Revolution auf zwei Rädern

Ein Mann auf einem Fahrrad ist ein Mann auf einem Fahrrad. Eine Frau auf einem Fahrrad symbolisiert, auch wenn sich Frauen heutzutage dessen kaum bewusst sind, Unabhängigkeit, Selbstbehauptung, Freiheit. Revolution auf zwei Rädern.
Hannah Ross zitiert am Anfang von Revolutions, ihrer mitreißenden und beeindruckenden Geschichte von Frauen und Fahrrädern, die Frauenrechtlerin Susan B. Anthony: »Das Fahrrad hat mehr zur Emanzipation der Frau beigetragen als irgendetwas anderes auf der Welt«, erkennt die Aktivistin und Sozialreformerin bereits Ende des 19. Jahrhunderts.
Als das Fahrrad in den 1880er Jahren aufkam, veränderte es das Leben der Menschen. Mit ihm konnten relativ einfach große Entfernungen überwunden und weit entfernte Orte erreicht werden. 1885 brachte die Firma Starley & Sutton aus Coventry (nicht nur Fußball hat seinen Ursprung in England) das Rover Safety auf den Markt – Vorbild für das Rad wie wir es heute kennen. Kein Laufrad, kein artistisches Hochrad, das immerhin das erste mit Pedalantrieb war.

Körperliche und geistige Bewegung

Der Name Safety für dieses Gefährt mit zwei gleich und normal großen Felgen ist Programm. Revolutionär ist der Kettenantrieb, mit dem das Hinterrad angetrieben wird. So einfach wie genial. Und als John Dunlop, ein schottischer Tierarzt, auch noch luftgefüllte Reifen erfindet, ist der Siegeszug des Fortbewegungsmittels kaum zu bremsen.
Auf dem Safety kann man sogar in langen Röcken und Petticoats aufsatteln. Und so entdecken auch Frauen, zunächst angesichts des Anschaffungspreises die bessergestellten, das Radfahren für sich. Statt im Haus festzusitzen und depressiv zu werden (früher nannte man das hysterisch, ein Zustand, der gewöhnlich mit einer Ruhekur »therapiert« wurde), beginnen sie, sich zu bewegen, körperlich und geistig, und die Welt zu erfahren.

Der Anfang der Freiheitsmaschine

Zwar warnten Ärzte und sogenannte Wissenschaftler vor den gesundheitlichen Schäden, die das Fahrradfahren angeblich auf den weiblichen Körper habe. Es führe zu Unfruchtbarkeit und Promiskuität. Zum Glück waren nicht alle so bekloppt oder verbohrt oder auf den Erhalt der eingefahrenen Hierarchien und Rollenverteilung bedacht. Heute ist bekannt, wie gut Bewegung dem Körper und auch der Psyche tut.
Das war erst der Anfang der »Freiheitsmaschine«, wie Susan Anthony das Fahrrad nannte. Die Suffragetten, die für gleiche Rechte, Wahlrecht und Zugang zu Universitäten für Frauen kämpften, konnten per Pedalkraft viel mehr Frauen erreichen. In ihren Fahrradkörben transportierten sie nicht nur Flugblätter. Um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, setzten einige Briefkästen und sogar leerstehende Häuser in Brand. Und konnten auf dem Fahrrad schnell entkommen.

Symbol und Instrument des Widerstands

Im zweiten Weltkrieg wurde das Fahrrad vor allem in den Niederlanden zum Symbol und Instrument des Widerstands. Auch die junge Audrey Hepburn schmuggelte in ihrer Heimatstadt Arnheim Nachrichten und Munition. Und in Frankreich lernte eine Ikone der Frauenbewegung, Simone de Beauvoir, erst als junge Erwachsene das Radfahren und dann die Freiheit, die man damit erfährt, kennen.
Die Londoner Autorin und Verlagsmitarbeiterin Hannah Ross, selbst eine leidenschaftliche Radlerin, hat spannende, bewegende und manchmal unglaubliche, trotzdem wahre Geschichten um Frauen und das Radfahren zusammengetragen. Überzeugend stellt sie Zusammenhänge der Frauenbewegung und der Mobilität auf zwei Rädern her.

Den Konkurrentinnen alle Schläuche und Reifen geklaut

In Revolutions vereint sie mehr als hundert Porträts von Pionierinnen, Abenteuerinnen, Aktivistinnen und Rennradfahrerinnen. An letzteren lässt sich sehr anschaulich und geradezu tragikomisch erzählen, dass es nicht nur in sportlicher Hinsicht bis zur Gleichberechtigung noch ein langer Weg ist. 1958 gab es das erste Straßenrennen für Frauen – schlappe 65 Jahre nach dem ersten Rennen für Männer. Wenn Frauen mal mitfahren durften, manchmal aus kriegsbedingtem Fahrermangel, manchmal wegen des Spektakels, kamen die Frauen den Männern so nahe, dass diese sich einmal nicht anders zu helfen wussten, als alle  Ersatzschläuche und -reifen ihrer Konkurrentinnen zu stehlen.

Mutige Abenteuerinnen und leuchtende Vorbilder

Bis heute ist das Fahrrad wichtig für die Freiheit. Um rauszukommen, zur Schule und an Bildung zu gelangen, sich zu bewegen, Gleichgesinnte zu treffen. Nicht nur in Afghanistan, das 2018 noch als das für Frauen zweischlimmste und zweitgefährlichste Land (nach Indien) eingestuft wurde. Die Taliban haben es jetzt zielsicher auf Platz eins terrorisiert. In Saudi Arabien dürfen Frauen erst seit 2013 Fahrrad fahren, unter den strengen Augen der Sittenwächter.
Ross gibt Fahrradkurse für geflüchtete Frauen, die so selbstbewusster und unabhängiger werden. Leuchtende Vorbilder für alle Radfahrerinnen sind die extrem mutigen Abenteuerinnen, die bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts mit dem Fahrrad weit entfernte Länder bereisten oder sogar allein die ganze Welt umrundeten.

Zeit für weitere Revolutionen

Anlässlich der faszinierenden und bewegenden Geschichte der Irin Dervla Murphy, die ausgerechnet im eiskalten Winter 1963 auf einem ganz schlichten Rad zu einer Reise über 5000 Kilometer nach Indien aufbricht, spricht Ross ein wichtiges Thema an: Alleinreisende Frauen. Als Leserin fühlt man sich sofort ertappt. Denn es ist immer noch in den Köpfen: Frauen, die allein reisen, sind leichtsinnig. Männer abenteuerlustig. Frauen müssen sich für den vermeintlichen Leichtsinn rechtfertigen, persönliche Krisen und Selbstfindung müssen es schon mindestens sein, um so etwas Unverantwortliches wie eine Weltreise allein auf dem Rad zu machen. Es ist eindeutig Zeit für ein weitere Revolutionen.
Das ist nur ein sehr interessanter Aspekt, den Hannah Ross in ihrem klugen, wissensreichen und inspirierendem Buch anspricht. Ein auch sehr hübsch gestaltetes und vom mairisch Verlagschef Daniel Beskos angenehm unaufgeregt übersetztes Buch. Tatsächlich ist eine Frau auf einem Fahrrad sehr viel mehr als eine Frau auf einem Fahrrad.

P.S.: Apropos einem Rad. Nicht nur Hannah Ross verbringt viel Zeit damit, über das nächste Fahrrad nachzudenken, das sie »wirklich« braucht.
P.P.S.: Am 3. Juni ist Weltfahrradtag. Aber eigentlich ist jeder Tag Tag des Fahrrads.

Hannah Ross: Revolutions. Wie Frauen auf dem Fahrrad die Welt veränderten, Übersetzung: Daniel Beskos, mairisch, 2022, 320 Seiten, 24 Euro

Lieben, Denken, Handeln

Die Banalität des Bösen« kommt einem als erstes in den Sinn, wenn man an Hannah Arendt denkt. Für diese Erkenntnis angesichts des Prozesses gegen Adolf Eichmann, Hitlers Organisator des industrialisierten Massenmordes, ist die außergewöhnliche Denkerin heftigst kritisiert worden.
Was Hannah Arendt mit dem Begriff »Banalität« gemeint hat, ihre Analyse zur Entstehung totalitärer Regime, ihr Gegenentwurf freier, vielfältiger  Menschen, ihr umfassendes Denken und ihre turbulente Biografie zeigt Ken Krimstein in seiner grandiosen Graphic Novel Die drei Leben der Hannah Arendt.

