Archiv der Kategorie: politisches Jugendbuch

Die wahren Helden

vinkeNach diesem Wochenende und den Ereignissen von Paris einfach so weiterzubloggen fällt mir irgendwie nicht ganz leicht. Zu unwichtig erscheint mir das Unterfangen, über Bücher zu schreiben. Und doch können es auch Bücher sein, die den Geist der Menschen erhellen und ihnen vielleicht unsinnige Überzeugungen austreiben oder zumindest einen Zweifel daran wecken. Terror ist das Letzte, was wir in dieser Welt, egal wo, noch brauchen, bringt er doch nur Leid, schürt den Hass, stachelt Politiker zu abstrusen Gedankengängen an und macht die Rüstungsindustrie noch reicher. Lauter Dinge, die keiner will.
Dabei ist unsere Welt auch ohne Terror schon eine einzige Problemzone. Die Suche nach Schuldigen, Hintermännern und Drahtziehern ist wichtig, genauso wichtig ist aber auch, an die vielen Menschen zu denken, die versuchen, diesen Ort zu einem besseren zu machen.
Ein Gefühl dafür, dass etwas – irgendetwas – getan werden muss, entwickeln Kinder und Jugendliche meines Erachtens schon relativ früh. Dass man als Erwachsener oft gegen die Ohnmacht kämpft, steht auf einem anderen Blatt. Was also tun, um Jugendlichen einen Weg durch diesen widersprüchlichen Dschungel aufzuzeigen und ihnen Mut zu machen, sich zu engagieren und die Ursachen von dem Leid zu bekämpfen, das letztendlich auch zum Terror führen kann?

Man könnte ihnen die Lektüre des Buches Zivilcourage 2.0 von Hermann und Kira Vinke empfehlen. Denn die beiden Autoren stellen hier die wahren Helden des 21. Jahrhunderts vor. In sieben großen Kapiteln zu den drängendsten Problemen, den Plagen unserer Zeit – Krieg, Armut, Hunger, Kampf um Menschenwürde, Umweltzerstörung, Finanzbetrug und Überwachung – portraitieren sie 19 mehr oder minder berühmte, vor allem aber sehr engagierte Persönlichkeiten. Edward Snowden, der sein gesamtes Leben über den Haufen geworfen hat, um den wohl umfassendsten Überwachungsskandal aufzudecken, den wir bisher je erlebt haben (hier gibt es scheinbar keine klischeefreien Ausdrücke mehr, um dieses irrsinnige Drama in Worte zu fassen) macht den Auftakt. Malala, die sich allein durch ihren Bildungshunger mit den Taliban anlegte, schließt die Reihe.

Dazwischen lernt man die Künstlerin Parastou Forouhar, die für die Freiheit im Iran kämpft, Sheela Patel, die sich in indischen Slums für den Bau von Toiletten einsetzt, oder Sylvia Earle kennen, die ihrerseits gegen die Verschmutzung der Meere kämpft. Mir waren die drei nicht bekannt, so bin dich dankbar für diese Aufklärung.
Die Vinkes erinnern aber auch an die wichtige Arbeit von Rupert Neudeck, der mit der Cap Anamur schon Ende der 70er Jahren Flüchtlinge aus dem Meer gerettet hat, und an den Kampf von Aung San Suu Kyi für Freiheit in Myanmar, der mit den Wahlen vergangene Woche eventuell endlich gewonnen wird.

Biografisches verflechten Vater und Tochter Vinke in verständlichen Texten mit den großen Problemen und schaffen so grundlegendes Wissen, das einen Überblick über die weltweiten Zusammenhänge schafft. Einige der Personen lassen sie in Interviews zu Wort kommen und zeigen auch die Helfer der Helden, da diese natürlich nie im luftleeren Raum agieren.
In ihren Darstellungen machen sie aber auch klar, dass für diesen vorbildliche Einsatz und diesen Mut oft ein hoher Preis gezahlt werden muss. Haft, Verlust von Heimat, körperliche Schmerzen – wir Erwachsenen wissen um diese Schicksale dieser Vorkämpfer. Die Unbeugsamkeit dieser Menschen, die sich davon nicht unterkriegen lassen, fordert Respekt ein.
Für junge Leser gibt es hier die ganze Bandbreite von Überzeugungen, für die man sich einsetzen kann, damit unserer Welt wirklich geholfen wird. Sie bekommen Anregungen, in welchen Organisationen sie tätig werden könnten – beispielsweise Attac, Amnesty International oder Greenpeace – oder worauf sie bei ihrem täglichen Leben achten könnten (Verzicht auf Plastiktüten).

Selbst als Erwachsener wird man durch diese geballte Ladung an Zivilcourage inspiriert, noch einmal nachzudenken, welchen Teil zum Ganzen man selbst betragen kann. Denn auch das macht dieses Buch klar: Würde jeder von uns den Mut aufbringen, sich für eine der Facette von Gerechtigkeit einzusetzen, könnte diese Welt eigentlich ein Paradies sein. Nach Paris, Ankara, Beirut, Irak, Syrien, Nigeria hört sich dieser Gedanke zwar ziemlich weit hergeholt an, aber ich weigere mich, die Hoffnung aufzugeben. Und hoffe auch, dass die Mächtigen endlich mal die Luft aus ihrem Ego rauslassen und die Probleme an den Wurzeln anpacken, anstatt gleich nach Verschärfung von allem Möglichen schreien. Denn jeder klar denkende Mensch, dessen Hirn nicht von Lobbyisten vernebelt wurde, kann den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung verstehen. Wenn dazu noch Respekt und weniger Gier kämen, könnte man diese ganze verfahrene Lage eventuell wieder auf einen Kurs bringen, der allen Menschen ein würdiges, angenehmeres und friedlicheres Leben ermöglicht. Aber vielleicht bin ich auch nur naiv …

Hermann Vinke/Kira Vinke: Zivilcourage 2.0. Vorkämpfer für eine gerechte Zukunft, Ravensburger, 2015, 248 Seiten, ab 13, 16,99 Euro

Der Chor der Mutmacher

levithanZwei Jungs, die sich küssen, regt das heute noch irgendjemanden auf? Man möchte meinen, nicht. Doch wenn die es in aller Öffentlichkeit tun und das über 32 Stunden, um einen neuen Rekord aufzustellen, dann ist das ein Ereignis, dass die Gemüter bewegt.

Von so einem real durchgeführten Ereignis, das ins Guinnessbuch der Rekorde aufgenommen wurde, erzählt David Levithan in seinem Roman Two Boys Kissing, vorzüglich übersetzt von Martina Tichy.
Harry und Craig wollen ein Zeichen setzen, wollen andere schwule Jungs ermuntern, sich zu outen, zu ihrer sexuellen Neigung zu stehen, sich nicht zu verstecken. Dafür küssen sie sich vor der Highschool ihres Ortes, in aller Öffentlichkeit, knapp anderthalb Tage, ohne sich hinzusetzen, ohne zu essen, ohne auf Toilette zu gehen, ohne zu schlafen. So wie die Qualen der beiden – schmerzende Muskeln, Hitze, Kälte, eine volle Blase, Schwindel, Kopfweh – zunehmen, so wächst auch die Schar der Zuschauer an. Anfangs sind nur ein paar Freunde und Lehrer vor der Schule, die die Küssenden mit Getränken und Klamotten versorgen oder sich um die Live-Übertragung des Ereignisses ins Internet kümmern. Doch mit jeder Stunde verbreitet sich der Rekordversuch im Netz immer weiter, in alle Winkel der Welt. Die Medien werden aufmerksam, die konservativen Mitmenschen des Ortes aber auch, die gegen diese angeblich ungebührliche Aktion protestierten.

Neben den Küssenden schildert Levithan jedoch auch noch zwei weitere schwule Paare sowie einen unglücklichen Einzelgänger. Bei dem einen können die Eltern nichts mit den Neigungen des Sohns etwas anfangen, bei dem anderen handelt es sich um einen Transgender-Jungen, der einst im Körper eines Mädchens geboren wurde, aber alle Unterstützung von seinen Eltern bekommt. Der Einzelgänger sucht sein Glück im Internet, wird jedoch nur enttäuscht. Als seine Eltern ihn unfreiwillig beim Chatten erwischen und ihn somit zwangsouten, haut er von zu Hause ab.

Levithan, dessen Roman Letztendlich sind wir dem Universum egal gerade von der Jugendjury mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde, konzentriert sich hier ganz auf den Kosmos schwuler Jugendlicher, rund um ihr Coming-out und ihre erste Liebe. Anfangs ist die Fülle an männlichen Figuren etwas verwirrend, doch mehr und mehr nimmt die Erzählung an Fahrt auf und die Jungs wachsen einem ans Herz. Dies liegt auch an der sehr präsenten Erzählerstimme, die eine ungewöhnliche und erfrischende Alternative zu den vorherrschenden Ich-Erzählern bildet. Denn hier erzählt ein unbenanntes WIR, ein Chor, der den jungen Schwulen fast väterlich über die Schulter schaut, sie ermutigt, Tipps gibt, von eigenen Erfahrungen berichtet, von eigenen Ängsten, Sorgen und Freuden. Es ist ein Chor einer Generation von Schwulen, die Anfang der 90er Jahre die AIDS-Katastrophe am eigenen Leib erlebt hat, deren Partner, Freunde, Bekannte an der Krankheit gestorben sind, die die Diskriminierung noch schärfer erlebt haben, als die junge Generation heute. Sie waren die Wegbereiter dafür, dass seit diesem Sommer in den USA gleichgeschlechtliche Ehen legal sind. Sie erheben die Stimme, ermutigen, warnen aber auch und machen klar, dass es ein langer Weg war bis zu diesem Punkt, aber auch, dass noch ein langer Weg vor allen LGBT*-Leuten liegt, bis diese rechtlich völlig gleichgestellt sind.

