Schätze und Vampire

Roald DahlManchmal bescheren einem die Verlagsankündi-gungen unerwartete Reisen in die eigene Kindheit. Ein solch vergnüglicher Rückblick wurde mir jetzt mit dem Hinweis auf das 40-jährige Jubiläum der roro-Rotfuchs-Reihe aus dem Rowohlt Verlag zuteil.

Plötzlich sah ich sie wieder vor mir, die weißen Taschenbücher mit den Fotos auf der Vorderseite und dem dreiteiligen Comic-Strip mit dem Rotfuchs auf der Rückseite. Diese Bücher mit ihren packend realistischen Geschichten waren feste Begleiter meiner frühen Jugendzeit. Sie stillten meinen Lesehunger, und in der rückblickenden Mystifizierung könnte ich jetzt behaupten, die Comic-Strips haben meine Liebe für Graphic Novels geweckt …

Rowohlt hat jetzt im Rahmen ihres Jubiläums zwei meiner Kindheits- und Jugendbegleiter in neuem Kleid herausgebracht. In Die große Roald Dahl Schatzkiste findet man die Perlen des Walisers mit dem fiesen schwarzen Humor. Ich kannte von Ronald Dahl vor allem seine skurrilen Küsschen-Küsschen-Geschichten und habe jetzt mit Wonne die Storys von der leseverrückten Matilda, Willy Wonka, Mr. Fox oder vom schüchternen Herrn Hüpfenstich verschlungen.

Ergänzt werden die fantastischen Geschichten durch Ausschnitte von Dahls autobiografischem Text Boy sowie mit rotzfrechen Rezepten des Autors, die aus der Lektüre ein umfassend sinnliches Erlebnis machen, wenn man sofort in die Küche eilt und Karamellmilch und Theo-Torfkopp-Schokotorte zubereitet.

Diese wunderbare Melange ist so überaus liebevoll wie schräg von dem großartigen Quentin Blake illustriert, dass kleine Zuhörer beim Vorlesen jede Menge zu schauen und zu  entdecken haben. Dieses Buch ist ein wahrer Schatz, nicht nur eine Schatzkiste.

der kleine VampirDas zweite Rotfuchs-Déjà-vu ist Der kleine Vampir von Angela Sommer-Bodenburg. In einer erweiterten Neuausgabe sucht Rüdiger von Schlotterstein neu ummantelt mit blutigen Illustrationen von Amelie Glienke den Jungen Anton heim.

Bei allem Vampir-Hype der vergangenen Jahre ist es richtig erholsam, mal wieder einen klassischen Blutsauger im schwarzen Umhang und mit einer Familiengruft als Zuhause zu erleben. Böse Tanten, Vampir-ärgere-dich-nicht, Blutvergiftung beim Vampir und ewig pubertierende Jung-Vampire ergeben noch immer eine charmante Mischung aus Grusel und Grinsen. Fast wünscht man sich, Anton möge sich gegen die Avancen von Anna, Rüdigers Vampir-Schwester, nicht so sträuben. Doch selbst wenn Rüdiger jetzt schon 33 Jahre durch die Buchregale und Kinderzimmer flattert, hat er nichts an Frische und Biss verloren. Und wer dann doch noch eine „richtige“ Vampirliebesgeschichte braucht, der findet mittlerweile ja schön bissige Romane dieser Art im Buchhandel …

Roald Dahl: Die große Roald Dahl Schatzkiste, Übersetzung: Inge M. Artl/Dorothee Asendorf/Roswitha Fröhlich u.a., Illustrationen: Quentin Blake, Rowohlt, 2011, 349 Seiten, ab 6, 19,99 Euro

Angela Sommer-Bodenburg: Der kleine Vampir, Illustrationen: Amelie Glienke, Rowohlt, 2011, 159 Seiten, ab 6, 10,00 Euro

Das Rotzgör

ur-pippiVor zehn Jahren starb Astrid Lindgren. Mit ihren Büchern bin ich erst ziemlich spät in Berührung gekommen. Meine Mutter drückte mir als Kind lieber der Reihe nach die Bände von Else Urys Nesthäkchen in die Hand. Damals habe ich die Geschichten aus Berlin geliebt – heute ertrage ich sie leider nicht mehr, zu konservativ ist die gutbürgerliche Welt der Ury.

Umso mehr habe ich sehr viel später die Geschichten von Michel, Bullerbü und natürlich Pippi verschlungen. Der Respekt für die Kinder und der offene Antikonformismus lagen mir näher. Pippi war dabei natürlich unübertroffen: stark, schlagfertig, unabhängig und so unglaublich lebensklug. Tommy und Annika, die „lieben kleinen karierten Kinder“ (Ur-Pippi), konnten dagegen einpacken.

Als dann der Oetinger Verlag 2007 die Ur-Pippi herausbrachte, las ich die Geschichte noch einmal, mit erwachsenen Augen und dem Blick der Literaturstudierten. Und hier präsentierte sich auf einmal eine Pippi, die noch frecher und vorwitziger war, als im Standardtext. Die Ur-Pippi ist sprachlich ungeschliffener und nicht so glatt. Die Heldin wiederum ist noch unabhängiger, hat sie doch keine „Mama im Himmel“ und keinen Vater als „Negerkönig“. Sie verschafft sich mit einem Fingerstupser Respekt vor mobbenden Jungs (wie man das Verhalten heute nennen würde) und führt die Erwachsenen noch rigoroser vor. Herrlich.

Der Kommentar, der dem Urtext folgt, klärt über die Entstehungsgeschichte und die Widerstände gegen diesen anarchischen Roman auf. Hier wird die ursprüngliche Kompromisslosigkeit Lindgrens bei der Verteidigung der Kinderrechte deutlich. Sie entlarvt die Unverschämtheiten und Beleidigungen der Erwachsenen – und deutet die Grandezza von Pippi an, die sie in ihrer späteren mythischen Form erlangt.

