vor ewigen Zeiten war eher düster und nicht gerade mit Wohlgefühl verbunden.  Mit der um Jahrzehnte erweiterten Leseerfahrung fand ich nun jedoch eine ganz andere Geschichte vor mir.
Sicher sie ist immer noch düster, aber meine Fähigkeit zur Empathie sind scheinbar ebenfalls angewachsen. Jedenfalls tat mir Hans Giebenrath einfach nur leid. Eingezwängt zwischen lauter alten Männern, die nur ihre eigene Eitelkeit befriedigen wollen, kann er sich nicht gegen den Druck wehren. Er lernt rund um die Uhr, selbst in den wohlverdienten Ferien büffelt er weiter, nur um im Priesterseminar eine gute Figur zu machen. Ob er da je hin wollte, hat ihn natürlich niemand gefragt. Und er hat sich natürlich nicht gewehrt. Das stand damals nicht zur Debatte.

Seine Gegenwehr ist folglich eine andere, eine passive. Heute erkennen wir darin das Burnout und den schleichenden Übergang in die Depression. Der Freund im Seminar nutzt ihn nur aus, das Mädchen im Dorf treibt ihr Spiel mit ihm, selbst in der Mechaniker-Ausbildung und beim Saufabend mit den Kollegen kann er nicht mithalten. Sein Vater ist enttäuscht von Hansens Scheitern und überfordert von der „Nervenkrankheit“ des Sohnes. Alles keine guten Voraussetzungen, um den schwierigen Übergang von Kindheit ins Erwachsenenleben zu bewältigen. Die Nöte des Jungen erkennt niemand. Sein Gang ins Wasser – freiwillig oder als Unfall – ist folglich nur konsequent.

Vor ein paar Wochen ging die Pressemeldung über die Freizeit der Deutschen durch die Medien. Eine knappe Stunde haben die Jugendlichen heute pro Tag weniger Zeit für sich. Mit Hesses Geschichte im Hinterkopf kommt einem das Schaudern, sind die Kinder und Jugendlichen heute doch schon so rundum in ihrem Alltag durchgetaktet, dass man sich wirklich fragt, wo sie die nötige Zeit zur Entspannung, zum Spielen, zum Ausprobieren finden. Krass und überzogen gesagt, könnte man den Eindruck bekommen, dass hier die nächste Generation an Burnout- und Depressionspatienten großgezogen wird. Nicht nur das Schicksal von Hans Giebenrath führt uns vor Augen, dass mangelnde Freiräume und übertriebener Ehrgeiz von Erziehungsberechtigten ein schlimmes Ende nehmen können. Falls Hesses Unterm Rad immer noch Schullektüre sein sollte, müsste man eigentlich dafür plädieren, nicht die Schüler damit zu quälen, sondern die Geschichte zur Pflichtlektüre für Eltern und Lehrer zu machen. Zum Wohl der Kinder.

Was mich neben dieser Aktualität von Hesses Text aus dem Jahr 1903 fasziniert hat, war die Sprache. Antiquiert zwar, mit altertümlichen Ausdrücken wie „Sacktuch“ und  „Putzpulverhändler“, aber so klar und auf den Punkt gebracht, dass mir ganz wohlig und heimelig dabei geworden ist. Wenn es so etwas wie eine entschleunigende Lektüre gibt, dann habe ich sie bei Hesse wiedergefunden. Was einfach sehr zu empfehlen ist.

Hermann Hesse: Unterm Rad, Suhrkamp, 2012, 260 Seiten, 9 Euro

[Jugendrezension] Der Fluch des Namens

edelherbEdelherb ist der zweite Band einer Trilogie von Gabrielle Zevin. Über den ersten Band Bitterzart habe ich hier bereits eine Rezension geschrieben.

Die Geschichte spielt in New York im Jahre 2083: Schokolade und Kaffee sind verboten. In dieser düsteren Zukunft lebt die 16-jährige Anya Balanchine. Ihre Familie gehört zu den fünf großen Schokoladen-Dynastien und beherrscht den illegalen Schokoladenhandel in New York. Anyas Eltern leben nicht mehr, und sie muss allein für ihre Schwester, ihren Bruder und die Großmutter sorgen. Der erste Band endet damit, dass der Staatsanwalt – der gleichzeitig der Vater ihres Freundes Win ist – Anya unschuldig in die Erziehungsanstalt Liberty einweisen lässt.