Dieses Buch macht Mut. Keine Frage. Jedem Jungen, der mit seinen sexuellen Vorlieben hadert, sei diese Lektüre empfohlen. Levithan zeigt zwar, dass es nicht einfach ist – weder sich 32 Stunden lang zu küssen, noch mit seinen Eltern zu reden, noch die richtigen Freunde zu finden – doch er zeigt auch, dass es sich lohnt, zu sich selbst zu stehen und sich auf das Abenteuer Leben einzulassen.

Demnächst würde ich gern auf diesem Kanal die weibliche Variante dieses Themas vorstellen können … die aber wohl noch nicht geschrieben ist. Liebe Verlage, bitte kümmert euch darum!

David Levithan: Two Boys Kissing – Jede Sekunde zählt, Übersetzung: Martina Tichy, Fischer KJB, 2015, 288 Seiten,  ab 14, 14,99 Euro

Die Verführung des Bösen

naziEs steht nicht gut um Europa in diesen Tagen. Grenzen werden dicht gemacht, Abkommen außer Kraft gesetzt, die Länder schotten sich gegenüber den Flüchtlingen ab, die unsere Hilfe dringend nötig haben. Zwischen all dem marschieren vermehrt Neonazis auf, zünden Unterkünfte an, schüren Hass und Angst. Noch scheint es wie ein Wunder, dass niemand zu Tode gekommen ist.

F.E.A.R. – Angst – so hat Elisabeth Zöller ihren neuesten Roman genannt. Und es kann einem angst und bange werden, wenn man von dieser fiktiven Geschichte mit ihren exzellent recherchierten realen Hintergründen auf unsere Gegenwart schaut.

Zöller erzählt dieses Mal die Geschichte der 16-jährigen Clara, die sich in den etwas älteren Finnen Joonas verliebt. Der redegewandte, gutaussehende Typ wickelt das Mädchen quasi um den Finger – und Clara lässt sich verführen, zu trist ist ihr Alltag gerade. Ihre Eltern trennen sich, die Mutter fängt etwas mit Claras linkem Geschichtslehrer an. Da kommt Joonas mit seinen zarten Küssen und seiner nationalen Gesinnung gerade recht. Wäre da nicht die andere, dunkle Seite von Joonas. Er wohnt bei einem dumpfen Nazi, trifft sich mit undurchsichtigen Politiker-Hanseln und erzählt Clara ab und an von seinem Traum eine neue Finnische Armee aufzubauen, nach dem Vorbild von LoLa, dem Lokstedter Lager, in dem im ersten Weltkrieg finnische Männer zu Soldaten ausgebildet wurden. Clara durchschaut das alles nicht so richtig und fängt an im Netz zu recherchieren. Dadurch setzt sie ungewollt einen Journalisten auf Joonas Spur. Joonas muss weg aus Deutschland und nimmt Clara mit nach Finnland. Dort kommt es zur Katastrophe, als Joonas mit zwei Kumpeln das Haus einer linken Gastronomin in Brand setzt.

Diese Geschichte zieht Elisabeth Zöller erzählerisch von hinten auf und lässt Clara in einem Polizeibericht selbst die Entwicklung schildern. So ist man als Leser immer dicht an ihrer Sichtweise und ihren Empfindungen, man kann ihre Angst nachvollziehen, als ihre Eltern sich trennen und das Zuhause auseinander fällt, man versteht nur zu gut, wie faszinierend da aufmerksame Jungs sind. Clara sucht nach dem Halt, den die Eltern ihr nicht mehr geben können. Durch diese enge Perspektive von Clara schafft Elisabeth Zöller es meisterlich, dass Joonas‘ Beweggründe immer etwas im Dunklen bleiben, während Claras Wandel von blinder Verliebtheit zu begreifender Erkenntnis all des Schrecklichen um so mitreißender ist.
Die verführerischen Argumentationen der Rechten, die mit ihrer Hetze gegen die Neuankömmlinge Angst schüren vor Zuwanderung, Überfremdung, Islamisierung und sonstigen angeblich so fürchterlichen Zuständen, durchschaut Clara erst im Laufe ihres Berichtes. Für den Leser wird die Wucht dieser Fremdenfeindlichkeit durch den Handlungsstrang in Finnland, in dem die Polizei den Anschlag ermittelt, etwas abgemildert. Doch in Claras Bericht hängt immer die Frage zwischen den Zeilen, wie man selbst in dem Alter, unter ähnlichen Umständen auf solche Sätze und Diskussionen reagiert hätte.
Die Zuspitzung der Ereignisse am Ende von F.E.A.R. lassen keinen Zweifel daran, dass Joonas Position grundlegend falsch ist und dass in heutigen Tagen viel Mut, Engagement und die Suche nach neuen Lösungen dazu gehören, um gegen rechte Strömungen und neue Parteien anzugehen, und eben nicht die Grenzen dicht zu machen. Die Lektüre von Elisabeth Zöllers Roman dürfte Jugendlichen jede Menge zu denken geben und sie hoffentlich stark machen, um all den dunklen Verführungen unserer Zeit zu widerstehen.

Elisabeth Zöller: F.E.A.R., Hanser, 2015, 208 Seiten, ab 14, 16,90 Euro

Kinderarmut existiert … nicht?

ajumVergangene Woche war ich als Referentin auf die Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft Jugendliteratur und Medien der GEW (AJuM) eingeladen. Hinter dem etwas sperrigen Namen stehen 500 Lehrer_innen und Pädagog_innen, die als Ehrenamtliche die Kinder- und Jugendbuchliteratur des Landes lesen und rezensieren. Dies macht die AJuM bereits seit über 100 Jahren, doch seit 2003 gibt es die Rezensionen auch im Internet auf der Seite ajum.de zu lesen. Hier prüfen die Rezensent_innen die Publikationen vor allem auf den pädagogischen Nutzen und die Einsatzmöglichkeiten im Unterricht. Im Archiv der AJuM kann man auf mehr als sagenhafte 50.000 Rezensionen zugreifen, mit ganz differenzierten Meinungen.

Ich war gebeten worden, in der evangelischen Akademie in Loccum über meine Arbeit als Buchbloggerin zu erzählen. So traf ich mit zwei Dutzend überaus interessierten Pädagog_innen, aktiven und bereits pensionierten, zusammen und diskutierte zwei Tage lang mit ihnen über Bücher, missratene Klappentexte, Kinderarmut als literarisches Thema, die Verlagswelt im Allgmeinen und wie gute Rezensionen auszusehen haben.
Da ich das Rezensieren auch nur durch learning-by-doing und journalistisches Ausprobieren gelernt habe, war ich dankbar, einmal über die Kategorien eines solchen Textes nachdenken zu können. Hier auf dem Blog unterliege ich zwar nicht den Vorgaben und Zwängen, an die sich die AJuM-Rezensenten halten müssen, doch gibt es Punkte, die auch für mich gelten: Eine Rezension ist mehr als eine Inhaltsangabe, sollte gut lesbar und nicht zu lang sein, das Ende der rezensierten Geschichte darf natürlich nicht gespoilert werden, Erzählperspektive, Sprache, Stil sollten erläutert, die Besonderheiten daran aufgezeigt und eventuell mit einem aussagekräftigen Zitat belegt werden, Worthülsen sollte man vermeiden und sie stattdessen mit Inhalt füllen (beispielsweise sagt das Wort „emotional“ nicht besonders viel, fragt sich der Leser einer Rezension dann vermutlich, ob man denn nun weint oder lacht …). Die Buchausstattung, die Illustrationen oder die Recherche-Arbeit der/s Autor_in sollten ebenfalls gewürdigt werden.
Das hört sich für Viel-Rezensenten möglicherweise völlig selbstverständlich ist, doch alle in der Runde waren dankbar für solche Handreichungen, da das tägliche Schreiben oftmals so automatisiert – oder unter Stress – abläuft, dass wichtige Aspekte manchmal einfach untergehen. Das passiert jedem.

ajumPraktische Anwendung fand dieser Kriterien-Katalog dann an zwei Büchern, die im Vorfeld als Lektüre aufgegeben worden waren. Thema dieser Tagung war die Kinderarmut in Deutschland, flankiert wurde dies durch einem umfang- und aufschlussreichen Vortrag von Michael Klundt, Professor für Kinderpolitik an der Uni Stendal, und einer Lesung von Dirk Reinhardt aus seinem aktuellen Roman Train Kids.
Bei den beiden Büchern für den Rezensions-Workshop handelte es sich um Dave Cousins 15 kopflose Tage, in der Übersetzung von Anne Brauner, und Donna Gepharts Tod durch Klopapier, ins Deutsche gebracht von Sabine Hübner. Letzteres stammt aus den USA, ersteres aus Großbritannien. Die Wahl fiel auf diese beiden Titel auch aus dem Grund, dass es keine deutschen Produktionen zum Thema Kinderarmut gibt. So wie – laut Professor Klundt – für die Politik momentan Kinderarmut in Deutschland nicht existiert, so ist für die Verlage dieses Thema eben nicht lukrativ genug. An diesen zwei Tagen in Loccum haben wir ziemlich häufig die Köpfe geschüttelt.