Eine gefährlich kluge Frau

Drei Leben…, das klingt irreführenderweise wie eine Mischung aus sich-immer-wieder-neu-erfinden und einer Katze. Im Original hat Krimstein seine Geschichte The Three Escapes of Hannah Arendt. A Tyranny of Truth genannt – und das trifft es. Arendt musste fliehen und entkam ihren Häschern, weil sie eine gefährlich kluge Frau, immer auf der Suche nach Wahrheit, und weil sie Jüdin war.
Nach dem Philosophiestudium in Marburg bei Martin Heidegger (und einer verstörenden Liebesbeziehung mit ihm) kommt sie 1933 nach Berlin. Dort trifft sie im Romanischen Café auf die gesamte intellektuelle und kulturelle Elite, Künstler, Regisseure, Dramatiker und Theoretiker.
»Es war die Geburtsstätte der modernen Welt«. Eine Enklave der Freiheit in einem immer repressiveren und gewalttätigeren und unfreieren Deutschland. Allerdings auch hier: »Ismen prallen hier auf Ismen, wohin man auch blickt.« Futurismus, Dadaismus und Expressionismus, Sozialismus, Marxismus und Zionismus.

Nie mit einem Ismus gemein gemacht

Das Besondere, Einzigartige bei Hannah Arendt ist, dass sie sich nie mit einem Ismus gemein gemacht hat. Als junge Studentin ist sie zwar noch fasziniert vom attraktiven Heidegger, »einer, der zum ersten Mal die Kühnheit hat, die Seinsfrage zu stellen«.
Aber schon sehr bald ist sie als scharfsinnige Beobachterin sehr viel weiter, der Elfenbeinturm akademischen Denkens war nie ihr Ding. Als in diese Welt »Geworfene« verlässt Arendt das Café, wird tätig – und aus der Staatsbibliothek raus von der Gestapo verhaftet.
Aus der Untersuchungshaft gelingt es ihr zu entkommen. Mit ihrer Mutter flieht sie sofort über Tschechien nach Paris. Dort erfährt sie nicht nur vom allgemein zunehmenden Antisemitismus in Deutschland, selbst Heidegger biedert sich den Nationalsozialisten an, wird zunächst mit deren Hilfe Universitätsrektor – und distanziert sich auch nach Kriegsende nie wirklich von der Ideologie, geschweige denn, dass er sich entschuldigt.

Denker großer Unordnung

In Paris begegnet Hannah Arendt den beiden für sie wichtigsten Menschen. Das, was sie für die beiden einnimmt, beschreibt Arendt sehr treffend. Der eine ist Walter Benjamin, ein entfernter Verwandter ihres ersten Ehemanns. »Walter Benjamin ist ein Flaneur, ein antirationaler, alles empfindender menschlicher Schwamm, vor allem der Denker großer Unordnung«.
Der andere ist »ein stämmiger Freund Benjamins. Er ist kein Jude, war früher Kommunist, hat nie ein Buch zu Ende gelesen – ein Pfeife rauchender, unabhängiger Kopf.« Kurze Zeit später heiratet sie diesen brillanten Autodidakten, Heinrich Blücher, er wird sie zeitlebens lieben und unterstützen.

Pariser Triptychon

»Ich lebe ab jetzt drei Leben gleichzeitig: Lieben, Denken, Handeln« beschreibt Arendt ihr Dasein, ihr Triptychon in Paris. »Die Arbeit für die Jugend-Aliyah, die sich um den sicheren Transport von jüdischen Kindern aus Europa kümmert, wird in meinem Pariser Leben die wichtigste«. Arendt war nie religiös. Aber weil sie als Jüdin angegriffen wird, verteidigt sie sich als Jüdin. Später wird sie sich für eine jüdische Armee im Kampf gegen die Nationalsozialisten stark machen.
Am 5. Mai marschieren die Deutschen in Frankreich ein. Arendt wird als Deutsche verhaftet und kommt ins französische Internierungslager in Gurs. Auch von dort entkommt sie. Schließlich emigriert sie auf abenteuerlichen, lebensgefährlichen Wegen mit Blücher über Marseille und Lissabon nach New York.

Lebendiges Grün als roter Faden

Bestechend klug, stark und wütend, geistig immer unabhängig, zu jüdisch, dann wieder nicht jüdisch genug – Ken Krimstein zeigt diese faszinierende Frau in allen Facetten. Mit feinem Strich, puristisch in Schwarzweiß, zeichnet der Karikaturist des New Yorker und Wall Street Journal, ein ganzes bewegtes und bewegendes Leben. Einziger Farbtupfer ist ein lebendiges Grün für Arendts Kleidung, der sich wie ein roter Faden durchzieht. Pointiert umrissen sind auch die vielen Charakterköpfe, denen Hannah Arendt im Laufe des Lebens begegnet ist. Im Original sind die biografischen Angaben zu den zahlreichen Persönlichkeiten gleich als Fußnoten angefügt. In der von Hanns Zischler modern und mitreißend übersetzten deutschen Version füllen diese Daten sechs eng beschriebene Seiten im Anhang.

Allgegenwärtige Rauchschwaden wie Gedankenwolken

Ein optisch genialer Kunstgriff sind auch die allgegenwärtigen Rauchschwaden, die Hannah Arendt und ihre Begleiter umgeben, über die Seiten wabern, über Umrandungen und Bildgrenzen schweben wie freie Gedanken. Man muss kein Raucher sein, um die Versinnbildlichung permanenten Sinnierens und Durchdenkens zu verstehen und zu schätzen. Wie viel ehrlicher ist diese authentische Darstellung vergangener Rauchkultur als die groteske Helmut-Schmidt-Euromünze mit seiner sinnlos positionierten, leeren Hand.
Biografische Graphic Novels gibt es viele, die meisten über Männer, Aktivisten, Sportler, Künstler, Musiker, auch sehr gute wie die über Nick Cave oder aktuell über David Bowies Kunstfigur Ziggy Stardust. Die drei Leben der Hannah Arendt aber ist brillant, die beste, wenn man nur eine lesen sollte, dann diese.

Ken Krimstein: Die drei Leben der Hannah Arendt, Übersetzung: Hanns Zischler, dtv, 2019, 244 Seiten, 16,90 Euro

Hannah Arendt hat nicht nur viel gedacht, sondern auch viel gelesen. Und nicht erst die famose Autorin Simone Buchholz schätzt den Kriminalroman als Spiegel der Gesellschaft. Tatsächlich inspirierten Krimis Arendt zu ihrem genialen Fluchtplan aus einem Hotel in Marseille. Vor allem durch Georges Simenons Maigret-Erzählungen habe sie verstanden, wie die französische Polizei tickt – und konnte sie so austricksen. Also am besten mit Maigrets erste Untersuchung anfangen. Dann vielleicht mit Maigret und die Bohnenstange weitermachen. Und natürlich sind alle Bücher von Simone Buchholz mit der schnodderig charismatischen Chastity Riley unbedingt zu empfehlen. Auch Adrian McKintys Romane um Raubein Sean Duffy im nordirischen Belfast der 80er Jahre sind eine Wucht. Hannah Arendt hätte sie bestimmt auch gern gelesen und studiert.

Georges Simenon: Maigrets erste Untersuchung, Übersetzung: Hansjürgen Wille und Barbara Klau, Kampa Verlag, Zürich, 2019, 240 Seiten, 16,90 Euro

Bullerbü hat einen Riss

boieEs gibt tatsächlich Autor_innen, die hier in all den Jahren immer noch kaum aufgetaucht sind. Kirsten Boie gehört dazu. Doch nun hat mich neulich in einer Ringvorlesung an der Hamburger Uni, bei der es um den Einsatz von KJL im Grundschulunterricht geht (nein, ich sattle nicht auf Lehrerin um, ich geh da aus purem Interesse hin), Jana Mikota von der Uni Siegen ganz neugierig auf Boies neues Roman gemacht.

