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Leuchtende Traumwelten

träumeDie Novembernächte gehören bekanntlich zu den ungemütlichsten und düstersten, sind sie doch nach dem langen Sommer und dem strahlenden Herbst echt gewöhnungsbedürftig. Vielleicht wird auch deshalb erst einmal Halloween gefeiert, damit das Unbehagen vor diesen Nächten gar nicht erst aufkommen kann.

Die argentinische Autorin und Illustratorin Isol hat ihr ganz eigenes Rezept mit dunklen Nächten entspannt umzugehen: Man stelle ihr Umklappbuch Nachts leuchten alle Träume neben das Bett auf den Nachttisch, lasse vor dem Einschlafen, beim Lesen also, noch etwas Licht auf die Seiten fallen – und genieße dann später im Dunkel die fluoreszierende Magie, die sich entfaltet.

Zwölf Rezepte, also Bilder, hält Isol parat und entführt die Betrachter in Traumwelten. Da öffnen sich verbotene Türen, Meeresbewohner tauchen aus den Tiefen auf, Schmusekätzchen verwandeln sich, langweilige Bücher geben ihre Geheimnisse preis, verborgende Lebensräume werden sichtbar, aus dem Samenkorn erwächst etwas.
Und wer diese Leuchtgebilde auf sich wirken lässt, träumt womöglich etwas ganz Besonderes ins diesen Nächten.

Isols einfache Strichzeichnungen funktionieren auf zwei Ebenen. Tagsüber sieht man die klar umrissene Ausgangssituation und liest pro Seite einen Satz, der die Fantasie bzw. den Traum anregt. Nachts leuchtet dann – erstaunlich lange, wie ich feststellen konnte, als ich irgendwann mal zwischendrin wieder aufwachte – die fluoreszierende Beschichtung und offenbart ihre Geheimnisse. Und selbst, wenn der eine Satz auf der Seite etwas Gruseliges ankündigt, so sind die Auflösungen doch immer so liebenswert, dass kein Betrachter schlimme Alpträume befürchten muss.

Die Gefahr, dass man durch das Leuchten zu lange wach gehalten wird, kann ich nicht bestätigen. Es ist viel mehr ein sanftes Hinübergleiten in den wohltuenden Schlaf. Auf Kleine Schlafverweigerer könnten diese vergänglichen Bilder möglicherweise beruhigend wirken. Die kommenden Novembernächte werden für mich jedenfalls in diesem Jahr zu einem traumhaften Vergnügen.

Isol: Nachts leuchten alle Träume, Übersetzung: Karl Rühmann, Fischer Sauerländer, 2015, 36 Seiten,  ab 4, 15,99 Euro

[Gastrezension] Scheitern als Chance

stecktFür jemanden wie mich, der nach dem Motto „schlimmer geht immer“ lebt, ist Oliver Jeffers’ neues Bilderbuch Steckt sehr lustig, geradezu selbstironisch und tröstlich. Allerdings halte ich diese auf Erfahrung beruhende Lebenseinstellung (Wissenschaftler nennen das „evidenzbasiert“) für gesunden Realismus, und sehe mich weniger als Pessimistin.

Dazu passt Steckt. Selbiges tut nämlich Floyds roter Papierdrache in einem großen Baum: Das Flugobjekt hat sich im Geäst verhakt und steckt fest. Und wie man das so macht, wirft der energische, kleine Junge einen Schuh, genauer den linken von seinem Lieblingspaar hinterher, um den Drachen zu befreien. Doch der Schuh bleibt ebenso wie der hinterhergeschleuderte rechte stecken. Fragt Ihr Euch auch manchmal, wie eigentlich die vielen Schuhe auf Laternenmasten und Bäume kommen? Jetzt wisst Ihr es. Und der Ärger geht weiter: Floyd schnappt sich Mitch, die Katze, gleiches Verfahren, gleiches Ergebnis. „Katzen bleiben ja ständig auf Bäumen stecken. Aber das ging langsam zu weit.“ Also holt Floyd eine Leiter – und wirft sie ebenfalls auf den Baum, wo sie natürlich steckenbleibt.

Jetzt gibt es für den Rotschopf kein Halten mehr, schließlich hat er die Leiter nur vom Nachbarn geborgt und muss sie definitiv zurückstellen, bevor jemand merkt, dass sie weg ist. Floyd schmeißt einen Eimer rosa Farbe hinterher, was die nun leicht bekleckerte Katze vergrätzt und Jeffers’ auf das wesentliche reduzierten, in kräftigen Farben gemalten Bildern noch ein paar Akzente hinzusetzt. Floyd wird richtig sauer, eine kleine Gewitterwolke braut sich über ihm zusammen, die Augenbrauen werden zum wütenden Strich. Und er macht weiter: Eine Ente folgt der Farbe, dann das Fahrrad eines Freundes, der massive Spülstein, die extra ausgebaute Haustür, das Familienauto und der Milchmann, der verwirrt die mittlerweile entspannte Katze fragt, ob sie auch auf dem selben Weg dort oben gelandet sei.