Die  Ur-Pippi liefert einen literaturwissenschaftlich aufschlussreichen Blick in die Entstehung des Pippi-Langstrumpf-Kosmos‘ – für eingeschworene Pippi-Fans im Erwachsenenalter ein Muss.

Astrid Lindgren: Ur-Pippi, Übersetzung: Angelika Kutsch und Cäcilie Heinig, Oetinger Verlag, 2007, 176 Seiten, 14,90 Euro 

Voll verzerrt

steamnoirDie Literatur ist voller fremder Welten. Menschen brauchen fiktive Orte, denn hier können sie ihrer Fantasie alle Freiheiten lassen, Autoren können Gott spielen, Leser sich eskapistisch aus der Realität wegträumen. Nicht jede der fiktiven Welten reizt mich oder zieht mich so in ihren Bann, dass ich tatsächlich darin eintauche. Neulich hat diese aber nach langer Zeit mal wieder ein Comic geschafft. Zuerst mit Unverständnis, dann mit steigender Faszination habe ich Steam Noir – Das Kupferherz verschlungen, Auftakt zu einer vierbändigen Steampunk-Saga.

Autor Benjamin Schreuder und Zeichner Felix Mertikat erschaffen eine düstere Ätherwelt, in der ein zerbrochener Planet schwebt. Sie beschränken sich jedoch nicht nur eine eindimensionale Steampunk-Geschichte zu erzählen, sondern flechten in die Dampf- und Ätherwelt einen Krimiplot mit den unterschiedlichsten zwielichtigen Figuren sowie eine mythische Toteninsel Vineta mit ewigwandelnden Seelen ein.

In eine Villa wurde eingebrochen und nun ermittelt ein sehr schräges Kriminalisten-Team: Heinrich Lerchenwald, ein sogenannter Bizzaromanten, der für übernatürliche Phänomene zuständig ist, der empfindsame, 2,25 Meter große Maschinenmensch Richard Hirschmann und die kühle Forensikerin Frau D. In der Villa finden sie zweierlei: Spuren einer Mädchenleiche und die einer verlorenen Seele. Scheinbar hat die Seele die Leiche, die in einem Hauskamin eingemauert war, gestohlen. Das tote Mädchen trug ein künstliches Kupferherz in der Brust. Bei einer Begegnung mit einer Seele verliert Lerchenwald eine Hand, ein unbekannter Wohltäter spendiert ihm jedoch eine hochwertige Technohand. Nach und nach kommen die drei Protagonisten einem skrupellosen Prothesenhersteller auf die Schliche, der den unsterblichen kybernetischen Organismus schaffen will. Die Auflösung des Falls wird sich in den kommenden drei Bänden entwickeln.

Vieles, nicht alles, in dieser Dampfmaschinen-Welt versteht man eigentlich erst, wenn man das Bonusmaterial studiert und dort beispielsweise die Erklärung für Aufbau der Atmosphäre (dichter Äther) und die Fortbewegungsmittel (Ätherschiffe) findet. Doch die oliv-braun-grau-gedämpften Panels mit ihren schwarzen, dynamischen Rahmen bieten in ihrer Detailfülle so viel zu entdecken, dass man diese Wissenslücken geradezu als reizvoll empfindet. So entdeckt man sonderbarste Maschinen und Waffen, Menschen und Tiere mit künstlichen Gliedmaßen, absurde Kreaturen. Sobald man nach dem Comic die Hintergründe dieser tristen, aber überaus faszinierenden Welt erfährt, blättert man mit einem „wissenden“ Blick noch mal zurück und begreift die Feinheiten dieses Universums. Die beiden Macher haben mit Steam Noir die Steampunk-Kultur um eine extrem coole grafische Umsetzung bereichert.

Einziger Wermutstropfen ist für mich jetzt nur, dass ich auf die Fortsetzung der Geschichte bis zum Sommer 2012 warten muss. Das wird hart …

Felix Mertikat/Benjamin Schreuder: Steam Noir. Das Kupferherz (Band 1), Cross Cult, 2011, 61 Seiten, 16,80 Euro

Unerziehbar

Penelope Lumley ist zwar erst 15 Jahre alt, doch sie ist von ganzem Herzen Gouvernante. Schließlich wurde sie im renommierten Swanburne-Institut für kluge Mädchen aus armen Verhältnissen dazu ausgebildet und hat als Klassenbeste abgeschnitten. In ihrer ersten Stellung im noblen Herrenhaus Asthon Place werden ihr drei ganz besondere Kinder anvertraut. Sie heulen wie die Wölfe und jagen mit Vorliebe Eichhörnchen. Penelope brennt darauf, den Kindern ihre Lieblingsgedichte vortragen zu können, sie in Französisch und Latein zu unterrichten, ihnen die Unterschiede zwischen barocker und romantischer Musik zu erklären und Aquarelle mit ihnen zu malen.

Aber all dies muss erst einmal warten, denn ihre drei Schützlinge mit den Namen Alexander, Beowulf und Cassiopeia sind Wolfskinder. Der Hausherr Lord Frederick fand sie während einer Jagd auf seinen riesigen Ländereien. Und nun müssen die Geschwister zunächst die Grundregeln des menschlichen Daseins und Lebens erlernen, als da wären: sprechen, zivilisiert essen, sich anziehen und eben nicht jedem Eichhörnchen hinterherjagen.

