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Mut zur Lücke

Becker

Zunächst wird es nur angedeutet: Eine handbeschriebene Tafel und Ärger mit dem Imbissbesitzer. Eine nicht wahrgenommene, viel sagende Widmung auf der ersten Seite. Die frotzelnde große Schwester: »Wer liest, ist im Vorteil.« Der ignorierte Klassenchat. Eltern, die sich selten, dieses Mal aber so richtig zoffen.
Erst nach gut einem Drittel taucht die Therapeutin in Anne Beckers Debütroman Die beste Bahn meines Lebens auf. Und man kapiert: Dies ist mehr als ein fabelhaft geschriebener Roman über das erste Verliebtsein. Und der 13-jährige Jan ist nicht nur ein höchst begabter und begeisterter Schwimmer, der mit seinen Eltern, älterer Schwester und Bruder im Kita-Alter ans andere Ende der Stadt gezogen ist.

»Du bist eigentlich zu alt für eine Therapie«

Jan hat LRS. Drei fiese Buchstaben, die für das stehen, womit Jan mehr als sein halbes, junges Leben bereits auf Kriegsfuß steht: Lesen und Rechtschreibung klappt bei ihm nicht. Aneinander gereihte Buchstaben ergeben für ihn keinen Sinn, Worte verschwimmen vor seinen Augen. Und dann sagt ihm die neue Therapeutin gleich in der ersten Stunde: »Du bist eigentlich zu alt für eine Therapie.«
Diese unverblümte Stimme ist ungeheuer erfrischend – und die Stimme der Autorin Anne Becker, die selbst als Förderschullehrerin arbeitet. Weil sie einem die Illusion nimmt, man könnte alles wegtherapieren, es wäre nur eine Frage von Ehrgeiz, Fleiß und Übung und alle Kinder wären gleich.

Chips-Cola-Momente mit dem Nachbarsmädchen

Es kann auch nicht jeder so schnell schwimmen wie Jan, geschweige denn in Rückenlage. Es schafft nicht jeder beim ersten Mal, ein ausgebüxtes Huhn einzufangen und zu beruhigen. Und es hat auch nicht jeder »Chips-Cola«-Momente mit dem Nachbarmädchen, der rothaarigen, sommersprossigen Flo (wie sich dieser Moment gestaltet, wird hier natürlich nicht verraten).
Die Vielseitigkeit macht den Reiz dieser charmant und beschwingt geschriebenen Geschichte aus. Es geht um neue Freunde und erste Liebe. Dazu gehören auch die typischen Missverständnisse, Schüchternheit, Ungeschicklichkeit und Übersprungshandlungen. Es geht um Angst und Mut, um Schwächen und Stärken. Auch Mobbing und die perfidere Form, das Cybermobbing, spielen eine Rolle: Geklaute Fahrradventile, entwendete Lieblingsbücher, spuckefeuchte Papierkügelchen, ungewollte Fotos und Filmaufnahmen.

Gefühle in Torten- und Balkendiagrammen

Das alles ist aber nie Schwarz-Weiß dargestellt, nicht auf Vorhersehbares reduziert: Jans Schwester Nele kann auch nett sein und ihm in peinlichen Situationen zur Seite springen. Der tumbe Fiesling und Konkurrent ist nicht nur böse. Und wenn man zusammen hält, kann man sich wehren. »Linus ist manchmal echt nett, weißt du? Aber das Nettsein hält nie lange an. Deshalb musste ich ihm leider mein Eisschirmchen in die Hand rammen.«
Erzählt wird aus Jans Perspektive. Dazwischen finden sich Seiten aus Flos Tagebuch. Und weil die ein Mathegenie, manchmal auch nerviger, nachrechnender Nerd ist, beschreibt sie ihre Gefühle in Form von Balken- und Tortendiagrammen, Skalen und Vektoren. Das ist schräg, super auf den Punkt gebracht und sehr witzig.

