Die Bibel für Hobbitologen

Bildgewaltige Kinoerlebnisse werfen ihre Schatten voraus. Peter Jackson hat abgedreht, und am 13. Dezember dieses Jahres kommt der erste Teil seiner Hobbit-Verfilmung in unsere Kinos. Der Trailer im Netz verspricht bereits wieder großartige Unterhaltung.

Um sich die Zeit bis dahin entsprechend zu verkürzen und das Abenteuer von Bilbo Beutlin, den Zwergen, Gandalf und dem Drachen Smaug schon vorab zu lesen (falls man das noch nicht getan hat), kann man sich jetzt in die annotierte Fassung von John R.R. Tolkiens Der Hobbit vertiefen. Neben dem kompletten Text, in der Übersetzung von Wolfgang Krege, finden sich in dem opulent aufgemachten Buch alle wichtigen historischen Informationen zu dem Werk selbst.

Douglas Anderson, renommierter Tolkien-Forscher, referiert die Entstehungsgeschichte des Textes, er umreißt Tolkiens Biografie und zeigt auf, was davon in dem Text Eingang gefunden hat. Ebenso zeichnet er die Verlagsgeschichte des Buches nach, nennt Auflagenzahlen und verweist auf Rezensionen und Rezeption.

Tolkiens Text begleiten dann unzählige Anmerkungen, farblich in petrolblau abgesetzt, die über Hobbitkunde, den berühmten ersten Satz („In einem Loch im Boden, da lebte ein Hobbit.“), das genaue Aussehen des kleinen Helden, Tolkiens Skizzen und Bezüge zu Der Herr der Ringe informieren. Zeichnungen, Stiche, Illustrationen und Faksimiles aus anderen internationalen Übersetzungen bereichern die Lektüre. Im Innenteil finden sich die farbigen Cover der deutschen Hobbit-Ausgaben.

Die Übersetzerin und Editorin der Anmerkungen, Lisa Kuppler, hat zudem einen Abriss über die Verlagsgeschichte des Hobbits in Deutschland beigesteuert. Hierin erfährt man auch, wie Tolkien auf den von ihm, für eine geplante deutsche Ausgabe 1938, geforderten Arier-Nachweis reagiert hat – nämlich brillant und scharfzüngig. Es ist eine wahre Genugtuung, dass dieser Brief, der nie nach Deutschland geschickt wurde, so endlich auch der breiten Leserschaft zugänglich gemacht wurde.

Das Buch ist folglich ein aufschlussreiches und gelungenes Muss für alle Hobbitologen und Fans von Bilbo, Smaug und Gandalf.

Lisa Kuppler, begeisterter Tolkien-Fan, hat mir ein paar Fragen zu diesem umfangreichen und kleinteiligen Übersetzungsprojekt beantwortet.

Wie sind Sie zum Hobbit gekommen? Wann haben Sie den Roman zum ersten Mal gelesen?

Wie wahrscheinlich die meisten, habe ich den Hobbit mit 12, 13 Jahren gelesen, Mitte der 70er Jahre. Ich bin über den Herrn der Ringe zu Tolkien gekommen, und als ich die drei Bände durch hatte, habe ich alles verschlungen, was es sonst noch aus der Welt von Mittelerde zu lesen gab. Der Hobbit war mein zweites Tolkien-Buch.

Was macht für Sie die Faszination der Hobbit-Geschichte aus?

Als jugendliche Leserin war der Hobbit für mich immer die Vorgeschichte zu den Ereignissen des Herrn der Ringe: Wer ist dieser Bilbo Beutlin? Wie ist er zu dem Einen Ring gekommen, den nach ihm Frodo trägt? Was hat der Ring mit ihm gemacht? Das waren die Fragen, die mich interessierten. Wenn ich den Hobbit heute lese, fasziniert mich immer wieder aufs Neue, wie wir Leser mit Bilbo auf diese seltsame Reise gehen, zusammen mit der kuriosen Truppe an Zwergen und Gandalf. Heute kann ich den Humor des Hobbits viel mehr schätzen. Und die große moralische Entscheidung, die Bilbo am Ende des Buches treffen muss, wenn er Bard und dem Elbenkönig den Arkenstein bringt, um Frieden zwischen den Menschen und den Zwergen zu erzwingen.

Ist der Hobbit eigentlich immer noch ein Kinderbuch? Oder liegt hier ein ewiges Missverständnis vor?

Ja, der Hobbit ist immer noch ein Kinderbuch. Dass man ihn auch mit 30, mit 40 und wahrscheinlich auch noch mit 70 Jahren mit Freude immer wieder lesen kann, und dabei etwas Neues daran entdecken – das ist es, was den Hobbit zu einem Klassiker macht.

Das Missverständnis, der Hobbit sei „eigentlich“ ein Buch für Erwachsene, kommt daher, dass man in Deutschland von Kinderbüchern einerseits eine deutlich erzieherische Botschaft erwartet, andererseits Kinder vor so genannten Erwachsenenthemen „schützen“ will. Kinderbücher werden hierzulande als eine spezielle Art von Literatur gesehen. Tolkien betrachtete seine Bücher als Märchen, als „fairy tales“, die er für Leser jeden Alters schrieb, die Geschichten liebten und sich auf das Eintauchen in eine Fantasiewelt einlassen wollten. Er steht damit in der Tradition von Lewis Carrolls Alice im Wunderland oder auch Kenneth Grahams Der Wind in den Weiden. Ihm ging es um das Spielerische – vor allem mit Sprache und literarischen Traditionen – und das Fantasieren im „Experimentalraum Buch“, was für Tolkien kein Eskapismus war, sondern ein für jeden Menschen notwendiger Freiraum.

Worin lagen die Schwierigkeiten, diese z.T. sehr kleinteiligen Annotationen zu übersetzen?

Eine Herausforderung bei der Übersetzung waren die vielen unterschiedlichen Textformen der Anmerkungen, die Douglas Anderson akribisch zusammengetragen hat: Das Große Hobbit-Buch enthält Lexika-Einträge, Zitate aus Sekundärliteratur, Biografien und den Briefen Tolkiens, Werbe- und Rezensionstexte, mittelalterliche Gedichte, isländische Märchen, Romanauszüge, Passagen aus etymologischen und linguistischen Abhandlungen usw. usw. Als Übersetzerin war es meine Aufgabe, die verschiedenen Stile und Textformen überzeugend ins Deutsche zu übertragen.

Im Großen Hobbit-Buch werden einige Romane und Märchen zitiert, die Tolkien beeinflussten – das in Deutschland weitgehend unbekannte Märchen Puss-cat Mew oder E. A. Wyke-Smiths The Marvellous Land of Snergs – die noch nie ins Deutsche übersetzt wurden. Hier konnte ich also auf keine publizierten Übersetzungen zurückgreifen.

Darüber hinaus sind im Großen Hobbit-Buch Gedichte von Tolkien abgedruckt, die zum ersten Mal in Deutschland veröffentlicht werden. Der Verlag hatte sich entschlossen, diese Gedichte sowohl im englischen Original als auch in einer Prosaübersetzung (also nur dem Inhalt nach, nicht in Gedichtform) abzudrucken. Ich war für die Prosaübersetzungen verantwortlich, was sehr aufregend war.

Eine andere Herausforderung lag darin, dass es im Deutschen zwei Übersetzungen des Hobbit gibt, die eine davon zudem noch in zwei recht unterschiedlichen Fassungen. Da die meisten Leser den Hobbit nur auf Deutsch kennen, war es mir ein Anliegen, auch auf Unterschiede oder Kuriositäten in den Übersetzungen hinzuweisen. So wurden zum Beispiel die Orks in der ersten Hobbit-Übersetzung noch „Kobolde“ genannt, und die Sackheim-Beutlins, Bilbos missgünstige Verwandten, hießen dort noch „Beutelstadt-Baggins“.

Spannend zu übersetzen waren für mich alle Anmerkungen, in denen auf die englischen Wortursprünge und Worthintergründe eingegangen wird. Dort habe ich versucht, zusätzlich deutsche Entsprechungen und Ergänzungen zu finden, speziell auch beim Rätselspiel zwischen Bilbo und Gollum. Ich war überrascht, wie viele deutsche Rätselsammlungen es gibt, in denen Worträtsel zu finden sind, die denen, die Tolkien im Hobbit verwendet, sehr ähnlich sind.

Wie rechercheaufwendig war die Arbeit an der Übersetzung?

Das Große Hobbit-Buch war von vornherein nicht nur als bloße Übersetzung von Douglas Andersons Buch geplant, sondern es sollte auch speziell für die deutsche Leserschaft editiert werden. Deshalb ist in diese Übersetzung einiges mehr an Recherche geflossen als üblich.