Obwohl ich noch ganz vorlaut über die nervige Wortdopplung im Titel gemäkelt hatte, habe ich mich dann eingelassen – und wurde so was von belohnt.
In Ein Sommer in Sommerby erzählt Boie von den drei Geschwistern Martha, Mikkel und Mats, die für ein paar Wochen zu ihrer Oma Inge an die Ostsee müssen. Denn die Mutter der Kinder hatte in New York einen Unfall, der Vater fliegt zu seiner Frau, und da gerade Ferienzeit ist, kann sich niemand anderes um die Kinder kümmern. Die Krux ist nur, dass die Familie zur Oma seit Jahren überhaupt keinen Kontakt hat. Martha kann sich noch ganz vage an sie erinnern, Mikkel, 7, und Mats, 4, kennen sie gar nicht.

Die Oma ist als dickköpfig und „Hexe“ verschrien, sie wohnt auf einer Landzunge, zu der nicht mal eine Straße führt. Mit einem kleinen Boot fährt sie hinüber zum Ort auf die andere Seite des Fjordes – ich möchte gerne Schlei schreiben, denn die Örtlichkeiten sind für landeskundlich bewanderte Schleswig-Holstein-Kenner_innen gut zu erkennen, aber Boie hat sich natürlich für eine Fiktionalisierung und erfundene Ortsnamen entschieden.
Als eine Freundin der Mutter die drei Geschwister also bei Oma Inge absetzt, herrscht auf beiden Seiten zunächst Skepsis und Befremden. Mats nennt die Großmutter beständig „Frau Oma“, denn er kennt sie ja noch nicht, die einfühlsame Martha versucht, ausgleichend zu vermitteln.

Unter diesen Voraussetzungen entspinnen sich nun Tage des gegenseitigen Kennenlernens und für die Kinder Tage des Erkundens der Natur und des Landlebens. Für Martha, die etwa 12, 13 ist, besteht der größte Schock zunächst einmal darin, dass die Oma kein WLAN hat, ja nicht mal ein Telefon – und der alte Fernseher funktioniert ohne Dekoder auch nicht. Netz hat Martha nur, wenn sie über die Kuhwiese zum Zaun läuft. Dort kann sie immer nur kurz mit Papa in New York simsen oder die Urlaubsfotos ihrer Freundin von den Malediven bewundern.

Doch schneller als gedacht, gewöhnen sich die Kinder an das Leben auf der Landzunge. Mikkel darf Eier einsammeln und die Gänse füttern, Mats läuft unbeaufsichtigt herum, was Martha mehr Sorgen macht als der Oma. Hier gibt es keine Helikoptereltern, die den Kindern ständig etwas verbieten oder sie nicht aus den Augen lassen. Nicht alles klappt auf Anhieb, und Oma ist auch nicht immer lieb und gerecht zu ihren Enkeln, doch in der Auseinandersetzung lernen beide Seiten dazu und wandeln sich.
Martha entwickelt mit der Zeit einen Blick für die Schönheit des Ortes: die alte Reetdachkate mit den Stockrosen vor der Tür, das Wasser, die langen hellen Abende. Und doch entspricht dieses Idyll nicht den Bildern aus den Hochglanz-Garten-Zeitungen, in denen jedes kleinste Detail abgestimmt ist. Oma hat zwar einen Ceran-Herd und ein modernes Bad, spült aber noch in einer hässlichen Plastikschüssel das Geschirr von Hand. Die Geschirrtücher sind alt und mit merkwürdigen Bildern versehen. Das ist nicht das manufactumausgestattete Traumhaus aus der Landlust. Hier ist nur das modern, was wirklich wichtig ist.

Mikkel hingegen ist entsetzt, wie die Oma mit den Tieren umgeht: Nacktschnecken werden zerhackt, die Rehe mit Steinwürfen von den Blumen vertrieben, die Gänse gemästet, um später als Martinsbraten verkauft zu werden. Die abstrakte Tierliebe der Großstadtkinder trifft auf die harte Realität des Landlebens, wo der Mensch seine mühsam gezogenen Früchte und Blumen vor den gefräßigen Tieren schützen muss. Auch die Beerdigung für einen toten Maulwurf – der zum Erstaunen der Kinder viel kleiner ist als der, dem auf den Kopf gemacht wurde – findet bei Oma keinen Zuspruch.

Boie entfaltet in dieser unaufgeregten, entschleunigten Sommergeschichte ein ganzes Panorama an geschickt eingeflochtener Kritik an unserer Großstadtgesellschaft. Neben der Brechung der Landlust-Idylle hält sie der Wegwerfgesellschaft einen Spiegel vor, nimmt die Low-Carb-Bewegung aufs Korn, indem sie Martha über den Kohlenhydrategehalt von Omas selbstgekochten Marmeladen reflektieren lässt. Auch dass man Unbekannte nicht nach ihrem Äußeren oder ihren Wohnverhältnissen beurteilen sollte, lernen die Geschwister, als sie Omas Nachbarn Krischan kennenlernen, der Holztiere schnitzt.
Mit einem geldgierigen Makler, der Omas Kate für einen siebenstelligen Preis kaufen will, dringen zudem der Immobilienhype und die rücksichtslosen Machenschaften von Geschäftsleuten bis auf die Landzunge vor. Dieser leicht kriminalistische Strang bringt Spannung in die Geschichte und lässt die Kinder darüber reflektieren, was wichtiger ist: viel Geld oder ein Zuhause in einer unzerstörten Natur.

Kirsten Boie schafft es in Sommerby tatsächlich all diese Punkte, von denen jeder für sich ein Thema wäre, ganz spielerisch und kindgerecht in die Geschichte einzuflechten. Ohne die Leserschaft dabei zu überfordern. Denn das Leben ist genauso vielschichtig und mit all den Problemen und Hindernissen versehen, wie es die Kinder hier erleben. Das Bullerbü, das wir alle so gern hätten, gibt es ja nicht. Trotzdem existieren noch wunderschöne Ecken in diesem Land und auf unserer Welt, nur müssen wir hart dafür kämpfen, dass sie nicht von geldgierigen Typen und unseren Luxusansprüchen kaputt gemacht werden.

Was mich persönlich zudem noch sehr angerührt und mich an meine eigene Jugendlektüre erinnert hat, ist der Roman, den Martha im Wohnzimmer von Oma findet. Dort stehen jede Menge alte Bücher ihrer Mutter, die Drei Fragezeichen und die Fünf Freunde, die Martha jedoch allesamt nicht interessieren. Sie entscheidet sich für den Roman Desirée von Annemarie Selinko, der das Mädchen dann in den Sommertagen begleitet und die erste aufkeimende Verliebtheit, die sie gegenüber dem Jungen Enes von der Schnasselbude empfindet, einordnet. Das ist so liebevoll gemacht, dass man sich die ganze Zeit mit Martha freut – und Desirée noch mal lesen möchte.

Für die anstehenden großen Ferien ist Kirsten Boies Ein Sommer in Sommerby die perfekte Lektüre! Man ist beglückt, wird bereichert und angeregt – und hat am Ende glänzende Augen.

Kirsten Boie: Ein Sommer in Sommerby, Oetinger, 2018, 320 Seiten, ab 10, 14 Euro

Schinkensandwich mit Marmelade

„Träges Auge, Riesenschädel, schnarcht wie ein Nilpferd, oft krank, abartiger Essgeschmack, schreckliches Gedächtnis, ständig außer Atem, schmächtig, frech, kann nichts allein machen oder sich mehr als zwei Sekunden auf irgendetwas konzentrieren, Hirn tickt verkehrt, keinen Begriff für Gefahren. Mein absolut bester Kumpel der Welt.“

Martin liebt seinen drei Jahre jüngeren Bruder Charlie heiß und innig. Charlie wurde viel zu früh geboren, hat in seinen ersten Lebenstagen und –wochen mehrmals mit dem Tod gerungen und gewonnen. Vor zehn Jahren stand er als das „Wunderbaby“ sogar in der Zeitung, er ist ein ganz besonderes Kind unter Millionen, oder Charlillion, wie Charlie selbst sagen würde. Mit dem Preis, dass der Junge unter Asthma, Herzschwäche, und Konzentrationsstörungen leidet. Vieles, was für Kinder in seinem Alter selbstverständlich ist, kann er nicht und wird es auch nie lernen, er ist immer auf Hilfe und jemanden, der ihn im Auge behält, angewiesen.