Nur ein Teilaspekt des Lebens

So wie das ganze Buch, das zeigt, dass eine Lese-Rechtschreibstörung echt kein Spaß ist und man diese Beeinträchtigung nicht einfach unter Wasser drücken kann. Aber sie ist nur ein Teilaspekt des Lebens und macht nie den ganzen Menschen aus – außer man lässt sie. »Dein Monster ist wasserscheu«, sagt Jans Therapeutin. Diese Haltung ist die Stärke dieses Debüts, das wahrscheinlich nur vorerst die beste Bahn in Anne Beckers Leben als Schriftstellerin ist. Einziges Manko des Buchs ist, dass betroffene Kinder und Jugendliche Jans Geschichte wahrscheinlich nicht selbst lesen werden. Sie sollten sie sich aber unbedingt vorlesen lassen. Und das grandiose Ende kann wirklich jeder selbst dechiffrieren, die beste Beschreibung eines Kusses: »Sprengt jede Grafik!«

Anne Becker: Die beste Bahn meines Lebens, Beltz & Gelberg, 176 Seiten, ab 11, 12,95 Euro

Leuchtende Traumwelten

träumeDie Novembernächte gehören bekanntlich zu den ungemütlichsten und düstersten, sind sie doch nach dem langen Sommer und dem strahlenden Herbst echt gewöhnungsbedürftig. Vielleicht wird auch deshalb erst einmal Halloween gefeiert, damit das Unbehagen vor diesen Nächten gar nicht erst aufkommen kann.

Die argentinische Autorin und Illustratorin Isol hat ihr ganz eigenes Rezept mit dunklen Nächten entspannt umzugehen: Man stelle ihr Umklappbuch Nachts leuchten alle Träume neben das Bett auf den Nachttisch, lasse vor dem Einschlafen, beim Lesen also, noch etwas Licht auf die Seiten fallen – und genieße dann später im Dunkel die fluoreszierende Magie, die sich entfaltet.

Zwölf Rezepte, also Bilder, hält Isol parat und entführt die Betrachter in Traumwelten. Da öffnen sich verbotene Türen, Meeresbewohner tauchen aus den Tiefen auf, Schmusekätzchen verwandeln sich, langweilige Bücher geben ihre Geheimnisse preis, verborgende Lebensräume werden sichtbar, aus dem Samenkorn erwächst etwas.
Und wer diese Leuchtgebilde auf sich wirken lässt, träumt womöglich etwas ganz Besonderes ins diesen Nächten.

Isols einfache Strichzeichnungen funktionieren auf zwei Ebenen. Tagsüber sieht man die klar umrissene Ausgangssituation und liest pro Seite einen Satz, der die Fantasie bzw. den Traum anregt. Nachts leuchtet dann – erstaunlich lange, wie ich feststellen konnte, als ich irgendwann mal zwischendrin wieder aufwachte – die fluoreszierende Beschichtung und offenbart ihre Geheimnisse. Und selbst, wenn der eine Satz auf der Seite etwas Gruseliges ankündigt, so sind die Auflösungen doch immer so liebenswert, dass kein Betrachter schlimme Alpträume befürchten muss.

Die Gefahr, dass man durch das Leuchten zu lange wach gehalten wird, kann ich nicht bestätigen. Es ist viel mehr ein sanftes Hinübergleiten in den wohltuenden Schlaf. Auf Kleine Schlafverweigerer könnten diese vergänglichen Bilder möglicherweise beruhigend wirken. Die kommenden Novembernächte werden für mich jedenfalls in diesem Jahr zu einem traumhaften Vergnügen.

Isol: Nachts leuchten alle Träume, Übersetzung: Karl Rühmann, Fischer Sauerländer, 2015, 36 Seiten,  ab 4, 15,99 Euro

Alles eine Frage der Geschwindigkeit

schnellerEs ist, glaube ich, unbestreitbar, dass wir in einer Zeit leben, in der in unserer Gesellschaft alles immer schneller gehen muss. Kommunikation per Mail, Chat, SMS in Sekundenschnelle über tausende Kilometer hinweg, schneller Shoppen im Internet, schneller Abi machen in nur acht statt neun Jahren, schneller studieren … die Liste lässt sich sicher noch um so Einiges fortsetzen.

Wie sehr die Geschwindigkeit unser gesamtes Universum prägt, verbildlicht das französische Graphikstudio Cruschiform auf ganz ungewöhnliche und eindrucksvolle Weise. In dem Bilderbuch Schneller?! ordnen sie in orange-gelb-blauen Illustrationen Tiere, Menschen und technische Errungenschaften der jeweiligen Geschwindigkeit zu. Angefangen beim langsamen Seepferdchen, das gerade einmal 300 Meter pro Stunde zurücklegt, über den Mauersegler mit 200 km/h bis hin zur Sternschnuppe, die mit mehr als 100.000 km/h am Himmel verglüht.