In Bezug auf die beiden vorzustellenden Bücher war ich anfangs etwas unentschlossen, wie ich sie finden sollte, denn das gesellschaftliche amerikanische und britische Umfeld sticht in beiden Geschichten nämlich ziemlich hervor. Doch im Gespräch in der Runde taten sich dann die Vorzüge dieser Lektüren auf.

Sowohl Cousins als auch Gephart verstehen es vorzüglich, schwierige Familiensituationen, bedrückende Ereignisse und bedrohliche Zukunftsaussichten durch eine liebevolle Darstellung und eine humorvolle Einbettung erträglich zu machen.
In 15 kopflose Tage ist es der 15-jährige Ich-Erzähler Laurence, der mit seinem 6-jährigen Bruder Jay und der alkoholkranken, depressiven Mutter, in einem Brennpunktviertel in einer nicht genannten britischen Großstadt lebt. Eines Tages verschwindet die Mutter und die Jungs sind auf sich allein gestellt. Aus Angst vor dem Jugendamt spielt Laurence gegenüber den Nachbarn vor, dass die Mutter immer gerade bei einem von ihren zwei Jobs ist. Trotz all der Probleme – das Geld geht ihnen aus, Jay wird krank – lieben die Brüder ihre Mutter über alles. Laurence versucht, ihr einen dringend nötigen Urlaub zu verschaffen, den er bei einem Radio-Quiz gewinnen will. Dafür gibt er sich als sein eigenen Vater aus, der die Familie vor Jahren verlassen hat.

Auf der anderen Seite des Atlantiks ist es der 10-jährige Ben, der ebenfalls als Ich-Erzähler in Tod durch Klopapier, seiner Mutter helfen will, nicht aus der Wohnung zu fliegen. Bens Vater ist an Krebs gestorben, die Mutter kann die Miete nicht mehr bezahlen, der Vermieter kündigt ihnen die Wohnung. Ben macht daher bei allen möglichen Gewinnspielen mit, in der Hoffnung, eines Tages den Jackpot zu knacken. Nebenher zieht er an der Schule einen illegalen Handel mit Schokoriegeln auf. Als der demente Großvater bei Ben und seiner Mutter einzieht spitzt sich die Situation zu.

Erstaunlich ist, dass es bei beiden Geschichten gewisse Parallelen gibt: Die Protagonisten können auf gute Freunde zählen, die ihnen ungeachtet ihrer Probleme, für die sie sich schämen, helfen und ihnen den Rücken stärken. Radio-Quiz und Preisausschreiben sind quasi die Ticks der Jungs, die, wenn man die Bücher hintereinander liest, fast wie ein nerviger Erzähl-Trick wirken, aber dennoch eigenständige Funktionen haben. Sie zeigen die Kreativität, Hilfsbereitschaft und Verzweiflung der jungen Helden.
In beiden Fällen handelte es sich vor den dramatischen Entwicklungen bei den Figuren um ganz normale Familien, die durch Schicksalsschläge wie Tod oder Scheidung zu Außenseitern der Gesellschaft werden. Für Kinder und Jugendliche, die in ähnlichen Situationen stecken, mag das vielleicht keine verlockende Lektüre sein, sie könnten dort jedoch das Gefühl finden, dass sie mit ihren Problemen nicht allein sind und Hilfe – trotz aller Scham – möglich ist.
Für alle anderen, die nicht von Armut bedroht sind, bieten die Bücher die Möglichkeit, eine Sensibilität für Freunde, Mitschüler und  Nachbarn mit diesen Problemen zu entwickeln.

Die schwierigen Lebenssituationen der Jungs wird von humoristischen Szenen in den Plots erträglich gemacht: Bens Freund Zahnstocher ist ein Meister in Sachen Horror-Maskenbild, was sich später als überaus hilfreich erweist; Jay hält sich für Scooby-Doo, beißt gern mal zu und bringt den großen Bruder in peinliche Situationen. Zudem ist jedes Buch mit Details ausgestattet, die ein weiteres Aufatmen erlauben: 15 kopflose Tage eröffnet jedes Kapitel mit einer Comic-Seite, die Autor Cousins selbst gezeichnet hat. Tod durch Klopapier liefert an jedem Kapitelanfang hintersinnig-witzige Informationen rund um die Geschichte des Klopapiers.

Die Diskussionsrunde in Loccum war sich bei der Beurteilung dieser Bücher jedoch auch einig, dass die Kinder und Jugendlichen bei dieser Lektüre begleitet werden sollten. Denn im humoristischen Kleid stecken bittere Schicksale, die man nicht so locker wegsteckt.

Zu wünschen bliebe, dass es auch deutsche Geschichten ähnlicher Couleur zu diesem Thema gäbe. Die Politik mag uns ja so Einiges vormachen und Kinderarmut geflissentlich übergehen, doch Bücher sollten die Realität in unserem Land spiegeln, egal wie trist sie ist oder wie wenig lukrativ. Sie könnten als Helfer und Mutmacher eine wichtige Rolle spielen.

Donna Gephart: Tod durch KlopapierÜbersetzung: Sabine Hübner, cbt, 2015, 288 Seiten, ab 10-99, 12,99 Euro

Dave Cousins: 15 kopflose TageÜbersetzung: Anne Brauner, Freies Geistesleben, 2015, 288 Seiten, ab 13, 17,90 Euro

Die Qualen einer Flucht

train kidsNeulich läuteten in Köln und Umgebung die Glocken im Gedenken an die Flüchtlinge, die seit dem Jahr 2000 im Mittelmeer, vor den Grenzen Europas, umgekommen sind. 23000 Mal erklangen die Glocken, für jeden Toten ein Glockenschlag. Eine schöne Geste, aber längst wieder verhallt.
Dass es nicht nur im Mittelmeer Flüchtlinge gibt, die ihr Leben riskieren, weil sie sich in der Ferne ein menschenwürdigeres Leben erhoffen, ist bekannt. Eine Art der Flucht holt uns Dirk Reinhardt mit seinem Roman Train Kids eindrücklich ins Bewusstsein.

Die Jugendlichen Miguel, Fernando, Emilio, Angel und das Mädchen Jaz machen sich von der Südgrenze Mexikos auf nach Norden. Auf Güterzügen wollen sie bis nach Nuevo Laredo an der Grenze zu den USA gelangen, um von dort illegal in das anscheinend gelobte Land einzuwandern. Jeder von ihnen hat gute Gründe, die Heimat in Guatemala, El Salvador oder Honduras zu verlassen. In den USA hoffen sie, Verwandte wiederzufinden, Mütter oder Brüder, und endlich ein besseres Leben ohne Elend und Hunger führen zu können. Doch der Weg dorthin ist lang, beschwerlich und gespickt mit Gefahren.

Fernando, der die Tour bereits einmal gemacht hat und von den mexikanischen Behörden erwischt und zurückgeschickt wurde, wird zum Leitwolf der Gruppe. Gemeinsam haben die Kids bessere Chancen durchzukommen, denn Fernando weiß, wo die Gefahren lauern und wie man sie am besten umgehen kann. Die Jugendlichen lernen das Aufspringen auf die Züge, wie man sich vor Ästen und Hochspannungsmasten schützt, wie man Tunnel übersteht, im Fahren Orangen pflückt. Doch trotz aller Vorsicht und aller Warnungen von Fernando bleibt es nicht aus, dass sie Banditen, Drogenhändlern und Polizisten in die Hände fallen. Sie müssen Schutzgelder zahlen, werden erpresst und ausgeraubt. Sie leiden Hunger und Durst, frieren nachts in der Wüste und in den Bergen, aber sie erleben auch die Hilfsbereitschaft eines Pastors und seiner Gemeinde und von der einfachen Landbevölkerung. Und die Freundschaft in der Gruppe. Dennoch schaffen es nicht alle der fünf es bis an die Grenze …

Reinhardts Buch fesselt und macht gleichzeitig betroffen, denn das, was er erzählt entspricht den Tatsachen. Reinhardt hat vor Ort in Mexiko recherchiert, mit realen Train Kids gesprochen und ihren Leidensweg hautnah nachvollzogen. Etwa 50 000 von diesen Kindern sind ständig in Mexiko unterwegs, schreibt Reinhardt in seinem Nachwort. Laut Amnesty International gehört die Flucht auf den Güterzügen durch das Land zu den gefährlichsten Fluchten der Welt. Nur ein Bruchteil der Flüchtlinge erreicht das Ziel. Warum das so ist, weiß man nach der Lektüre von Train Kids ziemlich genau.