Charlie ist wie ein springender Delfin, wie Mark Lowerys neuer Roman („Das peinlichste Jahr meines Lebens“) hierzulande heißt – was das bedeutet, wird später verraten. Er ist scheinbar der perfekte Held für ein Buch über gelungene Inklusion, das selbstverständliche Zusammenleben von Menschen, egal, ob „normal“ oder mit geistiger oder körperlicher Behinderung (selbst die Aktion Mensch, ehemals Aktion Sorgenkind, spricht von „Behinderung“, der naive, politisch überkorrekte Euphemismus „anders begabt“ ist passé).

Neulich ging es in der sowieso sehr empfehlenswerten Radiosendung „Büchermarkt für junge Leser“ (Samstagnachmittag um fünf nach vier im Deutschlandfunk) um Inklusion. Angefangen mit Klassikern wie Peter Härtlings Das war der Hirbel oder Max von der Grüns Die Vorstadtkrokodile wurden auch neuere Titel wie Wunder von Raquel Palacio und Sarah Crossans Eins vorgestellt. Denn immer mehr Jugendromane handeln von Menschen, die anders sind, die mit physischen und psychischen Problemen zu kämpfen haben. Wie ein springender Delfin ist eine spritzige Variante des Themas.

Charlie ist ungeheuer witzig, auch weil laut Martin sein Gehirn „anders verdrahtet“ ist, und haut Sätze raus, wie „wir fahren in die Schweiz, da kriegt mein Schniedel-Laser ein Upgrade“. Damit wehrt er zum Beispiel lässig die Fragen des misstrauischen Kioskbesitzers ab, der wissen will, warum der 13-jährige Martin mit seinem kleinen Bruder Ende Oktober schon frühmorgens unterwegs ist. Die beiden brechen auf in ein großes Abenteuer. Im Gepäck eine Keksdose mit „super-besonderen Weihnachts-Überbleibsel-Keksen“ (unter anderem mit Schokokränzen aus 90 Prozent Schokolade, fünf Prozent Keks, die restlichen fünf Prozent sind „Träume“, sagt Charlie) und Schinkenbroten mit Marmelade, Charlies Lieblingssandwiches.

Nennt mich naiv, aber ich habe mich mitreißen lassen und mitgefiebert, wenn die Jungs brenzlige Situationen, teils von Charlie provoziert, mit fanatischen Fußballfans oder neugierigen Kartenverkäuferinnen meistern, und Schaffnern und Polizisten immer wieder entwischen. Spannend und lustig erzählt Martin vom aufregenden Trip mehrere hundert Kilometer aus ihrer nordenglischen Heimatstadt Preston an die Küste Cornwalls, im Wechsel mit Rückblenden auf ihre Sommerferien eben dort im vergangenen Jahr. Auch die eingestreuten, von Martin geschriebenen Gedichte haben mir gefallen, zum Beispiel ein hübsches Haiku

Du lebst nur einmal.
Wie wär es dann einfach mit
Keksen zum Frühstück?

Drei Zeilen mit fünf, sieben und wieder fünf Silben, so kann man sich die japanische Gedichtform doch endlich gut merken. Oder ein Formgedicht über und in Form einer Sanddüne.

Die Anzeichen, dass etwas nicht stimmt, habe ich willentlich ignoriert. Wer sich auf Mark Lowerys raffiniert aufgebaute, von Uwe-Michael Gutzschhahn erfrischend übersetzte Geschichte unvoreingenommen einlässt, den trifft die Wende umso heftiger. Gespoilert wird nicht, nur soviel: Die Fahrt nach Cornwall ist für Martin eine Reise zu sich selbst und ein Rettungsversuch. Familie ist ein fragiles Konstrukt. Und auch alle Liebe und Hingabe macht nicht alles möglich. Menschen mit Behinderungen sind sich meist schmerzlich bewusst, dass sie vieles nie werden tun und erreichen können. Sie haben dieselben Träume und Wünsche nach einem selbstbestimmten Leben, aber nicht die Freiheit, sie sich zu erfüllen.

Deshalb fühlt Charlie sich so zu dem Delfin hingezogen, den er im Sommer an Cornwalls Küste beobachtet. Ein freies Wesen, das nicht eingesperrt lebt und unabhängig ist. Ein Tier, in dessen wilden, kraftvollen Sprüngen sich Charlies Schicksal und das seiner Familie in allen Facetten spiegelt: Schöne Metapher, klasse Helden, tolles Buch!

Elke von Berkholz

Mark Lowery: Wie ein springender Delfin, Übersetzung: Uwe-Michael Gutzschhahn, Rowohlt, 2017, 221 Seiten, ab 12, 14,99 Euro

Grandiose Geschichten aus kleinen Klumpen

„Ich kann euch ganz in Ruhe meine Geschichte erzählen. Davon, wie eines Tages eine drangsalöse Misere über mich hereinbrach, die mein ganzes Leben durcheinanderbringen sollte. Hätte ich damals geahnt, was für Kalamitäten auf mich zukommen würden, ich wäre an jenem Morgen unter der Bettdecke geblieben …“

Mit diesen hübsch altmodischen Wörten beginnt der Erzähler seine Geschichte. Und während sich der eine oder andere Leser angesichts gelegentlich komplett verkorkster Tage denkt, dass es manchmal sicher die bessere Idee ist, morgens einfach liegen zu bleiben, schlägt einen Kirsten Reinhardts neuer Roman Der Kaugummigraf schon in seinen Bann: Es ist ein in vielfacher Hinsicht verblüffendes Buch. Nicht nur weil der Erzähler und Titelgeber ein alter Knorz ist, genauer der 81-jährige Eberhart von Eberharthausen. Es ist eine erstaunlich komplexe und vielschichtige Erzählung, wie man hinter dem für Reinhardts Standards sehr schlichten Titel nicht vermuten würde (frühere Titel waren Fennymores Reise oder wie man Dackel im Salzmantel macht und Die haarige Geschichte von Olga, Henrike und dem Austauschfranzosen).

Die Kalamitäten verursachende Misere tritt in Gestalt der struppigen, frechen und enorm hungrigen Ausreißerin Eli in das Leben des komischen Kauzes. Sie bringt ihn nach einigen Anlaufschwierigkeiten zum Erzählen. Und vielleicht zum ersten Mal am Ende seines langen Lebens öffnet sich Eberhart, stellt sich seinen Verletzungen, alter Schuld und lebenslanger Reue, Gedanken und Gefühlen, die er seit 20 Jahren mithilfe eines selbst auferlegten, strengen Zeitplans verdrängt und eingesperrt hat. Und natürlich sind das keine uralten Geschichten, „solche Dinge wie damals gibt es bestimmt nicht mehr“; da hofft Eberhart leider vergebens.

Aber warum nennt Eli ihn Kaugummigraf? Das hängt mit der höchst kuriosen Sammlung des betagten Helden zusammen, ein jahrelang verschlossener Raum in dem alten, vom Abriss bedrohten Bahnhof, in dem der Graf wohnt – und auch in seinem Herzen. Hier verwahrt er hunderte Kaugummis auf, die er seit seiner Kindheit gesammelt hat – gekaute, versteht sich. Denn „ein Kaugummi ist besser als ein Fingerabdruck“, wie der Graf sagt. Ein Fingerabdruck verrät nichts über seinen „Besitzer“. Ein ausgespuckter Kaugummiklumpen dagegen gibt erstaunlich viel preis: durch seine Form, die Zahnabdrücke, den Auffindeort, den Geruch, die Geschmacksrichtung, die Farbe. Und natürlich durch die präzise Erinnerung an all die kauenden Menschen, denen der Sammler begegnet ist und die sein Leben geprägt haben.

Es sind spannende, fantastische, erschütternde und rührende Geschichten, zeitlos gut und ewig wahr, Geschichten von abgeschobenen, missverstandenen Kindern, von Grausamkeit und Feigheit, von Wut und Mut. Davon, dass man stärker ist als man denkt und es nie zu spät ist, sein Leben in die Hand zu nehmen. Von der Suche nach Freundschaft, Liebe, Glück. Wahrheiten, gelassen ausgesprochen: Seine Verwandschaft kann man sich nicht aussuchen. Und es ist gar nicht so einfach, nichts zu tun. Die Freiheit, alles (oder nichts) tun zu können ist beängstigend, das muss man erst mal aushalten. Trotzdem ist sie das Beste am Leben, weil sie grenzenlose Möglichkeiten birgt.

