Leuchtende Traumwelten

träumeDie Novembernächte gehören bekanntlich zu den ungemütlichsten und düstersten, sind sie doch nach dem langen Sommer und dem strahlenden Herbst echt gewöhnungsbedürftig. Vielleicht wird auch deshalb erst einmal Halloween gefeiert, damit das Unbehagen vor diesen Nächten gar nicht erst aufkommen kann.

Die argentinische Autorin und Illustratorin Isol hat ihr ganz eigenes Rezept mit dunklen Nächten entspannt umzugehen: Man stelle ihr Umklappbuch Nachts leuchten alle Träume neben das Bett auf den Nachttisch, lasse vor dem Einschlafen, beim Lesen also, noch etwas Licht auf die Seiten fallen – und genieße dann später im Dunkel die fluoreszierende Magie, die sich entfaltet.

Zwölf Rezepte, also Bilder, hält Isol parat und entführt die Betrachter in Traumwelten. Da öffnen sich verbotene Türen, Meeresbewohner tauchen aus den Tiefen auf, Schmusekätzchen verwandeln sich, langweilige Bücher geben ihre Geheimnisse preis, verborgende Lebensräume werden sichtbar, aus dem Samenkorn erwächst etwas.
Und wer diese Leuchtgebilde auf sich wirken lässt, träumt womöglich etwas ganz Besonderes ins diesen Nächten.

Isols einfache Strichzeichnungen funktionieren auf zwei Ebenen. Tagsüber sieht man die klar umrissene Ausgangssituation und liest pro Seite einen Satz, der die Fantasie bzw. den Traum anregt. Nachts leuchtet dann – erstaunlich lange, wie ich feststellen konnte, als ich irgendwann mal zwischendrin wieder aufwachte – die fluoreszierende Beschichtung und offenbart ihre Geheimnisse. Und selbst, wenn der eine Satz auf der Seite etwas Gruseliges ankündigt, so sind die Auflösungen doch immer so liebenswert, dass kein Betrachter schlimme Alpträume befürchten muss.

Die Gefahr, dass man durch das Leuchten zu lange wach gehalten wird, kann ich nicht bestätigen. Es ist viel mehr ein sanftes Hinübergleiten in den wohltuenden Schlaf. Auf Kleine Schlafverweigerer könnten diese vergänglichen Bilder möglicherweise beruhigend wirken. Die kommenden Novembernächte werden für mich jedenfalls in diesem Jahr zu einem traumhaften Vergnügen.

Isol: Nachts leuchten alle Träume, Übersetzung: Karl Rühmann, Fischer Sauerländer, 2015, 36 Seiten,  ab 4, 15,99 Euro

[Gastrezension] Manege frei

trickDie Faszination für den Zirkus hat sich mir nie erschlossen: Rämtamtam-Musike, Tiere, die in nicht artgerechter Umgebung gezwungen werden, alberne Kunststückchen zu vollführen und vor allem eine der Schlüsselfiguren dieser Welt liegen mir gar nicht. Das hat weniger mit einer ausgewachsenen Coulrophobie – also der Angst vor Clowns zu tun – als eher mit der Abneigung, etwas lustig zu finden, was bestenfalls über Schadenfreude funktioniert und ansonsten überhaupt nicht komisch, sondern nur lachhaft ist.

Nina Wegers neues Kinderbuch, Trick 347 oder Der mutigste Junge der Welt, ist also auf den ersten Blick und den Klappentext hin vielleicht nicht mein Ding. Aber dennoch hat mich die Geschichte des elfjährigen Tom, der seinen Vater sucht und eine famose Familie unter dem sternenübersäten Himmel des Chapiteaus, des Zirkuszelts, findet, von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt.

Tom lebt in München mit seiner liebevollen und patenten Mutter, einer Geologin. Aber bei Fragen nach seinem Vater reagiert sie so vage und emotional, dass er das Thema lieber nicht mehr anspricht. Nur soviel verrät sie: Er sei Artist gewesen und vor Toms Geburt bei einem Unfall gestorben.

Doch dann reißt ein Anruf die beiden aus ihrem harmonischen, unspektakulären Alltag: Toms Großvater, den er nie kennengelernt hat und mit dem seine Mutter schon lange nicht mehr spricht, liegt im Sterben. Kurze Zeit später zieht Tom bei seiner Großmutter in Hannover ein, seine Mutter geht auf Forschungsreise in die Arktis – und Tom findet in einer der Umzugskisten eine alte Eintrittskarte für den Zirkus Merlini, der mittlerweile auf einer Brachfläche in Hannover residiert. Als Tom, der ein begabter Turner ist, versucht, dort mehr über seinen Vater herauszufinden, gerät er mitten in eine üble Intrige, mit der ein fieser Immobilienmakler die Artisten von dem Grundstück, das für viele auch ein Zuhause ist, vertreiben will. Tom setzt mit neugefundenen Freunden und außergewöhnlichen Mitstreitern alles daran, den Zirkus zu retten. Dass sich dabei manches zu wohlgefällig löst, stört nicht, immerhin ist es ein Kinderbuch. Die nüchterne Realität der Erwachsenenwelt greift früh genug.

Dabei bedient Nina Weger, die auch den Kinderzirkus Giovanni leitet, nie irgendwelche Klischees. Nach dem Abitur ist die Autorin selbst ein Jahr lang als Seiltänzerin mit einem Zirkus im eigenen Wagen durch die Lande getingelt und man merkt: Sie weiß, worüber sie schreibt, nicht nur bei den anschaulich und mit viel Sachverstand beschriebenen Kunststücken. Sie beginnt Toms Geschichte sogar mit der nüchternen Kehrseite des Artistenlebens: die ständige Gefahr von Unfällen, die das Ende der Karriere bedeuten; Zeiten ohne Engagement, wenn die Zirkusleute nur mit Mühe über die Runden kommen; Eifersüchteleien, Konkurrenzkampf und die alltäglichen Vorurteile, denen das fahrende Volk begegnet.

Nach und nach aber tauchen wir mit Tom in eine ganz besondere Gemeinschaft von exzentrischen und meist erst auf den zweiten Blick sehr liebenswerten Menschen und (Überlebens-)Künstlern ein. Trick 347 verbindet höchst raffiniert gegenwärtige Themen wie Gentrifizierung und eiskalte Profitsucht, Depression und gestörte Kommunikation mit der Magie der Manege. Zum Zauber des Zirkus gehören tolle Kunststücke und atemberaubende Artistik, Glitter und der Duft von Sägespänen. Das wirklich Faszinierende aber ist die zusammengewürfelte Zirkusfamilie selbst, die Tom seine größte Angst überwinden lässt und jedem Einzelnen das Unmögliche möglich macht. Nicht zuletzt ist dieses Buch bis zur letzten Seite superspannend und grandios geschrieben. Echt magisch!

Elke von Berkholz

Nina Weger: Trick 347 oder Der mutigste Junge der Welt, Verlag Friedrich Oetinger, 320 Seiten, 12,99 Euro, ab 10 Jahren

Der Chor der Mutmacher

levithanZwei Jungs, die sich küssen, regt das heute noch irgendjemanden auf? Man möchte meinen, nicht. Doch wenn die es in aller Öffentlichkeit tun und das über 32 Stunden, um einen neuen Rekord aufzustellen, dann ist das ein Ereignis, dass die Gemüter bewegt.

