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Leise Laute laut lesen lernen

lesenIm vergangenen Jahr habe ich ein paar Stunden Sprechunterricht bei einer Schauspielerin genommen. Ich wollte präpariert sein, um aus einer meiner Übersetzungen vor Publikum zu lesen. Bis dato hatte ich nicht viel vorgelesen, hielt mich auch nicht gerade für talentiert, weil ich mich ständig verhaspelte und Fehler machte und irgendwann keine Luft mehr bekam. Nicht schön, weder für mich, noch für mögliche Zuhörer. Aber wie so vieles ist auch das Vorlesen eine Kunst, die man lernen und trainieren kann. Das haben mir die Stunden gezeigt und mir die Angst vor dem Vortragen genommen. Es macht mir mittlerweile richtig Spaß und so manches Mal lese ich mir selbst laut vor.

Während des Sprechunterrichtes bekam ich irgendwann Texte, mit denen Schauspieler die einzelnen Laute verstärkt üben. Der Inhalt der Texte war eher absurd widersinnig und für mich nicht so anregend. Ganz anders nun die Sammlung von 50 kurzen Vorlesegeschichten von Daniel Napp, die er für das Buch Löwen mögen schöne Zöpfe geschrieben und illustriert hat. Für jeden Laut gibt es eine eigene Geschichte, dazu kommen Texte, in denen lange und kurze Vokale betont und im Wechsel geübt werden können. In „Kampf gegen die Kilos“ wechseln sich beispielsweise G und K ab, in „Hundedelikatesse“ werden P und B sowie T und D variiert. Man erliest den Unterschied von stimmhaftem und stimmlosen S, erkundet das vordere und das hintere CH und dringt so in die schier unendlichen Weiten des eigenen Rachen- und Klangraumes vor.

Sind bei den Sprechübungstexten für Erwachsene, wie in Der kleine Hey, die Inhalte meist ziemlich gaga, so schafft es Napp immer, eine kleine, runde, wenn auch oftmals bizarre Geschichte zu erzählen. Dabei hält er sich nicht sklavisch daran, immer nur den einen entsprechenden Laut zu benutzen – à la Ottos Mops von Ernst Jandl –, sondern erlaubt sich durchaus Abweichungen. Die aber sind von entzückender Manier, wie Beispielsweise beim kurzen U: „Kurz vor Fulda verguckte sich Muldenkipper Ulf in den Bus Uschi.“
Man verguckt sich in laut lesender Weise Seite um Seite in dieses Buch, ins Vorlesen, in die Laute, die Buchstaben und die Bilder noch dazu.

So verbinden sich hier aufs Schönste unterhaltsame Kurzgeschichten mit nützlichem Wissen um den akkuraten Gebrauch von Lippen, Zunge und Luftstrom beim Sprechen. Nach meinen wenigen Stunden Sprechunterricht bin ich natürlich keine professionelle Sprecherin geworden, doch die Freude an der korrekten Aussprache und dem Lesen hat dazu geführt, dass dieses Buch nicht so schnell im Regal verstauben wird, sondern mich immer wieder dazu verführt, einen neuen Laut anhand einer anderen Geschichte zu üben und zu vertiefen. In diesem Sinne ist Napps Buch nicht nur etwas für die Lütten, sondern für alle, die an ihrer Aussprache feilen möchten.

Daniel Napp: Löwen mögen schöne Zöpfe. Das LAUT Lesebuch, Carlsen, 2015, 176 Seiten, ab 4-99, 18,99 Euro

Kopfüber

aliceBis zum heutigen Tag hatte ich nie Gelegenheit – und es hat mich auch nie jemand dazu gedrängt – den Kinderbuchklassiker Alice im Wunderland von Lewis Carroll zu lesen. Die Filme, selbst wenn ein Johnny Depp darin mitspielte, haben mich irgendwie nicht gereizt. Nun hat es allerdings die raffinierte Neuauflage aus dem Gerstenberg Verlag geschafft, die zum 150-jährigen Jubiläum des Werks erschienen ist, das Versäumte nachzuholen.

Zum Nonsens-Inhalt von Alice möchte ich hier gar nicht viel ausführen. Figuren wie das weiße Kaninchen, die Grinsekatze, die blaue Raupe, der verrückte Hutmacher, die Herzkönigin sind hinlänglich bekannt. Wissenschaftliche Werke über Carrolls Werk gibt es zu Hauf, ich würde ein eigenes Studium benötigen, um mich dort auf den aktuellen Stand zu bringen. Das kann jedoch in diesem Moment nicht meine Aufgabe sein.