Nach einiger Zeit kann Anya aus der Erziehungsanstalt fliehen und sich in Mexiko auf einer Kakaoplantage verstecken. Während sie sich Sorgen um ihre Geschwister und ihren Freund Win in New York macht, lernt sie allerhand über Schokolade. Anya ist eine wahre Balanchine. Ihr wird klar, dass Schokolade ihr Schicksal ist. Doch was soll sie mit dieser Erkenntnis anfangen? Früher als gedacht muss Anya nach New York zurückkehren …

Ich habe Edelherb ebenso wie Bitterzart in kurzer Zeit verschlungen. Der Schreibstil der Autorin fesselt. Die Figuren der Geschichte verändern sich mit der Zeit, und so lernt man nicht nur Einiges über Schokolade, sondern auch über Menschen. Anya wird aufgrund ihres Nachnamens verurteilt. Er ist ein Fluch. Überall ist sie nur die Tochter eines Mafiabosses, sie kann dem Familiengeschäft nicht entfliehen. Deshalb steht Anya vor einer Entscheidung: Soll sie ihre Stellung in der Familie nutzen und das Beste daraus machen? Oder weiter unter ihrer Herkunft leiden? Dabei geht es nicht nur um sie selbst. Ihre Geschwister könnten durch sie in Gefahr geraten.

Auch am Ende des zweiten Bandes ist noch alles offen. Deshalb hoffe ich, dass der dritte Band bald veröffentlicht wird!

Juliane (14)

Gabrielle Zevin: Edelherb, Übersetzung: Andrea Fischer, Fischer FJB, 2013, 528 Seiten, 16,99 Euro

Blutzoll an eine Stadt

BerlinIn diesem Herbst habe ich Berlin nach vier Jahren verlassen. Aus guten Gründen. Dennoch blutet mein Herz. Als Kur gegen Heimweh habe ich mich dieses Mal auf die Graphic Novel Berlinoir von Reinhard Kleist und Tobias Meissner gestürzt. Und wurde in ein kongeniales Spektakel hineingezogen.

Berlinoir wird von Vampiren beherrscht. Die Menschen liefern ihnen das Blut – freiwillig oder gezwungenermaßen. Es regt sich Widerstand, immer wieder werden wirtschaftliche und politische Stützen der Vampir-Gesellschaft von Menschen umgebracht. Die Menschen setzen ihre Hoffnung in den Vampirjäger Niall, der als kommender Anführer die Stadt von der Unterdrückung durch die Untoten befreien könnte. Doch Niall sieht sich nicht als Messias, viel mehr ist er von den Vampiren angewidert, gleichzeitig aber auch angezogen. Er verliebt sich in eine Vampirfrau.
Wenig später treibt dann auch noch ein Mörder sein Unwesen in der Megacity, der eigentlich auch nur ein Vampir sein kann. Um die Vampire zu besiegen bleibt Niall schließlich nur ein Weg – er muss selbst zum Vampir werden …

Die Geschichte von Berlinoir ist durchaus komplexer, als ich sie hier kurz anreiße. Doch den verzwickten Plot muss jeder Leser selbst erkunden. Das, was mich vielmehr fasziniert und letztendlich amüsiert hat, sind die nonchalanten Seitenhiebe auf Berlin-Hype und Gewurschtele in der Stadt. Da wird im Blutroten Rathaus in der Kabinetts-Versammlung über die drei Opern und zwei Tierparks der Stadt geschimpft, die Mahnmalkultur aufs Korn genommen und mit „ruhiger Hand“ regiert. Eingebettet wird diese Politik, die nicht einfach auf irgendeine real-existierende Partei zu übertragen ist, in ein überschäumendes Berlinoir, das die wilden, expressionistischen 20er-Jahre wieder aufleben lässt.
Die Stadtarchitektur gleicht einer Mischung aus Metropolis und Gotham City. Fernsehturm, Dom, Potsdamer Platz verschwinden zwischen Hochhäusern, die man eher in New York erwartet. Auf jeder Seite entdeckt man Berliner Sehenswürdigkeiten, meist gut versteckt, oftmals dem Verfall anheim gegeben. Das Leben findet hauptsächlich nachts statt, da das Sonnenlicht bekanntermaßen eine Bedrohung für Vampire darstellt. Fledermäusen sind so zahlreich wie Ratten. Verschiedene Glaubensgruppen agieren in der Stadt. Und selbst unter den Vampiren gibt es Grabenkämpfe, die zu einer Teilung der Stadt in einen Nord- und einen Südsektor führen.
Die Anspielungen an die Stadtgeschichte von Real-Berlin sind offensichtlich, machen in ihrer überraschenden Art aber immer wieder Laune, da man beständig nach einer Einordnung oder einem Wiedererkennungseffekt sucht. Wahrscheinlich lässt sich das nicht eindeutig machen – jedenfalls ist es mir bei dieser ersten Lektürerunde nicht gleich gelungen und ich habe mit Sicherheit noch eine ganze Menge übersehen. Das macht aber erstmal gar nichts, denn so bleibt für die nächsten Male ein riesiges Potential an Neuentdeckungen und -interpretationen.