Von so einem real durchgeführten Ereignis, das ins Guinnessbuch der Rekorde aufgenommen wurde, erzählt David Levithan in seinem Roman Two Boys Kissing, vorzüglich übersetzt von Martina Tichy.
Harry und Craig wollen ein Zeichen setzen, wollen andere schwule Jungs ermuntern, sich zu outen, zu ihrer sexuellen Neigung zu stehen, sich nicht zu verstecken. Dafür küssen sie sich vor der Highschool ihres Ortes, in aller Öffentlichkeit, knapp anderthalb Tage, ohne sich hinzusetzen, ohne zu essen, ohne auf Toilette zu gehen, ohne zu schlafen. So wie die Qualen der beiden – schmerzende Muskeln, Hitze, Kälte, eine volle Blase, Schwindel, Kopfweh – zunehmen, so wächst auch die Schar der Zuschauer an. Anfangs sind nur ein paar Freunde und Lehrer vor der Schule, die die Küssenden mit Getränken und Klamotten versorgen oder sich um die Live-Übertragung des Ereignisses ins Internet kümmern. Doch mit jeder Stunde verbreitet sich der Rekordversuch im Netz immer weiter, in alle Winkel der Welt. Die Medien werden aufmerksam, die konservativen Mitmenschen des Ortes aber auch, die gegen diese angeblich ungebührliche Aktion protestierten.

Neben den Küssenden schildert Levithan jedoch auch noch zwei weitere schwule Paare sowie einen unglücklichen Einzelgänger. Bei dem einen können die Eltern nichts mit den Neigungen des Sohns etwas anfangen, bei dem anderen handelt es sich um einen Transgender-Jungen, der einst im Körper eines Mädchens geboren wurde, aber alle Unterstützung von seinen Eltern bekommt. Der Einzelgänger sucht sein Glück im Internet, wird jedoch nur enttäuscht. Als seine Eltern ihn unfreiwillig beim Chatten erwischen und ihn somit zwangsouten, haut er von zu Hause ab.

Levithan, dessen Roman Letztendlich sind wir dem Universum egal gerade von der Jugendjury mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde, konzentriert sich hier ganz auf den Kosmos schwuler Jugendlicher, rund um ihr Coming-out und ihre erste Liebe. Anfangs ist die Fülle an männlichen Figuren etwas verwirrend, doch mehr und mehr nimmt die Erzählung an Fahrt auf und die Jungs wachsen einem ans Herz. Dies liegt auch an der sehr präsenten Erzählerstimme, die eine ungewöhnliche und erfrischende Alternative zu den vorherrschenden Ich-Erzählern bildet. Denn hier erzählt ein unbenanntes WIR, ein Chor, der den jungen Schwulen fast väterlich über die Schulter schaut, sie ermutigt, Tipps gibt, von eigenen Erfahrungen berichtet, von eigenen Ängsten, Sorgen und Freuden. Es ist ein Chor einer Generation von Schwulen, die Anfang der 90er Jahre die AIDS-Katastrophe am eigenen Leib erlebt hat, deren Partner, Freunde, Bekannte an der Krankheit gestorben sind, die die Diskriminierung noch schärfer erlebt haben, als die junge Generation heute. Sie waren die Wegbereiter dafür, dass seit diesem Sommer in den USA gleichgeschlechtliche Ehen legal sind. Sie erheben die Stimme, ermutigen, warnen aber auch und machen klar, dass es ein langer Weg war bis zu diesem Punkt, aber auch, dass noch ein langer Weg vor allen LGBT*-Leuten liegt, bis diese rechtlich völlig gleichgestellt sind.

Dieses Buch macht Mut. Keine Frage. Jedem Jungen, der mit seinen sexuellen Vorlieben hadert, sei diese Lektüre empfohlen. Levithan zeigt zwar, dass es nicht einfach ist – weder sich 32 Stunden lang zu küssen, noch mit seinen Eltern zu reden, noch die richtigen Freunde zu finden – doch er zeigt auch, dass es sich lohnt, zu sich selbst zu stehen und sich auf das Abenteuer Leben einzulassen.

Demnächst würde ich gern auf diesem Kanal die weibliche Variante dieses Themas vorstellen können … die aber wohl noch nicht geschrieben ist. Liebe Verlage, bitte kümmert euch darum!

David Levithan: Two Boys Kissing – Jede Sekunde zählt, Übersetzung: Martina Tichy, Fischer KJB, 2015, 288 Seiten,  ab 14, 14,99 Euro

[Jugendrezension] Auf dem Rücken der Pferde …

pferdeIch finde das Buch Pferde von Florian Wagner gut, weil der Autor das, was in diesem Buch steht, auch selbst erlebt hat. Das merkt man beim Lesen.

Außerdem steckt viel Wissen darin, zum Beispiel Antworten auf die Fragen: Wie erholt sich ein Pferd? Wie viel Liter Wasser trinkt ein Pferd pro Tag? Welcher Sattel macht das stundenlange Reiten zum Vergnügen?
Das Buch könnte auch Kinder und Jugendliche interessieren, die nicht selbst reiten.
So wird auch erklärt, wie man Pferde in anderen Regionen hält und wofür man sie nutzt.

Die Fotos zeigen spannende Welten – der Abenteuerfotograf Florian Wagner hat die Bilder alle selbst gemacht! Er war in der Mongolei mit Adlerjägern unterwegs, unternahm eine Reitersafari in der afrikanischen Savanne, ist an spanischen Stränden und und in vielen anderen Gegenden der Welt gewesen. Er war in Städten wie Washington oder Abu Dhabi, in Ländern wie den USA, Kenia, Andalusien und in der Mongolei. Damit man weiß, wo die Orte liegen, die er besucht hat, ist auch eine Weltkarte dabei!

Außerdem berichtet der Autor über spannende Rekorde. Hättest Du gewusst, dass es in der Wüste Abu Dhabis ein ganz besonderes Gestüt gibt? Es ist unter anderem so besonders, weil dort die Koppeln mit Wasser aus dem weit entfernten Meer befeuchtet werden, das durch eine lange Pipeline geleitet wird. Um die Koppeln herum ist überall Wüstensand! Dieses Gestüt heiflt Al-Asayl und gehört einem sehr reichen Scheich.

Insgesamt ist das Buch Pferde sehr lehrreich. Kinder, die nicht große Pferdefans sind, finden bestimmt spannend, was über die fernen Länder darin steht, in denen Florian Wagner war. Oder was er über andere Tiere schreibt – wie zum Beispiel über Adler. Besonders schön finde ich die großen Bilder, aber auch, dass der Autor etwas über sich und seine Erfahrungen geschrieben hat.

Es könnten auch schöne Gute-Nacht-Geschichten sein. Kindern, die noch nicht lesen können, kann man es ja auch vorlesen. Ich finde das Buch geeignet ab 6 Jahren.

Emilia (10)

Florian Wagner: 100% Abenteuer: Pferde, Ravensburger Buchverlag, 2015, 
60 Seiten, ab 8, 9,99 Euro

Die Verführung des Bösen

naziEs steht nicht gut um Europa in diesen Tagen. Grenzen werden dicht gemacht, Abkommen außer Kraft gesetzt, die Länder schotten sich gegenüber den Flüchtlingen ab, die unsere Hilfe dringend nötig haben. Zwischen all dem marschieren vermehrt Neonazis auf, zünden Unterkünfte an, schüren Hass und Angst. Noch scheint es wie ein Wunder, dass niemand zu Tode gekommen ist.

F.E.A.R. – Angst – so hat Elisabeth Zöller ihren neuesten Roman genannt. Und es kann einem angst und bange werden, wenn man von dieser fiktiven Geschichte mit ihren exzellent recherchierten realen Hintergründen auf unsere Gegenwart schaut.

Zöller erzählt dieses Mal die Geschichte der 16-jährigen Clara, die sich in den etwas älteren Finnen Joonas verliebt. Der redegewandte, gutaussehende Typ wickelt das Mädchen quasi um den Finger – und Clara lässt sich verführen, zu trist ist ihr Alltag gerade. Ihre Eltern trennen sich, die Mutter fängt etwas mit Claras linkem Geschichtslehrer an. Da kommt Joonas mit seinen zarten Küssen und seiner nationalen Gesinnung gerade recht. Wäre da nicht die andere, dunkle Seite von Joonas. Er wohnt bei einem dumpfen Nazi, trifft sich mit undurchsichtigen Politiker-Hanseln und erzählt Clara ab und an von seinem Traum eine neue Finnische Armee aufzubauen, nach dem Vorbild von LoLa, dem Lokstedter Lager, in dem im ersten Weltkrieg finnische Männer zu Soldaten ausgebildet wurden. Clara durchschaut das alles nicht so richtig und fängt an im Netz zu recherchieren. Dadurch setzt sie ungewollt einen Journalisten auf Joonas Spur. Joonas muss weg aus Deutschland und nimmt Clara mit nach Finnland. Dort kommt es zur Katastrophe, als Joonas mit zwei Kumpeln das Haus einer linken Gastronomin in Brand setzt.