Eine Besonderheit des Großen Hobbit-Buches sind die vielen Hobbit-Illustrationen, die das Buch bebildern. Douglas Anderson hat Kurzbiografien der Tolkien-Illustratoren zusammengetragen, und dabei ihre im englischen Sprachraum wichtigsten Werke aufgeführt. Die meisten dieser englischen Ausgaben sind nie ins Deutsche übersetzt worden. Wo immer möglich habe ich nun Andersons Angaben ergänzt um deutsche Titel, die ebenfalls von den jeweiligen Illustratoren bebildert wurden. Allein schon diese Ergänzungen waren mit sehr viel Recherchearbeit verbunden.

In der Mitte des Großen Hobbit-Buches befindet sich ein Bildteil, der in der deutschen Ausgabe um elf Cover von deutschen Hobbit-Ausgaben erweitert wurde. An die Cover der zum Teil nur noch teuer antiquarisch zu erstehenden Ausgaben bin ich nur durch die Mithilfe des Projekts Deutsche Tolkien-Bibliographie, einer Gruppe von Fans und Buchliebhabern, gekommen, die alle jemals in Deutschland erschienene Hobbit-Ausgaben sammeln.

Einiges an Recherche war auch für das Nachwort nötig, in dem ich die Veröffentlichungsgeschichte des Hobbits in Deutschland skizziert habe. Ich habe drei Interviews geführt, vor allem um die Hintergründe der Ost-West Doppel-Edition des Hobbit von 1971 herauszubekommen, die so vorher noch nicht bekannt waren.

Welche Annotation oder Anekdote im Buch ist Ihre liebste?

Ich kann mich kaum für eine Lieblings-Anmerkung entscheiden. Alles ist interessant. Doch besonders faszinieren mich die Anmerkungen zum Kapitel 5 „Rätsel im Dunkeln“, in denen Douglas genau die Änderungen nachvollzieht, die Tolkien erst 1951 im Text des Hobbit korrigierte. Die Erstausgabe des Hobbit von 1937 war, in Bezug auf Gollum und die Ereignisse von Kapitel 5, noch anders als die Fassung, die wir heute lesen. Tolkien selbst hat hier 14 Jahre nach dem Erscheinen des Hobbit Revisionen vorgenommen, weil er inzwischen am Herr der Ringe schrieb, und die Handlung angleichen wollte. Mich fasziniert dabei, wie sich die Geschichte im Buch in der Publikationsgeschichte spiegelt: Die Erstfassung des Hobbit von 1937 entspricht der nicht ganz wahrheitsgetreuen Geschichte Bilbos, die er zuerst den Zwergen auf die Nase bindet; die Fassung des Hobbit von 1951 entspricht der Geschichte vom Ringfund, wie er sich wirklich zugetragen hat. Heute wären solche Änderungen an einem schon längst erschienen Buch einfach nicht mehr möglich.

Eine Anekdote, die in einer Fußnote der Einführung erzählt wird, hat mich sehr beeindruckt. Sie vermittelt schlaglichtartig etwas vom Alltagsleben des Autors Tolkien, der immer mit Geldsorgen zu kämpfen hatte. 1938 erhielt Tolkien einen Kinderbuch-Preis, der von der New York Herald Tribune gestiftet wurde und mit 250 US-Dollar dotiert war. Das Preisgeld wurde ihm per Brief geschickt, und seine Kinder John und Priscilla erinnern sich noch eindrücklich daran, wie Tolkien das Geld aus dem Brief nahm, um es seiner Frau Edith zu reichen, die damit eine ausstehende Arztrechnung begleichen konnte.

Auf welche Anmerkungen hätten Sie gern verzichtet?

Es gibt keine einzige Anmerkung, die ich gerne gestrichen hätte; im Gegenteil: Manche editorische Notiz Douglas‘ – also Hinweise auf rein sprachliche Korrekturen in den englischsprachigen Ausgaben – hätte ich am liebsten auch noch mit ins Große Hobbit-Buch aufgenommen, obwohl das für deutsche Leser vielleicht langweilig gewesen wäre oder aus Platzgründen unmöglich. Immer, wenn in solchen Notizen Inhaltliches eine Rolle spielte, habe ich sie übersetzt. So zum Beispiel Anmerkung 9 im Kapitel 1, wo Douglas berichtet, dass in der Erstausgabe des Hobbit noch von bösen Gerüchten die Rede war, der eine oder andere Tuk hätte vor Urzeiten einmal in eine Ork-Familie eingeheiratet. In der Ausgabe von 1966 wurde dieser Satz gestrichen, es blieb das Gerücht, ein Vorfahre der Tuks müsse wohl einmal eine Elbin geheiratet haben.

Welche fehlt Ihrer Meinung nach?

Wenn Weihnachten 2013 beide Verfilmungen des Hobbit in den Kinos laufen, könnte man natürlich auch die Film-Interpretation und Informationen zur filmischen Adaption in den Anmerkungsapparat zum Hobbit einbauen. Es ist also definitiv noch Material da für Überarbeitungen und Ergänzungen des Großen Hobbit-Buchs.

War es nicht manchmal auch ein bisschen dröge nur die Anmerkungen einzudeutschen? Hätten Sie nicht viel lieber den Hobbit selbst neu übersetzt?

Ganz ehrlich: nein. Es gibt zwei Hobbit-Übersetzung, die unterschiedlich sind, aber beide auf ihre Art sehr gut. Es braucht keine neue, dritte Hobbit-Übersetzung, und wenn, dann erst in fünfzehn, zwanzig Jahren.

Ich habe mit viel Begeisterung die Einführung und die Anmerkungen übersetzt. Aber bei jedem Originalgedicht Tolkiens, für das ich eine Prosaübersetzung angefertigte, hätte ich mir ein paar Tolkienkenner zur Seite gewünscht, mit denen ich Wortwahl und Bedeutung diskutieren hätte können. Ich habe riesigen Respekt für Tolkiens Lyrik-Übersetzer, allen voran Ebba-Margareta von Freymann, die die Gedichte im Herrn der Ringe übersetzte. Da nie alle Gedichte des Hobbit vollständig ins Deutsche übersetzt wurden, hat der Verlag für das Große Hobbit-Buch Joachim Kalka beauftragt, der noch fehlenden Strophen wundervoll ins Deutsche übertragen hat.

Gibt es ein weiteres Tolkien-Projekt auf Ihrem Schreibtisch?

In enger Zusammenarbeit mit dem Lektor Stephan Askani vom Klett-Cotta Verlag habe ich gerade die Übersetzung des Herrn der Ringe von Wolfgang Krege auf Fehler durchgesehen und behutsam korrigiert. Das war ein äußerst spannendes Projekt, weil wir zwar Fehler beseitigen, aber den besonderen und eigenwilligen Ton und Stil Kreges erhalten wollten. Die Neuausgabe wird im Herbst erscheinen.

John R. R. Tolkien: Das große Hobbit-Buch. Der komplette Text mit Kommentaren und Bildern. Herausgegeben von Douglas Anderson, Übersetzung: Wolfgang Krege, Übersetzung und Edition der Anmerkungen: Lisa Kuppler, Klett-Cotta, 2012, 418 Seiten, 29,95 Euro

Buntes Wiedersehen

2012 mausert sich zum Jahr der Jubiläen: 50 Jahre Gutenachtgeschichten am Telefon von Gianni Rodari, im Dezember jähren sich die Hausmärchen der Brüder Grimm zum 200sten Mal, und dieser Tage feiert Räuber Hotzenplotz  von Otfried Preußler seinen 50sten. Jetzt könnte man denken, dass der Räuber in die Jahre gekommen ist – doch mit der aktuellen Auflage der dreibändigen Kasperlgeschichte hat man viel mehr den Eindruck, er hätte sich einer Frischzellenkur unterzogen. In der Automobilbranche wird so etwas „Facelift“ genannt.

Was ist passiert? Die Geschichte um Großmutters gestohlene Kaffeemühle, Kasperls und Seppels Unternehmung, den Räuber zu fangen, ihre Begegnung mit dem großen und bösen Petrosilius Zwackelmann sowie die fabelhafte Befreiung der Fee Amaryllis hat sich natürlich nicht verändert. Einer Zeitreise gleich in die 1970er Jahre fieberte ich auch jetzt mit den beiden Freunden bei ihren gefährlichen Abenteuern mit, kicherte über Kasperls Namensverdrehungen von Zeprodilius Wackelzahn, Eprolisius Dackelschwanz und Spektrofilius Zaschelschwan, hatte kein Mitleid mit dem widerborstigen Zauberer, sondern war erneut ganz fasziniert von dem goldenen Kleid der Fee und ihrer wilden Haarmähne.