Das ist wunderbar absurd und lustig, aber absolut konsequent. Der kleine Drachenjäger (erfrischenderweise ist damit mal keine Fantasyfigur gemeint) hat sich in etwas verrannt und kann jetzt unmöglich zurück. Das kennt jeder. Und mehr und mehr verliert man das ursprüngliche Objekt der Begierde aus den Augen. Denn es landen des weiteren ein Orang-Utan, ein kleines Boot und ein großer Ozeandampfer, ein Nashorn und das Nachbarhaus auf dem Baum.

Steckt, darin klingt auch „sitzt, passt, wackelt und hat Luft an“ und genau das passiert: Im Geäst fügt sich alles zusammen und bildet eine Welt für sich, zu der sich schließlich noch ein Sattelschlepper, ein Leuchtturm und ein „Wal, der nur zur falschen Zeit am falschen Ort war“, gesellen.
Diese Geschichte hat eine innere Logik, die Kinder sofort verstehen. Und die Erwachsene nur allzu gut kennen und fürchten, angefangen beim falschen Studium, über blöde Jobs, von denen man sich mehr versprochen hat, bis hin zu Beziehungen, die nicht funktionieren, und groß angelegten Projekten, wie Wohnung renovieren und einmal gründlich auszumisten.

Steckt versteht man auch ohne Text, der lakonische Tonfall macht das Buch aber noch witziger. Der vielfach ausgezeichnete Illustrator Oliver Jeffers hat mit Pinguin gefunden sowie dem Nachfolger Up and Down bezaubernde Bücher über Freundschaft geschaffen. Im preisgekrönten Das Herz in der Flasche erzählt der 1977 in Australien geborene, in Belfast aufgewachsene und mittlerweile in New York lebende Kinderbuchkünstler anschaulich von einem Mädchen, das aus Trauer sein Herz verschließt. Aber ohne Gefühle ist ihr Leben langweilig, fade, trist, monoton, sichtbar farblos. Erst Emotionen machen es lebenswert und Schmerz gehört dazu. Steckt zeigt nun das Scheitern als Chance: Floyd macht durch seine Sturheit zunächst alles immer noch schlimmer. Aber schließlich ergibt sich aus dem größten Chaos die Lösung – im wortwörtlichen Sinn. Oliver Jeffers’ neues Buch steckt voller kurioser Komik, charmantem Witz und kluger Philosophie.

Elke von Berkholz

Oliver Jeffers: Steckt, Übersetzung: Anna Schaub, NordSüd Verlag, 2015, 32 Seiten, ab 4, 14,90 Euro

Schauen, Besinnen, Konzentrieren

walWie gelingt es einem, sich zu konzentrieren? Sich nicht ständig ablenken zu lassen? Als Kind, genauso wie als Erwachsener. Es ist nicht einfach und doch eigentlich ganz leicht. Jedenfalls, wenn man das entzückende Bilderbuch Wenn du einen Wal sehen willst von Julie Fogliano genau studiert.

Eigentlich ist dieses Buch für Kinder ab vier Jahren gedacht, doch ich möchte behaupten, dass Menschen jeden Alters von dieser Geschichte angetan sein werden und profitieren können. Es zeigt einen kleinen rothaarigen Jungen im blau-weißen Ringel-Pulli zusammen mit seinem Hund. Sie schauen aufs Meer, in der Erwartung eines Wals. Solange der nicht kommt, schnuppern sie an Rosen, betrachten Wolken, Segelboote, einen Pelikan, winzige Raupen … während der Erzähler im Text sie auffordert genau dies nicht zu tun. Sie sollen sich nicht ablenken lassen, sondern die Augen auf das Meer richten und warten … warten … warten …

Beim Betrachten der zarten Zeichnungen von Erin A. Stead gerät man unweigerlich ins Träumen, geht auf Fantasiereise, entdeckt Lebewesen, Dinge, Details … und wird immer wieder sanft von dem Text, einfühlsam aus dem Amerikanischen von Uwe-Michael Gutzschhahn übersetzt, auf das Wesentlich, das Ziel, das Wunschobjekt, den Wal, hingewiesen.
Man besinnt sich, konzentriert sich, fokussiert sich, man meditiert, man kontempliert, man ist ganz bei sich, wenn man die Bilder betrachtet und doch auch bei dem Jungen und den Ablenkungen der Welt.

Doch das Warten, das uns allen heutzutage scheinbar immer schwerer fällt, das wir nicht mehr wollen, für das wir keine Zeit mehr haben, dieses Warten jedoch führt zum Ziel, zum Wal.
Kleinen Lesern kann man so vielleicht ein bisschen die Ungeduld erleichtern, große Leser können sich wieder rückbesinnen, auf ihre Ziele, ihre Wünsche, ihre Träume. Es reicht der weite Horizont, das Meer, das Nichts. Keine Ablenkung. Man wird belohnt, vom Warten. Und von diesem kleinen, großen Buch.

Julie Fogliano: Wenn du einen Wal sehen willstÜbersetzung: Uwe-Michael Gutzschhahn, Illustration: Erin A. Stead, FISCHER Sauerländer, 2014,  32 Seiten, ab 4, 14,99 Euro