Diese Geschichte zieht Elisabeth Zöller erzählerisch von hinten auf und lässt Clara in einem Polizeibericht selbst die Entwicklung schildern. So ist man als Leser immer dicht an ihrer Sichtweise und ihren Empfindungen, man kann ihre Angst nachvollziehen, als ihre Eltern sich trennen und das Zuhause auseinander fällt, man versteht nur zu gut, wie faszinierend da aufmerksame Jungs sind. Clara sucht nach dem Halt, den die Eltern ihr nicht mehr geben können. Durch diese enge Perspektive von Clara schafft Elisabeth Zöller es meisterlich, dass Joonas‘ Beweggründe immer etwas im Dunklen bleiben, während Claras Wandel von blinder Verliebtheit zu begreifender Erkenntnis all des Schrecklichen um so mitreißender ist.
Die verführerischen Argumentationen der Rechten, die mit ihrer Hetze gegen die Neuankömmlinge Angst schüren vor Zuwanderung, Überfremdung, Islamisierung und sonstigen angeblich so fürchterlichen Zuständen, durchschaut Clara erst im Laufe ihres Berichtes. Für den Leser wird die Wucht dieser Fremdenfeindlichkeit durch den Handlungsstrang in Finnland, in dem die Polizei den Anschlag ermittelt, etwas abgemildert. Doch in Claras Bericht hängt immer die Frage zwischen den Zeilen, wie man selbst in dem Alter, unter ähnlichen Umständen auf solche Sätze und Diskussionen reagiert hätte.
Die Zuspitzung der Ereignisse am Ende von F.E.A.R. lassen keinen Zweifel daran, dass Joonas Position grundlegend falsch ist und dass in heutigen Tagen viel Mut, Engagement und die Suche nach neuen Lösungen dazu gehören, um gegen rechte Strömungen und neue Parteien anzugehen, und eben nicht die Grenzen dicht zu machen. Die Lektüre von Elisabeth Zöllers Roman dürfte Jugendlichen jede Menge zu denken geben und sie hoffentlich stark machen, um all den dunklen Verführungen unserer Zeit zu widerstehen.

Elisabeth Zöller: F.E.A.R., Hanser, 2015, 208 Seiten, ab 14, 16,90 Euro

[Jugendrezension] Im Drogensumpf

cecelia„Manchmal fängt man damit an, ein Leben zu leben, das man niemals erwartet hätte zu leben.“

Cecelia Price ist 17 Jahre alt und geht auf ein ganz normales College. Sie hat eigentlich keine Probleme, bis sie merkt, dass ihr älterer Bruder Cyrus, der immer ihr Vorbild war, drogenabhängig geworden ist. Da er immer mehr Drogen nimmt, will Cecelia ihm unbemerkt helfen, davon loszukommen. Sie rutscht dabei aber selbst immer weiter ab und dealt letztendlich auch mit Drogen, um ihrem Vater zu helfen, denn dieser hat massive Geldprobleme. Dann wird ein Notruf von Cecelia abgesetzt, indem sie sagt, dass ihr Bruder tot sei und sie schuld daran wäre. Kurz darauf überschlagen sich die Ereignisse …

In dem Buch „Der tiefe Fall der Cecelia Price“ schreibt die Autorin Kelly Fiore abwechselnd zwischen Rückblenden und der Gegenwart.
Die Sprache ist sehr einfach gehalten, und ich dachte, ich würde mich ziemlich schnell einlesen. Daraus ist leider nichts geworden und zwar das ganze Buch über nicht. Bis zum Ende konnte ich mich nicht in die Personen hineinversetzen und konnte dem Geschehen nur schwer folgen. Deshalb hat mich dieses Buch leider nicht gefesselt, und ich habe es oft weggelegt, weil ich manche Stellen zu langatmig fand und sie sich sehr gezogen haben.
Für mich war es nicht das richtige Buch.

Laura (16)

Kelly Fiore: Der tiefe Fall der Cecelia Price, Übersetzung: Sonja Häußler, Coppenrath, 2015, 320 Seiten, ab 14, 14,95 Euro

Mehr als Wiedervereinigung

geschichteDie Sonne strahlte heute über Deutschland, das ein Vierteljahrhundert Wiedervereinigung feierte. Ein merkwürdiges Datum, von dem ich nicht mehr weiß, warum es genau auf diesen Tag gelegt wurde. Das verrät auch Peter Zolling in seinem seinem Werk Deutsche Geschichte von 1848 bis zur Gegenwart nicht. Zwar erfahre ich, dass am 3. Oktober 1990 „das Grundgesetz in ganz Deutschland in Kraft trat und die Einheit verwirklicht war“, aber wieso gerade dieser Tag dafür ausgewählt worden war, bleibt im Dunkeln. Wahrscheinlich hat man damals gewürfelt, oder einfach nach einem passenden Termin für einen weiteren Feiertag zwischen Ostern, Pfingsten, Sommerferien und Weihnachten gesucht. Mir soll es recht sein. Vor 25 Jahren jedenfalls stand ich in Florenz auf dem Ponte Vecchio und wurde gefragt, ob die Deutschen denn nun glücklich seien, so wiedervereint. Ich hatte damals keine Antwort darauf, zu sehr ging mir die großdeutsche Euphorie auf den Senkel. Die Beurteilung der aktuellen Ereignissen hat mich in jener Zeit ziemlich überfordert. Heute ist es manchmal auch nicht viel einfacher. Zu komplex scheint die Welt zu sein, zu undurchsichtig die Machenschaften der Politik und der Wirtschaft.

Für die Einordnung von Vergangenem und Tagesgeschäft durch Historiker bin ich daher immer dankbar. Zollings Werk, das jetzt in aktualisiert Form vorliegt, liefert einen grundlegenden Überblick über fast 170 Jahre deutsche Geschichte. Dabei reiht er nicht nur die Fakten aneinander, sondern bringt dem Leser auch die Akteure aus Politik und Gesellschaft mit ihren menschlichen Abgründen näher. Neben den klassischen Stationen – Reichsgründung, Kaiserreich, Weltkriege und Weimarer Republik, Nazi-Diktatur, Teilung, RAF-Terror, Bonner Republik und Wiedervereinigung – reicht Zollings Abriss nun bis zum Sommer diesen Jahres heran.
Die deutsche Politik der ersten anderthalb Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts ist dabei in verstärktem Maße von den globalen Einflüssen und Katastrophen geprägt. Dies wird gerade in der komprimierten Darstellung offensichtlich und eindrucksvoll. Es wird deutlich, wie wenig wir uns hier nur um unseren Kram kümmern können, sondern immer weiter über den Tellerrand hinausblicken müssen, sei es in Sachen Umwelt- oder aktuell in der Flüchtlingspolitik.

Zollings Buch kann eine gute Ergänzung zu den Geschichtsbüchern der Schule sein, jugendliche Leser müssen sich jedoch auf eine journalistisch geprägte Sprache einstellen, die manchmal nicht ganz einfach zu verstehen ist.

Peter Zolling: Deutsche Geschichte von 1848 bis zur Gegenwart. Macht in der Mitte Europas, Hanser, 2015, 448 Seiten,  ab 12, 21,90 Euro

Die Blutprinzessin und die Vogelpracht

cneutHerbst gleich Erntezeit. Irgendwie ist es auch in der Buchbranche so. Jedenfalls bei mir … ist doch grad ganz frisch eine meiner Übersetzungen eingetroffen, die ich in diesem Frühjahr angefertigt habe: Das Märchen Der goldene Käfig von Anna Castagnoli, prächtig illustriert vom Flamen Carll Cneut.