Hier möchte ich viel lieber auf zwei Dinge aufmerksam machen, die mich erfreut haben. Da ist zunächst die Ausstattung dieser Neuausgabe: Illustriert von der Niederländerin Floor Rieder, die für Gerstenberg bereits das Buch Evolution von Jan Paul Schutten bebildert hat und zudem für die Zeitschrift flow arbeitet, kommt Alice in einem liebevoll aufgemachten Design und Outfit daher, dass man ihr die 150 Jahre nicht mehr anmerkt. Rieders Drucke (ich bin mir nicht sicher, ob Holz- oder Linoldrucke) kommen mit fünf kräftigen Farben aus, die dennoch ein ganzes Universum erschaffen. Alice mit rundem Hut, Brille, kurzem Kleid und Sneakern erscheint mir wie eines der pfiffigen Schulmädchen, die vor wenigen Tagen eingeschult wurden und nun eine neue Welt entdecken. Die Unsinnigkeiten und Unerklärlichkeiten des Leben bekommen so ein frisches Gesicht, was zwar nicht hilft, die Rätsel zu lösen oder die Strategien eines Schachspiels zu durchschauen. Aber sie machen Laune. Man liest sich von einem Bild zum nächsten.

Und auf der Mitte des dicken Buches, wenn das Wunderland durchschritten ist, wird man als Leser gezwungen, das Werk zu drehen, quasi von hinten neu anzufangen. Das spiegelverkehrte Cover von Alice hinter den Spiegeln irritiert zunächst. Alice klettert nun mit Hoody und Schachbrettrock durch die wundersame Welt. Ein Stück erwachsener nun schon, doch immer noch neugierig auf die Gesellen, die ihr weiterhin begegnen.
Dass sich Alice hinter den Spiegeln befindet, also quasi alles verkehrt herum ist, merkt man als Leser jedes Mal, wenn man das Lesebändchen von unten nach oben in den Text legt. Mich hat das bis zum Schluss verwirrt, erstaunt und mir immer wieder ein Lächeln entlockt.

Die andere Sache, die mich erfreut hat, war, dass mir die Lektüre von Alice endlich einen Schlüssel zu einem Märchen geliefert hat, das im Oktober in meiner Übersetzung bei Bohem erscheint. In Der goldene Käfig von Anna Castagnoli, üppig illustriert von Carll Cneut, lässt eine Prinzessin ihre Diener enthaupten, wenn diese ihr nicht die paradiesischen Vögel bringen, die sie sich so dringend wünscht. Es war mir ein Rätsel, wie man auf so eine doch ziemlich grausame Geschichte kommen kann. Doch nun ahne ich, dass hier die Kopf-ab-Manie der Herzkönigin aus Alice im Wunderland Pate gestanden haben könnte. Vielleicht werden mir andere diese Ahnung bestätigen, vielleicht werden sie mich auf wieder andere Quellen hinweisen.
Schön für mich war jedoch, dass bei der völlig zweckfreien, aber so unterhaltsamen Lektüre von Alice auch noch diese Verbindung zu Tage trat, und mir wieder einmal bewusst wurde, dass Literatur nicht im leeren Raum entsteht, sondern die Klassiker immer wieder und auf vielfältige Art und Weise wichtig sind. Und daher in ihren neuen schönen Gewändern es allemal wert sind, gelesen zu werden.

Lewis Carroll: Alice im Wunderland & Alice hinter den SpiegelnÜbersetzung: Christian Enzensberger, Illustration: Floor Rieder, Gerstenberg Verlag, 2015, 384 Seiten, 25 Euro

Nachtrag am 15.09.2015:

In Bezug auf die Illustrationstechnik hat mir der Gerstenberg Verlag gerade folgende Info zur Verfügung gestellt:

„[…] durch ihre Illustrationstechnik verbindet Rieder bewusst Tradition und Moderne: Sie bestreicht Glasplatten mit schwarzer Farbe, kratzt die Motive mit der Feder ein, scannt die Bilder und koloriert diese am Rechner. Die Motivwahl fand Rieder nicht schwierig:
„Die Geschichte gibt die Zeichnungen zum Teil vor. Danach ging ich auf Suche nach einer tieferen Ebene. Ich entdeckte, dass Lewis Carroll Mathematik mochte. Deswegen habe ich viel Symmetrie verwendet.“
Die Ausstattung war für Rieder ebenfalls wichtig: „Dass die zwei Bücher die Form einer altenglischen Bibel haben mussten (klein und ganz dick), war schnell entschieden.““
Copyright © Floor Rieder