Reinhardts Quintessenz aus seinem Nachwort, gilt jedoch nicht nur für Mittelamerika: „Will man wirklich etwas tun, um dieses Problem anzugehen, so kann die Lösung nicht darin bestehen, die Grenzen abzuriegeln und Migranten zu jagen, als wären sie Kriminelle. Langfristig ist es sinnvoller die Wirtschaft in den [jeweiligen] Ländern zu stärken und die Armut zu bekämpfen.“ Ist das wirklich so schwierig?

Dirk Reinhardt: Train Kids, Gerstenberg Verlag, 2015, 320 Seiten, ab 13, 14,95 Euro

Gegen Unterdrückung, gegen Hass

nuriIch bin fertig. Völlig fertig. Und zwar in zweifacher Hinsicht. Eben haben ich den Roman Sommer unter schwarzen Flügeln von Peer Martin beendet. Nach überdurchschnittlich langer Lesezeit. Aber es ging nicht schneller. Denn die Geschichte von Nuri und Calvin ist keine leichte Kost. Zumal die aktuellen Nachrichten aus Syrien und Tröglitz die reale Bestätigung von Martins Fiktionalisierung sind. Aber der Reihe nach.

Martin erzählt von der 18-jährigen Nuri, die mit ihrer Familie vor dem Krieg aus Syrien geflüchtet ist und nun in einem Flüchtlingsheim in Stralsund lebt. Eines Tages trifft sie bei der alten Jüdin Frau Silbermann auf Calvin, ebenfalls 18, der seine jüngeren Brüder vom Nachhilfeunterricht abholt.
Calvin ist Neo-Nazi, mit Springerstiefeln, rechten Tattoos am Körper und rechten Ideen im Kopf. Die Asylbewerber sind für ihn und seine rechte Clique das Feindbild schlechthin. Dennoch ist er von der schwarzlockigen Nuri vom ersten Moment fasziniert.
Nuri beginnt, ihm von der Revolution, den Misshandlungen durch die Geheimdienstleute, dem Krieg und den Zerstörungen in Syrien zu erzählen.
Will Calvin das alles anfangs überhaupt nicht hören, entwickeln Nuris Geschichten jedoch so einen Sog, dass er immer mehr in die untergegangene Welt Syriens eintaucht. Immer öfter begegnen sich Nuri und Calvin. Zuerst zufällig, dann ganz gezielt. Nuri weiß um Calvins politische Einstellung, doch seine grünen Augen und seine Sommersprossen lassen sie nicht mehr los. Über viele, viele Seiten entwickelt sich ganz langsam eine große Liebe zwischen den beiden. Und Calvin fängt genauso langsam an, seine politische Einstellung abzulegen.
Immer größer wird der Zwiespalt in ihm: Nach außen macht er noch in seiner Clique mit, wird der neue Anführer, plant etwas „Großes“ gegen die Asylanten, innerlich jedoch geht er immer mehr auf Abstand, hintergeht die alten Freunde, fängt an Arabisch zu lernen.
Seine Kameraden werden misstrauisch, und als die Polizei ihre Laube im Kleingartenverein durchsucht und gehortetes Benzin sicherstellt, wird eine Gewaltspirale in Gang gesetzt, die bis zur letzten Seite andauert.

Martins Roman erzählt zwei Geschichten in einer. Ich war hin- und hergerissen zwischen den Welten, manchmal wollte ich den Wechsel nicht. Doch es fügt sich hervorragend zu einem erschreckend aktuellen Bild und spannenden Plot zusammen. Die Ereignisse in Syrien rollt Martin durch Nuris Erzählungen akkurat recherchiert von Anfang an auf, man wird daran erinnert, wie alles vor nur wenigen Jahren begann. Die Bilder in den Nachrichten und im Internet betrachtet man nach dieser Lektüre mit anderen Augen, mit Nuris Augen, und hat wie Calvin den Eindruck dort gewesen zu sein. Es nimmt einen mit, im Guten wie im Schlechten.
Auf eine andere Art erschreckend sind die Einblicke, die Martin in die rechte Szene Deutschlands gewährt. Lange hat er als Sozialarbeiter mit Jugendlichen aus bildungsfernen Schichten gearbeitet und dort den Rechtsextremismus täglich erlebt. Diese Erfahrung schlägt sich in authentisch gezeichneten Szenen, Dialogen und Ansichten der Figuren wieder. Man mag es eigentlich nicht lesen, so real kommen die Diskussionen in der Clique daher. Doch Martin gelingt es, dass keine Verherrlichung dieses Gedankengutes aufkommt. Denn Calvins Zweifel und sein Wandel zum Aussteiger widerlegen die irrsinnigen Überzeugungen der Neo-Nazis und zeigt die Absurdität der Deutschtümelei (ein bisschen zum Schmunzeln sind die internationalen Namen der Clique wie Calvin, Kevin, Cindy, Kimberley …).

Die Erschütterung, die von diesem Buch also ausgeht, ist für mich vielfältig: Der Schrecken in Syrien rückt unglaublich nah, gleichzeitig wächst die Wut, dass scheinbar niemand diesem Land und seinen Menschen hilft. Und dass die Asylpolitik in diesem Land noch sehr zu wünschen übrig lässt, um es mal „nett“ zu formulieren. Hinzu kommt der Horror und die Abscheu vor den rechten Strömungen im eigenen Land, die mich fast krank machen.
Dennoch sollte Sommer unter schwarzen Flügeln gelesen werden, nicht nur von jungen Leuten, sondern von allen. Denn es bietet neben einer spannenden Liebesgeschichte vor allem Aufklärung und Diskussionsstoff – so dass kleingeistiges Denken, welcher Couleur auch immer, Gewalt und Unterdrückung in Zukunft hoffentlich keine Chance mehr bekommen.

Peer Martin: Sommer unter schwarzen Flügeln, Oetinger, 2015, 528 Seiten,  ab 16, 19,99 Euro

Durch die Hölle

khmerNormalerweise versuche ich immer einen schönen Einstiegssatz für eine neue Rezension zu finden, einen aktuellen Bezug oder etwas, das mit meinem Leben zu tun hat. Bei diesem Buch, Der Tiger in meinem Herzen, dem neuen von Patricia McCormick, fällt mir das gerade unglaublich schwer. Denn mit Kambodscha und den Roten Khmer hatte ich bis jetzt noch nichts zu tun. Aktuell ist das Thema auch nicht gerade, dafür mal wieder ein Gedenkjahr. Denn vor 40 Jahren übernahmen die Roten Khmer die Macht. Grund genug, daran zu erinnern.

Autorin Patricia McCormick tut dies auf eine erschütternde und zugleich mitreißende Art, indem sie die Lebensgeschichte des Human-Rights-Aktivisten Arn Chorn-Pond nacherzählt. Arn war neun Jahr alt, als die Roten Khmer 1975 an die Macht kamen und das Land in eine Art von Agrarkommunismus überführen wollten. Dies taten sie mit aller Gewalt und ohne jegliche Gnade. Schätzungsweise zwei Millionen Menschen verloren ihr Leben. McCormick lässt Arn in der Ich-Perspektive erzählen und das, es sei hier vorweggenommen, ist nichts für zartbesaitete Leser, egal welchen Alters.

Denn Arn hat Dinge gesehen, die man sich kaum vorstellen kann und mag. Beginnend mit der Vertreibung der Bevölkerung aus der Stadt erlebte der Junge, wie die Roten Khmer alle Menschen liquidierten, die ihrer Meinung nach bourgeoise oder Freunde Amerikas waren. Wer auch nur einen Hauch von Bildung besaß, wurde hingerichtet, wer kein Bauer war, wurde hingerichtet, wer nicht genug körperlich arbeitete, wurde hingerichtet, wer den Marsch aus der Stadt nicht durchhielt, Alte, Kinder, Kranke, wurde liegen gelassen oder erschossen. Wer die Fragen der Roten Khmer beantwortete, auf die eine oder die andere Art, wurde hingerichtet. Man konnte es ihnen nie richtig machen.
Arn machte sich unsichtbar, versuchte, nicht aufzufallen. Vielleicht die einzige Möglichkeit, der Willkür zu entkommen. Er arbeitete auf den Reisfeldern, den Killing Fields, in unendlich langen Schichten, die nicht einmal Erwachsene unbeschadet überstehen konnten. Er beobachtete, er sah, wie Kinder fortgebracht wurden und nicht wiederkamen. Er sah die Leichenberge im Mangohain. Und er fiel nicht auf.

Erst als eines Tages Musiker gesucht wurden, meldete er sich. Vielleicht war das seine Rettung. Jedenfalls lernte er die Khim zu spielen und die Machthaber mit ihren Revolutionsliedern zu unterhalten. Doch die Musik, die er zusammen mit anderen Kindern spielte, wurde auch per Lautsprecher auf die Reisfelder übertragen – um das Töten zu übertönen.
Als der Krieg aus Vietnam auf Kambodscha übergriff, fiel Arn wieder nicht auf. Er wurde Kindersoldat, konnte anfangs das Gewehr kaum halten. Er lernte das Töten, wurde selbst zum Roten Khmer und überlebte auch dieses Grauen.
Schließlich gelang ihm die Flucht nach Thailand.