Penelope legt eine unglaubliche Liebe und Geduld  bei ihrer Aufgabe an den Tag. Denn sie weiß, dass die Kinder nichts dafür können, in welchen Verhältnissen sie bis dahin gelebt haben. Die junge Gouvernante akzeptiert die drei vorbehaltlos und versucht mit ihrer Erfahrung aus der Hundeschulung und einem Eichhörnchen-Desensibilisierungsprogramm, sie nach und nach zu gesitteten Engländern zu machen. Doch auf dem Weihnachtsball von Lady Constance nimmt das Chaos seinen Lauf …

Der Amerikanerin Maryrose Wood, deren Gothic-Trilogie Poison Diaries seit vergangenem Jahr bei Fischer FJB erscheint, legt mit Das Geheimnis von Ashton Place eine wunderbar turbulente Geschichte vor. Sie bildet den Auftakt zu einer ganzen Reihe über die „unerziehbaren Kinder von Ashton Place“ (wie der Titel im Original lautet). Hier trifft versnobtes Getue aus dem Hochadel auf die Liebenswürdigkeit einer jungen Heldin, für die Kinder überaus ernstzunehmende Individuen sind, die es zu respektieren gilt. Dieses Buch geht ans Herz, zaubert ein Dauerlächeln auf die Lippen und ist einfach eine Wonne – die Lust auf die Fortsetzung macht.

Maryrose Wood: Das Geheimnis von Ashton Place. Aller Anfang ist wild, Übersetzung: Eva Plorin, Thienemann Verlag, 2012, 304 Seiten, ab 11, 12,95 Euro

Der Bund der Stiefmüttergeschädigten

Der Eiserne KönigAn Jahresanfängen lassen sich sehr gut neue Pläne schmieden und Vorsätze fassen: Meiner für dieses Jahr lautet, die Märchensammlung der Brüder Grimm neu zu lesen. Denn am 20. Dezember jährt sich das Erscheinen der Kinder- und Hausmärchen zum 200. Mal, und die gehört seit 2005 zum Weltdokumentenerbe der UNESCO. Eine sehr passende Gelegenheit den Gründungsvätern der Germanistik meine Reverenz zu erweisen.

In den vergangenen Wochen hat mir bereits ein aktuelles Buch unglaubliche Lust auf die Grimm’schen Märchen gemacht. Der Eiserne König von John Henry Eagle ist nämlich so etwas wie die Fortsetzung der klassischen Märchensammlung. Hans und Sneewitt sind erwachsen geworden und müssen sich neuen Aufgaben stellen, jenseits von gefräßigen Hexen und bösen Stiefmüttern. Das Reich Pinafor ist in Gefahr. Der Eiserne König droht, wieder aufzuerstehen und die Macht an sich zu reißen. Die Protagonisten brauchen die Hilfe eines kleinen Mädchens, auf dessen Rücken ein Labyrinth tätowiert ist. Dieses führt sie zur lebensspendenden Esche. Unterstützt von Reineke Fuchs, Rumpenstünz und weiteren Gefährten ziehen die Helden durch ein verwunschenes Reich, um den drohenden Weltuntergang und die Schreckensherrschaft des Eisernen Königs abzuwenden.

Zwar habe ich mich manchmal in den vielen Kämpfen und Winkelzügen im Märchenwald etwas verlaufen, doch die herrliche Respektlosigkeit, die Sprachgewalt und der Witz, mit denen Eagle das große Abenteuer erzählt, zogen mich immer wieder neu in den Bann. Der Autor spielt geschickt mit den Hausmärchen, weckt Kindheitserinnerungen und kitzelt den Ehrgeiz, die Figuren richtig einzuordnen. Mir ist das – ich gebe es zu – nicht in allen Momenten gelungen. Umso mehr also jetzt das Verlangen, die Original-Märchen noch einmal genau nachzulesen.

Ganz wunderbar kann man das schon mal mit der bebilderten Fassung von Schneewittchen. Der französische Illustrator und Comic-Autor Benjamin Lacombe hat die Königstochter und die sieben Zwerge in surreal-poetischen Bildern neu erschaffen. Unschuldige Schönheit trifft dabei auf eine gruselig düstere Atmosphäre, in der Raben, Geier und Pelztiere interpretatorische Fragen aufwerfen … So mag das dünne Buch schnell wieder weggelegt sein, in Gedanken bleibt man jedoch lange bei den rätselhaften Bildern.

Eagles Märchen hingegen ist einfach eine fantastische Verneigung vor dem Werk von Wilhelm und Jacob Grimm.

John Henry Eagle: Der eiserne König, Fischer FJB, 2011, 650 Seiten, 19,95 Euro

Jacob und Wilhelm Grimm: Schneewittchen, Illustration: Benjamin Lacombe, Jacoby & Stuart, 2011, 48 Seiten, 16,95 Euro

Jacob und Wilhelm Grimm: Es war einmal … Die wahren Märchen der Brüder Grimm und wer sie ihnen erzählte. Hrsg. v. Heinz Rölleke und Albert Schindehütte, Die Andere Bibliothek, 2011, 435 Seiten, 79 Euro

Satt an Tagen

goodbye uromaUroma ist 92 und hat einen Entschluss gefasst: Am 14. September um 17 Uhr will sie sterben. Dann hat sie 33770 Tage gelebt, das reicht ihr, sie ist satt an Tagen. Und das möchte sie an dem Tag mit einem großen Fest im Kreis ihrer Familie und Freunde gebührend feiern. Das ist dem 11-jährigen Mikael nicht genug. Er lässt sich von der Schule befreien, um die restlichen zwölf Tage mit der geliebten Uroma zu verbringen.

Gemeinsam bereiten Urenkel und Uroma nun alles für den großen Tag vor: Sie kaufen orangefarbenen Stoff für das Leichenhemd, suchen einen schlichten weißen Sarg aus, unterrichten den Pfarrer über Uromas Musikwünsche für die Trauerfeier (die alte Dame steht auf Elvis und besteht auf „Return to Sender“), sie veranstalten einen Nachlass-Flohmarkt mit Uromas Habseligkeiten und machen einen letzten Ausflug.