Hat sich schon mal jemand beim Anblick der Flecken auf dem Pflaster überlegt, dass hier gelebte Geschichten kleben? Das entschuldigt natürlich nicht die Unsitte, Kaugummis in die Gegend zu spucken! Inzwischen haben Künstler die Sprengsel als winzige Leinwände entdeckt, um darauf grandiose Miniaturmeisterwerke zu schaffen, zu sehen unter anderem auf der Millenium Bridge in London.

Der Kaugummigraf ist ein Buch, so wie man sich das weltbeste Kaugummi wünscht, das es aber nie geben wird: Eine Wundertüte, ein Feuerwerk an unterschiedlichsten Geschmackerlebnissen, schönste, raumgreifende Blasen bildend, ein Genuss, sich damit zu beschäftigen und ganz lang anhaltend.

Elke von Berkholz

Kirsten Reinhardt: Der Kaugummigraf, mit Vignetten von Marie Geißler, Carlsen, 2017, 224 Seiten, ab 10, 12,99 Euro

 

P.S. Es gab schon mal ein besonderes Buch mit Kaumasse im Titel: Der quergestreifte Kaugummi von Ephraim Kishon, von 1977, eine unvergessene Erzählungssammlung.

Wider die Bequemlichkeit

brüder„Wenn du vor mir stirbst, schreibe ich ein Buch über dich“, sagt der 18-jährige Quentin Bell zu seinem knapp drei Jahre älteren Bruder Julian. Das Buch Brüder für immer sollte es also nicht geben. Dann hätte Quentin seinen älteren Bruder und besten Freund noch. Ihren Eltern und Angehörigen wäre die Trauer über den frühen Tod des Sohns, Neffen und Freundes erspart geblieben. Vor allem der Mutter der beiden, der Malerin und Innenarchitektin Vanessa Bell, ältere Schwester der Schriftstellerin Virginia Woolf.

Aber es ist gut, dass es diesen Roman gibt, angelehnt an realen, historischen Personen, erdacht und geschrieben vom vielfach ausgezeichneten niederländischen Autor Rindert Kromhout.

Denn was von einigen Kritikern nur als die etwas naiv erzählte Geschichte zweier Brüder, aufgewachsen in einem unkonventionellen Milieu, aufgefasst wurde, ist tatsächlich ein hinreißendes Porträt der aus Schriftstellern, Journalisten, Verlegern, Künstlern und Wissenschaftlern bestehenden Bloomsbury Group.

Und es ist ein Manifest des freien Denkens, geradezu ein Imperativ sich selbst ein Urteil über die Welt zu bilden, ohne Vorurteile, ohne geistige Scheuklappen, und nach seinen Idealen zu leben und zu lieben. Das ist heute, in Zeiten von Fremdenhass und nationalistischer Ideologie, religiösem Fanatismus und Vorurteilen gegen alles Nonkonforme, dem Erstarken rechtsradikaler Politiker und Parteien wichtiger denn je.
Die Hauptfiguren in Kromhouts Roman haben wirklich gelebt: Die Malerin Vanessa Bell, geborene Stephen, ihr Ehemann, der Kunstkritiker und Journalist Clive Bell, Vanessa Bells homosexueller Freund, künstlerischer Partner und Liebhaber Duncan Grant und dessen Freund David. Zudem Vanessa und Clive Bells Söhne Julian und Quentin sowie deren jüngere Halbschwester Angelica. Sie alle lebten in Charleston, einem von Vanessa und Duncan zum lebendigen Kunstwerk gestalteten Haus auf dem Land in Sussex.

Am bekanntesten ist die Schriftstellerin Virginia Woolf, Vanessas jüngere Schwester, und deren Ehemann Leonard, Verleger und Publizist. Beide wohnten und arbeiteten im Monk’s House, das in Fahrradfahrtdistanz zu Charleston lag.
Außerdem kommen die Malerin Dora Carrington und ihr Lebenspartner, der Biograf und Kritiker Lytton Strachey, und die Kunstmäzenin Ottoline Morrell vor.

Dazu hat Kromhout diverse Nebenfiguren erdacht, die exzellent zu der ebenso ungewöhnlichen wie liebenswerten Gemeinschaft passen: die patente, großherzige Köchin Grace, ein aufgeschlossener Pfarrer sowie eine anfangs gegenüber den zugezogenen Künstlern sehr skeptische Dorfgemeinschaft.

Kromhout bedient sich eines Kunstgriffs, um seiner Geschichte die gewünschte Perspektive zu geben. Er erzählt vom Erwachsen- und Bewusstwerden unter dem Eindruck des fortschreitenden Faschismus in Europa. Dazu macht er die realen Brüder Bell fast zehn Jahre jünger. 1925 zieht die bunte Familie in das Charleston Haus, da sind Quentin und Julian sechs und acht Jahre alt. Während Julian sich schon früh für Politik interessiert und sich als Jugendlicher den Kommunisten anschließt, ist der Erzähler Quentin ein aufmerksamer Beobachter. Unterstützt von seiner Tante Virginia Woolf beginnt er seine literarischen Ambitionen mit einer Hauszeitung, für die er kluge und witzige Geschichten und Szenen aus dem Alltag in Charleston notiert.

Es ist ebenso faszinierend wie erstaunlich, wie selbstverständlich die Bewohner absolut unkonventionell zusammenleben. Hier halten wahre Zuneigung, Liebe, gemeinsame Interessen, die Kunst und gegenseitiger Respekt die Menschen zusammen, nicht gesellschaftliche und sexuelle Konventionen. Diese Leute sind wirklich glücklich in ihrer selbst gewählten Wunschgemeinschaft, da können die meisten modernen Patchworkfamilien nur von träumen, wo doch immer einer den Kürzeren zieht oder verletzt wird.

Die Kinder verbringen eine Kindheit in ungeheurer Freiheit, mit Baumhaus, Kostümfesten, durch die Felder streifen und Staudämme bauen. Man traut ihnen Vieles zu, spricht mit ihnen offen und auf Augenhöhe, und sie danken dieses Vertrauen, indem sie zu freigeistigen, klugen, toleranten und offenherzigen Menschen heranwachsen.

Kromhout lässt Quentin von diesen zwölf Jahren, von der Ankunft in Charleston House bis zu Julians Tod im Spanischen Bürgerkrieg, in einer einfachen, klaren und unaufgeregten Sprache erzählen. Birgit Erdmann hat das erfrischend und flott zu lesen übersetzt.

Nebenbei gibt Quentins Tante Virginia Woolf Einblick in das Schreiben und was es bedeutet, Schriftsteller zu sein. Sie ist auch selbst eine kluge Beobachterin des Weltgeschehens und warnt vor gefährlichen Simplifizierungen: So war Benito Mussolini, Führer der italienischen Faschisten, kein „dummer Diktator“, wie Quentin ihn in einer Geschichte darstellen möchte: Mussolini idealisierte Bücher, etablierte einen jährlichen Feiertag des Buchs, schrieb sogar selbst, „ein Kollege“, wie Virginia erklärt. Natürlich wusste er genau, was er die Leute lesen ließ, aber anstatt Bücher zu verbrennen und zu verbieten, instrumentalisierte und unterminierte er geschickt ein Medium, das eigentlich für geistige Freiheit steht.

Brüder für immer ist ein differenzierter und klarer Blick auf Entstehung und Mechanismus von Faschismus und Diktatur, die ja nur die Oberhand und schließlich die Macht gewinnen, weil so viele Menschen bereitwillig mitmachen oder es zumindest zulassen. „Die meisten Menschen finden es großartig, wenn es jemanden gibt, der für sie nachdenkt. Dann brauchen sie sich um nichts zu kümmern. Sie brauchen nicht darüber nachzudenken, ob etwas sein muss. Nie müssen sie zweifeln oder unsicher sein“, erklärt Clive Bell seinen Söhnen, „das ist pure Bequemlichkeit. Werdet nicht bequem. Denkt immer darüber nach, was ihr selbst wollt und meint. Notfalls müsst ihr dafür kämpfen.“

In diesem Sinne: Bleibt unbequem! Lest unbequeme Bücher, besonders, wenn es so schöne, bewegende und gut erzählte wie „Brüder für immer“ sind.