Kleists Panels wechseln von kalt-blau-dunkeln Farben zu warm-rot-orange, spiegeln so die tote Welt der Vampire und die noch blutgefüllte der Menschen. Die Figuren, die Kleist in ihnen agieren lässt, gleich denen von George Grosz, erinnern an Nosferatu von Murnau – und sind streckenweise nichts für schwache Nerven. Verbranntes Fleisch auf Schädelknochen, spritzendes Blut, rollende Köpfe und Tod reihen sich in einem fiebrigen Tanz um die Macht aneinander. Eine Stadt sucht einen Mörder. Ein Schreckensregime löst das nächst ab. Die Interpretationsebenen in dieser Graphic Novel sind so zahlreich, dass man das schon eher im wissenschaftlichen Rahmen genauer untersuchen müsste. Für den Normalleser ist auf jeden Fall eine Wonne. Das können einem die fiesen Blutsauger von Berlinoir auf gar keinen Fall vermiesen.

Der Narbenstadt Berlin, die „moderat tribalistischen Provinznachwuchs“ mit „den Ausschweifungen der Großstadtnächte“ anzieht, haben Kleist und Meissner ein düsteres, aber überaus hintersinniges Denkmal gesetzt.

Reinhard Kleist/Tobias O. Meissner: Berlinoir, Carlsen, 2013, 150 Seiten, 24,90 Euro

[Jugendrezension] Kann man Glück stehlen?

bücherdiebinAls ich Die Bücherdiebin von Markus Zusak in einer Buchhandlung entdeckte, las ich zunächst nur den Klappentext und legte das Buch wieder zurück. Doch Liesels Geschichte und das Buch gingen mir nicht mehr aus dem Kopf, und ein paar Tage später ging ich in die Stadt und kaufte es mir. Eine sehr gute Entscheidung, wie ich rückblickend sagen muss! Die Bücherdiebin ist eins von den Büchern, die man gelesen haben sollte.

In dem Roman geht es um Liesel Meminger. Zu Beginn der Geschichte ist sie neun Jahre alt und lebt im Jahr 1939. Da ihr verstorbener Vater Kommunist war, gibt Liesels Mutter sie und ihren kleinen Bruder Werner zu Pflegeeltern, um sie zu schützen. Aber ihr Bruder kommt niemals dort an und verstirbt auf dem Weg. Auf seiner Beerdigung findet Liesel ihr erstes Buch im Schnee. Obwohl sie nicht lesen kann, steckt sie es ein. Ihr Pflegevater bringt ihr das Lesen bei, und Wörter werden zum Einzigen, das Liesel in diesen Tagen Mut und Hoffnung schenkt. Fortan stiehlt sie Bücher und teilt ihre Schätze mit anderen. Im Schutzbunker liest sie den Nachbarn vor. Irgendwann beschließt sie auch, ihre eigene Geschichte aufzuschreiben. Doch das Buch ist nicht aus Liesels Sicht erzählt. Der Erzähler ist der Tod. Seine Wege haben die des jungen Mädchens so oft gekreuzt, dass er sie ins Herz schließt und ihre Geschichte weitererzählt.

Die Idee, die Geschichte aus der Sicht des Todes zu schildern, fand ich sehr originell. Das Buch ist an vielen Stellen lustig, aber auch oft nachdenklich und traurig. Liesel wird älter. Ihr Leben geht durch Höhen und Tiefen, und der Leser leidet mit ihr. Ihre Geschichte hilft, die Handlungen, Ängste und Probleme der Menschen im Dritten Reich besser zu verstehen. Außerdem wird bewusst, welche Macht Worte besitzen. Ich weiß nicht, ob Liesel ohne ihre Bücher – die ihr immer wieder Hoffnung schenkten – überlebt hätte. Liesel übersteht Bombennächte und sieht, wie Juden nach Dachau verschleppt werden. Doch das Buch ist nicht traurig. „Markus Zusak hält mühelos die Waage zwischen Ernst, Angst, Hass und Humor“, so die Jury, die für Die Bücherdiebin den Deutschen Jugendliteraturpreis 2009 verlieh. Dem kann ich mich nur anschließen!

Juliane (14)

Markus Zusak: Die Bücherdiebin, Buch zum Film, ausgezeichnet mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis 2009, Kategorie Preis der Jugendjury und dem Jugendbuchpreis Buxtehuder Bulle 2008. Übersetzung: Alexandra Ernst, Blanvalet, 7. Auflage  2009, 608 Seiten, ab 12, 9,95 Euro

bücherdiebinAb Februar 2014 wird es bei cbj das Buch zum Film geben, der im selben Monat ins Kino kommt.