Erzählt wird die Geschichte der verwöhnten und widerspenstigen Prinzessin Valentina und ihrem Tick, Vögel zu sammeln. Wie in Märchen üblich geht es nicht zimperlich zur Sache, denn sobald das gute Kind nicht das bekommt, was es möchte, rollen Köpfe. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Die Interpretation dieser Vorgänge überlasse ich anderen Lesern, meine Vermutung, dass die Autorin sich unter anderem auch von Lewis Carrolls Alice im Wunderland hat inspirieren lassen, habe ich hier schon mal geäußert.

Was ich jetzt aber viel besser einschätzen kann, sind die Illustrationen, besser gesagt, die Gemälde von Carll Cneut. Für die Übersetzung hatte ich vor Monaten nur ein kümmerliches PDF auf dem Bildschirm und war mit dem Kopf eh viel mehr bei den einzelnen Worten und Begriffen als bei den Bildern. Doch nun, im fertigen Zustand, überwältigt mich die Vogelpracht, die Cneut hier geschaffen hat. Jeder Vogel ist eine Persönlichkeit. Jede Seite bietet Schauriges und Schönes. Mal meint man in einem japanischen Holzschnitt gelandet zu sein, dann wieder in der Sesamstraße. Groben Pinselstrich kombiniert er mit feinst ausgearbeiteten Federn, die die Tiere plastisch hervortreten lassen. Valentinas Hutschmuck ist so vielfältig wie ihre Vögel. Den Dienern ist die Überforderung und der Schrecken im Gesicht abzulesen. Die zarten Gewächse des Gartens verwandeln alles in einen Urwald, man hört das Gekreische der Papageien.
Und wenn man dann die Bilder immer wieder betrachtet, so wandelt sich das Gefühl, das man gegenüber der verzogenen, grausamen Blutprinzessin am Anfang hegt, in Mitleid. Denn das arme reiche Kind ist ziemlich einsam …

Ich kann mir zwar kaum vorstellen, dass Vierjährige mit dieser Geschichte viel anfangen können. Aber dafür ist nach oben hin keine Grenze für die Altersempfehlung gesetzt, denn über Valentinas Verhalten und das Ende der Geschichte kann man lange nachdenken und vorzüglich diskutieren.

Für mich ist es heute erneut ein hinreißendes Erlebnis, dass sich die Sätze aus meinem schlichten Word-Dokument nun in einem so wunderschönen Kleid wiederfinden.

Anna Castagnoli/Carll Cneut: Der goldene KäfigÜbersetzung: Ulrike Schimming, Bohem Press, 2015, 48 Seiten,  ab 4, 28,95 Euro

[Gastrezension] Wachgerüttelt

hellwach„Hellwach“ assoziiert man nicht als erstes im Zusammenhang mit einem jungen Mädchen, das in seinen besten Freund verliebt ist und regelmäßig fette Joints durchzieht. Aber die knapp 17-jährige Kiri hat ein drastisches Erweckungserlebnis, und von da an laufen ihre Gedanken Amok und an Schlaf ist nicht zu denken. „Wild Awake“ heißt Hilary T. Smiths Romandebüt im Original, ein sehr treffendes Wortspiel.

Eigentlich will Kiri in den Ferien, die sie allein zu Hause verbringen darf, weil ihre Eltern zu einer Kreuzfahrt rund um die Welt aufgebrochen sind und der ältere Bruder die Semesterferien im Labor verbringen wird, erst mit Lukas einen Bandwettbewerb gewinnen und anschließend sein Herz. Außerdem möchte sie für einen nationalen Klavierwettbewerb üben.
Doch ein unbekannter Anrufer reißt die talentierte Pianistin und Keyboarderin aus ihren Träumereien: Er habe Kiris große Schwester Sukey gekannt, die vor fünf Jahren ums Leben gekommen ist und über die seitdem nicht mehr gesprochen werden darf.

Kiri, deren Eltern von ihr nicht mehr wollen, als „keine Flecken auf dem Teppich und eine nette Telefonstimmen“, also dass das Kind höflich, unkompliziert und zurückhaltend ist, geht dem Anruf nach und findet heraus, dass Sukey, eine leidenschaftliche Malerin, nicht bei einem Autounfall gestorben ist, wie alle immer behaupten. Sie beginnt Fragen zu stellen, hinterfragt sich und ihre Familie. Und wird dabei immer wütender auf ihre Eltern, weil sie die widerspenstige, freigeistige Sukey nicht akzeptiert und unterstützt haben: „Wenn ihnen ihre Scheißteppiche nicht so wahnsinnig wichtig gewesen wären, wäre Sukey jetzt nicht tot.“

Die Autorin beschreibt die Veränderung der Ich-Erzählerin in prägnanten Sätzen und findet starke Bilder. „Ich stehe da und hasse“, sagt Kiri voller lähmender Wut nach einem frustrierenden Streit mit ihrem Bruder. Später klingt sie versöhnlich: „Vielleicht sollte man Menschen nicht danach beurteilen, was aus ihnen geworden ist, sondern danach, was sie trotz allem geblieben sind.“ Und fasst schließlich die Sprachlosigkeit der Familie nach dem Tod der Schwester und Tochter in der Erkenntnis zusammen: „Wir stehen unsicher an der Kreuzung von Liebe und Vermeidungsverhalten, wie ein paar Touristen, die sich verlaufen haben und nicht wissen, welche Straße nach Hause führt.“

Bunte Farbspritzer auf dem alten Teppich halten Kiris Erinnerung an Sukey lebendig, ein schönes, fast poetisches Leitmotiv, das sich wie ein vielfarbiger Faden durch die Geschichte zieht. Das Buchcover spiegelt diese Idee allerdings nur halbherzig als pseudopsychedelische Kleckserei wider, die am Anfang jedes Kapitels als graugetönter Abklatsch zitiert wird, eigentlich nett gedacht, jedoch schlecht gemacht.

Smith, die zuvor anonym über ihre Erfahrungen als Dauerpraktikantin in der Buch- und Medienbranche gebloggt hat, macht in ihrer furiosen, warmherzigen Geschichte vom Erwachsenwerden, von Liebe und Tod, Kreativität und psychischen Krisen sehr vieles sehr gut: Zum Beispiel lesen sich glückliche Knutschszenen überhaupt nicht albern, verunglückte Annäherungsversuche aber fühlen sich exakt so peinlich an, wie sie für ihre Heldin sind. Dies ist auch der feinfühligen und nie überdrehten Übersetzung von Jenny Merling zu verdanken.

Situationen, die in anderen Romanen gern zu dramatischen Höhe- und Wendepunkten hochstilisiert werden, fügt Smith realistisch und schlüssig in die Geschichte ein: Kiri wird nicht gleich vergewaltigt, als sie trotzig und zugedröhnt zu einem älteren Mann ins Auto steigt. Und nach einem nächtlichen Zusammenstoß mit einem PKW kommt der Teenager mit lädiertem Rad, zerrissenen Leggins, etlichen blauen Flecken und blutigen Schrammen davon, und erleidet nicht gleich eine Querschnittslähmung oder ein schweres Schädelhirntrauma. So ist das Leben nämlich in Wirklichkeit: Man kriegt vom Schicksal immer wieder eine gewischt, aber dass „danach nichts mehr ist wie zuvor“ kommt eher selten vor, kleine Wachrüttler sind dagegen häufiger. Und dann liegt es an einem selbst, was man daraus macht.

Apropos Fahrrad: Man merkt gleich zu Anfang, dass dieses Buch nicht in den USA spielt, wo das Fahren von Spritfressern scheinbar zu den Grundrechten gehört und jeder Jugendliche ab 16 einen Führerschein hat. Kiri fährt viel Fahrrad im kanadischen Vancouver (sogar ohne Helm) und ihr flottes Zweirad wirkt einige Male entscheidend und wegweisend.

