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Die Qualen einer Flucht

train kidsNeulich läuteten in Köln und Umgebung die Glocken im Gedenken an die Flüchtlinge, die seit dem Jahr 2000 im Mittelmeer, vor den Grenzen Europas, umgekommen sind. 23000 Mal erklangen die Glocken, für jeden Toten ein Glockenschlag. Eine schöne Geste, aber längst wieder verhallt.
Dass es nicht nur im Mittelmeer Flüchtlinge gibt, die ihr Leben riskieren, weil sie sich in der Ferne ein menschenwürdigeres Leben erhoffen, ist bekannt. Eine Art der Flucht holt uns Dirk Reinhardt mit seinem Roman Train Kids eindrücklich ins Bewusstsein.

Die Jugendlichen Miguel, Fernando, Emilio, Angel und das Mädchen Jaz machen sich von der Südgrenze Mexikos auf nach Norden. Auf Güterzügen wollen sie bis nach Nuevo Laredo an der Grenze zu den USA gelangen, um von dort illegal in das anscheinend gelobte Land einzuwandern. Jeder von ihnen hat gute Gründe, die Heimat in Guatemala, El Salvador oder Honduras zu verlassen. In den USA hoffen sie, Verwandte wiederzufinden, Mütter oder Brüder, und endlich ein besseres Leben ohne Elend und Hunger führen zu können. Doch der Weg dorthin ist lang, beschwerlich und gespickt mit Gefahren.

Fernando, der die Tour bereits einmal gemacht hat und von den mexikanischen Behörden erwischt und zurückgeschickt wurde, wird zum Leitwolf der Gruppe. Gemeinsam haben die Kids bessere Chancen durchzukommen, denn Fernando weiß, wo die Gefahren lauern und wie man sie am besten umgehen kann. Die Jugendlichen lernen das Aufspringen auf die Züge, wie man sich vor Ästen und Hochspannungsmasten schützt, wie man Tunnel übersteht, im Fahren Orangen pflückt. Doch trotz aller Vorsicht und aller Warnungen von Fernando bleibt es nicht aus, dass sie Banditen, Drogenhändlern und Polizisten in die Hände fallen. Sie müssen Schutzgelder zahlen, werden erpresst und ausgeraubt. Sie leiden Hunger und Durst, frieren nachts in der Wüste und in den Bergen, aber sie erleben auch die Hilfsbereitschaft eines Pastors und seiner Gemeinde und von der einfachen Landbevölkerung. Und die Freundschaft in der Gruppe. Dennoch schaffen es nicht alle der fünf es bis an die Grenze …

Reinhardts Buch fesselt und macht gleichzeitig betroffen, denn das, was er erzählt entspricht den Tatsachen. Reinhardt hat vor Ort in Mexiko recherchiert, mit realen Train Kids gesprochen und ihren Leidensweg hautnah nachvollzogen. Etwa 50 000 von diesen Kindern sind ständig in Mexiko unterwegs, schreibt Reinhardt in seinem Nachwort. Laut Amnesty International gehört die Flucht auf den Güterzügen durch das Land zu den gefährlichsten Fluchten der Welt. Nur ein Bruchteil der Flüchtlinge erreicht das Ziel. Warum das so ist, weiß man nach der Lektüre von Train Kids ziemlich genau.

Reinhardts Quintessenz aus seinem Nachwort, gilt jedoch nicht nur für Mittelamerika: „Will man wirklich etwas tun, um dieses Problem anzugehen, so kann die Lösung nicht darin bestehen, die Grenzen abzuriegeln und Migranten zu jagen, als wären sie Kriminelle. Langfristig ist es sinnvoller die Wirtschaft in den [jeweiligen] Ländern zu stärken und die Armut zu bekämpfen.“ Ist das wirklich so schwierig?

Dirk Reinhardt: Train Kids, Gerstenberg Verlag, 2015, 320 Seiten, ab 13, 14,95 Euro

Der Widerstand der Jugend

Manchmal gibt es merkwürdige Häufungen von fast zeitgleichen Veröffentlichungen zu einem Thema. In diesen Monaten werden die Edelweißpiraten von Köln, die sich in den 1940er Jahren gegen die Nazis auflehnten, in gleich zwei Büchern für Jugendliche gewürdigt.

Sie heißen Bastian, Ralle, Billie, Franzi und Zack – und sie haben keinen Bock auf die HJ. Köln, 1943, die Nazis herrschen mit harter Hand, die Alliierten bombardieren fast täglich die Domstadt, und die Jugendlichen wollen lieber wandern, singen und am Lagerfeuer sitzen, anstatt sich in die gleichgeschalteten Jugendorganisationen der Nationalsozialisten einzureihen. Oftmals prügeln sie sich mit den HJlern. Und sie überfallen nachts Lebensmitteltransporte, um Zwangsarbeiter und die eigenen Familien zu unterstützen. Polizei und Gestapo sind diese „wehrzersetzenden“ Umtriebe ein Dorn im Auge, und so gehen sie immer schärfer gegen die Jugendlichen vor.