Markus Zusak: Die Bücherdiebin, Buch zum Film, cbj, 2014, 592 Seiten, ab 12, 9,99 Euro

Reise zu den Wurzeln

ascheEin Mal im Jahr scheine ich ein Buch über Grabschändung und den perfekten Ort für eine Bestattung rezensieren zu können. War es im vergangenen Jahr der Roman von Boris Koch, so ist es nun Anke Webers Regenbogenasche. Vielleicht wird ja eine Tradition daraus…

Auch in Regenbogenasche geht es darum, einem Toten seinen letzten Willen zu erfüllen: Rhinas Vater ist bei einem Unfall gestorben. Seine große Sehnsucht war Namibia, und die fast 15-jährige Rhina setzt sich in den Kopf, seine Asche dorthin zu bringen und an dem schönsten Ort zu verstreuen. Zusammen mit ihrem Schulkameraden Unkas, schmiedet Rhina zunächst den Plan, die Urne unbemerkt auszubuddeln.
Später schließen sich die beiden Jugendlichen einer namibischen Kulturorganisation an, die Reisen in das afrikanische Land organisieren. Mit umgefüllter und eingefärbter Asche machen sich Rhina und Unkas auf nach Namibia.

Für Rhina ist diese Reise jedoch mehr, als nur den toten Vater an seinen Lieblingsort zu bringen. Sie war sieben als ihr Vater starb, seitdem vermisst sie ihn und kann irgendwie kein eigenes Leben beginnen. Unkas, der ihr bei diesem Abenteuer treu zur Seite steht, wird zu ihrem Vertrauten und besten Freund. Und je mehr Rhina über ihren Vater, seine Herkunft und seinen Tod herausfindet, um so mehr wandelt sie sich zu einem freien Mädchen, das ihren eigenen Lebensweg geht und die Liebe kennenlernt.

Anke Weber schafft es auf faszinierende, fesselnde Art und Weise, die Gegensätze von Leben und Tod in einem spannend Road-Roman zu vereinen. Sie macht jugendlichen Lesern deutlich, dass das eigene Leben von dem der Eltern mehr beeinflusst wird, als man so manches Mal meint oder es sich wünscht. Die Schatten der elterlichen Vergangenheit legen sich immer auch auf das Leben der Kinder. Weber erzählt das jedoch mit einer Leichtigkeit und dem exotischen Touch der namibischen Wüste, das man ganz gebannt Rhinas gesetzwidrige Grabschändung akzeptiert, mit ihr liebt, leidet und sich schließlich freut, als sie in Namibia nicht nur ihr Ziel erreicht, sondern auch eine große Überraschung erlebt.

Regenbogenasche variiert das Thema Grabschändung auf eine fast unbeschwerte Art und zeigt, wie wichtig es für Jugendliche ist, über die Herkunft und die Traumata der Eltern aufgeklärt zu werden. Jeder Mensch hat zwar durchaus ein Recht auf Geheimnisse, doch sobald diese sich auf die Nachkommen auswirken, haben diese wiederum ein Recht, sie zu erfahren. Erst dann können Jugendliche sich bewusst entscheiden, wie sie ihren eigenen Lebensweg einschlagen. So wie Rhina, die ihr Glück und ihren inneren Frieden erst findet, als sie das Geheimnis ihres Vaters gelüftet hat und den toten Vater am richtigen Ort weiß. Damit macht sie jugendlichen Lesern Mut, sich den eigenen Familiengeheimnissen zu stellen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Der düstere Tod wandelt sich in diesem Buch zu einer kunterbunten Liebeserklärung an das Leben.

Anke Weber: Regenbogenasche, Ueberreuter, 2013, 256 Seiten,  ab 12, 12,95 Euro

[Jugendrezension] Die Schokoladenmafia

schokoladeBitterzart ist der Auftakt einer Trilogie von Gabrielle Zevin. Der Roman spielt in New York im Jahre 2083: Wasser und Papier sind knapp, Schokolade und Kaffee verboten. In dieser düsteren Zukunftsvision lebt die 16-jährige Anya Balanchine. Ihre Familie gehört zu den fünf großen Schokoladen-Dynastien und beherrscht den illegalen Schokoladenhandel in New York. Anyas Vater, das ehemalige Oberhaupt einer dieser Familien, ist schon lange tot, und Anya muss allein für ihre Schwester, ihren Bruder und die Großmutter sorgen. Deshalb hält sie sich so gut wie möglich aus dem Familiengeschäft heraus. Doch die Ereignisse überschlagen sich, und es stellt sich die Frage: Wird sie sich weiterhin aus dem Schokoladengeschäft heraushalten können, oder wird sie das Erbe ihres Vaters antreten? Hinzu kommt, dass Anyas große Liebe Win der Sohn des Oberstaatsanwalts ist …