Zwischendrin erzählt Uroma Mikael von den schönen und weniger schönen Dingen aus ihrem Leben, trainiert im Sarg das Sterben – und bringt dem Jungen quasi nebenher bei, dass der Tod zum Leben gehört.

Jetzt könnte man meinen, dieser amüsante Umgang mit dem Sterben sei pietätlos und gehöre sich nicht, doch der Norwegerin Eli Rygg gelingt es auf sehr charmante Art, sich diesem schweren Thema leicht und liebevoll zu nähern. Sein Leben auf natürliche Art und Weise selbstbestimmt zu beenden wird bei ihr zu einer erstrebenswerten Selbstverständlichkeit und hat etwas ungemein Tröstliches. Denn Uroma nutzt die Zeit davor, „den inneren Komposthaufen“ zu wenden, Versäumtes nachzuholen und ihrem Urenkel die Dinge zu gestehen, die sie bereut.

Erstaunlicherweise baut sich selbst bei der eher traurigen Aussicht auf Uromas Ende eine Spannung auf, ob ihr Vorhaben wirklich gelingt …

Man sollte sich von dem etwas sonderbaren Buchcover nicht abschrecken lassen – dahinter erwartet den Leser eine außergewöhnliche Geschichte, die eines der letzten Tabus unserer Zeit ankratzt und gleichzeitig das Leben feiert.

Eli Rygg: Goodbye, Uroma!, Übersetzung: Nina Hoyer, Gerstenberg Verlag, 2012, 221 Seiten, ab 9, 12,95 Euro

Das Hauptstadtlehrbuch

spazieren in BerlinMein Lieblingswanderbuch in diesem Jahr ist eindeutig Franz Hessels Spazieren in Berlin. Wobei der Untertitel der Originalausgabe von 1929 das eigentliche Anliegen dieses Buches verheißt: Ein Lehrbuch der Kunst in Berlin spazieren zu gehn ganz nah dem Zauber der Stadt von dem sie selbst kaum weiss. Das ist ein Versprechen, ein wunderschönes. Und das Buch löst es ein.

In Abständen greife ich immer wieder dazu und suche mir das Kapitel heraus, das gerade zu meinen eigenen Berlin-Erlebnissen passt. Und dann entdecke ich Schätze, die mir die vergangene Fülle dieser Stadt vor Augen führt. Heute zum Beispiel war es der folgende Satz: „Die ganze Seydelstraße entlang stehen gespensterhaft in den Schaufestern die Puppen der Büsten- und Wachskopffabriken, die Attrappen und ‚Stilfiguren’ der ‚Schaufensterkunst’, die in Tausenden von Exemplaren durch ganz Deutschland und weiter wandern, um Hemden, Kleider, Mäntel und Hüte zu tragen.“ (S. 35) Von Schaufenstern ist in der heutigen Seydelstraße nichts mehr zu sehen. Gespensterhaft sind vielmehr die Neubauten, die dort gerade auf den Brachen des ehemaligen Mauerstreifens aus dem Boden gestampft werden. Es kommt mir nicht so vor, als ob hier an die Geschäftigkeit von damals wieder angeknüpft werden soll. Die „Neue Mitte“ ist viel mehr das Schlachtfeld der Immobiliengeschäfte.

Zurück zu Hessel: Er läuft und fährt durch das „Gemisch von Großstadt und Gartenstadt“, erkundet den Kreuzberg, das Zeitungsviertel, flaniert von Neukölln nach Britz, durchkämmt die Hasenheide und die Friedrichstadt. Und stellt lakonisch fest, dass im Vergleich zu 100 Jahren vorher die Gegend um den Hackischen Markt „jetzt alles andre als märchenhaft“ ist (S. 190). Man wünschte sich sein Urteil zu dem heutigen Trubel dort …

Mit aller Selbstverständlichkeit eines Chronisten beschreibt Hessel das, was heute natürlich oft fehlt. Doch dann gibt es Passagen, in denen scheinbar das Berlin von heute durchschimmert, und man ist beruhigt, dass der Geist der Stadt und die Berliner Lebensart das Auf und Ab der Geschichte überstanden hat.

Franz Hessels Stimme aus den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts stößt die Bewohner und Besucher der Hauptstadt auf ihre Schönheit, ihre Räudigkeit, ihr Können und ihr Versagen in der Gegenwart: „… wir wollen ein weinig Müßiggang und Genuß lernen und das Ding Berlin in seinem Neben- und Durcheinander von Kostbarem und Garstigem, Solidem und Unechtem, Komischem und Respektablem so lange anschauen, liebgewinnen und schön finden, bis es schön ist.“ (S. 221)

Franz Hessel: Spazieren in Berlin, Geleitwort: Stéphane Hessel, Nachwort: Bernd Witte, neu herausgegeben von Moritz Reininghaus, Berlin Verlag Taschenbuch, 2012, 240 Seiten, 9,99 Euro

… und fernsehen hilft doch

wir werden nicht von Yaks gefressenMomentan mache ich eine Beobachtung, bei der ich ab und an mal schmunzeln muss – oder mich extrem wundere: Es erscheinen gerade ein paar Bücher, zu denen ich für den einen oder anderen Verlag in den vergangenen Monaten Gutachten geschrieben habe. Bei vielen ist mein Daumen nach unten gegangen. Doch jetzt stelle ich fest, dass einige dieser Trash-Romane dennoch auf Deutsch erscheinen (allerdings nicht in den Verlagen, denen ich davon abgeraten habe). Nun ja, es scheint ein immenses Bedürfnis nach neuen Storys zu geben, egal wie deren Qualität ist … Umgekehrt freue ich mich dann immer, wenn eine Empfehlung von mir auch wirklich eingekauft und übersetzt worden ist. So ein Fall ist das folgende Buch von C. Alexander London mit dem skurril langen Titel Wir werden nicht von Yaks gefressen* *hoffentlich.