Letztere ist nur auf den Illustrationen von Franz Josef Tripp zu sehen. Diese gab es auch in meiner Uralt-Ausgabe schon, und sie waren damals schon einprägsam und emotional aufwühlend: die großen, nackten Käsemauken von Hotzenplotz als Verkörperung des Unholds schlechthin, die Warzen auf Zwackelmanns Nase auf den Punkt gebrachte Verschlagenheit, Seppel in kurzen Lederhosen für mich als Norddeutsche ein ganz klares Zeichen, dass ich zum Glück weit weg vom Einzugsgebiet des Räubers wohnte. Heute würde man all dies wohl ikonografisch nennen. Jedenfalls trugen diese Zeichnungen dazu bei, dass ich nie eine andere Darstellung des Hotzenplotz’ und seiner Mitstreiter ertragen konnte.

Und nun das: Alles ist bunt! Kunterbunt! Sehr liebevoll und anheimelnd hat Mathias Weber Tripps Illustrationen koloriert. Endlich ist Kasperls Zipfelmütze richtig rot, und das grüne Hemd des Räubers passt wie die Faust aufs Auge. Petrosilius in magisches Blau zu kleiden lag vielleicht auf der Hand, aber mit den grünen Nuancen scheint sein Zaubermantel schier seidig zu glänzen. Die Fee strahlt natürlich in blendendem Goldgelb. Und der Wald … der Wald wird zu einem sonnendurchschienen Traumort, in dem eigentlich gar kein böser Räuber hausen kann. Die Illus treten in ihrer neuen Plastizität förmlich aus dem Buch heraus. Die Farben unterstreichen die Charakterzüge der Figuren aufs treffliche. Ein schöneres Geschenk hätte man dem Räuber und seinem Schöpfer wohl nicht machen können.

Eine weitere Neuerung für mich sind passenderweise die Hörspiele zum Räuber Hotzenplotz, die jetzt in einer Hörspielbox noch einmal gesammelt bei Universal Music erschienen sind. Dietmar Bär leiht darin dem Titelhelden sein überzeugend gutmütig-böses Sprachorgan, Johanna von Koczian würde ich als Großmutter sofort adoptieren, und Ilja Richter macht Zwackelmann noch unsympathischer, als der eh schon ist. Die Erzählerstimme von Peter Striebeck beruhigt die aufgewühlten Gemüter jedoch sofort wieder. Und Kasperls Lachen – aus dem Mund von Oliver Reinhard – ist einfach nur ansteckend. Auch das ist zum 50. Jubeltag von Hotzenplotz eine fesselnde und gelungene Umsetzung von Preußlers Meisterwerk. Denn dieser Hörspaß verbindet sich mit den frisch eingefärbten Illustrationen der Bücher zu einem sehr sinnlichen (Lese-Hör-und-Seh-)Genuss und gehört einfach in jeden Haushalt mit Kindern!

Otfried Preußler: Der Räuber Hotzenplotz, Thienemann Verlag, 2012, 120 Seiten, ab 6, 12,95 Euro.

Otfried Preußler: Der Räuber Hotzenplotz – die große 6 CD-Hörspielbox, 6 Audio-CDs, Universal Music, 2012, 340 Minuten, Sprecher: Dietmar Bär; Ilja Richter; Johanna von Koczian; Peter Striebeck u. a. , ab 5, 19,99 Euro

Seelenqualen und Augenschmaus

steamnoirDunkle Gestalten, dunkle Machenschaften, düstere Geheimnisse, Abgründe der Vergangenheit – der zweite Teil von Steam Noir geht in die Vollen. Wurde im ersten Teil die Ätherwelt von Landsberg und das Protagonisten-Trio um den Bizzaromanten Heinrich Lerchenwald,  Forensikerin Frau D. und Ermittlungsleiter Herrn Hirschmann vorgestellt, so entspinnen sich jetzt neue Handlungsstränge. Die sorgen zunächst mal für Verwirrung und machen eine Zweit- und Drittlektüre sinnvoll. So steigert sich natürlich die Freude in diesem so megacoolen Steampunk-Comic noch länger und intensiver schmökern zu können.

Immer noch sind Lerchenwald, Hirschmann und Frau D. auf der Suche nach dem Kupferherz. Dieses Mal fällt der Verdacht auf Olivier Presteau, renommierten Prothesenhersteller, der versehrte Zeitgenossen zu Maschinen-Menschen macht – und dabei manchmal über das Ziel hinausschießt. Die Nachforschungen klären jedoch nichts, sondern werfen weitere Fragen auf. Zudem wird Lerchenwald wegen Fahrlässigkeit abgemahnt, der Leonardsbund vernichtet in faschistoider Manier Seelen, anstatt sie auf ihre Toteninsel zurückzuschicken, und die Blinden Tage sollen das Land früher als berechnet erreichen. Die weiteren Tiefgründigkeiten und den hammerharten Paukenschlag am Ende werde ich hier natürlich nicht verraten.

Ohne den ersten Band gelesen zu haben, hört sich das Ganze ziemlich gaga an – aber es passt durchaus alles zusammen und schürt erneut die Spannung, wie diese irre Geschichte wohl weitergeht. Alle, die in diese Steam-Noir-Welt einsteigen möchten, sollten dies auf jeden Fall mit dem ersten Band machen, sonst bleibt das Verständnis für diese ungewöhnliche Welt und ihre Zustände auf der Strecke.

Für Text und Story ist ab diesem Teil Verena Klinke verantwortlich. Der Plot fesselt vom ersten Panel an, die Dialoge sind  von der ersten Sprechblase scharfsinnig und stimming. Die Fußstapfen ihres Vorgängers Benjamin Schreuder füllt Verena Klinke souverän aus. Die sepia-braun-grauen Panels und Zeichnungen von Felix Mertikat faszinieren erneut in ihrer Detailgenauigkeit und Phantastik. Die Farben von Jakob Eirich setzen blutrote und fluoreszierende neongrüne Akzente und polieren die Dampfmaschinen auf überaus plastischen Hochglanz. Und Sammy the Scissors die Kleider von Frau D. entwerfen zu lassen rundet dieses visuelle Feuerwerk zu einem wohldurchdachten und perfekt durchkomponierten Gesamtkunstwerk ab.

Ergo, der zweite Band von Steam Noir übertrifft meine Erwartungen, die ich nach dem ersten hatte, um Längen. Eine extrem gelungene Fortsetzung!! Möge Band 3 nicht allzu lange auf sich warten lassen.

Felix Mertikat/Verena Klinke/Jakob Eirich: Steam Noir. Das Kupferherz, Band 2, Cross Cult, 2012, 60 Seiten, 16,80 Euro

Denken lernen

this is waterMeine Studienzeit ist lange vorbei. Sie endete ohne großen Höhepunkt. Einfach so. Das Zeugnis kam per Post. Anders wird so ein Ereignis in den USA zelebriert. Neulich in New York bin ich zufällig in  den Graduationday der Columbia University geraten. Sehr beeindruckend, sehr berührend. Die Absolventen werden gefeiert, gewürdigt – und es werden ihnen die Leviten gelesen, bevor sie in die (Arbeits)Welt entlassen werden.

So eine Rede hat der amerikanische Schriftsteller David Foster Wallace 2005 vor Studenten gehalten. Als Hörbuch kann man diese Lecture mit dem Titel This Is Water/Das hier ist Wasser jetzt nachhören und verinnerlichen. Wallace spricht darüber, das Denken zu lernen. Damit meint er nicht das akademische Analysieren, sondern die tägliche bewusste Entscheidung, sich gegen die allen Menschen eigene Selbstzentriertheit zu stellen. Im Alltag mit seiner Routine, Langeweile und banaler Frustration ist der gut angepasste Mensch zumeist ein Sklave seines eigenen Geistes.  Er ist der Mittelpunkt des eigenen Universums. Hier setzt Wallace an: Er fordert, sich zu entscheiden, vorüber man nachdenkt, sich gegen die unbewusste Haltung, die Standardeinstellung, zu stemmen und Umwelt und Menschen mit anderen Augen zu sehen. Anstatt sich den gut funktionierenden Mechanismen aus Macht, Angst, Selbstverherrlichung, Leistung und Blenden hinzugeben, sollte die Wahl lieber auf Offenheit, Empathie, Liebe, Disziplin und Mühe fallen. Darin liegt für ihn die wahre Freiheit. Der Gedankenlosigkeit setzt er schlichte Offenheit für das Wahre und Wesentliche entgegen. Es gilt, die Arroganz der blinden Gewissheit abzulegen und Bewusstheit für die anderen Menschen zu entwickeln.