Insgesamt gleicht Kiris Sommer und Hilary T. Smiths Roman einer nächtlichen Fahrradspritztour durch die Stadt, im eigenen Rhythmus, ohne dass Ampeln und Autoverkehr das Tempo bestimmen. Man fährt durch vermeintlich bekannte Gegenden und entdeckt nachts ganz neue Facetten. Mal gleitet man genießerisch dahin, mal legt man einen erfrischenden Sprint ein, mal droht man ins Schleudern zu geraten. Man spürt alles viel deutlicher, unmittelbarer: den Wind in den Haaren, die vom Asphalt abgestrahlte Wärme, die plötzliche Kälte nach einem Schauer, die nächtliche Stille. Ein Trip, bei dem man leicht neben sich zu stehen scheint und doch hellwach ist, „sowas von da“, wie einst Tino Hanekamp treffend sein in einer Silvesternacht spielendes Debüt betitelt hatte. Ein Trip, bei dem man immer weiter mitfahren will.

Elke von Berkholz

Hilary T. Smith: Hellwach, Übersetzung  Jenny Merling, FJB Fischer Verlag, 2015, 367 Seiten, ab 14, 14,99 Euro

 

Kinderarmut existiert … nicht?

ajumVergangene Woche war ich als Referentin auf die Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft Jugendliteratur und Medien der GEW (AJuM) eingeladen. Hinter dem etwas sperrigen Namen stehen 500 Lehrer_innen und Pädagog_innen, die als Ehrenamtliche die Kinder- und Jugendbuchliteratur des Landes lesen und rezensieren. Dies macht die AJuM bereits seit über 100 Jahren, doch seit 2003 gibt es die Rezensionen auch im Internet auf der Seite ajum.de zu lesen. Hier prüfen die Rezensent_innen die Publikationen vor allem auf den pädagogischen Nutzen und die Einsatzmöglichkeiten im Unterricht. Im Archiv der AJuM kann man auf mehr als sagenhafte 50.000 Rezensionen zugreifen, mit ganz differenzierten Meinungen.

Ich war gebeten worden, in der evangelischen Akademie in Loccum über meine Arbeit als Buchbloggerin zu erzählen. So traf ich mit zwei Dutzend überaus interessierten Pädagog_innen, aktiven und bereits pensionierten, zusammen und diskutierte zwei Tage lang mit ihnen über Bücher, missratene Klappentexte, Kinderarmut als literarisches Thema, die Verlagswelt im Allgmeinen und wie gute Rezensionen auszusehen haben.
Da ich das Rezensieren auch nur durch learning-by-doing und journalistisches Ausprobieren gelernt habe, war ich dankbar, einmal über die Kategorien eines solchen Textes nachdenken zu können. Hier auf dem Blog unterliege ich zwar nicht den Vorgaben und Zwängen, an die sich die AJuM-Rezensenten halten müssen, doch gibt es Punkte, die auch für mich gelten: Eine Rezension ist mehr als eine Inhaltsangabe, sollte gut lesbar und nicht zu lang sein, das Ende der rezensierten Geschichte darf natürlich nicht gespoilert werden, Erzählperspektive, Sprache, Stil sollten erläutert, die Besonderheiten daran aufgezeigt und eventuell mit einem aussagekräftigen Zitat belegt werden, Worthülsen sollte man vermeiden und sie stattdessen mit Inhalt füllen (beispielsweise sagt das Wort „emotional“ nicht besonders viel, fragt sich der Leser einer Rezension dann vermutlich, ob man denn nun weint oder lacht …). Die Buchausstattung, die Illustrationen oder die Recherche-Arbeit der/s Autor_in sollten ebenfalls gewürdigt werden.
Das hört sich für Viel-Rezensenten möglicherweise völlig selbstverständlich ist, doch alle in der Runde waren dankbar für solche Handreichungen, da das tägliche Schreiben oftmals so automatisiert – oder unter Stress – abläuft, dass wichtige Aspekte manchmal einfach untergehen. Das passiert jedem.

ajumPraktische Anwendung fand dieser Kriterien-Katalog dann an zwei Büchern, die im Vorfeld als Lektüre aufgegeben worden waren. Thema dieser Tagung war die Kinderarmut in Deutschland, flankiert wurde dies durch einem umfang- und aufschlussreichen Vortrag von Michael Klundt, Professor für Kinderpolitik an der Uni Stendal, und einer Lesung von Dirk Reinhardt aus seinem aktuellen Roman Train Kids.
Bei den beiden Büchern für den Rezensions-Workshop handelte es sich um Dave Cousins 15 kopflose Tage, in der Übersetzung von Anne Brauner, und Donna Gepharts Tod durch Klopapier, ins Deutsche gebracht von Sabine Hübner. Letzteres stammt aus den USA, ersteres aus Großbritannien. Die Wahl fiel auf diese beiden Titel auch aus dem Grund, dass es keine deutschen Produktionen zum Thema Kinderarmut gibt. So wie – laut Professor Klundt – für die Politik momentan Kinderarmut in Deutschland nicht existiert, so ist für die Verlage dieses Thema eben nicht lukrativ genug. An diesen zwei Tagen in Loccum haben wir ziemlich häufig die Köpfe geschüttelt.

In Bezug auf die beiden vorzustellenden Bücher war ich anfangs etwas unentschlossen, wie ich sie finden sollte, denn das gesellschaftliche amerikanische und britische Umfeld sticht in beiden Geschichten nämlich ziemlich hervor. Doch im Gespräch in der Runde taten sich dann die Vorzüge dieser Lektüren auf.

Sowohl Cousins als auch Gephart verstehen es vorzüglich, schwierige Familiensituationen, bedrückende Ereignisse und bedrohliche Zukunftsaussichten durch eine liebevolle Darstellung und eine humorvolle Einbettung erträglich zu machen.
In 15 kopflose Tage ist es der 15-jährige Ich-Erzähler Laurence, der mit seinem 6-jährigen Bruder Jay und der alkoholkranken, depressiven Mutter, in einem Brennpunktviertel in einer nicht genannten britischen Großstadt lebt. Eines Tages verschwindet die Mutter und die Jungs sind auf sich allein gestellt. Aus Angst vor dem Jugendamt spielt Laurence gegenüber den Nachbarn vor, dass die Mutter immer gerade bei einem von ihren zwei Jobs ist. Trotz all der Probleme – das Geld geht ihnen aus, Jay wird krank – lieben die Brüder ihre Mutter über alles. Laurence versucht, ihr einen dringend nötigen Urlaub zu verschaffen, den er bei einem Radio-Quiz gewinnen will. Dafür gibt er sich als sein eigenen Vater aus, der die Familie vor Jahren verlassen hat.

Auf der anderen Seite des Atlantiks ist es der 10-jährige Ben, der ebenfalls als Ich-Erzähler in Tod durch Klopapier, seiner Mutter helfen will, nicht aus der Wohnung zu fliegen. Bens Vater ist an Krebs gestorben, die Mutter kann die Miete nicht mehr bezahlen, der Vermieter kündigt ihnen die Wohnung. Ben macht daher bei allen möglichen Gewinnspielen mit, in der Hoffnung, eines Tages den Jackpot zu knacken. Nebenher zieht er an der Schule einen illegalen Handel mit Schokoriegeln auf. Als der demente Großvater bei Ben und seiner Mutter einzieht spitzt sich die Situation zu.