Bitterzart ist ein spannender und kurzweiliger Lesespaß. Gabrielle Zevin schreibt anschaulich und schafft es, den Leser ins Geschehen hineinzuziehen und bis zur letzten Seite in Bann zu halten.
Als ich den Klappentext las, fand ich die Idee vom illegalen Schokoladenhandel etwas seltsam. Beim weiteren Lesen erschien mir diese Vorstellung aber gar nicht mehr so weit hergeholt. Gabrielle Zevin hat eine durchaus mögliche Zukunft beschrieben, in der alles zu knapp ist und gespart werden muss.
Die Hauptperson hat aufgrund ihrer Familiengeschichte Einiges durchgemacht, und das hat sie geprägt. Da das Buch in der Ich-Perspektive geschrieben ist, kann man sich gut in Anyas Lage versetzen. Sie steckt in der Zwickmühle, weil sie sich um ihre Familie kümmern muss, die Tochter eines Mafiabosses ist und dennoch den Sohn des Oberstaatsanwalts liebt. Außerdem wird im Verlauf der Geschichte noch nicht klar, ob sie letztendlich ihr Geburtsrecht annimmt und Oberhaupt des Balanchine-Clans wird. Ich bin deshalb gespannt, wie Anya sich entscheidet, und freue mich schon auf die Fortsetzung Edelherb.

Juliane (14)

Gabrielle Zevin: Bitterzart, Übersetzung: Andrea Fischer, Fischer FJB, 2013, 544 Seiten, 16,99 Euro

[Jugendrezension] Heilige Ölsardine

katerWinston – ein Kater in geheimer Mission von Frauke Scheunemann ist ein lustiges, aber auch spannendes Buch, in dem das Leben des Stubenkaters Winston aus Hamburg erzählt wird, der nach einem Gewitter plötzlich im Körper des 12-jährigen Mädchens Kira steckt. Nun muss Winston zum allerersten Mal die heimische Wohnung verlassen und die Welt erkunden. Zusammen mit Kira geht er dann sogar auf Verbrecherjagd …

Die Geschichte ist so lustig zu lesen, weil der Kater Winston immer wieder die Menschen kritisiert. Mal sind sie gut, mal schlecht und mal so mittel.
Manchmal, während ich gelesen habe, musste ich darüber nachdenken, wie es für mich wäre, den ganzen Tag nur drinnen zu sitzen – sterbenslangweilig!
Ich finde das Buch toll, und konnte es gar nicht mehr aus der Hand legen.

Also: Auf jeden Fall empfehlenswert.
Wenn man Sterne geben könnte, würde ich 5/5 Sternen geben. Das Buch ist für 9- bis 12- Jährige. Aber auch für Erwachsene, die gerne Kinderbücher lesen, ist es richtig gut.

Lolotaluzie (10)

Frauke Scheunemann: Winston – Ein Kater in geheimer Mission, Loewe Verlag, 2013, 232 Seiten, 12,95 Euro

Wenn zwei sich streiten, leidet das Kind

nunoTrennungen sind ätzend. Sei es im Guten, wie im Schlechten. Der kleine Nuno in Saskia Hulas Buch Nuno geteilt durch zwei kann ein Lied davon singen. Von nun an muss er jeden Samstag umziehen, von Mama zu Papa, eine Woche später wieder von Papa zu Mama. In den sieben Tagen soll er sich wohlfühlen, sagt sein Papa. Kein Wunder, dass Nuno beim ersten Mal all seine Sachen einpackt, inklusive Ski, Schlauchboot und Kater Vincent.

Doch trotz seiner ganzen Sachen, die er in seinem neuen, leeren Zimmer verteilt, ist die Woche bei Papa nur halb gut. Hier hat er noch kein richtiges Bett, Papa kümmert sich nicht so richtig darum, dass Nuno Hausaufgaben macht, er bringt ihn nicht zum Fußballtraining und hat überhaupt kein Werkzeug, um Bilder aufzuhängen oder die gerissene Saite von Nunos Gitarre zu reparieren.
Auch bei Mama ist die folgende Woche nicht so besonders: Nuno darf am Mittwoch nicht Fußball im Fernsehen schauen, obwohl seine Lieblingsmannschaft spielt, Mama kann ihm nicht den verstauchten Fuß verbinden, sondern macht ein Drama daraus und bringt Nuno ins Krankenhaus.
Schließlich bringt Papas alte Nachbarin, Aloisia zusammen mit ihrer Katze Anandani, Nuno auf andere Gedanken. Sie leiht ihm Hammer und Nägel, er macht ihr dafür die Katzenfutterdosen auf, die sie mit ihren alten Händen nicht mehr schafft, und hilft ihr, die Vorhänge abzunehmen. Die Freundschaft zwischen Jung und Alt bringt Farbe in Nunos Leben und ihm schließlich die Idee, wie der die guten Seiten von beiden Elternteilen in einer Woche unter einen Hut bringen kann.

Liebevoll und einfühlsam zeigt Saskia Hula, wie junge Kinder lernen können, mit der Trennung der Eltern umzugehen. Dass diese Situation für kein Kind schön ist,  bezweifelt sicher niemand, doch dass ein Kind mit ein bisschen Grips und Kreativität das Beste aus der Lage machen kann, findet man in Hulas Erzählung Nuno geteilt durch zwei. Denn was die Eltern sich ausdenken, wenn es um die „Aufteilung“ des Kindes und die „Übergabe“ geht, ist nicht immer optimal. Hula macht Trennungskindern Mut, darüber nachzudenken, welche positiven Seiten jedes Elternteil besitzt – und welche Schwächen. Mit ein bisschen Fantasie lassen sich all diese Facetten dann möglicherweise in ein zweigeteiltes Leben einfügen. So können sich zwar weiterhin zwei streiten, aber der dritte muss dann nicht ganz so viel leiden.