 

 

Liebenswert-hinreißend-absurder Fantasy-Quark

ffordeAuf Wikipedia werden die Romane von Jasper Fforde mit dem schnöden Label „Alternativweltgeschichten“ versehen. Kann man machen, trifft es aber nur rudimentär. Ich wäre geneigt, eher von literarisch-absurd-intertextuellem-urkomisch-ironischem-Größenwahn zu sprechen.
Jetzt ist endlich Ffordes Jugendroman Die letzte Drachentöterin auf deutsch erschienen, übersetzt von Isabel Bogdan. Und auch der haut genau in diese Kerbe.

Wie in Ffordes Thursday-Next-Reihe spielt die Drachentöterin in einem zerfallenen Ununited Kingdom, von dem man noch Reste des britischen Empires zu erkennen meint, dann aber doch wieder durch die wahnwitzigen Absurditäten auf völlig andere Fährten gesetzt wird. Lässt man sich darauf ein, erlebt man das Abenteuer von Jennifer Strange, fast 16. Sie leitet Kazam, die Vermittlungsagentur für Magier, und betüddelt alternde Zauberer, die sich gegen das Abklingen der Magie und billigere Konkurrenten wehren müssen.
Als die Präkogniker eines Tages den Tod des letzten Drachen voraussagen, ändert sich Stranges beschauliches Leben schlagartig, denn sie ist ausersehen, das Schuppentier ins Jenseits zu befördern. Der Drache Maltcassion selbst lebt in einem abgegrenzten Reich, dessen magisch abgesicherte Hochspannungsgrenze jeden Eindringling, außer der Drachentöterin, sofort verpuffen lässt.  Nach seinem Tod jedoch würde diese Grenze fallen und das weite, unberührte Land könnte von Siedlern besetzt werden.
Da sich die Nachricht von Maltcassions bevorstehenden Tod natürlich in Windeseile herumspricht, sammeln sich die Menschen an der Grenze zum Drachenland, die Könige verschiedener Länder versuchen bei Strange, der auf einmal wichtigsten Person in Ununited Kingdom, Strippen zu ziehen und ihre Macht spielen zu lassen, Medien und Sponsoren stürzen sich auf sie … nur hat Jennifer Strange ganz andere Dinge im Sinn.

Plotmäßig kann ich hier natürlich nicht mehr erzählen, das wäre doch zu fies. Allerdings sei gesagt, dass es Fforde mit einer faszinierenden Leichtigkeit, die auch der frech-forsch-flappsigen Übersetzung von Isabel Bogdan geschuldet ist, sprechende Fantasy-Drachen-Smaug-Reminiszensen so mit Medien- und Gesellschaftskritik zu verheiraten, dass es eine Wonne ist. Die Gier von Regierenden, Medienschaffenden und normalem Volk trifft auf ein kämpferisches Mädchen, das sich von nichts und niemandem einschüchtern lässt und auch auf scheinbar unabänderliche Voraussagen pfeift. Man kann nicht anders, man schließt Jennifer Strange ins Herz – zusammen mit ihrem merkwürdigen tierischem Begleiter, dem furchterregend aussehenden, aber zutiefst sanftmütigen Quarktier.

Die Absurditäten in Ffordes Geschichten (Marzipan als Droge, Bananen zum Schwerterschleifen, Magier, die Leitungen verlegen und anderes mehr) und der Ideenreichtum des Autors suchen meines Erachtens seines Gleichen. Und unterhalten ganz vorzüglich. So finde ich es sehr bedauerlich, dass längst nicht alles von Jasper Fforde auf deutsch erschienen ist. Ich kenne eigentlich keine andere Fantasy-Literatur, die so grandios mit Verweisen auf andere literarische Werke (die ich hier beileibe nicht alle erkannt habe, was aber dem Vergnügen überhaupt keinen Abbruch tut) spielt und gleichzeitig die absurden Auswüchse unserer Gesellschaft aufdeckt. Davon will ich mehr. Möge also „The Song of the Quarkbeast“, der Nachfolge-Band der Drachentöterin, nicht erst in drei Jahren hier zu lesen sein …

Jasper Fforde: Die letzte Drachentöterin, Übersetzung: Isabel Bogdan,  Lübbe ONE, 2. Aufl. 2015, 252 Seiten, ab 14, 14,99 Euro