Die 11-jährigen Zwillinge Celia und Oliver Navel lieben Fernsehen. Sie sitzen am liebsten den ganzen Tag vor dem Kasten und sind echte Experten für Film, Soaps, Reality-TV, Koch-Shows, Reisesendungen und Sportevents. Doch sie wohnen mit ihrem Vater, dem Forscher Dr. Ogden Navel, im Haus des exklusiven Forscher-Clubs und müssen sich ständig die Abenteuergeschichten aller möglichen Forschungsreisender anhören. In den Ferien schleppt der Vater sie in die exotischsten Länder, wo sie angeblich aufregende Dinge erleben. Doch die Kinder finden das entsetzlich, sie wollen keine Käfer essen oder von Eidechsen gebissen werden. Sie möchten einfach nur ihre Ruhe haben und wünschen sich nichts sehnlicher als ordentliches Kabelfernsehen. Ihre Mutter Claire ist seit drei Jahren verschollen, auf der Suche nach der verlorenen Bibliothek von Alexandria. Ein bisschen vermissen die Kinder sie und fragen sich, ob die Mutter vielleicht weggegangen ist, weil die Zwillinge solche Langweiler sind. Doch dann verschlägt eine Intrige gegen ihren Vater die Zwillinge nach Tibet. Dort begegnen sie üblen Gifthexen, machthungrigen Forschern und Lamas, die keine Lamas sind. Und sie finden eine Spur zu ihrer verschollenen Mutter …

An Rasanz und schrägem Humor ist diese Geschichte kaum zu übertreffen. In Indianer-Jones-Manier retten sich die beiden TV-Abhängigen aus allergefährlichsten Lebenslagen, immer mit Hilfe ihres Wissens aus dem Fernsehen. Schließlich winkt ihnen als Belohnung für ihr Abenteuer endlich Kabelfernsehen. Das Couch-Potato-Image der Kinder kontrastiert wunderbar mit der Aufgeregtheit und Angeberei der Erwachsenen, denen die jungen Helden beweisen, wie clever sie durch ihren Fernsehkonsum geworden sind. Falls also jemand noch einmal behauptet, Fernsehen mache dumm, dem sei dieses Buch empfohlen …

C. Alexander London: Wir werden nicht von Yaks gefressen* *hoffentlich, Übersetzung: Petra Koob-Pawis, Arena Verlag, 2011, 278 Seiten, ab 10, 14,99 Euro

Korrekter Bigtalk

Marcelo in the Real WorldWas ist die wahre Welt? Und ist die Wahrheit immer ein Geschenk? Marcelo macht sich da so seine ganz eigenen Gedanken. Das liegt zum Teil daran, dass er eine Art des Asperger-Syndroms hat. Sätze nimmt er wörtlich, übertragende Bedeutungen hat er im Kommunikationstraining gelernt. Gefühle bei anderen Menschen zu erkennen fällt ihm schwer. Lieber diskutiert er mit Rabbinerin Heschel über sein Spezialgebiet, Gott. Er hört eine wohlige innere Musik. Außerdem liebt er die Haflinger-Ponys seiner Schule, an der er so sein darf, wie er eben ist. Ein bisschen langsam, sehr korrekt und einfach liebenswert.

Sein Vater, Staranwalt in einer großen Gemeinschaftskanzlei in Boston, sieht das jedoch anders und verpflichtet Marcelo, die Sommerferien über in der Poststelle der Kanzlei zu arbeiten. Damit der Sohn das wahre Leben kennenlernt und sich weiterentwickelt.

Und das tut er – nur nicht auf die Art, wie der Vater es sich gedacht hat. Denn mit den Regeln der wahren Welt und vor allem mit denen des amerikanischen Justizsystem konfrontiert, beschließt Marcelo nach gründlichen Überlegungen, nicht mehr mitzuspielen, sondern der Gerechtigkeit auf die Sprünge zu helfen…

Was sich als Plot vielleicht nicht besonders spektakulär anhört, wird jedoch durch die Darstellung der Arbeitswelt, die wir wahrscheinlich als „normal“ bezeichnen würden, überaus beeindruckend: Der grobe, menschenverachtende und fast schon gewalttätige Umgang der Kanzlei-Mitarbeiter untereinander zog mir die Eingeweide zusammen. Gefühlskälte, Berechnung, Manipulation herrschen hier – und werden durch Marcelos Blick darauf in ihrer ganzen Grausamkeit entlarvt. Fassungslos liest man vor den Umgangsformen und Gepflogenheiten, die in der „wahren Welt“ gang und gäbe sind.

Doch zum Glück gibt es Jasmine. Sie zeigt dem Jungen die Hügel von Vermont, den Sternenhimmel und eine Welt, in der Klarheit, Ehrlichkeit und Liebe möglich sind. Das tröstet und beruhigt ganz ungemein. So möchte man sofort mit Marcelo dorthin ziehen und der inneren Musik lauschen.

Marcelo In The Real World ist eine Perle – sowohl sprachlich, dank der pointierten Übersetzung von Britta Waldhof, als auch inhaltlich, dank der genauen Beobachtung durch Autor Francisco Stork, der uns allen einen Spiegel vorhält, wie nachlässig wir im täglichen Leben mit Worten und Gefühlen umgehen. Einfach großartig.

Francisco X. Stork: Marcelo in the Real World, Übersetzung: Britta Waldhof, Fischer FJB, 2011, 363 Seiten, 17,95 Euro

Burn-out im Vatikan

Eigentlich soll es hier ja um Bücher gehen, doch jetzt muss ich kurz einen Exkurs in die Filmkritik machen. Ich bin nämlich noch ganz beseelt von Nanni Morettis neuestem Werk: Habemus Papam. Den dämlichen deutschen Untertitel lasse ich hier weg, denn der trifft das Ganze so gar nicht.