Bei einem der nächsten Bahnüberfälle schlagen sie zu. Zack wird erschossen. Die Edelweißpiraten sind erschüttert. Bastian wittert Verrat, zumal erst kurz zuvor Paul zu ihrer Gruppe gestoßen ist und ihm quasi im Handstreich Franzi ausgespannt hat. Doch Paul selbst ist auch nicht gut auf die Nazis zu sprechen. Sein jüdischer Vater wurde deportiert und stirbt beim Arbeitsdienst. Der Junge muss untertauchen. So kommt es ihm gelegen, dass die Edelweißpiraten Kontakte zu Fälschern haben. Aus Paul wird mit gestohlenen Papieren auf einmal Peter, Sohn eines hohen Nazibonzen, dessen Familie bei einem Bombenangriff ums Leben kam. Franzi, die sich auf den ersten Blick in den Jungen verliebt hat, verschafft ihm Arbeit in einer Gärtnerei.

Trotz der Bombenangriffen schmieden die Edelweißpiraten beständig neue Pläne, wie sie die Nazis ärgern und beschäftigen können: Sie schreiben Flugblätter und lassen sie durch den Kölner Bahnhof flattern, sie sabotieren, wo sie nur können. Und sie diskutieren, wo Widerstand anfängt und wie weit er gehen kann: Bringen die kleinen Aktionen überhaupt etwas? Ist Gewalt zulässig? Darf man für den Zweck töten? Mit anderen Worten: Wo fängt Widerstand überhaupt an? Sie machen weiter – fliegen auf, werden verhaften und sollen ohne Prozess hingerichtet werden. Schließlich greift Paul zur Waffe.

Genau recherchiert und packend erzählt schildert Elisabeth Zöller die Wege der beiden Jungen Bastian und Paul. Der Leser ist dicht am Geschehen, spürt den Hunger, die Kälte und vor allem die Angst, die die Jugendlichen in den Kriegsjahren auszuhalten hatten. Doch auch der Zusammenhalt der Edelweißpiraten und die zärtliche Liebe zwischen Paul und Franzi lässt Hoffnung keimen, zeigt, dass anders Denken im Dritten Reich möglich, wenn auch schwierig war.

Jenseits vom bekannten, intellektuellen Widerstand um die Weiße Rose, dem moralischen eines Dietrich Bonhoeffers oder des politisch-visionären Attentats vom 20. Juli 1944 erfährt der Leser hier, dass auch Teile der Arbeiterjugend sich auflehnten und etwas gegen das Unrechtsregime taten. Wie selbstverständlich ziehen sich philosophische Grundfragen um Moral, Menschenwürde und Authentizität durch den Roman und bieten jede Menge Diskussionsstoff. Ein Glossar am Ende erklärt die wichtigsten Begriffe, Institutionen, Organisationen und Personen der Nazizeit.

Auf eine etwas andere, aber nicht minder packende Herangehensweise befasst sich Dirk Reinhardt ebenfalls mit dem Thema des jugendlichen Widerstands der Edelweißpiraten. In Tagebuchform lässt er den Jungen Josef Gerlach von den 1940er Jahren erzählen. Hier sind es Flint, Kralle, Gerle, Tilly, Flocke und Tom, die in einer losen Clique immer öfter gegen HJ und staatlich verordnete Regeln aufbegehren. Lange Haare und schräge Klamotten sind da nur die äußeren Zeichen des Freiheitsdranges.

Auch hier werden die Aktionen der Jugendlichen immer kühner. Sprüchen an den Wänden folgen Flugblätter, die Piraten helfen Ostarbeitern und plündern Züge, zersetzen die Wehrkraft. Und Gerle verliebt sich in Tilly.

Erzählt Elisabeth Zöller sowohl aus der Perspektive der widerständlerischen Jugendlichen, als auch aus der Sicht der nationalsozialistischen Herrscher, beschränkt sich Dirk Reinhardt durch das Genre Tagebuch ausschließlich auf die Ich-Erzählung durch den 16-jährigen Gerle. Authentisch schildert er, wie der Junge die Entwicklung des Kriegs, die Veränderungen in seiner Umgebung und in seinem Alltag erlebt. Die Schrecken und Untaten der Nazis greifen unmittelbar in sein Leben ein. Auch hier leidet der Leser mit dem Helden und spürt aus erster Hand die Seelenqualen, die er erleiden muss.

Gerles Geschichte hat Reinhardt in eine Rahmenhandlung gebetet, in der das Tagebuch in der Gegenwart vom sterbenden Josef Gerlach an den 16-Jährigen Daniel weitergegeben wird. Der Junge liest die Aufzeichnungen mit wachsender Neugier und Respekt – und entdeckt schließlich die Verbindung, die zwischen ihm und dem alten Mann besteht.

Mit diesem erzählerischen Kniff macht Reinhardt deutlich, wie wichtig es ist, auch heute noch – fast 70 Jahre nach Flugblattaktionen und Auflehnung – an diese mutigen Jugendlichen zu erinnern, die einfach nur ihre Freiheit und ein selbstbestimmtes Leben wollten. Die Edelweißpiraten können immer noch als Vorbild dienen, darüber nachzudenken, welchen Weg man im Leben einschlagen will und wie viel man bereit ist, dafür zu riskieren.

Elisabeth Zöller: Wir tanzen nicht nach Führers Pfeife, Hanser Verlag, 2012, 352 Seiten, ab 12, 16,90 Euro

Dirk Reinhardt: Edelweißpiraten, Aufbau Verlag, 2012, 254 Seiten, ab 14, 14,99 Euro