Ergänzt wird die Geschichte von Nuno durch Illustrationen von Eva Muszynski. Die sind so knuffig und treffend, dass man den Blondschopf Nuno sofort ins Herz schließt. Das Vorlesen wird so zu einem bunten Vergnügen, und Leseanfänger können immer wieder mal pausieren und die Bilder erkunden.

Saskia Hula: Nuno geteilt durch zwei, Illustration: Eva Muszynski,  mixtvision, 2013, 96 Seiten,  ab 7, 12,90 Euro

[Jugendrezension] Finger weg!

buchEin Buch, das nach und nach immer mehr Menschen infiziert und die Welt erobern will… Darum geht es in  Dancing Jax – Auftakt von Robin Jarvis. Es ist der erste Teil einer Trilogie.

In einem verlassenen Haus werden viele alte Märchenbücher von dem Okkultisten Austerly Fellows gefunden. Alle Exemplare tragen denselben Titel: Dancing Jax. Jeder, der dieses Buch liest, denkt, dass er ein Teil der Geschichte ist und eine bestimmte Rolle darin spielt.

Die Figuren der Geschichte sind nach einem Kartenspiel aufgebaut. So gibt es z.B. eine Herzdame, eine Pikdame, und den Anführer, König Ismus. Damit ist die Rangfolge der verschiedenen Charaktere, die in einer alten Bunkeranlage leben, klar festgelegt. In dieser Bunkeranlage, die Mooncaster heißt, versammelt Ismus seine Anhänger, die willenlos seine Anweisungen befolgen. Er will immer mehr Menschen und Orte unter seine Kontrolle bringen.
Nur der Lehrer Martin Baxter und der Klavierlehrer Gerald sind scheinbar immun gegen das Buch und wollen dagegen vorgehen. Denn nach und nach versuchen die Infizierten, immer mehr Orte in die Welt des Buches einzuschließen. Vor allem will Martin Baxter seinen Sohn Paul aus den Fängen des Ismus befreien.

Das Buch wird aus zwei Sichten erzählt. Einmal aus der Sicht, der Leute, die bereits das Buch gelesen haben und davon befallen sind. Und einmal aus der Sicht der nicht infizierten Menschen.

Dancing Jax hat mir sehr gut gefallen, und ich kann es nur weiterempfehlen. Schon das Titelbild gefiel mir sofort. Es erinnerte mich an eine Spielkarte. Dahinter steckt eine sehr gute Geschichte, die sehr fantasievoll geschrieben ist. Für jeden, der Spannung mag, ist es genau das Richtige. Ab der Mitte des Buches fiebert man schon richtig mit, weil man nie weiß, wer infiziert ist und wer nicht. An manchen Stellen war es  gruselig, aber ich würde es eher als spannend bezeichnen, denn es fließt kein Blut.
Den zweiten Teil würde ich gerne lesen. Besonders, weil das Buch wahrscheinlich gleich  spannend anfängt. Ich möchte unbedingt wissen, wie es weitergeht und ob Martin Baxter das Buch noch aufhalten kann, bevor es die ganze Welt beherrscht.

Für Jugendliche ab 14 Jahren ist Dancing Jax gut geeignet.

Laura (14)

Robin Jarvis: Dancing Jax – Auftakt, Übersetzung: Nadine Mannchen,  script5, 2012, 542 Seiten, ab 14, 14,95 Euro

Für Märchenerzähler

märchenKinderzimmer ohne Märchenbücher sollte es nicht geben. Gibt es wahrscheinlich auch nicht – hoffe ich zumindest.
Zwei ganz entzückende Märchenvarianten sind jetzt für kleine Menschen ab zwei Jahren herausgekommen: Der Froschkönig und Die Bremer Stadtmusikanten.