Diese Aussagen gelten in ihrer Universalität nicht nur für Studienabgänger. Sie gelten für uns alle und können eigentlich nicht oft genug gehört werden. Wie Wallace sagt – das ist mühsam und muss jeden Tag aufs Neue angegangen werden. Darin sieht er jedoch einen Weg, das Leben vor dem Tod sinnvoll und erfüllend zu gestalten und „30 oder 50 zu werden, ohne sich eine Kugel in den Kopf zu schießen“.

Wallace selbst hat es nicht bis 50 geschafft. Dennoch sind seine Worte so eindringlich, glaubwürdig und wahrhaftig – nicht umsonst ist diese Rede mittlerweile Pflichtlektüre für Uni-Absolventen in den USA – dass sie auch hier Jung wie Alt empfohlen sei, vor allem all denjenigen, die meinen zu wissen,  was Wahrheit ist.

Wallace spricht mit einfachen Worten und hat die Rede von jeglichem rhetorischen Schnickschnack befreit. Der englischen Live-Aufnahme der Ansprache sollte man daher den Vorzug geben. Die deutsche Version, in der geschliffenen Übersetzung von Ulrich Blumenbach, kommt leider an das Original nicht heran, zu glatt und standardmäßig wird sie von David Nathan im Studio gelesen. Dort kann man natürlich die Lacher und Reaktionen der Studenten auf Wallace’ Rede nicht nachstellen, daher fehlen dem Deutschen einfach die live-Dimension und die unmittelbare Wirkung der Worte.

Wer den Text lieber schriftlich vor Augen haben will, findet auch eine gedruckte Version im Buchhandel.

Solche Worte hätte ich mir damals zu meinem Studienabschluss gewünscht. Heute würde ich sie allen Schul- und Studienabgängern zum Zeugnis mit in die Post legen …

David Foster Wallace: This Is Water/Das hier ist Wasser, Audio-CD, David Foster Wallace spricht zu Absolventen des Kenyon College, Ohio 2005. Anstiftung zum Denken. Englisch/Deutsch, Gelesen von David Nathan, Übersetzung: Ulrich Blumenbach, Roof Music, 2012, 70 Minuten, 14,95 Euro

David Foster Wallace: Das hier ist Wasser/This is water. Anstiftung zum Denken. Gedanken zu einer Lebensführung der Anteilnahme, vorgebracht bei einem wichtigen Anlass. Deutsch-Englisch, Übersetzung: Ulrich Blumenbach, Kiepenheuer & Witsch, 2012, 61 Seiten, 4,99 Euro

Jüdische Aufklärung

Waldtraut Lewin: Der Wind trägt die Worte. Geschichte und Geschichten der JudenJüdisches Leben in unserer Gesellschaft gibt es – wieder, muss man wohl hinzufügen. Doch es findet zumeist hinter verschlossenen Türen in den Familien und Gemeinden, in gut bewachten Synagogen und jüdischen Einrichtungen statt. So jedenfalls ist meine ganz persönliche Beobachtung. Jüdisches Leben in der deutschen Öffentlichkeit ist immer noch keine Selbstverständlichkeit. Das Unwissen über die Kultur und die Geschichte der Juden setzt sich weiter fort. Würde man zur Geschichte der Juden befragt, wäre die Verfolgung der Juden im Dritten Reich wahrscheinlich das Erste, was einem einfällt. Doch neben diesem düsteren Kapitel der deutschen und jüdischen Geschichte – an das nicht oft genug erinnert werden kann – sollte sich der Blick jedoch auch auf die Jahrtausende alte Historie der Juden richten.

Die Autorin, Dramaturgin und Regisseurin Waltraut Lewin hat sich genau diesem monumentalen Thema gewidmet. Im ersten von zwei Teilen ihres Werkes Der Wind trägt die Worte stellt sie die Geschichte der Juden vom Jahr 1 der jüdischen Zeitrechnung – 3761 v. Christus – bis ins Jahr 1655 dar. In einem Dreiklang aus Fakten, Berichten und (zum Teil fiktiven) Erzählungen führt sie den Leser von Palästina, Ägyptenland, Babylon, Italien, Spanien, Portugal, Deutschland bis nach England. Sie erzählt von Königen, Rabbinern und Propheten. Von Salomo, David und Rabbi Löw. Von Verfolgung, Inquisition, Ghettoisierung. Anfangs stammen die Geschichten aus dem Alten Testament und stellen für christlich geprägte Leser einen Wiedererkennungseffekt dar. Später fügen sich mehr und mehr Episoden an, die man aus der europäischen Geschichte kennen könnte – aus der jüdischen Perspektive jedoch nicht unbedingt wahrgenommen hat.

Im Laufe der Lektüre begreift man, wie eng Judentum und Christentum miteinander verbunden sind. Dass das eine ohne das andere kaum denkbar ist. Wie schon Lessing in seinem Nathan versucht hat klarzumachen. Die Einbindung der Erlebnisse und Erfahrungen der Juden in einen großen europäischen Kontext ist nicht nur lehrreich, sondern überaus faszinierend und fesselnd. Die Autorin mixt Geschichten und Legenden mit wissenschaftlichen Fakten und neuesten Erkenntnissen. Die kurzen Kapitel und die unterschiedlichen Erzählstile erlauben es dem Leser, nach Lust und Laune zwischen den Abschnitten und Epochen zu springen. Waltraut Lewin macht Historie so überaus anschaulich und nachvollziehbar.

Für Jugendliche ab 12 mag manches vielleicht nicht immer sofort verständlich sein, doch ein Glossar am Ende des Buches erklärt die gängigsten Begriffe der jüdischen Kultur, erläutert die jüdischen Feste sowie den Unterschied zwischen Tora, Tanach und Talmud. Dieses Geschichtsbuch sei allen denjenigen ans Herz gelegt, die jenseits von religiösem Missionierungswahn (von welcher Religion auch immer) mehr über das Judentum erfahren wollen, denn Lewin erzählt ohne erhobenen Zeigefinger und vermeidet platte Schuldzuweisungen. Das ist für mich Aufklärung im besten Sinne – wie schon bei Gotthold Ephraim Lessing.

Waldtraut Lewin: Der Wind trägt die Worte. Geschichte und Geschichten der Juden, cbj, 2012, 765 Seiten, ab 12, 24,99 Euro

Die Schuld der Väter

Vaters Befehl oder Ein deutsches MädelWeit weg und doch immer noch nah ist die Zeit des Dritten Reiches. Aber die Generation, die noch unmittelbar davon berichten kann, stirbt aus, seien es die Opfer des Naziterrors, als auch die Täter, als auch ihre Kinder. Die Stimmen, die erzählen können, was damals vor sich ging und wie es sich anfühlte, in einer Diktatur groß zu werden, verstummen langsam.

Umso besser, dass Elisabeth Zöller eine wirklich beeindruckende Geschichte zu genau diesem Thema geschrieben und so eine dieser Stimmen festgehalten hat. Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel handelt von der 15-jährigen Paula, einer begeisterten Anhängerin des Führers. Stolz präsentiert sie der Familie eine signierte Ausgabe von Hitlers Mein Kampf, sie wird Schaftführerin beim BDM und glüht für das nationale Deutschland. Sie schwärmt für den schneidigen Werner und ist der ganze Stolz ihres Vaters, einem Polizeimajor in Münster.

Doch Paula ist auch mit Mathilda befreundet. Aber schon seit zwei Jahren kommt Mathilda nicht mehr in die Schule, und jetzt erfährt das Mädchen nach und nach die wahren Gründe für das Fehlen der Freundin. Mathilda ist Halbjüdin, und die Stimmung im Land wird Juden gegenüber immer feindseliger. Zunächst merkt Paula noch nicht viel davon, doch Mathilda führt ihr vor Augen, was die gelben Bänke in der Stadt bedeuten und dass immer mehr Menschen verschwinden. Auch Mathilda muss weg und kann sich nicht mehr mit Paula treffen. Die Mädchen richten einen geheimen Briefkasten in einem Baumloch ein und schicken sich so immer noch Nachrichten.

Dann zieht Paulas Familie in eine prachtvoll ausgestattete Villa, der Vater ersteigert einen echten Rembrandt, und immer mehr wundert sich die Ich-Erzählerin über diese Veränderungen, denn reich ist die Familie eigentlich nicht. Paula wird misstrauisch, aber noch hat sie Vertrauen zu ihrem Vater. Und so erzählt sie ihm von den „Swingheinis“, deren Laden Werner hochgehen lassen will. Ein paar Tage später entdeckt sie, dass der Vater einen der Jungen der Swingbewegung verhört und misshandelt hat, obwohl er versprochen hatte, ihm nichts zu tun.