Moretti schildert die Nöte eines frisch gewählten Papstes (Michel Piccoli). Kurz vor dessen Auftritt auf dem Vatikanischen Balkon erleidet der Pontifex Maximus einen Nervenzusammenbruch und macht sich aus dem Staub. Auch der herbeigerufene Psychoanalytiker (Nanni Moretti) kann, obwohl er mit dem Fluch, der Beste zu sein, geschlagen ist, nichts ausrichten.  Schließlich irrt das Kirchenoberhaupt durch Rom, auf der Suche nach seiner Bestimmung.

Nanni Moretti, feinsinniger Komiker und genauer Beobachter, bringt Menschlichkeit und Volleyball in den Vatikan und die Psychoanalyse an ihre klerikalen Grenzen. Der zarte Humor freut die Zuschauer, und doch bleibt einem das Lachen oftmals im Halse stecken, zu überwältigend sind die Seelenqualen des Hauptdarstellers. Irgendwann musste ich dann doch das Taschentuch zücken …

Michel Piccoli als Papst wider Willen ist einfach großartig. Ständig möchte man ihn trösten, ihm seine Freiheit und Ruhe verschaffen. Gleichzeitig stößt er den Zuschauer auf seine eigenen Zwänge und die Vereinnahmung durch die Umwelt. Man leidet mit – und ist ergriffen von der Auflösung.

Nanni Moretti hingegen, der den Kardinälen zwischendrin die Symptome einer Depression aus der Bibel vorliest, macht mir immer wieder Hoffnung, dass Italien doch noch nicht ganz verloren ist.

Habemus Papam, Regie: Nanni Moretti, Italien/Frankreich 2011, 102 Minuten.

Alles andere als verwahrlaust

Pünktchen und AntonImmer wenn ich mal eine Pause von all den Neuerscheinungen brauche, greife ich zu einem Klassiker. Momentan ist Erich Kästner mein liebster Autor. Daher habe ich neulich endlich mal Pünktchen und Anton gelesen. Gehört hatte ich die Geschichte als Kind auf einer Schallplatte bei Oma. Aber erinnern konnte ich mich eigentlich nur noch an das herzzerreißende „Streichhölzer, kaufen Sie Streichhölzer“.

Umso schöner und überraschender war jetzt die Lektüre. Kästners Kinderroman erschien bereits 1931, und trotz seiner 80 Jahre hat dieser Text nichts an Frische und Klarheit eingebüßt. Schnörkellos, ohne ein überflüssiges Wort, aber überaus warm und herzlich erzählt Kästner die Geschichte von Luise, genannt Pünktchen, aus gutem Hause und Anton, der sich bis zum Umfallen um seine kranke Mutter kümmert.

Die Kinder lernen sich beim Betteln auf der Weidendammbrücke in Berlin Mitte kennen – nur betteln sie aus völlig verschiedenen Gründen. Anton, um zu überleben, Pünktchen, weil ihr Kindermädchen Fräulein Andacht, sie zwingt. Gemeinsam mit Anton kommt das Mädchen dann den üblen Machenschaften von Fräulein Andachts Liebhaber Robert auf die Spur.

Kästner hat zwischen die Kapitel so genannte „Nachdenkereien“ eingeschoben, in denen er über Fragen der Moral, über Freundschaft, Mut, Neugierde, Armut und das Leben überhaupt schreibt. Solche erzieherischen Anliegen können verdammt schnell zu moralinsauren Predigten ausufern und einem den Spaß am Lesen verderben, doch nicht bei Kästner. Der schafft es, ohne erhobenen Zeigefinger, den Leser zum Nachdenken zu bringen – vor allem über die Vielschichtigkeit der Figuren, die nie nur gut oder nur böse sind, sondern sich durch ihre Zwischentöne auszeichnen und somit überaus menschlich sind.

Was mich dann restlos entzückt hat, war Pünktchens Spleen, sich neue Worte wie „Wärmometer“ oder „verwahrlaust“ auszudenken. Einfach großartig!

Erich Kästner: Pünktchen und Anton. Ein Roman für Kinder. Illustrationen: Walter Trier, Dressler Verlag, 129. Auflage 2011, 154 Seiten, ab 10, 12 Euro

Indien hautnah

Wanderbücher haben sich in den vergangenen Jahren zu einer ganz eigenen Gattung entwickelt, dank … na, Sie wissen schon … Ich finde das ganz wunderbar, weil es mich selbst immer wieder anregt, wo ich demnächst langlaufen könnte. Eine ziemlich extreme Tour hat jetzt der Indologe und Journalist Oliver Schulz veröffentlicht.

Auf knapp 3000 Kilometern hat er Indien von Süden nach Norden durchquert, immer entlang des 78. Längengrads. 2007 und 2008 wanderte er in zwei Abschnitten von Kanyakumari bis nach Dehra Dun im Himalaya und folgte dabei den Spuren der Geodäten William Lambton und George Everest. Schulz schildert in seinem Buch neben den Leiden und Wonnen des Wanderers überaus bunt die Alltagsgeschichten eines entmystifizierten Indiens sowie die Historie der Landvermessung durch den Briten Lambton und den Waliser Everest Anfang des 19. Jahrhunderts.

Dabei erlebt Oliver Schulz Armut, Gastfreundschaft, Korruption, Affen im Hotelzimmer, besichtigte ein Open-Air-Gefängnis und wird als sonderbarer Exot um ein Autogramm gebeten – er unterschreibt mit H.P. Kerkeling

Ich habe Oliver Schulz ein paar Fragen zu seiner abenteuerlichen Tour gestellt (die ich sehr faszinierend finde, aber nie im Leben nachahmen werde …).

Bist du vor deiner Indientour schon mal weitgewandert und wusstest du, was körperlich auf dich zukommt? Vor 20 Jahren bin ich mehrfach lange Touren von Süd nach Nord durch den Himalaya und zurück gelaufen. Aber in den Jahren vor Indien zu Fuß war ich dann nur noch in den Alpen und Pyrenäen unterwegs. Ich kenne die Materie also gut, das Extreme allerdings nur aus weit zurückliegender Erfahrung.