Das Besondere an diesen Ausgaben ist, dass sie nur über Bilder erzählt werden. Auf den dicken Pappseiten wechseln sich doppel- oder einseitige Illustrationen ab, manchmal sind auch mehrere Panels wie bei einem Comic auf einer Seite zu sehen. Die Kinder können also schauen und blättern und ganz viele Dinge entdecken. Die „Vorleser“ hingegen müssen sich ins Zeug legen und die Märchen in eigenen Worten erzählen. Das mag zunächst anstrengend wirken, doch hat es auch den Vorteil, dass keine Langeweile aufkommt – sowohl beim Erwachsenen als auch beim Kind – denn jedes Mal kommt beim Erzählen eine etwas andere Variante heraus. Man könnte fast sagen, es schult die Flexibilität von Zuhörer und Vortragendem… was ja heutzutage eine sehr gefragte Eigenschaft ist.

märchenScherz beiseite. Es gibt in den beiden Märchen, wunderschön illustriert von Karen Krings und Christiane Hansen, jede Menge Details zu entdecken, die die Erzählungen beeinflussen werden. Denn je nach Entwicklungsstand des Kindes werden andere Akzente beim Erzählen gesetzt werden müssen. Mal werden es die Erbsen mit den Möhrchen, der Trinkhalm oder die Haarbürste der Prinzessin sein, die die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, oder aber die Musikinstrumente aus der Musikalienhandlung (großartig!) oder der Elchkopf im Räuberhaus, das die Bremer Stadtmusikanten stürmen. Ein Standardvortrag ist somit also nicht zu erwarten.

Mit diesen Büchern kehren die Märchen quasi wieder zu ihrer mündlichen Erzähltradition zurück, aus der die Brüder Grimm sie vor zweihundert Jahren geschöpft haben. Jeder Erzähler bekommt somit die Chance, seine eigenen Ideen wieder einzubringen, die Geschichten zu erweitern, anzupassen, umzuwandeln.
Aber keine Sorge, wer jetzt meint, sich nicht mehr genau an die Märchen erinnern zu können, der findet auf der letzten Seite den Grimm’schen Text abgedruckt. Als Gedächtnisstütze, sozusagen.

Diese ersten beiden Märchen entsprechen in ihrer farblichen Ausstattung gerade dem Trend, Bücher für Jungs (Die Stadtmusikanten) und Bücher für Mädchen (Der Froschkönig) zu machen. Ich bin da hin und her gerissen, denn sicherlich ist so etwas auch sinnvoll, um die Jungs frühzeitig zum Lesen zu bringen und die Zielgruppen besser zu erreichen. Doch sind die Lehren aus den Grimm’schen Märchen eigentlich so universell, dass sie eine Geschlechtertrennung nicht brauchen. Vielleicht gibt es demnächst dann ja die Märchen, die für alle Geschlechter aufgemacht sind. Das würde ich mir jedenfalls wünschen. Meine fast zweijährige Nichte jedenfalls fand Die Bremer Stadtmusikanten irgendwie interessanter…

Jacob Grimm/Wilhelm Grimm:
Mein allererstes Bildermärchen. Der Froschkönig, Illustration: Karen Krings
Mein allererstes Bildermärchen. Die Bremer Stadtmusikanten, Illustration: Christiane Hansen
beide: Fischer KJB, 2013, 20 Seiten, ab 2, 7,99 Euro

Bis ans Ende der Welt

FluchtIn diesen Wochen häufen sich in den seriösen Medien wieder einmal die Berichte über Flüchtlinge aus Afrika, die vor der italienischen Insel Lampedusa Schiffbruch erleiden. Die Glücklicheren unter ihnen schaffen es ans Ufer, viele, zu viele, sind dieser Tage im Mittelmeer ertrunken. Sie ermahnen uns, die wir wohlig, warm und behütet zu Hause sitzen, dass Flucht kein Spaß ist. Niemand flüchtet aus seiner Heimat aus Jux und Dollerei, sondern aus überlebenswichtiger Notwendigkeit.

Auch Deutschland kann auf eine – vielschichtige und komplizierte – Geschichte der Flucht zurückblicken. Erst zwei Generationen liegt es her, dass Juden von hier flüchteten, vertrieben von ihren eigenen Landsleuten. Ein Teil von ihnen nahm ebenfalls den Weg über das Mittelmeer, nur in umgekehrte Richtung, weiter nach Shanghai. Von diesen Menschen erzählt Anne Voorhoeve in ihrem neuen, eindrucksvollen Roman Nanking Road.
Wie schon in ihrem Buch Liverpool Street geht es um die Familie Mangold, die nun in einer anderen Variante des Lebens, die Möglichkeit bekommt auszuwandern.