Paulas Misstrauen wächst. Sie wird immer aufmerksamer, was in ihrer Umgebung passiert. Die wenigen Brief von Mathilda, die sie noch erreichen, tragen mehr und mehr den Schrecken der Judenverfolgung in Paulas Alltag. Mathildas Familie ist untergetaucht. Dann wird auch noch Paulas Geschichtslehrer verhaftet, der den Kindern das selbstständige Denken beibringen will.

Irgendwann bekommt Paula ein Telefonat des Vaters mit, in dem er die Deportation von Münsteraner Juden vorbereitet. Als es soweit ist, schleicht sie ihrem Vater hinterher, in der Hoffnung, Mathilda am Bahnhof zu treffen. Doch die Freundin ist nicht dabei. Zuhause erwartet sie der wutschäumende Vater – und die Situation eskaliert.

In einer ganz klaren, fast nüchternen Sprache erzählt Elisabeth Zöller von Paulas Schicksal, das auf einer authentischen Geschichte beruht. Anfang 2005 hatte eine alte Dame die Autorin angerufen und sie gebeten, ihre Jugenderlebnisse aufzuschreiben. Diese alte Dame, die nicht namentlich genannt werden wollte, hatte den dringenden Wunsch, dass die Geschichte über die Kinder der Täter bekannt würde. Auch wenn die alte Dame das Erscheinen dieses Buches nicht mehr erlebt hat, können wir ihr für ihren Mut dankbar sein, von ihrem Schicksal berichtet zu haben. Denn Elisabeth Zöller ist es hervorragend gelungen, Paulas kontinuierlichen Wandel von der Nazi-Anhängerin zur Kritikerin eindringlich darzustellen. Langsam und fast unmerklich schleicht sich der Horror der damaligen Zeit in die Geschichte und in Paulas Leben. Die Auseinandersetzung mit dem Vater erweitert diesen politischen Roman um eine grausame psychologische Komponente. Denn der Feind ist nicht nur das System draußen vor der Tür, sondern der eigene Vater. Erschreckend deutlicht wird die deutsche Bürokraten-Mentalität, als der Vater Paula die Regeln für ein korrektes Verhör aus der Kladde vorliest. Und dann in seiner Wut bei der eigenen Tochter über die Strenge schlägt und sie mit dem Lineal fast totprügelt. Das ist verdammt beklemmend, aber gleichzeitig ist Vaters Befehl ein großes und wichtiges Buch über den Alltag in einem Nazi-Haushalt. Ein Buch, das in seiner schnörkellosen Erzählart deutlich macht, dass wir Rassenhass, Verfolgung und Holocaust nie wieder zulassen dürfen. Nirgendwo.

Für junge Leser, die mit dem Thema Nationalsozialismus noch nicht vertraut sind, gibt es im Anschluss an die Geschichte ein Glossar, das die wichtigsten Begriffe, Organisationen, Namen und Vorgängen der Zeit erklärt. Dieses gründlich recherchierte Buch eignet sich bestens für anschauliche Unterrichtsdiskussionen.

Elisabeth Zöller: Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel, Fischer Schatzinsel, 2012, 268 Seiten, ab 12, 12,99 Euro

Wie es sich gehört

Deutschland ist ein Land im Krieg, doch dieser Krieg findet nicht in diesem Land statt, sondern weit weg in Afghanistan. Doch wie auf der Jugendbuch-Tagung in Tutzing Anfang Juni diskutiert wurde, brauchen auch Kinder und Jugendliche ohne solche Erfahrungen Literatur über den Krieg, selbst wenn er für uns weit weg ist. Die Wissenschaft unterteilt die Kriegsromane in ganz unterschiedliche Gattungen: Frontroman, Lazarettroman, Etappenroman, Heimkehrerroman, Kriegsopferroman, Fluchtroman oder Heimatfrontroman. Für jede Facette des Grauens ist also was dabei. Fragt sich nur, was man den Kindern und Jugendlich davon zumuten soll.

Eine fast schon poetische, dafür aber nicht minder bedrückende Variante hat die Holländerin Joke van Leeuwen geschrieben. In Als mein Vater ein Busch wurde und ich meinen Namen verlor erzählt sie die Geschichte des Mädchens Toda. In einem nicht genannten Land ist im Süden Krieg ausgebrochen – „die einen kämpfen gegen die anderen“. Todas Vater wird eingezogen und lernt sich zu tarnen. Kurzfristig passt die Großmutter auf das Mädchen auf, doch dann wird es auch Zuhause zu gefährlich. Toda soll über die Grenze ins Nachbarland, wo ihre Mutter schon seit vielen Jahren lebt.

Auf dem Weg in die Sicherheit erlebt Toda die unterschiedlichsten Abenteuer: geldgierige Schlepper, eitle Generäle, pseudohilfsbreite Mütter, Großmütter, die sich nach ihren Enkeln sehnen, Deserteure, Bürokratenirrsinn. Toda erzählt von ihren Ängsten während der Flucht, schlägt sich in einem fremden Land durch, in dem eine ihr unbekannte Sprache gesprochen wird, und entlarvt bei alldem das widersinnige Verhalten der Erwachsenen, ihren unnützen Anspruch an Mut, Kraft und Stolz. Am Ende schafft Toda es zu ihrer Mutter und kann auf eine Rückkehr zu Vater und Großmutter hoffen.

Dieses schmale Buch, eine Mischung aus Flucht- und Etappenroman, ist sicherlich keine leichte Unterhaltungslektüre, dafür aber eine großartige Reflexion über kriegerisches Verhalten – nicht nur im Krieg, sondern in unser aller Alltag.

Joke van Leeuwen: Als mein Vater ein Busch wurde und ich meinen Namen verlor, Übersetzung: Hanni Ehlers, Gerstenberg Verlag 2012, 128 Seiten, ab 10, 12,95 Euro

Worte zu Bildern

tipp tappLernen in Verbindung mit Technik übt eigentlich auf alle Altersklassen immer wieder eine gesteigerte Faszination aus. Das ist jedenfalls meine ganz persönliche, sicherlich nicht repräsentative Beobachtung. Gerade am Anfang kann man die Finger nicht von dem neuen Spielzeug lassen, meint, vermeintlich besser und schneller zu lernen, als antiquiert mit Büchern, Stift und Papier. Meist verfliegt der Reiz des Neuen ganz schnell, und der Computer wird wieder für angeblich vergnüglichere Dinge benutzt.

Ein interaktives Lernspiel aus diesem Frühjahr hat jedoch gute Chance zu einem Dauerbrenner zu werden: Das interaktive Bildwörterbuch tipp tapp der französischen Illustratoren und Grafiker Boisrobert und Rigaud. Schiebt man die mitgelieferte CD in einen Computer (PC oder Mac), öffnet sich ein Programm, mit dem der Nutzer/die Nutzerin Worte tippen kann. Hört sich erstmal langweilig an. Doch bei jedem Wort, das richtig eingetippt wird, ploppt auf dem Bildschirm die entsprechende Figur oder der jeweilige Gegenstand auf. Und wie von Zauberhand entsteht nach und nach ein Bild. Das Bilderbuch zeigt, welche Dinge auf dem Bildschirm auftauchen können: Mädchen, Junge, Berge, Kühe, Schafe, Bäume, Grashalme, Kleingetier und vieles mehr.

Doch dabei bleibt es nicht, denn das Getier bewegt sich: Schnecken kriechen durchs Bild, Mücken sausen herum, alles ist irgendwie in Bewegung. So entstehen Landschaften, Flüsse, Bauernhöfe, Picknick-Partys, Fantasiewelten. Tippt man „Winter“ oder „Herbst“ ein, verlieren die Bäume beispielsweise die Blätter oder verändern ihre Farbe. Lässt man es regnen, schneien oder stürmen, weht es schon mal die Figuren um. Herrlich! tipp tapp ist wie eine Wundertüte, die unzählige Überraschungen bereithält.

Der Stil der Illustrationen, sowohl im Buch als auch der Figuren auf dem Bildschirm, erinnern mich an Bilder, die man in früheren Zeiten aus Pergamentpapier gebastelt hat. Leicht und durchscheinend sehen die Figuren aus. Überlagern sich zwei Farben, entsteht eine dritte. Die reduzierten Formen aus Kreis, Dreieck und Viereck, verleihen den Figuren abstrakte Klarheit. Überflüssig zu sagen, dass man auch die Farben verändern kann, indem man „rot“ oder „blau“ usw. eingibt.