Erstaunlich ist, dass es bei beiden Geschichten gewisse Parallelen gibt: Die Protagonisten können auf gute Freunde zählen, die ihnen ungeachtet ihrer Probleme, für die sie sich schämen, helfen und ihnen den Rücken stärken. Radio-Quiz und Preisausschreiben sind quasi die Ticks der Jungs, die, wenn man die Bücher hintereinander liest, fast wie ein nerviger Erzähl-Trick wirken, aber dennoch eigenständige Funktionen haben. Sie zeigen die Kreativität, Hilfsbereitschaft und Verzweiflung der jungen Helden.
In beiden Fällen handelte es sich vor den dramatischen Entwicklungen bei den Figuren um ganz normale Familien, die durch Schicksalsschläge wie Tod oder Scheidung zu Außenseitern der Gesellschaft werden. Für Kinder und Jugendliche, die in ähnlichen Situationen stecken, mag das vielleicht keine verlockende Lektüre sein, sie könnten dort jedoch das Gefühl finden, dass sie mit ihren Problemen nicht allein sind und Hilfe – trotz aller Scham – möglich ist.
Für alle anderen, die nicht von Armut bedroht sind, bieten die Bücher die Möglichkeit, eine Sensibilität für Freunde, Mitschüler und  Nachbarn mit diesen Problemen zu entwickeln.

Die schwierigen Lebenssituationen der Jungs wird von humoristischen Szenen in den Plots erträglich gemacht: Bens Freund Zahnstocher ist ein Meister in Sachen Horror-Maskenbild, was sich später als überaus hilfreich erweist; Jay hält sich für Scooby-Doo, beißt gern mal zu und bringt den großen Bruder in peinliche Situationen. Zudem ist jedes Buch mit Details ausgestattet, die ein weiteres Aufatmen erlauben: 15 kopflose Tage eröffnet jedes Kapitel mit einer Comic-Seite, die Autor Cousins selbst gezeichnet hat. Tod durch Klopapier liefert an jedem Kapitelanfang hintersinnig-witzige Informationen rund um die Geschichte des Klopapiers.

Die Diskussionsrunde in Loccum war sich bei der Beurteilung dieser Bücher jedoch auch einig, dass die Kinder und Jugendlichen bei dieser Lektüre begleitet werden sollten. Denn im humoristischen Kleid stecken bittere Schicksale, die man nicht so locker wegsteckt.

Zu wünschen bliebe, dass es auch deutsche Geschichten ähnlicher Couleur zu diesem Thema gäbe. Die Politik mag uns ja so Einiges vormachen und Kinderarmut geflissentlich übergehen, doch Bücher sollten die Realität in unserem Land spiegeln, egal wie trist sie ist oder wie wenig lukrativ. Sie könnten als Helfer und Mutmacher eine wichtige Rolle spielen.

Donna Gephart: Tod durch KlopapierÜbersetzung: Sabine Hübner, cbt, 2015, 288 Seiten, ab 10-99, 12,99 Euro

Dave Cousins: 15 kopflose TageÜbersetzung: Anne Brauner, Freies Geistesleben, 2015, 288 Seiten, ab 13, 17,90 Euro

[Jugendrezension] Abtauchen in die Welt der Bibliomantik

meyerEndlich ist der zweite Teil der Trilogie Die Seiten der Welt von Kai Meyer erschienen!
Noch immer herrscht Krieg zwischen der adamitischen Akademie und den Rebellen. Doch diesmal verfolgen die Rebellen einen Plan: Sie wollen das Sanktuarium ausfindig machen, den Regierungssitz der Akademie.

Dafür muss Furia die Sanktuariumskarte beschaffen. Diese ist im Besitz eines gefährlichen Bibliomanten. Zum Glück wird sie dabei von Cat, Finnian, Summerbelle und Isis Nimmernis, der abtrünnigen Agentin, unterstützt. Bald bemerken sie, dass sich eine Bedrohung in den untersten Refugien verbirgt. Überall spricht man von sogenannten Ideen, doch niemand ahnt, welche Gefahr von ihnen ausgeht.

Nachtland beginnt unvermittelt, sodass man sofort in der Handlung drin ist. Im Laufe der Geschichte lernt man neue Figuren kennen, die perfekt charakterisiert sind. Man liest sich immer mehr in die Welt der Bibliomantik ein. Durch die detaillierten, lebendigen Beschreibungen von Kai Meyer fühlt man sich wie ein Teil des Geschehens.

Sehr interessant war, dass abwechselnd aus verschiedenen Sichtweisen erzählt wurde. Wenn es richtig aufregend wurde, wechselte die Sichtweise und man konnte nicht aufhören zu lesen, da man unbedingt erfahren wollte, was als nächstes passiert.

Die Fantasiewelt nimmt immer mehr Form an. Es kommen neue, bibliomantische Wesen und Gestalten hinzu und Erfindungen wie das Bookboard. Ich war fasziniert zu sehen, wie sich die Welt der Bibliomantik weiter entfaltet und aufblüht. Aber auch, wie die Charaktere sich entwickeln und wie Furia eine richtige Bibliomantin wird.

Ich empfehle dieses Buch auf jeden Fall weiter! Nachtland fand ich sogar noch besser als den ersten Teil, obwohl dieser eins meiner Lieblingsbücher ist. Die Spannung steigt mit jedem Kapitel, sodass man das Buch nicht aus der Hand legen kann. Ich freue mich schon auf den dritten und leider letzten Teil, der voraussichtlich nächstes Jahr erscheinen wird.

Katharina (13)

Kai Meyer: Die Seiten der Welt – Nachtland, Band 2, Fischer FJB, 2. Aufl. 2015, 592 Seiten, 19,99 Euro

Leise Laute laut lesen lernen

lesenIm vergangenen Jahr habe ich ein paar Stunden Sprechunterricht bei einer Schauspielerin genommen. Ich wollte präpariert sein, um aus einer meiner Übersetzungen vor Publikum zu lesen. Bis dato hatte ich nicht viel vorgelesen, hielt mich auch nicht gerade für talentiert, weil ich mich ständig verhaspelte und Fehler machte und irgendwann keine Luft mehr bekam. Nicht schön, weder für mich, noch für mögliche Zuhörer. Aber wie so vieles ist auch das Vorlesen eine Kunst, die man lernen und trainieren kann. Das haben mir die Stunden gezeigt und mir die Angst vor dem Vortragen genommen. Es macht mir mittlerweile richtig Spaß und so manches Mal lese ich mir selbst laut vor.

Während des Sprechunterrichtes bekam ich irgendwann Texte, mit denen Schauspieler die einzelnen Laute verstärkt üben. Der Inhalt der Texte war eher absurd widersinnig und für mich nicht so anregend. Ganz anders nun die Sammlung von 50 kurzen Vorlesegeschichten von Daniel Napp, die er für das Buch Löwen mögen schöne Zöpfe geschrieben und illustriert hat. Für jeden Laut gibt es eine eigene Geschichte, dazu kommen Texte, in denen lange und kurze Vokale betont und im Wechsel geübt werden können. In „Kampf gegen die Kilos“ wechseln sich beispielsweise G und K ab, in „Hundedelikatesse“ werden P und B sowie T und D variiert. Man erliest den Unterschied von stimmhaftem und stimmlosen S, erkundet das vordere und das hintere CH und dringt so in die schier unendlichen Weiten des eigenen Rachen- und Klangraumes vor.

Sind bei den Sprechübungstexten für Erwachsene, wie in Der kleine Hey, die Inhalte meist ziemlich gaga, so schafft es Napp immer, eine kleine, runde, wenn auch oftmals bizarre Geschichte zu erzählen. Dabei hält er sich nicht sklavisch daran, immer nur den einen entsprechenden Laut zu benutzen – à la Ottos Mops von Ernst Jandl –, sondern erlaubt sich durchaus Abweichungen. Die aber sind von entzückender Manier, wie Beispielsweise beim kurzen U: „Kurz vor Fulda verguckte sich Muldenkipper Ulf in den Bus Uschi.“
Man verguckt sich in laut lesender Weise Seite um Seite in dieses Buch, ins Vorlesen, in die Laute, die Buchstaben und die Bilder noch dazu.