Obwohl es nur im „Nachspann“ kurze, erklärende Texte über die dargestellten Objekte gibt, sind die Doppelseiten mit der km/h-Angabe und der Legende links und den Illustrationen rechts überaus informativ – vor allem die, auf denen Technisches  Natürlichem gegenübergestellt wird. Da kommt zum bloßen Lernen, dass ein Schnellzug mit 350 km/h genauso schnell wie ein Formel-1-Rennwagen sein kann, das große Staunen, dass nämlich auch Wanderfalke und Fregattvogel diese  erreichen können.

Je genauer man hinschaut und je mehr man sich die dargestellten Dinge bewusst macht, umso mehr bekommen manche technische Errungenschaften einen ganz anderen Stellenwert – das Atom-U-Boot „USS Nautilus“ schafft gerade einmal 35 km/h und auch der Luxusdampfer „Queen Mary 2“ ist mit 50 km/h nicht sehr viel schneller. Gleichzeitig ist man jedoch auch beeindruckt, dass der Mensch Dinge wie die Raumfähre „Apollo 11“ bauen konnte, die mit 40.000 km/h ins All flog.

Den größten Respekt jedoch entwickelt der Betrachter unweigerlich für die Großartigkeit der Natur, die in Sachen Schnelligkeit –  und nicht nur darin – vermutlich für immer unschlagbar bleiben wird. Zum Ansehen dieses Buches sei daher Kindern und Erwachsenen jede Menge Muße empfohlen, um all die großartigen Details zu entdecken und zu begreifen.

Cruschiform: Schneller?!, Übersetzung: Barbara Heller, Illustration: Cruschiform, Fischer Sauerländer, 64 Seiten, ab 5, 15,99 Euro

Poetik der Selbstfindung

sprache wasserManchmal spürt man bei Büchern bereits in dem Moment, in dem man sie in die Hand nimmt, dass sie etwas ganz Besonderes sind. Die Sprache des Wassers von Sarah Crossan gehört dazu: Leineneinband, Lesebändchen, poetisches Cover. Als ich es dann aufschlug, dachte ich zunächst, ich hätte mich geirrt und statt des erwarteten Romans eine Gedichtsammlung vor mir. Die Überraschung war total gelungen, denn Die Sprache des Wassers ist beides – ein Roman in Gedichtform.

Sarah Crossan erzählt darin die Geschichte der fast 13-jährigen Kasienka, die mit ihrer Mutter aus Polen nach England auswandert, auf der Suche nach dem Vater. Dieser hat aus ungenannten Gründen die Familie verlassen, womit sich die Mutter aber nicht abfinden will.
Kasienka muss sich nun ein Zimmer mit der Mutter teilen, in der Schule eine Klasse wiederholen, weil man ihr als Polin nichts zutraut. Die Mitschüler beachten sie nicht, Claire fängt an, sie zu mobben. Kasienka fühlt sich einsam, auch die Mutter ist ihr in ihrer Verzweiflung keine Stütze. Nur William nimmt sie wirklich wahr und macht ihr Mut, in das Schwimmteam der Schule einzutreten. Denn im Wasser fühlt sich Kasienka aufgehoben und ganz bei sich, im Wasser weiß sie, wer sie ist.
Als der Nachbar Kanoro, ein Kinderarzt aus Kenia, der in einem Krankenhaus als Putzkraft arbeitet, ihr eines Tages einen Zettel mit der Adresse des Vaters in die Hand drückt, findet Kasienka heraus, dass der Vater eine neue Familie hat. Das macht das Leben für sie nicht gerade leichter.

Crossan lässt Die Sprache des Wassers von Kasienka aus der Ich-Perspektive in freien Versen erzählen. Was sich anstrengend oder sperrig anhört, fängt einen mit seinem poetischen Ton von der ersten Zeile ein. Plätschernd wie Wasser eröffnen sich die Welten von Emigranten, die mit der Ablehnung der Einheimischen kämpfen müssen, von Familienkrisen, Trennung, Schulmobbing, Identitätskrise und erster Liebe.  Die klaren Sätze, wunderschön von Cordula Setsman ins Deutsche übertragen, berühren, auch durch ihre leisen Töne. Dennoch ersparen sie einem nicht die Wucht der schrecklichen Erfahrungen, die Kasienka auf dem Weg ins Erwachsenenleben machen muss. Die Lektion, dass sie nicht für das Unglück ihrer Mutter verantwortlich ist und ihren eigenen Weg gehen muss, hätte schöner kaum verpackt werden können.