Arns Geschichte ist die Hölle.

Gerade deswegen muss sie erzählt und erinnert werden, zeigt sie doch auf die grausamste Art, was Menschen anderen Menschen antun können. Sie mag zwar 40 Jahre her sein, doch die aktuellen Konflikte auf der Welt beweisen immer wieder, dass der Mensch nicht unbedingt aus der Geschichte lernt. Laut UNO-Angabe kämpfen derzeit etwa 250000 Kindersoldaten auf dem Globus. Jeder einzelne ist einer zuviel. Arns Geschichte zeigt, wie es dazu kommen kann, dass Kinder zu Kanonenfutter, Ködern, willigen Helfern und Mördern werden können. Die Art des Regimes, das dahinter steckt, ist fast schon egal, sobald Kinder dafür missbraucht werden und das Kämpfen für sie die einzige Überlebenschance darstellt.

Bei all dem Elend auf dieser Welt bin ich immer völlig überfordert, wie man Abhilfe schaffen kann. Es zerreißt mir immer schier das Herz, wenn ich so etwas wie von Arn lese – und mir klar mache, dass er gerade einmal ein Jahr älter ist als ich und diese Hölle immer noch in sich trägt. Und die derzeitigen Kindersoldaten in diesem Moment in dieser Hölle leben müssen. Es ist so verdammt fürchterlich.
Umso mehr sei Arn Chorn-Pond und Patricia McComick gedankt, dass sie diese Geschichte erzählen – die übrigens sehr angenehm von Maren Illinger ins Deutsche übersetzt wurde – und so das Bewusstsein sowohl für die Historie als auch für den gegenwärtigen Missbrauch von Kindersoldaten schärfen.

Lest dieses Buch.

Patricia McCormick: Der Tiger in meinem HerzenÜbersetzung: Maren Illinger, FISCHER KJB, 2015, 256 Seiten, ab 14, 14,99 Euro

Erinnere.

leysonGestern wurde auf allen Kanälen erinnert, an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz vor 70 Jahren durch die Rote Armee.
Ich habe den ganzen Tag gegrübelt, wie ich mich diesem Chor anschließen könnte – und war schließlich etwas überfordert. Die vielen Bilder von damals lassen mich nicht so richtig los. Es ist schwierig und doch so wichtig, immer wieder zu erinnern. Gerade in diesen Tagen, an denen in dieser Welt schon wieder – oder immer noch – unglaublich viel Hass auf Menschen mit anderem Glauben geschürt wird.

Dann stellte sich mir im Laufe des Tages auch noch die Frage, wie man Jugendlichen das Grauen des Holocaust begreifbar machen kann, wenn es selbst die Erwachsenen schon überfordert. Auch das ist alles andere als leicht. Eine Möglichkeit, junge Leser mit dem Thema in Kontakt zu bringen, ist der Zeitzeugenbericht von Leon Leyson.

Leyson, polnischer Jude, Jahrgang 1929, war nicht in Auschwitz, hat aber die Judenverfolgung in allen fürchterlichen Details miterlebt und ebenso gelitten. Denn seine Familie wurde in Krakau zuerst aus der Wohnung vertrieben, ins Ghetto umgesiedelt, dann ins Lager Plaszów gebracht und zur Zwangsarbeit verpflichtet. Immer mehr Juden verschwanden, der sadistische Lagerkommandant Amon Göth tötete willkürlich, Leysons Bruder Tsalig wurde verschleppt und vermutlich erschossen. Leyson selbst durfte da schon lange nicht mehr zur Schule gehen, sondern musste ebenfalls arbeiten.
Glück hatte Leyson, weil seinem Vater gelang, in der Emaillefabrik von Oskar Schindler Arbeit zu finden. Er konnte die Familie in das fabrikeigene Lager nachholen. Leyson musste als Zwölfjähriger Nachtschichten in der Fabrik schieben – und dabei auf einer Holzkiste stehen, um die Maschinen zu bedienen, weil er so klein war. Ausreichend Nahrung gab es nicht. Hunger, Entbehrung, Angst beherrschten das Leben.
Dennoch spürte Leyson, dass Schindler anders war als die „normalen“ Nazis. Die berühmte Liste, die Schindler zusammenstellen ließ, rettete Leyson und seiner restlichen Familie zusammen mit 1200 anderen das Leben.

Leyson, der nach Ende des Krieges nach Los Angeles zu Verwandten zog, hat wie viele Überlebende spät angefangen, von seinen Erlebnissen zu erzählen. So hat er dieses Buch erst vor wenigen Jahren geschrieben, die Veröffentlichung dann jedoch nicht mehr miterlebt.
Sein Bericht ist so lebendig und mitreißend erzählt, dass man von dem Buch nicht mehr lassen kann. Als Erwachsener zieht man rasch Vergleiche mit dem Film von Steven Spielberg, merkt jedoch genauso schnell, dass das nichts bringt. Denn hier erzählt eines der Opfer aus seiner ganz persönlichen Sicht. Leyson tut dies bei all dem Schrecklichen jedoch ohne Groll, dafür mit Respekt vor Oskar Schindler, ohne diese widersprüchliche Person komplett zu verherrlichen.

Gaskammern und Leichenberge kommen in Leysons Bericht nicht vor, doch sind seine Erlebnisse schon grauenhaft genug, um für die Verbrechen der Nazis zu sensibilisieren. Junge Leser sollten die Eltern dennoch noch nicht mit dieser Lektüre allein lassen, sondern mit ihnen gemeinsam das Gelesene einordnen und so eine Erinnerungskultur aufbauen. Denn diese Schrecken zu vergessen steht uns nicht zu und dürfen wir uns, vor allem im Angesicht von herrschendem Hass und grassierender Dummheit, nicht erlauben.

Leon Leyson: Der Junge auf der Holzkiste. Wie Schindlers Liste mein Leben rettete, Übersetzung: Mirjam Pressler, Fischer, 2015, 224 Seiten, ab 12, 8,99 Euro

Congratulations!

malalaWährend der Frankfurter Buchmesse werden immer jede Menge Preise vergeben. Angefangen beim Deutschen Buchpreis (dieses Jahr für Kruso von Lutz Seiler), über den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (Jargon Lanier), den Melusine-Huss-Preis der Hotlist der unabhängigen Verlage (an den Aviva Verlag für Mädchenhimmel von Lili Grün), den Virenschleuderpreis und die Nobelpreise. Bei den letzteren brennen auf der Buchmesse immer alle auf den Literaturnobelpreisträger. In diesem Jahr ist es der Franzose Patrick Modiano – einen Autor, den ich erst noch entdecken muss. Ich habe jetzt bestimmt noch ein paar andere Preise vergessen.

Das Highlight war für mich der Freitag. Da wurde mittags verkündet, dass Malala Yousafzai zusammen mit Kailash Satyarthi den Friedensnobelpreis bekommt. Echtes Gänsehautfeeling im Messetrubel. Denn gerade habe ich Malalas Geschichte in der Fischer-Ausgabe gelesen. Zusammen mit Patricia McCormick, der Jugendbuchautorin von Cut und Versehrt, erzählt Malala noch einmal von ihrem Leben im pakistanischen Swat-Tal, ihrem Wunsch nach Bildung und dem Schrecken der Taliban und ihrem Widerstand – und zwar für jugendliche Leser. So ist man ganz dicht bei Malala, erfährt, dass sich sich durchaus mit ihren Brüder streitet oder ihre Nase zu groß findet, dass sie gerne Badminton spielt – und wie sie schließlich 2012 als 15-Jährige niedergeschossen wurde und in Birmingham wieder gesund wird. Bilder aus ihrem Leben zeigen das wache Mädchen während einer Schulaufführung, als Klassenvorsteherin, mit Auszeichnungen für gute Leistungen. Es waren nur die ersten von einer ganzen Reihe, die ihr nach dem Attentat verliehen wurden.
Mit ihrer Malala-Stiftung kämpft sie weiterhin für das Recht von Mädchen auf Bildung. Vor all dem, ihrem Schicksal, ihrem Mut, ihrer Unverdrossenheit, ihrer Lebensfreude kann man sich nur respektvoll verneigen und ihr wünschen, dass sie durchhält und ihre Ideen möglichst viele Früchte tragen.

garlandFreitagabend wurde dann in Frankfurt zudem der Deutsche Jugendliteraturpreis vergeben. Aus Termingründen konnte ich nicht bei der Veranstaltung teilnehmen und erfuhr dann am späten Abend, dass Inés Garland und ihre Übersetzerin Ilse Layer in der Kategorie Jugendbuch gewonnen haben. Welche Freude! Ihren Roman Wie ein unsichtbares Band hatte ich bereits im vergangenen Jahr besprochen und ein Interview mit Inés Garland geführt. Nachzulesen hier.