Elke von Berkholz

Rindert Kromhout: Brüder für immer, Übersetzung: Birgit Erdmann, Mixtvison, 2016, 300 Seiten, ab 12, 14, 90 Euro,  Jahren

Der Freiheitsdrang

wadjdaNeulich haben wir uns im Freundeskreis darüber unterhalten, wie viel Freiheit Frauen hierzulande haben. Die Meinungen gingen auseinander. Manch eine bemängelte, dass auch wir hier nicht viel Freiheit haben. Nun, das mag in manchen Bereichen vielleicht zutreffen, und es gibt natürlich immer noch viel zu erkämpfen, wenn es um Gleichberechtigung und Gleichstellung von Frauen in unserem Land geht. Das ist unbenommen.
Doch was es heißt, als Frau und Mädchen in der persönlichen Freiheit extrem eingeschränkt zu sein, dass können junge Lesende im Roman Das Mädchen Wadjda von Hayfa Al Mansour erleben. Dieses Buch, in der gelungenen Übersetzung von Catrin Frischer, ist für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2016, Sparte Kinderbuch, nominiert. In zwei Wochen findet die Verleihung statt, ein guter Anlass also, diesen Roman hier vorzustellen.

Die 10-jährige Protagonisten Wadjda wächst im saudi-arabischen Riad auf – und träumt von einem grünen Fahrrad. Sie tut einiges dafür, um das nötige Geld dafür zusammenzubekommen. Sie verkauft selbst gemachte Armbänder und meldet sich im Religionsclub an, an dessen Ende ein Koran-Rezitationswettbewerb steht. Mit dem Preisgeld könnte sie sich das Fahrrad leisten, falls sie gewinnen würde. Fast täglich schleicht Wadjda um das grüne Schmuckstück herum. Doch was für uns ein fast alltägliches Konsumgut ist, ist für Wadjda ein fast unerreichbarer Traum.
Denn in Saudi-Arabien dürfen Mädchen und Frauen – aus unserer Sicht – so gut wie gar nichts. Sie dürfen nicht allein auf die Straße, dürfen sich nur züchtig verhüllt unter dem Schleier „zeigen“, dürfen nicht alleine Auto fahren – vom Fahrrad fahren mal ganz zu schweigen. Es ist unzüchtig. Die Jungfräulichkeit ist in Gefahr.

Doch Wadjda lässt sich nicht einschüchtern. Nicht von der Mutter, die selbst mit all diesen Einschränkungen kämpft – sie muss täglich einen Fahrer mieten, um zur Arbeit zu kommen – und gerade vom Ehemann verlassen wird, weil dieser eine Zweitfrau heiraten will. Auch die Lehrerinnen, die Wadjda die bunten Sneakers verbieten und sie zwingen, die Abaya, ein langes schwarze Übergewand, zu tragen, können die Heldin nicht von ihrem Weg zu einem Hauch Freiheit abbringen.
Einen Verbündeten findet Wadjda in ihrem Freund Abdullah. Er bringt ihr das Radfahren bei, begleitet sie in ein Viertel, in dem nur Männer leben, weil sie dort dem Fahrer ihrer Mutter die Leviten lesen will.
Wadjda investiert sogar ihr bereits gespartes Geld, in eine Koran-Rezitier-DVD, die ihr das rechte Vortragen der heiligen Verse beibringt. Ein Risiko, aber möglicherweise ein schlaue Investition in eine Zukunft mit dem grünen Fahrrad. Als Wadjda den Koran-Wettbewerb dann tatsächlich gewinnt, glaubt sie sich ihrem Traum ganz nah.

Der Roman von Hayfa Al Mansour beruht auf dem gleichnamigen Film, den die saudi-arabische Regisseurin 2012 herausgebracht hat. Normalerweise läuft das Spiel bekanntermaßen umgekehrt, ein veröffentlichtes Buch wird später verfilmt – und hinterher beschweren sich meistens ziemlich viele Menschen, dass der Film nicht ihren Vorstellungen entspricht, die sie sich von der Lektüre gemacht haben. Hier ist die Reihenfolge nun also anders herum, und das ist eine überaus große Bereicherung!
Denn bei Wadjdas Geschichte tauchen Lesende tief in eine ganz andere Kultur ein. Der Film zeigt sie, erklärt sie jedoch nicht. Dafür fehlt die Zeit. Das Buch hingegen bietet den Platz, mit einigen zusätzlichen Sätzen die vielen Details aus dieser fremden Kultur ausführlicher zu erklären. Die jungen Lesenden erfahren hier mehr von den Hintergründen des arabischen Alltags. Natürlich bleibt immer noch vieles fremd, doch man bekommt ein Gefühl, wie ein Leben im heutigen Saudi-Arabien aussieht.
Wadjdas unangepasster Charakter, ihr Freiheitsdrang sind dabei eine Wonne und machen Hoffnung, das sich die Frauen in den arabischen Gesellschaften in ein paar Jahren mehr Freiheiten für sich und ihre Töchter erkämpfen. Freiheiten, die für uns schon so selbstverständlich sind, dass wir sie manchmal gar nicht mehr als solche empfinden.

Wadjdas Geschichte vom Alltag arabischer Mädchen und Frauen macht den westlichen Lesenden sehr bewusst, in was für einer privilegierten Gesellschaft wir, trotz aller Mängel, leben. Sie zeigt aber auch, dass wir Frauen immer noch weiter kämpfen müssen, denn die Freiheit des Fahrradfahrens sollten alle Frauen der Welt genießen dürfen, wenn sie darauf Lust haben. Wir brauchen auf unserer Welt mehr solcher unerschrockenen Wadjdas, die unbeirrt ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und für ihre Rechte kämpfen. Solche Heldinnen bedürfen unserer aller Unterstützung.

Hayfa Al Mansour: Das Mädchen Wadjda, Übersetzung: Catrin Frischer, cbt, 2015, 304 Seiten, ab 10, 12,99 Euro

Ein Mädchen am Scheideweg

AdaAngela Mohr setzt im Jugendbuch Themen: Zivilcourage angesichts rechter Gewalt ist in ihrem Roman Wach auf, wenn du dich traust gefragt. Das geschenkte Leben mit einem neuen Herzen und der Gewissheit, dass jemand anderes starb, berührt schmerzlich in Vergiss nicht, dass du tot bist.

ADA. Im Anfang war die Finsternis heißt ihr drittes Jugendbuch, ein Roman, in dem das eigene Schicksal eine Rolle spielt. Denn ADA erzählt vom Leben in einer sektenähnlichen Gemeinschaft; Angela Mohr ist selbst eine Aussteigerin und weiß also ganz genau, wovon sie spricht.

Ada lebt mit ihren Eltern und Geschwistern im Nirgendwo. »Im Dorf«, umgeben von undurchdringlichem Wald. Die Männer, Frauen und Kinder versorgen sich selbst. Sie bauen Gemüse an, halten Tiere, hüten den einzigen Brunnen, denn sein Wasser ist lebensnotwendig. Im Versammlungshaus trifft sich der Ältestenrat, überhaupt herrscht Hierarchie, ein jeder ist an seinem festen Platz. Männer sind das traditionelle Oberhaupt der Familie. Und es wird noch verheiratet: So wartet auf Ada der junge Hoffnungsträger des Rates, Simon. Gefühle werden nur in der Familie gezeigt, Sittsamkeit, Gehorsam, die Verantwortung für die Gemeinschaft und die Heilige Schrift bestimmen das Leben jedes Einzelnen.

Doch Adas Familie ist ungewöhnlich, sie leidet. Ihre Mutter ist krank, der ältere Bruder Kassian tot. Ada muss stark sein und hält die Familie emotional zusammen. Sie glaubt an die Werte, die ihr von Kindheit an vermittelt wurden.

Und doch: Zweifel kommen auf, als sie eines Tages erfährt, dass Kassian noch lebt. Luca und seine Mutter sind neu ins Dorf gekommen. Luca zeichnet, und unter seinen Skizzen findet sich ein Porträt Kassians. Wie kann das sein? Bohrende Fragen lassen Ada nicht mehr zur Ruhe kommen, aus der folgsamen jungen Frau wird eine Rebellin, die sich auch von Strafandrohungen nicht mundtot machen lässt. Als der Ältestenrat beschließt, sie in eine unterirdische Einzelzelle zu sperren, wächst Adas beste Freundin über sich hinaus und hilft Luca, die Gefangene zu befreien.