So verbinden sich hier aufs Schönste unterhaltsame Kurzgeschichten mit nützlichem Wissen um den akkuraten Gebrauch von Lippen, Zunge und Luftstrom beim Sprechen. Nach meinen wenigen Stunden Sprechunterricht bin ich natürlich keine professionelle Sprecherin geworden, doch die Freude an der korrekten Aussprache und dem Lesen hat dazu geführt, dass dieses Buch nicht so schnell im Regal verstauben wird, sondern mich immer wieder dazu verführt, einen neuen Laut anhand einer anderen Geschichte zu üben und zu vertiefen. In diesem Sinne ist Napps Buch nicht nur etwas für die Lütten, sondern für alle, die an ihrer Aussprache feilen möchten.

Daniel Napp: Löwen mögen schöne Zöpfe. Das LAUT Lesebuch, Carlsen, 2015, 176 Seiten, ab 4-99, 18,99 Euro

[Gastrezension] Benimm dich

lumfiti„Chill mal dein Leben!“, raten Kinder ihren Eltern, wenn diese sie zum Beispiel bitten, nicht mit den Fingern zu essen, nicht andauernd zu pupsen und rülpsen oder mal das Zimmer aufzuräumen.

Auch Kari aus Birte Hosodas Kinderbuch Lumfiti kawumm! wünscht sich, dass vor allem ihre Mutter mal entspannter wird und sie nicht permanent mit den Benimmregeln ihres früheren Kinderfräuleins traktiert. Aber dass ihre Eltern plötzlich mit abgenagten Hühnerknochen werfen, in einer selbstgebauten Höhle im Wohnzimmer hausen, nur einen Kunstpelz um die Lenden oder eine übergeworfene Straußenfederdecke tragen und sich wohlig gegenseitig die haarigen Rücken lausen, das hat die Zehnjährige wirklich nicht gewollt. Jetzt hat sie ein sehr schlechtes Gewissen. Auch ihr bester Freund Edgar, der nebenan mit seiner sehr gechillten Mutter Shala und drei nervigen kleinen Brüdern in charmantem Dauerchaos wohnt und Karis stilbewusste Mama deshalb sehr schätzt, hält Kari anfangs für nicht ganz unschuldig am Durcheinander.
Aber gemeinsam mit Shala sowie der leicht überdrehten TV-Reporterin Betty Bo und dem schrulligen Professor Zerberbier entschlüsseln die plietschen Freunde die mysteriöse Verwandlung und kommen dem wahren Übeltäter auf die Spur.

Raffiniert mischt Birte Hosoda in ihrem Debüt Krimi, lustiges Abenteuer, Mediensatire und Freundschaftsgeschichte. Nebenbei erzählt sie knapp, aber anschaulich die Menschheitsgeschichte vom heutigen Homo sapiens bis zum menschenaffenähnlichen Australopithecus anamensis – vier Millionen Jahre im Schnellrücklauf. Der soeben nahe Johannesburg entdeckte, grazile Homo naledi hätte sich auch noch dazu gesellen können, die Entwicklung des Menschen ist lange noch nicht auserzählt.

Kari und Edgar sind einem sofort sympathisch, weil sie auch mal eingeschnappt und biestig oder traurig und verzweifelt sind. Sie sind so klug wie die Leser, es gibt keinen plumpen „Achtung-Kasper-das-Krokodil!“-Effekt. Aber sie sind auch keine Computer-Nerds, Klugscheißer oder unrealistisch ausstaffierte und versierte Miniagenten.
Kari ist mutig und manchmal ganz schön schlagfertig und Edgar hat technisch schon einiges auf Kasten, wovon er sich das Meiste angelesen hat. Okay, das ist unrealistisch. Aber es schmeichelt der Seele aller Leseratten und gibt uns Bücherwürmern etwas Genugtuung.

Die erwachsenen Charaktere sind liebevoll überzeichnet, genauso wie kluge Karikaturen sein sollten. Reporterin Betty Bo ist extrovertiert, laut, kennt kaum Tabus und würde für eine gute Story einiges tun – aber nicht alles, also Typ: raue Schale, guter Kern. Es gibt darüber hinaus Einblicke in moderne Arbeitsfelder und die ernüchternde Profanität von Fernsehstudios, die viel kleiner sind als erwartet, mit gecastetem Publikum und hässlicher Einrichtung.
Selbst der hochgelobte Anthropologie-Prof erweist sich als weltfremd und wenig hilfreich in seinem monothematischen Elfenbeinturm.
Und mit der Figur des schmierigen Schokoladenfabrikanten erfährt man einiges über Profitgier und plumpe Eitelkeit, schädliche Übernahmegerüchte und altbackende Geschäftskonzepte.

Sehr erfrischend ist Birte Hosodas Tonfall und Sprache. Die Autorin und studierte Japanologin verbindet die Klugheit des Homo sapiens mit der Kreativität des Homo habilis und der Verspieltheit des Australopithecus. „Lumfiti kawumm“ lautet übrigens die einzige an Sprache erinnernde Äußerung von Karis Vater am Anfang seiner Verwandlung und Kari interpretiert es als Warnung im Sinne von „gleich kracht’s“. Vielleicht heißt es aber einfach „entspann dich“ auf Steinzeitisch.
Ein Fazit des Buchs lautet: Hört mehr auf Kinder, selbst wenn es quakige kleine Brüder sind. Und ein bisschen „lumfiti kawumm!“ kann auch nicht schaden.

Elke von Berkholz

Birte Hosoda: Lumfiti kawumm!, Illustration: Stefanie Jeschke, Tulipan Verlag 2015, 176 Seiten, ab 8, 12,95 Euro

Kopfüber

aliceBis zum heutigen Tag hatte ich nie Gelegenheit – und es hat mich auch nie jemand dazu gedrängt – den Kinderbuchklassiker Alice im Wunderland von Lewis Carroll zu lesen. Die Filme, selbst wenn ein Johnny Depp darin mitspielte, haben mich irgendwie nicht gereizt. Nun hat es allerdings die raffinierte Neuauflage aus dem Gerstenberg Verlag geschafft, die zum 150-jährigen Jubiläum des Werks erschienen ist, das Versäumte nachzuholen.

Zum Nonsens-Inhalt von Alice möchte ich hier gar nicht viel ausführen. Figuren wie das weiße Kaninchen, die Grinsekatze, die blaue Raupe, der verrückte Hutmacher, die Herzkönigin sind hinlänglich bekannt. Wissenschaftliche Werke über Carrolls Werk gibt es zu Hauf, ich würde ein eigenes Studium benötigen, um mich dort auf den aktuellen Stand zu bringen. Das kann jedoch in diesem Moment nicht meine Aufgabe sein.

Hier möchte ich viel lieber auf zwei Dinge aufmerksam machen, die mich erfreut haben. Da ist zunächst die Ausstattung dieser Neuausgabe: Illustriert von der Niederländerin Floor Rieder, die für Gerstenberg bereits das Buch Evolution von Jan Paul Schutten bebildert hat und zudem für die Zeitschrift flow arbeitet, kommt Alice in einem liebevoll aufgemachten Design und Outfit daher, dass man ihr die 150 Jahre nicht mehr anmerkt. Rieders Drucke (ich bin mir nicht sicher, ob Holz- oder Linoldrucke) kommen mit fünf kräftigen Farben aus, die dennoch ein ganzes Universum erschaffen. Alice mit rundem Hut, Brille, kurzem Kleid und Sneakern erscheint mir wie eines der pfiffigen Schulmädchen, die vor wenigen Tagen eingeschult wurden und nun eine neue Welt entdecken. Die Unsinnigkeiten und Unerklärlichkeiten des Leben bekommen so ein frisches Gesicht, was zwar nicht hilft, die Rätsel zu lösen oder die Strategien eines Schachspiels zu durchschauen. Aber sie machen Laune. Man liest sich von einem Bild zum nächsten.