Die Ergebnisse einer Session kann der Künstler, Schüler, Spieler abspeichern und ausdrucken. So geht nichts von dem Lern- und Spielspaß verloren. Das Bildwörterbuch selbst kann natürlich unabhängig vom Computer als Bilderbuch angeschaut und durchgeblättert werden. Die Geschichten dazu muss man sich dann eben selbst ausdenken …

Manche Worte scheinen mir für die kleinen Computerfreaks fast ein wenig zu lang zu sein, wie beispielsweise „3 FEUERWERKSRAKETEN“, doch hat man sich durch diese Bandwurmworte getippt, wird man mit einem ganz entzückenden Feuerwerk belohnt. Aber wahrscheinlich ist der Lerneffekt so groß, dass gerade auch solche Wortmonster so anregend sind und solch eine Herausforderung darstellen, dass man eben immer weiter mit tipp tapp macht, bis man alle Varianten durchprobiert hat. Mit so einem Programm macht Lernen also nicht nur Laune, sondern auch noch Kunst.

Anouck Boisrobert/Louis Rigaud: tipp tapp. Mein interaktives Bildwörterbuch, Jacoby & Stuart 2012, 48 Seiten mit CD-ROM, ab 4, 19,95 Euro

Von fremden Welten

Zugegeben, ich liebe Atlanten. In Momenten, in denen ich nicht durch unbekannte Gefilde fahren oder wandern kann, bieten mir die geografischen Karten unendliche Möglichkeiten, auf Reisen zu gehen. Dann durchstreife ich fremde Städte, erklimme Gebirgszüge, folge Küstenlinien und Flussläufen. Manche Orte, an denen ich schon mal war, erkenne ich wieder (es sind die wenigsten). Alle anderen befeuern meine Fantasie und die Sehnsucht, vielleicht einmal dorthin zu gelangen.

Ähnliches ist mir jetzt mit einem sehr ungewöhnlichen und sehr schönen Atlas passiert, dem Atlas der fiktiven Orte. Hier gibt es „Karten“ der anderen Art. Sie zeigen keine realen Orte, sondern – wie der Titel schon sagt – 30 erfundene Städte, Länder und Welten aus Literatur, Theater, Film und Fernsehen. Es handelt sich dabei um collageartige Illustrationen von Steffen Hendel, die den Leser nach Avalon, Xanadu, Springfield, aber auch Gondor und auf die Schatzinsel entführen. Die Illus setzen sich aus Fotos, Grundrissen, realen Flussläufen und grafischen Elementen zu Fantasiekarten zusammen. Viele kleine, überraschende Details entdeckt man erst bei genauem Studium.

Die Karten und die zugrundeliegenden Werke erläutert der Komparatist Werner Nell. In seinen literaturwissenschaftlichen Aufsätzen ordnet er die Bedeutung der Orte in der jeweiligen Geschichte ein, referiert kurz deren Inhalt und stellt Bezüge zu anderen Werken, Genres und gesellschaftlichen Phänomenen her. So regen nicht nur die Karten zum fiktiven Reisen an, sondern auch Nells Analysen und Interpretationen beinhalten jede Menge Entdeckungspotential. In seiner Kombination aus Text und Illustration führt dieser Atlas dem Leser eindringlich vor Augen, dass der Mensch mit seiner Fähigkeit, sich fiktive Geschichten auszudenken, auch seinem tiefen Bedürfnis Ausdruck verleiht, eigene Welten zu erschaffen. So kann er immerhin im literarischen Rahmen ein bisschen Gott spielen.

Genau diese einzigartigen Welten jenseits unserer Realität tragen neben den Handlungen und den Figuren maßgeblich zur Faszination der Bücher, Theaterstücke oder Comics bei, die wir täglich verschlingen. Wir träumen uns weg oder freuen uns diebisch, wenn wir unsere Alltäglichkeiten dort gespiegelt oder aufs Korn genommen vorfinden. So habe ich in diesem Atlas alte Bekannte aus der Kindheit getroffen wie Lummerland und Entenhausen, bin mal wieder auf den Zauberberg gestiegen, habe Metropolis von einer anderen Seite kennengelernt und bin dann in die unbekannten Sphären von Utopia und der Sonnenstadt vorgedrungen. So ein Buch hätte ich mir zu Studentenzeiten gewünscht, als mein strukturalismusfixierter Professor über Orte in der Literatur monologisierte, ohne das der Funke für Literatur übersprang. Anregend geht anders, wie dieses Kompendium zeigt.

Als Nebenwirkung der gerade erlebten Fantasiereisen muss ich jetzt mit dem dringenden Bedürfnis leben, so schnell wie möglich auch die Originaltexte zu lesen, die ich bis jetzt noch nicht kenne. All die fremden Welten muss ich jetzt unbedingt selbst erkunden. Für ein Buch, das so etwas in mir auslöst, bin ich den beiden Autoren sehr dankbar.

Werner Nell/Steffen Hendel: Atlas der fiktiven Orte. Utopia, Camelot und Mittelerde. Eine Entdeckungsreise zu erfundenen Schauplätzen, Meyers, 2011, 160 Seiten, 29,95 Euro

Mitten ins Schwarze

Mit Bogenschießen habe ich bis jetzt eigentlich nicht so richtig etwas anfangen können. Ich weiß, dass es das gibt, dass es auch die östliche Variante des Zen-Bogenschießens gibt, aber das war’s auch schon. Doch dann landete das Sachbuch Mein Pfeil- und Bogenbuch von Wulf Hein bei mir, und ich wurde darauf gestoßen, wie sehr Pfeil und Bogen Teil des menschlichen Zivilisationsprozesses waren und heute beispielsweise auch noch Teil der Literatur sind. Kaum ein Fantasyroman kommt ohne Bogenschützen aus, man denke an Legolas im Herr der Ringe. Robin Hood wäre ohne Pfeil und Bogen nicht vorstellbar und erst damit rettet sich Katniss durch Die Tribute von Panem. Und googelt man den Begriff „Bogenschießen“ erhält man rund drei Millionen Treffer. Zudem ist Bogenschießen seit 1972 zudem eine olympische Disziplin. Da ist ganz gehörig etwas an mir vorbeigegangen …

Aufklärung bringt also nun Wulf Hein, Experte für experimentelle Archäologie und Archäo-Technik. In seinem Buch leitet er an, wie man sich Pfeil und Bogen selber bauen kann. Das richtige Werkzeug, das geeignete Holz, die besten Federn, das nötige Zubehör: Alles, was man für eine ordentliche Ausrüstung braucht, erklärt er ausführlich und leicht verständlich. Klassische Illustrationen – ebenfalls von Wulf Hein – veranschaulichen die Arbeitsschritte. Für handwerklich begabte Kinder beginnt der Spaß am Bogenschießen damit schon vor dem ersten Schuss.

Neben den praktischen Anleitungen macht der Blick auf die Geschichte und Entwicklung des Bogenschießens das Buch zu einer runden Sache. Die zehn goldenen Regeln mahnen zum richtigen Einsatz der potentiell gefährlichen Sportgeräte.

Dieses Buch ist so liebevoll gemacht, dass man sofort in den Wald laufen und die richtigen Stöcke suchen möchte. Bei all diesen sinnlichen Betätigungen – wie schnitzen, schneiden, schmirgeln, spannen, stecken, kleben – und anschließend beim konzentrierten Schießen mit den selbstgebauten Geräten bleiben Playstation, Wii oder Xboxen ganz bestimmt in der Ecke liegen.

Wulf Hein: Mein Pfeil- und Bogenbuch. Bogenbau für Kinder und Jugendliche, Verlag Angelika Hörnig, 2011, 207 Seiten, ab 8, 29,80 Euro

Die Bestie Mensch

Historische Romane haben mich schon in meiner Kindheit und Jugend fasziniert. Zwischen den Buchdeckeln auf vielen bedruckten Seiten konnte ich eintauchen in vergangene Zeiten, konnte mich wegträumen und erfuhr im besten Fall historische Fakten, die im drögen Geschichtsunterricht nie zur Sprache kamen.