Der Weg durch den verbotenen Wald und der Eintritt in »die Welt da draußen«, die als reine Teufelei und Hölle für jeden verdammt wurde, verlangt unglaublichen Mut. Ada überwindet alle Scheu, denn ihre Trauer und ihre Zweifel sind größer. Sie kennt weder Autos noch Züge, keinen Bus, kein Telefon oder Handy, kein Internet. Die Architektur der Stadt ist ihr fremd, die vielen Menschen, die Hektik. Gleichzeitig nimmt sie die Ordnung im Chaos wahr, dazu die Schönheit und die Zwischenmenschlichkeit, denn eine unbekannte Frau hilft ihr, den Ort zu finden, an dem Kassian gesehen wurde.
Es beginnt ein Rennen gegen die Zeit. Die Ältesten beschatten Abtrünnige wie Adas Bruder. Luca gerät in ihre Fänge, und ein junges Mädchen gibt Geheimnisse preis, die das Leben anderer gefährden.

Adas arrangiertes Leben ist plötzlich auf den Kopf gestellt. Nichts ist mehr wahr, der Boden, auf dem sie sich bewegt, schwankt. Verrat und Lüge erschüttern ihren Glauben und ihr Vertrauen. Doch da ist Luca, da ist Kassian, da ist ihr Wille, die Finsternis hinter sich zu lassen. Um frei zu sein.

Eindringlich erzählt Angela Mohr die Geschichte von Menschen am Scheideweg, an dem nicht nur Ada steht. Die Verführung durch andere, die Hoffnung auf ein ruhiges, sicheres Dasein machen, verfängt bei denjenigen, die sich nach Frieden sehnen und vielleicht zu schwach sind, sich selbst zu wehren. Aber auch bei Menschen, die, von Neugierde und Abenteuerlust durchdrungen, ein wenig leichtfertig sind oder sich unverstanden fühlen und deshalb anderen auf den Leim gehen. Solchen, die psychologisch geschult sind und mit Worten und Taten faszinieren können.

ADA ist ein Roman, der nach der letzten Seite nicht zu Ende ist. Denn er stellt existenzielle Fragen, auf die wir keine schnellen Antworten finden.
Fragen, die uns bewegen, über die wir nachdenken und reden wollen!
Ein Roman, der zu Recht für den Buxtehuder Bulle 2016 nominiert wurde.

Angela Mohr: ADA. Im Anfang war die Finsternis, Arena Verlag, 2015, 360 Seiten, ab 14, 14,99 Euro

Die wahren Helden

vinkeNach diesem Wochenende und den Ereignissen von Paris einfach so weiterzubloggen fällt mir irgendwie nicht ganz leicht. Zu unwichtig erscheint mir das Unterfangen, über Bücher zu schreiben. Und doch können es auch Bücher sein, die den Geist der Menschen erhellen und ihnen vielleicht unsinnige Überzeugungen austreiben oder zumindest einen Zweifel daran wecken. Terror ist das Letzte, was wir in dieser Welt, egal wo, noch brauchen, bringt er doch nur Leid, schürt den Hass, stachelt Politiker zu abstrusen Gedankengängen an und macht die Rüstungsindustrie noch reicher. Lauter Dinge, die keiner will.
Dabei ist unsere Welt auch ohne Terror schon eine einzige Problemzone. Die Suche nach Schuldigen, Hintermännern und Drahtziehern ist wichtig, genauso wichtig ist aber auch, an die vielen Menschen zu denken, die versuchen, diesen Ort zu einem besseren zu machen.
Ein Gefühl dafür, dass etwas – irgendetwas – getan werden muss, entwickeln Kinder und Jugendliche meines Erachtens schon relativ früh. Dass man als Erwachsener oft gegen die Ohnmacht kämpft, steht auf einem anderen Blatt. Was also tun, um Jugendlichen einen Weg durch diesen widersprüchlichen Dschungel aufzuzeigen und ihnen Mut zu machen, sich zu engagieren und die Ursachen von dem Leid zu bekämpfen, das letztendlich auch zum Terror führen kann?

Man könnte ihnen die Lektüre des Buches Zivilcourage 2.0 von Hermann und Kira Vinke empfehlen. Denn die beiden Autoren stellen hier die wahren Helden des 21. Jahrhunderts vor. In sieben großen Kapiteln zu den drängendsten Problemen, den Plagen unserer Zeit – Krieg, Armut, Hunger, Kampf um Menschenwürde, Umweltzerstörung, Finanzbetrug und Überwachung – portraitieren sie 19 mehr oder minder berühmte, vor allem aber sehr engagierte Persönlichkeiten. Edward Snowden, der sein gesamtes Leben über den Haufen geworfen hat, um den wohl umfassendsten Überwachungsskandal aufzudecken, den wir bisher je erlebt haben (hier gibt es scheinbar keine klischeefreien Ausdrücke mehr, um dieses irrsinnige Drama in Worte zu fassen) macht den Auftakt. Malala, die sich allein durch ihren Bildungshunger mit den Taliban anlegte, schließt die Reihe.

Dazwischen lernt man die Künstlerin Parastou Forouhar, die für die Freiheit im Iran kämpft, Sheela Patel, die sich in indischen Slums für den Bau von Toiletten einsetzt, oder Sylvia Earle kennen, die ihrerseits gegen die Verschmutzung der Meere kämpft. Mir waren die drei nicht bekannt, so bin dich dankbar für diese Aufklärung.
Die Vinkes erinnern aber auch an die wichtige Arbeit von Rupert Neudeck, der mit der Cap Anamur schon Ende der 70er Jahren Flüchtlinge aus dem Meer gerettet hat, und an den Kampf von Aung San Suu Kyi für Freiheit in Myanmar, der mit den Wahlen vergangene Woche eventuell endlich gewonnen wird.

Biografisches verflechten Vater und Tochter Vinke in verständlichen Texten mit den großen Problemen und schaffen so grundlegendes Wissen, das einen Überblick über die weltweiten Zusammenhänge schafft. Einige der Personen lassen sie in Interviews zu Wort kommen und zeigen auch die Helfer der Helden, da diese natürlich nie im luftleeren Raum agieren.
In ihren Darstellungen machen sie aber auch klar, dass für diesen vorbildliche Einsatz und diesen Mut oft ein hoher Preis gezahlt werden muss. Haft, Verlust von Heimat, körperliche Schmerzen – wir Erwachsenen wissen um diese Schicksale dieser Vorkämpfer. Die Unbeugsamkeit dieser Menschen, die sich davon nicht unterkriegen lassen, fordert Respekt ein.
Für junge Leser gibt es hier die ganze Bandbreite von Überzeugungen, für die man sich einsetzen kann, damit unserer Welt wirklich geholfen wird. Sie bekommen Anregungen, in welchen Organisationen sie tätig werden könnten – beispielsweise Attac, Amnesty International oder Greenpeace – oder worauf sie bei ihrem täglichen Leben achten könnten (Verzicht auf Plastiktüten).

Selbst als Erwachsener wird man durch diese geballte Ladung an Zivilcourage inspiriert, noch einmal nachzudenken, welchen Teil zum Ganzen man selbst betragen kann. Denn auch das macht dieses Buch klar: Würde jeder von uns den Mut aufbringen, sich für eine der Facette von Gerechtigkeit einzusetzen, könnte diese Welt eigentlich ein Paradies sein. Nach Paris, Ankara, Beirut, Irak, Syrien, Nigeria hört sich dieser Gedanke zwar ziemlich weit hergeholt an, aber ich weigere mich, die Hoffnung aufzugeben. Und hoffe auch, dass die Mächtigen endlich mal die Luft aus ihrem Ego rauslassen und die Probleme an den Wurzeln anpacken, anstatt gleich nach Verschärfung von allem Möglichen schreien. Denn jeder klar denkende Mensch, dessen Hirn nicht von Lobbyisten vernebelt wurde, kann den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung verstehen. Wenn dazu noch Respekt und weniger Gier kämen, könnte man diese ganze verfahrene Lage eventuell wieder auf einen Kurs bringen, der allen Menschen ein würdiges, angenehmeres und friedlicheres Leben ermöglicht. Aber vielleicht bin ich auch nur naiv …

Hermann Vinke/Kira Vinke: Zivilcourage 2.0. Vorkämpfer für eine gerechte Zukunft, Ravensburger, 2015, 248 Seiten, ab 13, 16,99 Euro

Soundtrack einer Flucht

tonspurMusik kann ein starker Motor sein. Das muss man wohl niemandem erklären. Was wir nur heute gern vergessen, ist, dass wir diesbezüglich in einer überaus bequemen Welt leben, in der jede Art von Musik jederzeit verfügbar ist, selbst nachts übers Internet können wir so gut wie alles kaufen, streamen, kopieren. Dass es Zeiten und Länder gab, in denen das alles anderes als selbstverständlich war, davon erzählen Olaf Hintze und Susanne Krones in Tonspur.