Wie hast du dich fitnesstechnisch auf die langen Touren vorbereitet? 45 km am Tag bedeuten ca. 10 Stunden wandern, wie hast du das trainiert? Wie verrückt: Joggen, wandern, schwimmen, Rad fahren, Sauna. Das volle Fitness-Programm. Es war dann schlimmer als erwartet, aber das lag wesentlich am Klima.

Warum hast du die Tour allein gemacht? Wie hat sich das auf den knapp 3000 Kilometern angefühlt? Ich komme ganz gut mit mir selbst klar. Tagsüber war es angenehm: Niemand, auf den ich warten muss, niemand, der mir davonläuft. Abends war es oft … einsam.

Was für Kartenmaterial hattest du dabei? Ich hatte einen dicken Stapel sehr genauer amerikanischer Fliegerkarten dabei, die sich aber als nutzlos, weil veraltet erwiesen. Viele Orte trugen veränderte Namen. Siedlungen waren gewachsen oder aufgegeben worden. Ich bin dann auf eine handelsübliche Nelles-Straßenkarte in großem Maßstab umgestiegen und habe die mit den Informationen der Einheimischen kombiniert. Damit habe mich nicht weniger oder öfter verlaufen als mit den Fliegerkarten.

Um dir all die Einzelheiten deiner Erlebnisse so genau zu merken, wie viele Blöcke hast du vollgeschrieben? Wann hast du die Notizen gemacht?  Abends. Auf’m Bett, wenn’s eins gab. 14 Notizblöcke. Bruce Chatwin, den ich hier bemühen möchte, ohne zu wissen, ob es mir zusteht, hat einmal gesagt: „To lose a passport was the least of one’s worries: to lose a notebook was a catastrophe.“ Stimmt: Ich habe ich besser auf meine Notizblöcke aufgepasst als auf Portmonee und Pass.

Wusstest du auf der Tour schon, dass du ein Buch darüberschreiben würdest? Ja, es war von Anfang an ein professionelles Projekt. Auch wenn ich noch keinen Verlag hatte.

Hat die Wanderung dich verändert? Hm, im Kern nicht. Man wird nicht weicher davon. Aber das ist eine graduelle Veränderung, die das Leben mit sich bringt …

Hat sich dein Blick auf Indien verändert? Im Herzen Indiens war es noch trister, als ich befürchtet hatte. Andererseits haben manche Besuche – etwa bei der Nehru-Nichte, Frau Sahgal, oder bei der Familie von Mohammed Khuddus in Hyderabad – meine Hoffnung bestärkt, dass Indien bei allen Extremen eine langfristig stabile gesellschaftliche und politische Entwicklung vor sich haben dürfte.

Was hat dich am meisten schockiert? Die Armut im Süden (Tamil Nadu) war fürchterlich. Und der Grad, in dem die Hindu-Fundamentalisten inmitten der Gesellschaft agieren, hat mich schockiert.

An welchem Ort der Wanderung wärst du gern länger geblieben? Am vorletzten: Dehra Dun. Vielleicht ziehe ich dahin, wenn ich alt bin. Das ist die richtige Mischung aus Moderne und Tradition, aus Stadt und Land.

Du warst die ganze Zeit von mehr oder minder extremer Religiosität umgeben, hat dich das irgendwie in deiner eigenen (Nicht-)Religiosität beeinflusst? Es hat mich darin bestärkt, dass Religion weit häufiger dafür benutzt wird, um Menschen gegeneinander aufzubringen – als um sie zu einen.

Indien wird in wenigen Jahren das bevölkerungsreichste Land der Erde sein, was hat der Westen davon zu erwarten? Indien ist mir von allen Schwellenländern der liebste Partner. Es gibt wenig Grund, Angst vor diesem Land zu haben.

Gibt es etwas, dass wir – außer Yoga und Ayurveda – von den Indern lernen können? Gleichmut, Demut, das Leben nicht so ernst zu nehmen.

Vermisst du irgendetwas von dem Subkontinent? Das Chaos, das einen lehrt, sich durchzukämpfen. Das Essen. Eine gewisse Schlafmützigkeit (wir nennen das hier: Gemütlichkeit). Den allgegenwärtigen, leichten Geruch von Mottenkugeln.

Planst du neue Indien-Projekte? Ja, einen historischen Indien-Tibet Roman.

Und, gehst du weiter weitwandern? Immer wieder. Zuletzt in Südtirol.

Oliver Schulz: Indien zu Fuß. Eine Reise auf dem 78. Längengrad, DVA, 2011, 287 Seiten, 19,99 Euro

Fußball, Fummel & Freundschaft

kicker im KleidNeulich habe ich mich ja über David Walliams Mr. Stink schlappgelacht und jetzt landete das Erstlingswerk des Autors und Schauspielers auf meinem Tisch. Das musste ich natürlich gleich mal dazwischen schieben, weil Kurzweil und Amüsement lockten … und ich wurde tatsächlich nicht enttäuscht.

Dennis ist 12 und hat momentan nicht viel Freude im Leben. Seit seine Mutter die Familie verlassen hat, gelten in dem Männerhaushalt aus Dad, Dennis und seinem 14-jährigen Bruder John drei eiserne Regeln: Kein Wort über Mum! Nicht heulen! Keine Umarmung! Ziemlich trostlos das Ganze. Fußball ist die einzige Abwechslung, und darin ist Dennis einfach unschlagbar.

Als dann jedoch eines Tages auf der Vogue ein Model in einem Sommerkleid abgebildet ist, das Dennis ganz heftig an seine Mutter erinnert, kann der Junge nicht widerstehen und kauft die Zeitschrift. Er schwelgt in den opulenten Bildern all dieser unwiderstehlichen Kleider und entdeckt eine neue Leidenschaft: Frauenkleider!