Sarah Crossan: Die Sprache des Wassers, Übersetzung: Cordula Setsman, mixtvision, 2013, 232 Seiten, ab 14 , 13,90 Euro

Lob der Freundschaft

die besten Freunde der WeltNeulich hörte ich einen für mich neuen Begriff: Helikopter-Eltern. Damit sind Väter und Mütter gemeint, die sich überführsorglich um das Wohl der Sprösslinge sorgen und ständig über sie wachen, damit ihnen ja kein Leid zustoße. Dass das auf die Dauer nicht immer hilfreich ist, kann man sich fast denken.

Nun ist mir zu diesem Begriff das entsprechende Kinderbuch unter die Nase gekommen: Die besten Freunde der Welt von Ute Wegmann. Darin erzählt die Autorin von Fritz und Ben. Ich-Erzähler Fritz hat ständig was um die Ohren, jeden Nachmittag Termine, Termine, Termine: Tennis, Fußball, Schlagzeugunterricht, Nachmittage im Park oder bei den Großeltern. Nur sonntags verbringt er ganz entspannt mit seinen Eltern und fragt sie Löcher in den Bauch. Ganz anders ist das bei Ben: Der hat gar keine Termine, geht nirgendwohin, liest dafür jede Menge Bücher und kann sich alles merken. Ben hatte als Baby einen Herzklappenfehler, und seine Mutter hat sich auch Jahre später noch nicht davon erholt und hält den Jungen von allem ab, was auch nur im Geringsten anstrengend sein könnte, obwohl er mittlerweile kerngesund ist. Dabei würde Ben gern Fußballspielen, Tennis lernen, mit der Schulklasse am Schwimmunterricht teilnehmen, das Seepferdchen machen und nicht immer am Rand sitzen und der ewige Außenseiter sein. Doch die Mutter verbietet es. Zum Glück gibt es Fritz, der seinen besten Freund dabei unterstützt, dem Radar dieser Helikopter-Mutter wenigstens ab und zu zu entfliehen. Und so versucht er, in der wenigen Zeit, die er zwischen seinen Terminen hat, Ben das Schwimmen beizubringen. Das ist nicht ganz einfach, denn Ben hat Angst vor Wasser. Doch ganz behutsam führt Fritz ihn an das nasse Element heran, von der Badewanne über das Babybecken im Schwimmbad bis zum großen Becken. Und auch wenn Ben seine Angst nur sehr langsam überwindet und immer wieder Rückschläge erlebt, verliert Fritz nie die Geduld und hält unerschütterlich zu ihm.  Alles passiert heimlich, ohne dass die Eltern der Jungen etwas mitbekommen. Und gerade das schweißt die beiden noch fester zusammen.

Ute Wegmann ist eine entzückende Hymne auf die Freundschaft gelungen, in der sie zwei völlig unterschiedliche Charaktere zusammenbringt, die sich durch nichts unterkriegen lassen. Sie zeigt, dass gute Freunde sich manchmal besser kennen und die Bedürfnisse und Wünsche des anderen viel nachhaltiger befriedigen können als Eltern. Dabei handelt es sich hier keinesfalls um Rabeneltern, sondern Wegmann porträtiert einen Eltern-Typus, der scheinbar gerade immer mehr in Mode kommt. Erwachsenen Lesern hält sie damit einen Spiegel vor, ihrer Zielgruppe, 8-jährigen Jungs, zeigt sie hingegen, dass man sich dem elterlichen Überwachungssystem mit Mut, Cleverness und Spaß auch mal entziehen kann und sollte. Denn das stärkt ganz klar das Selbstbewusstsein und macht stolz –schlussendlich auch die Eltern.

Sehr charmant finde ich in der Geschichte zudem noch die Mutter von Fritz. Ruby ist Britin, spricht ständig Englisch und ein nicht ganz korrektes, aber überaus apartes Deutsch. Ihre englischen Sätze bleiben zum Teil einfach so stehen, werden nicht sklavisch übersetzt, sondern erklären sich durch die Zusammenhänge der Szenen von selbst. Das grammatisch nicht korrekte Deutsch verpasst ihr einen authentischen Anstrich und macht sie zu einer total coolen Mutter-Figur.

Ergänzt wird der Roman von den zarten Illustrationen von Sabine Wilharm, die schon die deutsche Harry-Potter-Ausgaben gestaltet hat. Sie verleihen der Geschichte ein ganz muckeliges Gefühl – wie die Schlafanzüge der Jungs nach dem Baden …

Ute Wegmann: Die besten Freunde der Welt,  Illustrationen: Sabine Wilharm, dtv, Reihe Hanser, 2012, 205 Seiten, ab 8, 12,95 Euro