Meine jüngste Zeitreise in die Vergangenheit führte mich nach Frankreich, ins Gévaudan im Jahr 1767. In ihrem Roman Wolfszeit rekonstruiert Nina Blazon in einer gelungenen Mischung aus Fakten und Fiktion eine Mordserie an Mädchen und Kindern. Eine Bestie treibt ihr Unwesen, zerfleischt und enthauptet ihre Opfer. Die Bewohner der Umgebung sind verunsichert. Ist es ein Mensch oder ein wildes Tier? Keiner hat die Bestie je gesehen. Gerüchte und Spekulationen verbreiten sich und dringen bis nach Paris und Versailles. Dort ist der junge Thomas Auvray, Zeichenschüler und Naturforscher an der königlichen Akademie, völlig von dem Untier fasziniert. Er skizziert, kombiniert und schafft es mit Verstand und Mut durchzusetzen, dass er an den offiziellen Jagden auf die Bestie teilnehmen darf.

In der Provinz begegnet er der schönen Grafentochter Isabelle. Das Mädchen ist traumatisiert, seit sie einem Angriff der Bestie entgangen ist. Thomas erhofft sich genauere Auskunft über die Bestie von ihr. Er gewinnt ihr Vertrauen und verliebt sich schließlich rettungslos in sie.

Blazon schafft aus diesem klassisch anmutenden Setting eine psychologische fundierte Aufklärungsgeschichte.  Der vernunftbegabte, aufklärerisch veranlagte Geist von Thomas trifft auf Aberglaube, Mythen und Volksglaube. Mit seiner Beobachtungsgabe sieht der junge Mann Zusammenhänge, die anderen verborgen bleiben. So löst er nicht nur das Rätsel um die Bestie, sondern kommt auch hinter das große Familiengeheimnis um Isabelle.

Über dem ganzen Roman hängt beständig ein Hauch von Mystery – die Fantasie gaukelt dem Leser trotzt Thomas’ heldenhafter Vernunft immer wieder vor, dass vielleicht doch eine Art Werwolf sein Unwesen treiben könnte. Doch Blazon gelingt es vorzüglich, diese Vermutung beständig neu zu zerstreuen und im Laufe der Geschichte deutlich zu machen, dass nicht die Wölfe die Untiere sind, sondern viel mehr der Mensch selbst zur Bestie werden kann.

Die nervenaufreibende Jagd mit ihren überraschenden Wendungen macht diesen Roman zu einem Pageturner allererster Güte, den man erst aus den Händen legt, wenn Thomas die Bestie entlarvt hat.

Nina Blazon: Wolfszeit, Ravensburger Buchverlag, 2012, 567 Seiten, ab 13, 17,99 Euro

Fantastische Faxen

Man könnte sich fragen, welche Relevanz Märchen heutzutage noch haben, jenseits der charakterbildenden Grimmschen Klassiker oder der romantisiert-verkitschten Disney-Versionen, die immerhin das Bedürfnis nach Evasion befriedigen. Wenn die Märchenprinzessin Petunia heißt und der Mondhase Flappi das Kommando übernimmt, dann bekommen Schloss, König, Drache und Co. ganz neuen Drive.

Gelungen ist diese herzerfrischende Märchenneuerung der britischen Moderatorin und Puppenspielerin Sue Monroe mit ihrem ersten Kinderbuch Prinzessin Petunia und der Mondhase Flappi von Krempel. Darin treibt die verwöhnte Göre P. F. Eigensinn, ihres Ranges Prinzessin am Hof von König Eugen und Königin Elsie, mit ihren ausgefallenen Wünschen die Eltern quasi zur Verzweiflung. Erst möchte das Kind einen Drachen mit allem Drum und Dran, verspricht, sich um ihn zu kümmern, doch kaum geht der Wunsch in Erfüllung, ist ihr der Feuerspucker schon wieder egal. Jetzt möchte P.F. einen Hasen, und zwar den Mondhasen. Ein Alptraum für alle Eltern.

P.F. bettelt wie verrückt, doch den Mond können auch Königs ihr nicht schenken. Brauchen sie aber auch nicht, denn eines nachts hält Flappi von Krempel, der Mondhase, von selbst Einzug ins Kinderzimmer. Und zeigt dem Prinzesschen, wie es ist, wenn man nicht nur an sich selbst denkt. Anstatt, dass die Königstochter von einem Helden errettet wird, muss sie selbst ran und den Vater aus den Fängen des neurotischen Nachbarkönigs befreien.

Flappi, der einen Hang zu Streifenstrumpfhosen und Kleptomanie hat, nennt P.F. respektlos „Pfuschpupsmädchen“ und mausert sich zu einem durchgeknallten Pippi-Langstrumpf-Wiedergänger des 21. Jahrhunderts. Dieser Hase ist einfach anbetungswürdig.

Monroes Einfälle sind ein Feuerwerk charmant-schräger Fantasie, vom zickigen Drachen mit Marzipan-Vorliebe, dem klauenden Hasen, der seine Beute in der Strumpfhose versteckt bis zu den liebenswert-trotteligen Königseltern. Die Übersetzung von Sigrid Ruschmeier trägt mit all den „voll blöööd“, „tollherrlich“ und „glitzerig“ zu einer frech-frischen Stimmung bei, die den Leser von der ersten bis zur letzten Seite bei Laune hält. Vervollkommnet wird dieses Lesefest durch die wunderbar kantigen Illustrationen von Pe Grigo, bei denen auch das Gummiband für die Königskrone nicht fehlt, und das Buch zu einem Gesamtkunstwerk machen.

Der Wandel Petunias von der verzogenen Göre zur netten, nicht mehr so ansprüchlichen Hasen- und Drachen-Freundin kommt ohne erhobenen Zeigefinger, dafür aber mit umso mehr Faxen und Spaß daher. Und das macht dieses Märchen extrem relevant.

Sue Monroe: Prinzessin Petunia und der Mondhase Flappi von Krempel, Illustration: Pe Grigo, Übersetzung: Sigrid Ruschmeier, Fischer Verlag, 2012, 136 Seiten, ab 8, 12,99 Euro

Endlich.

buddha 40 Jahre nach dem ersten Erscheinen in Japan bringt der Hamburger Carlsen Verlag nun den Manga Buddha von Osamu Tezuka heraus. Besser spät als nie, könnte man anfügen.

Doch vielleicht braucht auch alles seine Zeit, um angemessen gewürdigt zu werden. Carlsen veröffentlicht Tezukas Werk jedenfalls unter dem Label „Graphic Novel“, was vor ein paar Jahren wahrscheinlich nicht denkbar gewesen wäre.

Die Umetikettierung von Comics in Graphic Novel ist ein Phänomen der vergangenen Jahre und zeigt, wie sehr in deutschen Köpfen eigentlich immer noch das Vorurteil gegen den „Schund“ der Bildergeschichten herumgeistert. Comics, das sind Donald Duck, Micky Maus, Tim und Struppi, Asterix und Obelix – und somit angeblich nur was für Kinder (Donaldisten mal ausgenommen). Graphic Novels hingegen sind erwachsen, anspruchsvoll, gebildet und cool – also genau richtig für vermeintlich fortschrittliche Hipster. Und so verkaufen sich Comics und Mangas unter dem neuen Genre-Namen plötzlich besser und sind en vogue.

Auch wenn ich über diesen „Etikettenschwindel“ manchmal noch den Kopf schüttele, so soll er mir doch recht sein, wenn dadurch Bildergeschichten wie die von Osamu Tezuka endlich wertgeschätzt und ins Deutsche übersetzt werden.

Tezuka, der Schöpfer von Astro Boy und Kimba, der weiße Löwe, wird in Japan als „Gott der Manga“ verehrt. Ein Stellenwert, den hierzulande kein Comic-Zeichner bis jetzt erreicht hat. Seit ich vor Jahren Tezukas Pentalogie Adolf verschlungen habe, gehört er zu meinen persönlichen Favorits. Dementsprechend gespannt war ich auf den ersten Teil seiner Buddha-Biografie – und bin jetzt mal wieder so richtig angefixt.

In dynamischen Bildern, kräftigen Strichen und abwechselungsreichen Panels erzählt er in Band 1 von einer zutiefst ungerechten, hierarchischen Gesellschaft, in der das Kastensystem vor allem die Ärmsten der Armen knebelt. So hoffen die Menschen auf einen Erlöser, der sie aus ihrem unverschuldeten Elend befreien soll. Der Mönch Naradatta wird ausgeschickt, nach diesem Auserwählten zu suchen. Er trifft die Jungen Tatta und Chapra, die aus den untersten Kasten stammen. Gemeinsam entkommen sie mordenden Soldaten und gelangen in die Stadt Kapilavastu. Dort mehren sich die Anzeichen, dass ein Wunder kurz bevorsteht. Wenig später bringt Prinzessin Maya ihren Sohn Siddhartha zur Welt.