Die anderen Preisträger sind Claude K. Dubois mit Akim rennt, in der Übersetzung von Tobias Scheffel, in der Kategorie Bilderbuch. Der Kinderbuchpreis ging an Martina Wildners Roman Königin des Sprungturms. Heidi Trpak (Text) und Laura Momo Aufderhaar (Illustration) bekamen den Preis für das beste Sachbuch, Gerda Gelse, Allgemeine Weisheiten über Stechmücke. Die Jugendjury entschied sich für Raquel J. Palacio Roman Wunder (übersetzt von André Mumot). Der Sonderpreis schließlich ging an die Übersetzerin Angelika Kutsch, die Kinderbücher aus dem Dänischen, Schwedischen und Norwegischen ins Deutsche bringt.

Also, ein echt preiswürdiger Messe-Freitag. Allen Gewinnern ganz herzlichen Glückwunsch! Congratulations! Felicitaciones!

Malala Yousafzai/Patricia McCormickMalala. Meine GeschichteAusgezeichnet mit dem Internationalen Friedenspreis für Kinder 2013 und Specsavers National Book Awards, Non-Fiction Book of the Year 2013, Übersetzung: Maren Illinger, Fischer KJB, 2014,  272 Seiten, 12,99 Euro

Die Absurditäten des Krieges

frankIn den vergangenen Wochen ist mir ein Buch untergekommen, das eine echte Entdeckung für mich ist. Im Rahmen des Gedenkens an den Ausbruch des ersten Weltkriegs vor 100 Jahren ist bei Ravensburger der Antikriegsroman Der Junge, der seinen Geburtstag vergaß von Rudolf Frank neu erschienen.
Sind Bücher wie Im Westen nichts Neues von Erich Maria Remarque oder Nesthäkchen und der Weltkrieg von Else Ury bekannte Geschichten aus jener Zeit, so ist der Text von Frank ziemlich in Vergessenheit geraten. Was verdammt schade ist.

Frank erzählt die Geschichte des 14-jährigen Jan Kubitzki, der als Deutschrusse in Polen lebt. Seine Mutter ist gestorben, der Vater von den Russen eingezogen worden. In Jans Dorf ist niemand mehr, als die Deutschen einmarschieren. Da der Junge nicht allein dort bleiben kann, schließt er sich in der Not den Deutschen an und wird Teil der Armee. Statt den Jungen wie einen Gefangen zu behandeln, wird er quasi zum Maskottchen der Kompanie. Mit seinem offenen, bodenständigen und menschlichen Blick hilft Jan den Soldaten immer wieder aus der Patsche und rettet sie vor den russischen Sümpfen, Spionen und Angriffen. Er lernt die Schlachten an der Ostfront und später auch den Grabenkrieg im Westen kennen. Dabei  konstatiert er immer wieder die Absurditäten von Krieg und Armeegebahren. So sind die Uniformen für ihn kein Zeichen der Einheit, sondern vielmehr ein Ausdruck „grenzenloser Ungleicheit und Uneinheit“. Jan hat mit Hierarchien und Auszeichnungen für angeblichen Heldenmut nichts am Hut.

Frank, der selbst im ersten Weltkrieg gekämpft hat, schrieb die Geschichte von Jan 1931. Zwei Jahre später verboten die Nazis das Buch und verbrannten es am 10. Mai 1933. Frank war also noch relativ dicht an den Geschehnissen des ersten Weltkriegs dran. Schonungslos erzählt er von verheerenden Schrapnellbomben und den Toten auf dem Schlachtfeld – und ahnte auch schon die kommende Katastrophe des zweiten Weltkrieges. So lässt er einen alten jüdischen Kaufmann räsonieren: „[Die Großmächtigen in Deitschland würden sagen:] Jetzt machen wir ä neuen Krieg, ä Krieg, der nix kostet und einbringt Geld. Jetzt machen wir Krieg gegen die Juden. Gegen die Juden im Land.“ Jan fragt den Alten daraufhin, ob er ein Prophet sei. Antwort: „Wozu braucht man sein ä Prophet, wenn man hat ä Kopf, der denkt, und zwei Augen, die sehen?“
Mir lief es bei diesen Zeilen eiskalt den Rücken runter. Denn Frank zeigt damit nicht nur seine Hellsichtigkeit bezüglich des damals aufkommenden Nazi-Terrors, sondern liefert universelle Botschaften, die auch heute noch gültig sind.

Dabei verklausuliert Frank seine Botschaft nicht, sondern sagt geradeheraus, was er von einer Unternehmung wie Krieg hält. Jans Erlebnisse illustrieren dazu das, was im Feld passiert. Immer wieder denkt der Junge darüber nach, wie die Sprache die Schrecken verbrämt, umbenennt und verfälscht.
Jungen Lesern zeigt Frank so ganz deutlich und unmissverständlich, dass Krieg immer grausam und zu verachten ist.
Uns Erwachsenen ruft der Text wieder einmal in Erinnerung, dass es heute nicht sehr viel anders zugeht. Wir in Deutschland haben zwar das unglaubliche Glück, nicht in einem Kriegsgebiet zu leben, doch die Nachrichten aus  der Ukraine, Syrien und dem Irak halten uns tagtäglich vor Augen, dass diese Welt alles andere als ein friedlicher Ort ist und die Menschheit aus Geschichte einfach nichts zu lernen scheint. Dann möchte ich am liebsten allen dieses Buch in die Hand drücken und den Soldaten Mut machen, Jans Beispiel zu folgen und den Dienst zu quittieren. Aber so simpel ist es ja bekanntlich nicht. Leider.

Rudolf Frank: Der Junge, der seinen Geburtstag vergaß, Ravensburger Buchverlag, 2014, 256 Seiten, ab 12, 7,99 Euro

Von Schuld und Unschuld

schuldGute Bücher über den Fall der Mauer und die Flucht aus der DDR gibt es zuhauf, zum Beispiel  Tonspur. Das Schicksal der Kinder von Stasi-Mitarbeitern wird eher selten literarisch verarbeitet. Die Lebensläufe von Kindern hauptamtlicher Stasi-Mitarbeiter hat Ruth Hoffmann vor zwei Jahren in ihrem Sachbuch Stasi-Kinder erzählt.

Nun liefert Grit Poppe einen Jugendbuch-Roman zu diesem Thema. Schuld spielt in den Jahren 1988/89 sowie 1992 und erzählt von den 15-jährigen Jugendlichen Jana und Jakob.
Jana kommt neu in eine Schule am Rande von Ostberlin. Vom ersten Moment an fühlt sie sich zu dem Außenseiter Jakob hingezogen. Dessen Eltern haben einen Ausreiseantrag gestellt. Jakob selbst schreibt und verteilt illegal Flugblätter, engagiert sich im Neuen Forum und kämpft für Meinungsfreiheit. Eines Tages gibt er Jana ein solches Flugblatt, das sie bei sich zu Hause versteckt.

Als diese Flugblätter auch in der Schule auftauchen, fliegt Jakob erst von der Schule, später finden Stasileute einen weiteren Entwurf mit einem Aufruf zur Demo bei ihm. Der Junge kommt in Untersuchungshaft, wird verurteilt und in das Jugendgefängnis Halle gesteckt.
Jana ist verzweifelt. Zum einen, weil sie nicht weiß, wann und ob sie Jakob wiedersehen wird, zum anderen, weil ihre Eltern, linientreue Sozialisten, beständig gegen sie und ihre Beziehung zu Jakob arbeiten. Sie verbieten ihr schließlich, Jakob zu schreiben.
Jana ist da jedoch schon lange in der Protestbewegung engagiert, in die Jakob sie eingeführt hat, und lässt sich von ihrem Weg nicht abbringen.

Grit Poppes Roman Schuld schildert die letzen Jahre der DDR konsequent aus den Perspektiven von Jana und Jakob. Vor allem bei Jana ist das sehr beeindruckend gelungen, den das Mädchen durchschaut erst nach und nach das Überwachungssystem der DDR. Die Rebellion gegen den Staat geht mit der Rebellion gegen die Eltern einher – das verzahnt Poppe so geschickt, dass man eigentlich nicht weiß, was zuerst war. Allerdings bleibt Jana die perfide Ausspionierung durch den eigenen Vater bis zu letzt verborgen. Nur im Leser, vor allem im erwachsenen, macht sich ein fieses Gefühl von Abscheu breit.
Mit Jakob hingegen erlebt man die grausamen Zustände, die in den DDR-Jugendknästen geherrscht haben. Nach ihren Romanen Weggesperrt und Abgehauen zeigt Poppe auch hier noch einmal, wie sehr Jugendliche in der DDR gelitten haben, wenn sie nicht dem Ideal der vorgegebenen Doktrin entsprachen.

25 Jahre nach dem Mauerfall macht Grit Poppe mit ihren Büchern die dunkle Geschichte der DDR für junge Leser anschaulich und lebendig. Was in den Schulen meist nur als Faktenansammlung vermittelt wird, reichert sie mit Gesichtern, persönlichen Schicksalen und jeder Menge Emotionen an. Schuld legt man daher nicht mehr aus der Hand, man leidet mit den beiden Helden bis zur letzten Seite mit, ist gleichzeitig erleichtert, wie frei wir heute leben, wundert sich dann aber auch, wie wenig momentan noch protestiert wird (Gründe gäbe es genug).