Und auf der Mitte des dicken Buches, wenn das Wunderland durchschritten ist, wird man als Leser gezwungen, das Werk zu drehen, quasi von hinten neu anzufangen. Das spiegelverkehrte Cover von Alice hinter den Spiegeln irritiert zunächst. Alice klettert nun mit Hoody und Schachbrettrock durch die wundersame Welt. Ein Stück erwachsener nun schon, doch immer noch neugierig auf die Gesellen, die ihr weiterhin begegnen.
Dass sich Alice hinter den Spiegeln befindet, also quasi alles verkehrt herum ist, merkt man als Leser jedes Mal, wenn man das Lesebändchen von unten nach oben in den Text legt. Mich hat das bis zum Schluss verwirrt, erstaunt und mir immer wieder ein Lächeln entlockt.

Die andere Sache, die mich erfreut hat, war, dass mir die Lektüre von Alice endlich einen Schlüssel zu einem Märchen geliefert hat, das im Oktober in meiner Übersetzung bei Bohem erscheint. In Der goldene Käfig von Anna Castagnoli, üppig illustriert von Carll Cneut, lässt eine Prinzessin ihre Diener enthaupten, wenn diese ihr nicht die paradiesischen Vögel bringen, die sie sich so dringend wünscht. Es war mir ein Rätsel, wie man auf so eine doch ziemlich grausame Geschichte kommen kann. Doch nun ahne ich, dass hier die Kopf-ab-Manie der Herzkönigin aus Alice im Wunderland Pate gestanden haben könnte. Vielleicht werden mir andere diese Ahnung bestätigen, vielleicht werden sie mich auf wieder andere Quellen hinweisen.
Schön für mich war jedoch, dass bei der völlig zweckfreien, aber so unterhaltsamen Lektüre von Alice auch noch diese Verbindung zu Tage trat, und mir wieder einmal bewusst wurde, dass Literatur nicht im leeren Raum entsteht, sondern die Klassiker immer wieder und auf vielfältige Art und Weise wichtig sind. Und daher in ihren neuen schönen Gewändern es allemal wert sind, gelesen zu werden.

Lewis Carroll: Alice im Wunderland & Alice hinter den SpiegelnÜbersetzung: Christian Enzensberger, Illustration: Floor Rieder, Gerstenberg Verlag, 2015, 384 Seiten, 25 Euro

Nachtrag am 15.09.2015:

In Bezug auf die Illustrationstechnik hat mir der Gerstenberg Verlag gerade folgende Info zur Verfügung gestellt:

„[…] durch ihre Illustrationstechnik verbindet Rieder bewusst Tradition und Moderne: Sie bestreicht Glasplatten mit schwarzer Farbe, kratzt die Motive mit der Feder ein, scannt die Bilder und koloriert diese am Rechner. Die Motivwahl fand Rieder nicht schwierig:
„Die Geschichte gibt die Zeichnungen zum Teil vor. Danach ging ich auf Suche nach einer tieferen Ebene. Ich entdeckte, dass Lewis Carroll Mathematik mochte. Deswegen habe ich viel Symmetrie verwendet.“
Die Ausstattung war für Rieder ebenfalls wichtig: „Dass die zwei Bücher die Form einer altenglischen Bibel haben mussten (klein und ganz dick), war schnell entschieden.““
Copyright © Floor Rieder

 

 

Es lebe die sexuelle Vielfalt!

gayDas Leben auf dieser Erde ist alles andere als einfach, und der Mensch und seine vermeintlichen Regeln tragen nicht gerade dazu bei, dass es leichter wird. Vor allem, wenn es um Sexualität geht und wie die angeblich zu sein hat. Für Jugendliche, die sich ihrer sexuellen Identität noch nicht ganz klar sind, macht die Hetero-Normierung unserer Gesellschaft es auch nicht besser.

Gegen diese Normierung und eine angeblich normale Sexualität stellt der britische Autor James Dawson sein Handbuch How to be gay. Er richtet sich an die Jugendlichen, die vor allem eins sind: neugierig. Auf sich, auf das Leben, auf andere Arten der Sexualität, die ihnen nicht in der Schule erklärt und in den Medien oftmals als Stereotypen präsentiert werden. Dawson hingegen lädt die jungen Leser mit klaren, oft witzigen und ironischen Worten – von Volker Oldenburg in charmant-coole deutsche Varianten übersetzt, die eine unterhaltsame Lektüre garantieren – in den Club der LGBT*-Leute ein, d.h. in die Welt der LesbischGayBiTrans*-Menschen (wobei das * für die Gesamtheit aller sexuellen Orientierungen, sozialen Geschlechter und Geschlechtsidentitäten steht). Das mag sich, so referiert, vielleicht etwas sperrig lesen, doch geht es Dawson darum, sich unbefangen seinen sexuellen Phantasien zu stellen und herauszufinden, was Mädchen/Junge eigentlich mag. Der Respekt vor sich selbst und den anderen steht dabei im Mittelpunkt – ist der gegeben, ist es egal, wen und wie man liebt und mit wem oder wie man Sex hat.

Ist sie oder er sich seiner sexuellen Vorlieben erst einmal klar geworden, hilft How to be gay als Gebrauchsanleitung für das tägliche Leben weiter.  Dawson liefert wichtige Gedanken, wie ein Coming-out am besten gestaltet werden kann, verrät, was bei schwulem und lesbischen Sex abgeht, bietet Argumentationshilfen, wenn man als LGBT* zu einer religiösen Diskussion genötigt wird, zeigt, was bei Sex-Apps  zu beachten ist, oder wie man als homosexuelles Paar eine Familie gründet. Gleichzeitig warnt er auch vor lästigen und unnötigen Geschlechtskrankheiten und wie man sich durch respektloses Verhalten oder die gedankenlose Benutzung von Begriffen zum Vollhorst machen kann. Er nennt die Dinge dabei ungeschminkt beim Namen, und genau das tut gut, damit die Jugendlichen nicht ewig im Nebel von Unausgesprochenem, Angedeuteten, Klischees, Vorurteilen, Diskriminierung und angeblicher Unnormalität herumstochern müssen.

Angereichert hat Dawson seine Tipps mit O-Tönen von LGBT*-Menschen, die von ihren Erfahrungen und Geschichten berichten. Sie zeigen die Facetten von Leben, in denen die Menschen sich nicht nach der angeblichen Norm richten, sondern zu ihren Vorlieben und damit zu sich selbst stehen. Das sind durchweg großartige Vorbilder.

Einziger Wermutstropfen bei diesem Buch ist die fehlende Lokalisierung für die deutsche Szene. Dawson schildert vornehmlich britische Gegebenheit, also die Geschichte, Gesetzeslage und Rechte in Großbritannien. Und auch das „kleine Lexikon der großen Schwulen- und Lesbenikonen“ ist von angloamerikanischen Star beherrscht. Bei all dem hätte von Verlagsseite durchaus eine Anpassung und/oder Erweiterung für Deutschland vorgenommen werden können: Die Fragen zu Homo-Ehe und Kinder von Homosexuellen in Deutschland müssen sich die jungen Leser nun selbst recherchieren. Die Doppelseite mit nützlichen Websites am  Ende ist da nur ein schmaler Anfang. Und allein für das Ikonen-Lexikon fallen mir spontan bereits ein Dutzend deutscher LGBT*-Leute ein, die man hätte integrieren können.

Trotz dieses Mankos kann man Jugendlichen How to be gay als wegweisenden und hilfreichen Ratgeber an die Hand geben, den Eltern sei die Lektüre nicht minder empfohlen – denn man lernt auch als cisgender Hetero noch so Einiges dazu, sowohl über einen selbst, als auch über die Feinheiten, die für einen sensiblen und respektvollen Umgang in unserer Gesellschaft einfach nötig sind.

James Dawson: How to be gay. Alles über Coming-out, Sex, Gender und Liebe, Übersetzung: Volker Oldenburg, Fischer TB, 2015, 304 Seiten, ab 14, 9,99 Euro