Doch es geht natürlich um mehr als Musik, denn bei dieser Geschichte handelt es sich um Hintzes autobiografischen Bericht, wie er im Sommer 1989 aus der DDR flüchtet. Aber die Musik aus dem Westen ist einer der treibenden Faktoren, die den damals 25-Jährigen dazu bringen, Eltern, Geschwister, Freunde zu verlassen. Hintze ist ein Kulturmensch, der ohne Musik und Literatur nicht leben kann und will. Die Einschränkungen, die der sozialistische Staat ihm auferlegt, drücken mit der Zeit immer mehr. Sein Wunsch nach Abitur und Studium bleibt ihm unerfüllt, da sich der Junge nicht den politischen Vorgaben und Ansprüchen der DDR-Gesellschaft anpasst. Auf eine ruhige Art bleibt Hintze ein Außenseiter, für den Stefan Zweigs „Die Welt von Gestern“ zu einem Wegweiser und Lebensbuch wird.

Im August 1989 reist Hintze mit Freunden durch Rumänien und Bulgarien, setzt sich schließlich von der Gruppe ab und fährt nach Sopron. Er erkundet die Gegend, sucht nach Möglichkeiten, die Stacheldrahtzäune der österreich-ungarischen Grenze zu überwinden. Dass die Grenze durchlässig geworden ist, entnimmt er westdeutschen Zeitungen. Dennoch ist er sich der Gefahr bewusst, der er immer noch ausgesetzt ist. Seine Flucht gelingt – allerdings anders, als man es bei dem Ort Sopron gemeinhin denken mag.

Tonspur ist auf eine ganz besondere Art ein packendes Buch. Die Schilderung von Olaf Hintzes Flucht ist verpackt in die Erinnerung an seine Kindheit in der DDR. Er erzählt vom Alltag des Mangels, vom Schlangestehen, von den kleinen Gefälligkeiten für ein bisschen besseres Leben. Von einer Schule, in der die politische Haltung wichtiger ist als das Wissen, von einer Zeit bei der Armee, die eigentlich nur Schikane ist, von seiner Leidenschaft für Nachrichtentechnik und selbstgebastelten Radios. Und davon wie er sich bei jeder Gelegenheit, in der DDR kaum zu bekommende Musik-Platten besorgt. So unspektakulär sich das vielleicht anhört, so sehr zieht einen dieser scheinbar ewige Hindernislauf in den Bann.
Flankiert wird der Text von Fotos aus Hintzes Leben – und Abbildungen von den Beschriftungen seiner geliebten Mixtapes. Die sind einfach rührend, denn lange Zeit hatte Hintze keine Möglichkeit, die Namen der Künstler und die englischen Titel irgendwo abzuschreiben. Lautmalerisch hat er die aufgezeichneten Künstler und Songtitel dokumentiert, so dass man dort dann von „Mikel Schäksen“ und „Biedet“ liest. Mag man im ersten Reflex grinsen, so offenbaren diese liebenswerten Kleinigkeiten doch die immens große Sehnsucht nach selbstbestimmtem Musikgenuss und im Endeffekt nach Freiheit.

Im Jahr 25 nach dem Mauerfall stellt Tonspur eine rundum gelungen Erinnerung an eine Welt von Gestern dar, an die ältere Generationen sich noch erinnern, manche sie möglicherweise verherrlichen werden, die die jüngeren Leser aber nicht mehr kennen. In der Geschichte von Hintze und Krones finden sie einen klaren Blick auf das „normale“ Leben in der DDR, der gleichzeitig den Luxus unserer Welt von Heute spiegelt und zeigt, wie wertvoll ein selbstbestimmtes Leben ist.

Olaf Hintze/Susanne Krones: Tonspur – Wie ich die Welt von gestern verließ, dtv/Reihe Hanser, 2014, 360 Seiten, ab 14, 14,95 Euro

Kampf um Selbstbestimmung

meto das hausIn den vergangenen Monaten sind zahlreiche dystopische Romane auf meinen Schreibtisch gelandet. Manche habe ich gelesen, manche nach den ersten Seiten wieder zur Seite gelegt. Méto, der Auftaktband von Yves Grevets Trilogie, wanderte ziemlich lange von einer Ecke in die andere. Bis ich jetzt endlich anfing – und nicht mehr aufhören konnte.

Dabei ist die Geschichte eigentlich etwas sonderbar, geheimnisvoll und erstaunlich sperrig. Der 14-jährige Méto erzählt von seinen Erlebnissen im „Haus“. Wie er dorthin gekommen ist und was er vorher gemacht hat, weiß er nicht. Jetzt lebt er mit 63 anderen Jungen in eine Art Internat mit verschärften Regeln. Die Kinder sind nach Alter in Gruppen unterteilt, dürfen keine neugierigen Fragen stellen, müssen Sport treiben und nur eine gewisse Anzahl an Bissen pro Mahlzeit zu sich nehmen. Halten sie sich nicht an die Regeln der Cäsaren, ihrer Aufseher, drohen heftige Strafen: der Ohrfeigenkreis, Essensentzug und die Kühlkammer. Zudem werden die Jungen mit wachstumshemmenden Spritzen behandelt und mit Schlafmitteln ruhiggestellt. Kein Ort, an dem man gern ist oder der auf eine lustige Internatsgeschichte schließen lässt.

Im Laufe der Zeit stellt Méto sich immer mehr Fragen. Denn sobald ein Kind zu groß für das eigene Bett wird, muss es das Haus verlassen – und niemand weiß, was dann aus ihm wird. Der Ich-Erzähler fängt an zu forschen, sucht den Sinn hinter den harten Regeln und sehnt sich nach Freiheit und Selbstbestimmung. Er findet Verbündete, muss sich aber auch vor Verrätern und Monster-Soldaten hüten. Nach und nach organisiert er die Revolution und sieht sich plötzlich neuen Herausforderungen und Gefahren ausgesetzt.

Irritierend an diesem Roman sind verschiedene Aspekte. Der Handlungsort, also das Haus, ist irgendwie nicht fassbar. Die Zeit, irgendwann in der Zukunft, ebenfalls nicht. Grevet beschreibt kaum, weder Räumlichkeiten, noch Figuren und schon gar nicht die Gefühle der Jungen. Seine Sprache ist nüchtern und staubtrocken. Adjektive und geschmeidige Übergänge scheint er nicht zu kennen. Die Jungen, die allesamt altrömische Namen tragen, wirken unnahbar. Man bleibt als Leser fast ein wenig allein in diesem beklemmend düsteren Szenario und weiß zunächst nicht, mit wem man sich möglicherweise identifizieren soll. Und dennoch entwickelt die Geschichte einen Sog. Denn die vielen offenen Fragen und Geheimnisse um das Haus und die Gesellschaft, in der die Jungen leben, befeuern Fantasie und Neugierde des Lesers.

In dem Moment, wo die Revolution gelingt und die Jungen sich einen neuen Tagesablauf und einen neuen Umgang mit den zuvor versklavten Dienern überlegen müssen, kommt eine neue politische Note dazu. Méto und seine Mitstreiter stehen vor der Frage, ob man eine faschistoide Gesellschaft mit einem Schlag in eine freiheitlich-demokratische verwandeln kann. Dass das nicht so einfach ist, merken die Aufständischen, als sie beinahe die Bestrafungen ihrer eigenen Peiniger übernehmen. Hier liegt meines Erachtens das Bedeutsame der Geschichte, die jugendliche Leser zum Nachdenken und Diskutieren bringen wird.

Wie sich die Revolution und Métos Rolle darin weiterentwickelt, bleibt derweil offen. Denn im wohl spannendsten Moment der Geschichte, endet der erste Teil. Die Fortsetzung erscheint im kommenden Oktober. Bis dahin ist Geduld und ein langer Atem gefragt.

Yves Grevet: Méto – Das Haus, Übersetzung: Stephanie Singh, dtv/Reihe Hanser, 2012, 217 Seiten, ab 14, 14,95 Euro