Grit Poppe: Schuld, Dressler Verlag, 2014, 365 Seiten, ab 14, 9,99 Euro

Krieg in der Kinder- und Jugendliteratur

kriegAm Wochenende war ich in Tutzing am Starnberger See. Dort findet alle zwei Jahr in der Evangelischen Akademie eine Tagung zur Kinder- und Jugendliteratur statt, die von der Arbeitsgemeinschaft von Jugendbuchverlagen (AvJ) und dem Institut für Jugendbuchforschung der Goethe-Universität in Frankfurt am Main organisiert wird. In diesem Rahmen treffen dann Wissenschaft, Verlage, Autoren, Übersetzer, Lehrer, Buchhändler und Bibliothekare aufeinander und informieren sich und diskutieren lebhaft über ein bestimmtes Thema im Bereich Kinder- und Jugendbuch.

Im Zuge des Gedenkens an den Ausbruch des ersten Weltkriegs vor hundert Jahren stand diese Tagung ganz im Zeichen von Krieg in der Kinder- und Jugendliteratur. In den Vorträgen wurde dabei sowohl ein Blick zurück geworfen, auf die Literatur, die unmittelbar im ersten Weltkrieg erschien, wie beispielsweise Nesthäkchen und der Weltkrieg von Else Ury, aber auch auf die Gegenwartsliteratur, die sich mit dem Kriegsgeschehen befasst, wie Feldpost für Pauline von Maja NielsenDer Krieg ist ein Menschenfresser von Elisabeth Zöller oder Mein Opa, sein Holzbein und der Große Krieg von Nikolaus Nützel. Quintessenz war, dass es kaum noch Erfahrungs- und Erlebnisliteratur über den ersten Weltkrieg geben kann, da die Zeitzeugen bereits gestorben sind, und daher eigentlich nur noch die Form des historischen Romans als Darstellungsmittel in Frage kommt. Von diesen aktuellen Büchern bekamen die Tagungsteilnehmer einen plastischen Eindruck, da neben Elisabeth Zöller auch die Autoren Herbert Günther und Jürgen Seidel aus ihren neuesten Werken am Samstagabend lasen.

kriegDoch nicht nur Literatur, die den Krieg in all seinen Facetten zeigt, um so zu pazifistischem Denken anzuregen, wurde vorgestellt, sondern auch die Kriegsdarstellung in Tiererzählungen und -animationsfilmen sowie in zeitgenössischen Computerspielen wurde betrachtet. Mag das für Außenstehende abwegig klingen, so ist dieser Blick über den Tellerrand jedoch immer sehr erhellend und aufschlussreich, zumal zu unserem täglichen Konsum von Kulturgut Film und Computer mittlerweile selbstverständlich dazugehören. Filme wie Antz oder Das große Krabbeln, die ab sechs Jahren freigegeben sind, konfrontieren die Kinder bereits früh mit Kriegsgeschehen und militärischen Machtspielen. Ähnlich scheint es bei Computerspielen zu sein, mit denen ich mich so gut wie gar nicht auskenne. Auch dort gibt es Spiele, in denen gekämpft, angegriffen und zerstört wird, an die bereits Sechsjährige heran dürfen. Hier entspann sich kurz eine Diskussion um Ächtung von Kriegs- und Killerspielen, die zwar berechtigt, für die diese Tagung jedoch der falsche Ort war, ging es doch vornehmlich um eine Präsentation des Ist-Zustandes und dem, was es in unserer Gesellschaft alles gibt. Eine moralische Bewertung des Phänomens Ego-Shooter muss an anderer Stelle geschehen.

mutter kriegFür mich war darüber hinaus noch der Workshop zum ersten Weltkrieg im Comic interessant. War der Große Krieg  lange Zeit nur in wenigen Publikationen von Hugo Pratt, Jacques Tardi oder Markus Wiedenhöft und Dirk Fastermann ein Thema, so gibt es  momentan doch einige neue Graphic Novels dazu.
Die umfangreichste ist die Gesamtausgabe Mutter Krieg von den Franzosen Kris und Mael, die vor dem Hintergrund der Schlachten an der französischen Westfront einen Kriminalfall inszenieren. In aquarellierten Panales mit zarten Tuschzeichnungen werden die Schrecken des Krieges eindrücklich sichtbar: jugendliche Soldaten, Grabenkämpfe, Panzer, Giftgasangriffe – das Spektrum ist umfangreich in diesem Werk. Leider ist die Übersetzung hier nicht ganz stimmig, was u.a. an den zu aktuellen Schimpfworten oder dem nicht korrekten Ave-Maria zu erkennen ist. Es hat mich schon ein wenig gewundert, dass bei der deutschen Produktion dieses in Frankreich sehr geschätzten Bandes darauf nicht richtig geachtet wurde. Übersetzen ist überhaupt nicht einfach, das weiß ich aus Erfahrung, und ich habe höchsten Respekt vor der Arbeit der Kollegen, doch ein gutes Lektorat gehört einfach dazu, denn kein Übersetzer ist perfekt.
In Sachen Comics zum ersten Weltkrieg muss ich also noch weiterschauen, was sich zu lesen lohnt.

kriegLohnend scheint auf jeden Fall der Erzählband Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen zu sein. Herausgeberin Alexandra Rak hat dafür 15 Autorinnen und Autoren angeschrieben und um eine Erzählung zum ersten Weltkrieg gebeten. So finden sich in diesem Band Gudrun Pausewang, Paul Maar, Kirsten Boie, aber auch Nils Mohl und Nataly Elisabeth Savina als Vertreter der jüngeren Generation und liefern neben ihren Geschichten auch Bilder aus der Zeit von vor hundert Jahren. Diesen Band werde ich mir dieser Tage  genauer anschauen.

Wie es Tagungen so an sich haben: Tutzing war anstrengend und anregend zugleich. Anstrengend, weil „nur“ herumsitzen und zuhören einen ganz schön fordern kann. Anregend, weil meine Hirnfestplatte mit Neuem gefüllt wurde, sowohl durch die hervorragenden Vorträge, als auch durch die Gespräche in den Pausen und am Abend. Meine Leseliste ist um einige Titel angewachsen – und das Thema erster Weltkrieg wird auf diesem Blog noch so einige Male auftauchen. Ganz sicher.

Herbert Günther: Zeit der großen Worte, Gerstenberg Verlag, 2014, 272 Seiten, ab 14, 14,95 Euro

Jürgen Seidel: Der Krieg und das Mädchen,  cbj, 2014, 480 Seiten, ab 12, 16,99 Euro

Kris/Maël: Mutter Krieg, Übersetzung: Marcel Küsters, Splitter Verlag, 2014, 256 Seiten, 39,80 Euro

Alexandra Rak (Hg.): Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen. Erzählungen über den Ersten Weltkrieg, Fischer, 2014, 320 Seiten, ab 12 16,99 Euro

Die Fragen der Mentalität

kriegFiktive Geschichten über den ersten Weltkrieg habe ich bereits hier, hier und hier vorgestellt. Sie lassen die Geschehnisse für junge Leser lebendig werden, können jedoch immer nur Teile einer komplizierten weltpolitischen Entwicklung anreißen.

Einen Versuch, in einem Sachbuch, die Zeitläufte um den ersten Weltkrieg verständlich zu machen, unternimmt Nikolaus Nützel in seinem Buch Mein Opa, sein Holzbein und der Große Krieg. Ausgangspunkt ist für ihn das Schicksal seines Großvaters, der bereits am 24. August 1914 so schwer im Kampf verletzt wurde, dass ihm ein Bein amputiert werden musste. Für die Familie war dies später immer ein Freudentag, denn für den Großvater war der Krieg damit bereits vorbei.

Dass dies natürlich nicht für alle Soldaten galt, schildert Nützel dann im Folgenden ausführlich, gut verständlich und sehr weitsichtig. Er beschränkt sich nämlich nicht nur auf die Jahre 1914-1918, auf Schlachtendarstellungen, Grabenkämpfe und die Not der Zivilbevölkerung, sondern bindet die Ereignisse in die politischen Strömungen ein und zeigt immer wieder deren Einflüsse bis zum 2. Weltkrieg und bis in unsere Gegenwart auf. Vor allem jedoch macht er die Mentalität und die Denkweisen der Deutschen und ihrer europäischen Nachbarn vor hundert Jahren klar.
Fällt es uns heute schon schwer manche aktuelle Überzeugungen zu verstehen, so erscheint uns das Denken von vor hundert Jahren umso fremder und ferner. Nützel jedoch versteht es, genau dieses Denken zu erklären und einzuordnen.

Das, was im Geschichtsunterricht – zumindest so, wie ich ihn noch erlebt habe – ungeklärt und mysteriös blieb und bleibt, wird hier beantwortet. Allen voran die „Hä-Frage“ (großartig!), nämlich wieso der Mord an dem österreichischen Thronfolgerpaar in Sarajevo den ersten Weltkrieg auslösen konnte. Nützel bringt immer wieder sein persönliches Unbehagen und seine Schwierigkeiten mit ein, die Mentalität von damals zu verstehen. Damit begibt er sich auf eine sehr angenehm unprätentiöse Art auf die Augenhöhe der jungen Leser, die all die geschichtlichen Fakten, die Kriegs-Grausamkeiten und die unverständlichen Winkelzüge von Erwachsenen natürlich nicht sofort verstehen können. Und genau diese Erzählweise, die immer dicht an den Wünschen und Ängsten der Menschen bleibt, macht Nützels Buch auch für Erwachsene zu einer erhellenden Bereicherung.