In der coolen Lisa, die eigene Modelle entwirft,  findet Dennis die perfekte Freundin, die ihm ihren gesamten Kleiderschrank zum An- und Ausprobieren zur Verfügung stellt. Dennis erfindet sich neu und entdeckt, wie gut es tut, auch mal ein paar Regeln zu brechen. Schließlich schenkt Lisa ihm ein selbstgeschneidertes Paillettenkleid und überredet ihn, damit in der Schule aufzutauchen, verkleidet als ihre französische Brieffreundin.

Dass das Alles so richtig schön schief geht, ahnt man natürlich schnell. Doch Walliams gelingt es ganz großartig, liebevoll und lustig über den Spaß am Anderssein (nein, Dennis ist nicht schwul), echte Freundschaft und ein Fußballendspiel im Fummel zu erzählen. Das Buch legt man folglich erst wieder aus der Hand, wenn die letzte Seite erreicht ist. Und möchte sofort mehr solcher Geschichten …

David Walliams: Kicker im Kleid, Übersetzung: Dorothee Haentjes, Illustration: Quentin Blake, Aufbau Verlag, 2010, 232 Seiten, ab 10, 14,95 Euro

Deutschstunde

Berlin ist für mich das ideale Pflaster, kultur-historische Wissenslücken zu schließen. So heute im Berliner Ensemble, wo sich Wolf Biermann mit seiner Gitarre auf die Bühne setzte, erzählte und sang. Auf den Tag 35 Jahre nach seinem Kölner Konzert, das zu seiner Ausbürgerung aus der DDR geführt hatte. Zwei Tage vor seinem 75. Geburtstag erinnerte er an seine Wut und Frechheit von damals, an den schmalen Grat, auf dem er die „Firma“ ärgern wollte und der ihm dennoch den Weg zurück in sein gelobtes Land frei halten sollte. Es hat bekanntermaßen nicht geklappt.

Die Wut ist geblieben, vor allem auf das „Pack“, von Verbitterung ist jedoch nichts zu spüren. Geradezu rührend erzählt der Wolf von der Lektüre seiner angeblich 50000-80000 Seiten dicken Stasi-Akte, in der sich eine Abschrift seiner „Stasiballade“ findet. Nur eine Zeile stimmt nicht. Statt „Die Stasi ist mein Eck… mein Eck… mein Eckermann“ steht dort nur „Die Stasi ist mein Henkersmann“. Goethes Sekretär schien dem diensthabenden Stasi-Mann nicht bekannt gewesen zu sein. Biermann kichert vor sich hin, ob der Amtsinterpretation und der Bildungslücke.

Anders dagegen in Schweden. Dort schätzt man Biermanns Liedgut mittlerweile so sehr, dass die evangelische Kirche seinen Song „Ermutigung“ in das Gesangbuch aufgenommen hat. Biermann gehört in Skandinavien zum Chorrepertoire.

Der Wolf erzählt, rezitiert Heine, fordert den Freiheitskampf der Menschheit und vergisst fast das Singen. Der Blick auf die Uhr und auf Ehefrau Pamela in der ersten Reihe bringt ihn wieder zum Vortragen. Doch dann doziert er weiter über den Webfehler der Demokratie und die wahren Schuldigen der Finanzkrise sowie den „dummen Lafontaine“.

Als das „Seminar für Wirtschaftswissenschaft“ nach zweieinhalb kurzweiligen Stunden zu Ende geht, ist die historische Figur des Wolf Biermann, die für mich immer irgendwie da, aber nie real war, auch in meinem Leben angekommen.

(Und hätte mir Freundin Ruth nicht vor einiger Zeit seine eindrucksvollsten Lieder vermacht, wäre mir dieses Erlebnis sicher entgangen… danke, Ruth!)

Zum Nachhören/Nachsehen: Das Kölner Konzert 13. November 1976 (das ungekürzte Original-Dokument), Doppel-DVD, 17,99 Euro

Zum Nachlesen: Wolf Biermann: Fliegen mit fremden Federn. Nachdichtungen und Adaptionen, Hoffmann & Campe Verlag, 2011, 26 Euro.

Es muss nicht immer Dr. Sommer sein…

Ja, es gibt sexuelle Aufklärung jenseits des Dr.-Sommer-Teams. Mädchen ab 12, denen die Bravo zu peinlich ist, können jetzt auf den Jugend-Brockhaus „Total verknallt!“ ausweichen. Dort finden sie verständlich geschriebene Artikel zu allen Themen rund um Liebe, Sex und Zärtlichkeit. Ohne mit dem moralischen Zeigefinger zu wedeln, erklären die Autoren tabulos, aber sachlich nicht nur die Basics der körperlichen Vorgänge, Sexualpraktiken oder das jugendliche Gefühlschaos, sondern plädieren auch für die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit. Vom Quickie bis Queer ist hier alles drin, was wichtig ist, und was man vielleicht nicht zu fragen wagt …

Layout-technisch ist dieses Nachschlagewerk frech aufgemacht. Das Rosa-Lila von Schrift und Hintergrund wirkt jung und Girls-kompatibel, aber nicht kindisch – und ist auf jeden Fall keine Pink-Orgie á la Lillifee. Nur warum die Verweise und die Randbemerkungen gelb gedruckt wurden, verstehe ich nicht so richtig. Lesbarkeit ist für mich jedenfalls etwas anderes … aber vielleicht bin ich auch schon zu alt und augenschwach, um diese Entscheidung wirklich nachvollziehen zu können.

Der Jugend-Brockhaus: Total verknallt! Alles über Liebe, Sex und Zärtlichkeit. Brockhaus in der Wissenmedia, 2011, 192 Seiten, ab 12, 12,95 Euro