Wohin die Erzählstränge um Naradatta, Tatta und Chapra führen werden, bleibt in diesem ersten von insgesamt zehn Teilen natürlich unbeantwortet. Doch Tezukas humanistischer Anspruch ist schon hier sehr eindrücklich zu spüren. Unmenschlichkeit und Ungerechtigkeit stellt er an den Pranger. Dass er diese Geschichte vor über 40 Jahren gezeichnet hat, ist dem Werk in keinem Panel anzusehen, viel mehr reißen die augenzwinkernden Anspielungen auf die Gegenwart den Leser immer wieder aus der erzählten Zeit heraus und verweisen darauf, dass die Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft auch 2500 Jahre nach Buddha immer noch die Welt regieren.

Man muss kein Buddhist sein, um den Wert dieses Mangas schätzen zu können. Mit Band 1 startet ein beeindruckendes Werk der grafischen Literatur, das in keiner Comic-Sammlung fehlen darf. Nur gut, dass die nächsten Bände in kurzen Abständen erscheinen – dann dauert die Qual des Wartens nicht allzu lange.

Osamu Tezuka: Buddha, Bd.1 Kapilavastu, Übersetzung: John Schmitt-Weigand, Carlsen Verlag, 2012, 310 Seiten, 22,90 Euro

Kampf um Selbstbestimmung

meto das hausIn den vergangenen Monaten sind zahlreiche dystopische Romane auf meinen Schreibtisch gelandet. Manche habe ich gelesen, manche nach den ersten Seiten wieder zur Seite gelegt. Méto, der Auftaktband von Yves Grevets Trilogie, wanderte ziemlich lange von einer Ecke in die andere. Bis ich jetzt endlich anfing – und nicht mehr aufhören konnte.

Dabei ist die Geschichte eigentlich etwas sonderbar, geheimnisvoll und erstaunlich sperrig. Der 14-jährige Méto erzählt von seinen Erlebnissen im „Haus“. Wie er dorthin gekommen ist und was er vorher gemacht hat, weiß er nicht. Jetzt lebt er mit 63 anderen Jungen in eine Art Internat mit verschärften Regeln. Die Kinder sind nach Alter in Gruppen unterteilt, dürfen keine neugierigen Fragen stellen, müssen Sport treiben und nur eine gewisse Anzahl an Bissen pro Mahlzeit zu sich nehmen. Halten sie sich nicht an die Regeln der Cäsaren, ihrer Aufseher, drohen heftige Strafen: der Ohrfeigenkreis, Essensentzug und die Kühlkammer. Zudem werden die Jungen mit wachstumshemmenden Spritzen behandelt und mit Schlafmitteln ruhiggestellt. Kein Ort, an dem man gern ist oder der auf eine lustige Internatsgeschichte schließen lässt.

Im Laufe der Zeit stellt Méto sich immer mehr Fragen. Denn sobald ein Kind zu groß für das eigene Bett wird, muss es das Haus verlassen – und niemand weiß, was dann aus ihm wird. Der Ich-Erzähler fängt an zu forschen, sucht den Sinn hinter den harten Regeln und sehnt sich nach Freiheit und Selbstbestimmung. Er findet Verbündete, muss sich aber auch vor Verrätern und Monster-Soldaten hüten. Nach und nach organisiert er die Revolution und sieht sich plötzlich neuen Herausforderungen und Gefahren ausgesetzt.

Irritierend an diesem Roman sind verschiedene Aspekte. Der Handlungsort, also das Haus, ist irgendwie nicht fassbar. Die Zeit, irgendwann in der Zukunft, ebenfalls nicht. Grevet beschreibt kaum, weder Räumlichkeiten, noch Figuren und schon gar nicht die Gefühle der Jungen. Seine Sprache ist nüchtern und staubtrocken. Adjektive und geschmeidige Übergänge scheint er nicht zu kennen. Die Jungen, die allesamt altrömische Namen tragen, wirken unnahbar. Man bleibt als Leser fast ein wenig allein in diesem beklemmend düsteren Szenario und weiß zunächst nicht, mit wem man sich möglicherweise identifizieren soll. Und dennoch entwickelt die Geschichte einen Sog. Denn die vielen offenen Fragen und Geheimnisse um das Haus und die Gesellschaft, in der die Jungen leben, befeuern Fantasie und Neugierde des Lesers.

In dem Moment, wo die Revolution gelingt und die Jungen sich einen neuen Tagesablauf und einen neuen Umgang mit den zuvor versklavten Dienern überlegen müssen, kommt eine neue politische Note dazu. Méto und seine Mitstreiter stehen vor der Frage, ob man eine faschistoide Gesellschaft mit einem Schlag in eine freiheitlich-demokratische verwandeln kann. Dass das nicht so einfach ist, merken die Aufständischen, als sie beinahe die Bestrafungen ihrer eigenen Peiniger übernehmen. Hier liegt meines Erachtens das Bedeutsame der Geschichte, die jugendliche Leser zum Nachdenken und Diskutieren bringen wird.

Wie sich die Revolution und Métos Rolle darin weiterentwickelt, bleibt derweil offen. Denn im wohl spannendsten Moment der Geschichte, endet der erste Teil. Die Fortsetzung erscheint im kommenden Oktober. Bis dahin ist Geduld und ein langer Atem gefragt.

Yves Grevet: Méto – Das Haus, Übersetzung: Stephanie Singh, dtv/Reihe Hanser, 2012, 217 Seiten, ab 14, 14,95 Euro

Unvermisst

marit kaldhol allein unter SchildkrötenDer Mensch ist im Grunde allein. Aber der Mensch ist auch ein soziales Wesen. Und wird er von den anderen nicht gesehen, so stürzt ihn dies in quälende Seelenpein.

Über so einen Menschen schreibt die Norwegerin Marit Kaldhol in ihrem Roman Allein unter Schildkröten. In kurzen Texten lässt sie den 19-jährigen Mikke in Tagebucheinträgen von sich erzählen. Soweit eigentlich nichts Ungewöhnliches. Allerdings beschleicht den Leser auf den ersten 65 Seiten immer stärker das dumpfe, ungute Gefühl, dass bei Mikke etwas ganz gewaltig schief läuft. Oberflächlich scheint alles in Ordnung: Er begeistert sich für Biologie, betreut einen behinderten Jungen und ist gerade zum ersten Mal richtig verliebt. Sein Vater hat die Familie zwar vor Jahren verlassen, die Mutter aber eine neue Liebe gefunden. Mit seinem Stiefvater steht sich der Junge richtig gut. Aber trotzdem fühlt Mikke sich einsam, rutscht langsam in eine Depression und setzt seinem Leben schließlich ein Ende.

Kaldhol schildert dieses Drama unaufgeregt und in keiner Weise voyeuristisch oder reißerisch. Nachdem Mikkes Tagebuchaufzeichnungen enden, erinnert sich zunächst seine Mutter an ihn und auch an ihr eigenes Leben. Im dritten Teil des Buches verabschieden sich die Väter und Freunde mit Briefen von dem Jungen. So fügen sich im Laufe der Lektüre diese Stimmen wie ein Puzzle zusammen und zeichnen das Bild eines im Grunde lebenslustigen, sportlichen, gutaussehenden Teenagers, der aber einem modernen Werther gleich an der Welt leidet.

Die kurzen Kapitel wirken poetisch, sind aber vor allem von Mikkes philosophischen Betrachtungen über das Leben, das Sterben und die eigene Identität geprägt. Neben der Frage nach den Gründen für seinen Freitod regt gerade Mikkes Suche nach einer eigenen Persönlichkeit, nach einem Platz in der Gesellschaft, in der er sich so verlassen vorkommt wie das Gelege einer Meeresschildkröte, zum intensiven Nachdenken an. Der Leser wird dabei auf sich selbst zurückgeworfen, auf seine eigene Sicht der Dinge, ob er von anderen tatsächlich gesehen wird und ob er selbst die anderen wirklich sieht. Die Betrachtungen der Mutter und der anderen Figuren erweitern die Geschichte dann um die psychologische Dimension, die jedes Aufeinandertreffen von menschlichen Wesen zwangsläufig mit sich bringt. Man leidet mit den Menschen, die keine vorsätzlichen Fehler begangen haben, mit, weil man weiß, dass man einer von ihnen sein könnte.

So wird dieses schmale, stille Buch zu einer Lektüre mit Tiefe und Nachhall. In Zeiten von Krach, Oberflächlichkeit und Egozentrismus ein bewegender Kontrapunkt.

Marit Kaldhol: Allein unter Schildkröten, Übersetzung: Maike Dörries, mixtvision, 2012, 136 Seiten, ab 14, 12,90 Euro