Das Buch Mein Opa, sein Holzbein und der Große Krieg ist mit jeder Menge Bildern, Karten, Original-Dokumenten sowie Glossar, Zeittafel und weiterführender Literatur ausgestattet – und wird damit zu einem überaus vielschichtigen und anregenden Geschichtsbuch, das Lust darauf macht, die Historie genauer zu betrachten.

Nikolaus Nützel: Mein Opa, sein Holzbein und der Große Krieg. Was der Erste Weltkrieg mit uns zu tun hat. Nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2014, Kategorie Sachbuch, arsEdition, 2014, 144 Seiten,  ab 12, 14,99 Euro

Vom Traum zum Trauma

kriegKann man die Kriegsbegeisterung, die vor 100 Jahren dieses Land durchzog den heutigen Jugendlichen noch irgendwie begreiflich machen? Elisabeth Zöller kann. Nachdem ich bereits ihre Bücher über den Nationalsozialismus, die Edelweißpiraten und ihre Faschismus-Parabel vorgestellt habe, reiht sich nun Zöllers Jugendbuch Der Krieg ist ein Menschenfresser über den ersten Weltkrieg hier ein.

Darin schildert sie die Ereignisse zwischen 1914 und 1918 auf zweigeteilte Art. Im ersten Teil erlebt der Leser die Begeisterung der Jungen Ferdinand und August aus Leipzig für den Krieg mit. Die Jungs melden sich freiwillig zum Militär, trotz der Ablehnung der Eltern. Zu groß ist die Lust auf „Abenteuer“. Ferdinand nimmt einen Fotoapparat an die Front mit und macht Bilder – was seinen Vorgesetzten gar nicht gefällt …

Im zweiten Teil erlebt Max 1917 die Schrecken an der belgischen Front und wird von einem wohlmeinenden Vorgesetzten zum Scharfschützen ausgebildet. Doch bei einer Aktion muss er einen Menschen töten, der kein Feind war. Traumatisiert kehrt er noch vor Kriegsende nach Berlin zurück und weigert sich, jemals wieder eine Uniform anzuziehen, sehr zum Unwillen seines Vaters. Seine Freundin Sophie steht ihm in dieser Zeit gegen den Vater und die Vorgesetzten bei, die ihn zur Herausgabe wichtiger Dokumente zwingen wollen …

Mehr möchte ich über den ziemlich spannenden Inhalt nicht verraten. Elisabeth Zöller schafft es nämlich, beide Seiten einzufangen: den Kriegstaumel zu Beginn der Auseinandersetzungen, aber auch die Traumata, die der sinnlose Stellungskrieg und vor allem die absurden Auswüchse von kriegerischen Konflikten verursachen. Geschickt macht sie klar, dass die Darstellung von Krieg in den Medien zumeist nichts mit der Wahrheit vor Ort zu tun hat, sondern dass immer Mächte dahinter stehen, die Einfluss darauf nehmen, wie die Sachverhalte Dritten präsentiert werden. So erklärt sie nicht nur die historische Kriegsführung und die entsprechende Propaganda, sondern verweist auch auf die heutige Medienmacht, der wir nur allzu gern vertrauen.

Wie schon bei dem Edelweißpiraten-Roman Wir tanzen nicht nach Führers Pfeife flechtet Zöller auch hier wieder sehr viele historische Fakten und Begrifflichkeit in den Text ein, die in einem Glossar kurz, manchmal fast zu kurz, erklärt werden. Die Gewalt des Krieges ist zwar präsent, aber anders als beispielsweise bei Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues nicht zu schockierend und zu grausam dargestellt, so dass die Lektüre für Leser ab 14 erträglich bleibt. Das liegt zudem an Zöller schon fast trocken-nüchterner Sprache, die diesem schrecklichen Thema jedoch sehr gut tut, da so der nötige Respekt vor den Toten gewahrt bleibt.

Das Einzige, was mich an dem Buch stört, ist dieses Mal das Cover. Es führt ein wenig in die Irre, da die eigentlichen Protagonisten die Jungen Ferdinand und Max sind, die dem Schrecken des Krieges ins Auge sehen. So bleibt nur zu hoffen, dass sich die Jungs, an die sich dieses Buch durchaus auch richtet, nicht von dem fast verträumten Mädchen abschrecken lassen. Das wäre sehr schade und hätte dieses Buch wirklich nicht verdient.

Elisabeth Zöller: Der Krieg ist ein Menschenfresser, Hanser, 2014, 288 Seiten, ab 14, 15,90 Euro

Nachtrag vom 17.03.2014: Über Facebook wies mich Elisabeth Zöller darauf hin, dass es zu ihrem Buch begleitendes Material von Christine Hagemann gibt, das mögliche Fragen zu den Begriffen ausführlicher erklärt: http://www.elisabeth-zoeller.de/data/content/00000052/_media.00000465.pdf
Herzlichen Dank für den Hinweis!

 

 

Entronnen

kindertransportDie Zeitzeugen, die den zweiten Weltkrieg und vor allem die Judenverfolgung überlebt haben, werden immer weniger. Umso wichtiger ist es, die wenigen, die noch erzählen können, anzuhören. So kann man jetzt die Geschichte der Jüdin Marion Charles nachlesen und zwar in ihrem autobiografischen Roman Ich war ein Glückskind, den Anne Braun souverän ins Deutsche übersetzt hat.

Mit Hilfe von alten Briefen und ihrem Tagebuch erzählt Marion Charles der Schülerin Anna von ihrem Schicksal. Marion wächst in Berlin-Dahlem in einer wohlhabenden Fabrikanten-Familie auf. Die Familie empfindet sich nicht als jüdisch, sondern als durch und durch deutsch. Marions Vater hat im ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft und ist schwer verletzt zurückgekehrt. Das Gebaren der Nazis scheint die Familie zunächst nicht zu betreffen.
Doch mit der Progromnacht vom 9. November 1938 ändert sich alles. Die Familie muss ihre Villa verlassen und in eine kleine Wohnung ziehen. Marion muss sich von Möbeln und Spielzeug trennen. Auch in ihrer alten Schule kann sie nicht mehr bleiben, sie wechselt auf eine rein jüdische Schule. Da die Situation immer bedrohlicher wird, beschließen Marions Eltern, ihre Tochter mit dem Kindertransport nach England in Sicherheit zu bringen.

Marion entkommt den Nazihäschern, bricht aber dennoch in eine ungewisse Zukunft auf. Denn in England wird sie nur scheinbar mit offenen Armen empfangen. Die 12-jährige muss feststellen, dass es den Menschen, die ihr helfen, nicht unbedingt nur um sie geht. So will die erste Frau ihr Image als Wohltäterin in der Gemeinde aufpolieren, die zweite Familie ist auf das Kostgeld angewiesen, das sie für Marions Unterbringung erhält, und in der dritten Station trifft Marion auf eine Antisemitin. Trotz all dieser Widrigkeiten verliert das Mädchen jedoch nie die Hoffnung, ihre Familie wiederzusehen, auch wenn es Jahre dauern soll …

Der Ton in dem Marion Charles ihre Geschichte erzählt ist überaus persönlich und dadurch zutiefst authentisch. Dabei ist sie nicht von Ressentiments oder Hass geprägt, sondern vom Wunsch durchdrungen, gegen das Vergessen zu erzählen. Gebannt verschlingt man dieses Schicksal und sieht so über ein paar strukturelle Schwächen hinweg. So zitiert Charles nämlich anfangs die Briefe der Eltern nicht, und der Leser erfährt nichts von dem bedrohten Leben in Deutschland. Dies ändert sich jedoch im hinteren Teil, so dass eine Ahnung von den Schrecken in Berlin entsteht, aber auch von dem Mut und der Gewitztheit von Marions Mutter, die den Nazis ebenfalls entkommt.

Marion Charles‘ Ich war ein Glückskind ist ein eindrucksvolles Zeugnis einer Facette der Judenverfolgung. Ihre Sehnsucht nach den Eltern berührt. Dafür, dass Marion der Vernichtung entgangen ist, hat sie also durchaus einen Preis gezahlt. Dennoch hält sie sich selbst für ein Glückskind und kehrt später sogar nach Deutschland zurück. An Judith Kerr und Anne Frank kommt Marion Charles zwar nicht heran, doch sie liefert jungen Lesern eine weitere Stimme, die die Geschichte einer jungen Jüdin erzählt, die glücklicherweise überlebt hat. Dass Marion Charles bei all dem nicht verbittert ist, ist wahrscheinlich das Beeindruckendste.

Marion Charles: Ich war ein Glückskind. Mein Weg aus Nazideutschland mit dem Kindertransport, Übersetzung: Anne Braun, cbj, 2013, 224 Seiten, ab 12, 9,99 Euro