Mit wenigen Dingen machen sich Ziska und ihre Eltern im Winter 1938 auf den Weg nach Genua, wo sie einen Dampfer besteigen wollen. Onkel Ernst mit Familie bleibt zurück, ebenso Ziskas beste Freundin Bekka. Obwohl die Mangolds gültige Ausreisepapiere haben müssen sie immer wieder mit den Schikanen der Nazis kämpfen, bis sie auf dem Schiff sind. Hatte die 11-jährige Zizka bis dahin geglaubt, dass das Klassendenken ein Ende hat, sobald Deutschland hinter ihnen liegt und sie sich auf dem Schiff befinden, so sieht sie sich auch an Bord mit dauerhaften Vorurteilen und Anfeindungen konfrontiert. Trost bietet da zumindest der zwei Jahre ältere Mischa Konitzer, ebenfalls Jude, der allerdings aus einer reichen Zahnarztfamilie stammt. Gemeinsam durchstehen die Jugendlichen die dreiwöchige Seereise, schmieden Pläne, wo sie sich im Notfall verstecken, und erleben die Ankunft in Shanghai.
In der von den Japanern besetzten Stadt fanden europäische Juden ohne Visum Aufnahme. In Sicherheit waren sie deshalb jedoch noch nicht. Zunächst kommen sie in einer überfüllten Flüchtlingsunterkunft unter, in der Privatsphäre nicht existiert. Ziska erlebt Hunger und Armut, sowohl bei den jüdischen Flüchtlingen, als auch  bei den chinesischen Einheimischen. Mühsam schlagen sich ihre Eltern mit körperlich anstrengenden Jobs durch. Der Vater, der eigentlich Anwalt ist, besserte Kleidungsstücke aus, die Mutter arbeitet als Abwäscherin. Die kleine Familie lebt in zwei winzigen Zimmern ohne Toilette und Küche.
Konitzers hingegen beziehen eine großzügige Altbauwohnung im französischen Sektor und scheinen ihr altes Leben fortführen zu können. Sie helfen den Mangolds, wo sie nur können.
Während all der Zeit versucht Ziska, brieflichen Kontakt zu ihrer besten Freundin Bekka und ihrem Onkel Ernst zu halten. Mit Hilfe eines Engländers, den sie auf dem Schiff kennengelernt hat, schafft sie es, Bekka auf die Liste für die Kinderverschickung nach England zu setzten. Ernst hingegen schlägt sich mit der Transsibirischen Eisenbahn und dem Schiff nach Shanghai durch. Monate später er will seine Frau Ruth, Ziskas Tante, und seine Tochter aus Berlin herausholen. Doch mittlerweile ist der Krieg ausgebrochen.

Anne Voorhoeve, die mich bereits mit Unterland begeisterte, erzählt in Nanking Road eine hochkomplexe Fluchtgeschichte, die enorm viele Aspekte des zweiten Weltkriegs und des Schicksals der Juden thematisiert. Sie verwebt die Plotstränge so geschickt, dass sich alles wie selbstverständlich ergibt und nachvollziehbar bleibt. Ziskas Sicht auf die Geschehnisse und Zustände macht die Absurdität von Judenhass, Klassengesellschaft, Arm und Reich deutlich. Ziska, die aus einer zum evangelischen Glauben konvertierten und eigentlich nicht sehr religiösen Familie stammt, erlebt, wie unterschiedlich jüdische Flüchtlinge auf der Suche nach ihrer Identität und Heimat sind. Für manche ist Shanghai nur eine Zwischenstation auf dem Weg nach Amerika, andere wollen unbedingt nach Palästina. Ziska hingegen fühlt sich auch am Ende der Welt immer noch deutsch.

Neben dem Flüchtlingsschicksal und der Coming-of-Age-Geschichte von Ziska, in der es auch um Freundschaft über Jahre und Entfernungen hinweg geht, schafft Anne Voorhoeve es, die weltweite Dimension des Krieges differenziert zu illustrieren. Sind die Mangolds auch dem Krieg in Europa und dem Holocaust entkommen, so müssen sie in Shanghai den Ausbruch des Pazifischen Krieges miterleben. Die Japaner greifen die USA an, in der Folge wird auch das japanisch besetzte Shanghai bombardiert. In Ziskas Bekanntenkreis gibt es Tote und Verletzte. Flucht wird hier also nicht gleichgesetzt mit Rettung.
In vielen Dingen hat mich Voorhoeves Roman an Judith Kerrs Flucht-Trilogie-Klassiker Als Hitler das rosa Kaninchen stahl erinnert. Voorhoeve führt das Flucht-Genre weiter, und dies auf eine moderne und packend zu lesende Art – und mit sehr viel Respekt und historischem Wissen. Emotional fiebert man mit Ziska und ihrer Familie mit, gleichzeitig lernt man unglaublich viel über eine Facette des zweiten Weltkriegs, die meines Wissens im Jugendbuchbereich noch nicht thematisiert wurde. Diese Erinnerung an die Shanghailänder ist ein wichtiger Beitrag, um jungen Lesern die globale Dimension dieser Katastrophe begreifbar zu machen.

In Bezug auf die Lampedusa-Flüchtlinge könnte sich die deutsche Gesellschaft von diesem Roman eine gehörige Scheibe abschneiden, wenn es um die Aufnahme von Menschen in Not geht. Denn im Gegensatz zum China der 30er und 40er Jahre ist Deutschland ein reiches Land, das durchaus mehr Flüchtlingen Schutz gewähren und ihnen eine Chance auf ein menschenwürdiges Leben ermöglichen könnte.

Anne Voorhoeve: Nanking Road, Ravensburger Buchverlag,  2013, 480 Seiten, ab 14, 16,99 Euro