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Durch die Hölle

khmerNormalerweise versuche ich immer einen schönen Einstiegssatz für eine neue Rezension zu finden, einen aktuellen Bezug oder etwas, das mit meinem Leben zu tun hat. Bei diesem Buch, Der Tiger in meinem Herzen, dem neuen von Patricia McCormick, fällt mir das gerade unglaublich schwer. Denn mit Kambodscha und den Roten Khmer hatte ich bis jetzt noch nichts zu tun. Aktuell ist das Thema auch nicht gerade, dafür mal wieder ein Gedenkjahr. Denn vor 40 Jahren übernahmen die Roten Khmer die Macht. Grund genug, daran zu erinnern.

Autorin Patricia McCormick tut dies auf eine erschütternde und zugleich mitreißende Art, indem sie die Lebensgeschichte des Human-Rights-Aktivisten Arn Chorn-Pond nacherzählt. Arn war neun Jahr alt, als die Roten Khmer 1975 an die Macht kamen und das Land in eine Art von Agrarkommunismus überführen wollten. Dies taten sie mit aller Gewalt und ohne jegliche Gnade. Schätzungsweise zwei Millionen Menschen verloren ihr Leben. McCormick lässt Arn in der Ich-Perspektive erzählen und das, es sei hier vorweggenommen, ist nichts für zartbesaitete Leser, egal welchen Alters.

Denn Arn hat Dinge gesehen, die man sich kaum vorstellen kann und mag. Beginnend mit der Vertreibung der Bevölkerung aus der Stadt erlebte der Junge, wie die Roten Khmer alle Menschen liquidierten, die ihrer Meinung nach bourgeoise oder Freunde Amerikas waren. Wer auch nur einen Hauch von Bildung besaß, wurde hingerichtet, wer kein Bauer war, wurde hingerichtet, wer nicht genug körperlich arbeitete, wurde hingerichtet, wer den Marsch aus der Stadt nicht durchhielt, Alte, Kinder, Kranke, wurde liegen gelassen oder erschossen. Wer die Fragen der Roten Khmer beantwortete, auf die eine oder die andere Art, wurde hingerichtet. Man konnte es ihnen nie richtig machen.
Arn machte sich unsichtbar, versuchte, nicht aufzufallen. Vielleicht die einzige Möglichkeit, der Willkür zu entkommen. Er arbeitete auf den Reisfeldern, den Killing Fields, in unendlich langen Schichten, die nicht einmal Erwachsene unbeschadet überstehen konnten. Er beobachtete, er sah, wie Kinder fortgebracht wurden und nicht wiederkamen. Er sah die Leichenberge im Mangohain. Und er fiel nicht auf.

Erst als eines Tages Musiker gesucht wurden, meldete er sich. Vielleicht war das seine Rettung. Jedenfalls lernte er die Khim zu spielen und die Machthaber mit ihren Revolutionsliedern zu unterhalten. Doch die Musik, die er zusammen mit anderen Kindern spielte, wurde auch per Lautsprecher auf die Reisfelder übertragen – um das Töten zu übertönen.
Als der Krieg aus Vietnam auf Kambodscha übergriff, fiel Arn wieder nicht auf. Er wurde Kindersoldat, konnte anfangs das Gewehr kaum halten. Er lernte das Töten, wurde selbst zum Roten Khmer und überlebte auch dieses Grauen.
Schließlich gelang ihm die Flucht nach Thailand.

Arns Geschichte ist die Hölle.

Gerade deswegen muss sie erzählt und erinnert werden, zeigt sie doch auf die grausamste Art, was Menschen anderen Menschen antun können. Sie mag zwar 40 Jahre her sein, doch die aktuellen Konflikte auf der Welt beweisen immer wieder, dass der Mensch nicht unbedingt aus der Geschichte lernt. Laut UNO-Angabe kämpfen derzeit etwa 250000 Kindersoldaten auf dem Globus. Jeder einzelne ist einer zuviel. Arns Geschichte zeigt, wie es dazu kommen kann, dass Kinder zu Kanonenfutter, Ködern, willigen Helfern und Mördern werden können. Die Art des Regimes, das dahinter steckt, ist fast schon egal, sobald Kinder dafür missbraucht werden und das Kämpfen für sie die einzige Überlebenschance darstellt.

Bei all dem Elend auf dieser Welt bin ich immer völlig überfordert, wie man Abhilfe schaffen kann. Es zerreißt mir immer schier das Herz, wenn ich so etwas wie von Arn lese – und mir klar mache, dass er gerade einmal ein Jahr älter ist als ich und diese Hölle immer noch in sich trägt. Und die derzeitigen Kindersoldaten in diesem Moment in dieser Hölle leben müssen. Es ist so verdammt fürchterlich.
Umso mehr sei Arn Chorn-Pond und Patricia McComick gedankt, dass sie diese Geschichte erzählen – die übrigens sehr angenehm von Maren Illinger ins Deutsche übersetzt wurde – und so das Bewusstsein sowohl für die Historie als auch für den gegenwärtigen Missbrauch von Kindersoldaten schärfen.

Lest dieses Buch.

Patricia McCormick: Der Tiger in meinem HerzenÜbersetzung: Maren Illinger, FISCHER KJB, 2015, 256 Seiten, ab 14, 14,99 Euro

Den Aufstand wagen

aufstandKaum eine Woche ohne Jahrestage. Heute jährt sich der Aufstand des 17. Juni zum 60. Mal. Jetzt könnte man sich fragen, was die aufwühlenden Tage im Sommer 1953 in der DDR mit Kinder- und Jugendbüchern zu tun hat. Eigentlich nicht viel, denn in diesem Bereich gibt es scheinbar keine aktuellen Publikationen zu diesem Thema. Zwei Bücher sind mir dennoch in die Hände gefallen: Tage wie Jahre von Klaus Kordon aus dem Jahr 1986 und die Graphic Novel für Erwachsene 17. Juni – Die Geschichte von Armin & Eva von Kitty Kahane, der in diesem Frühjahr erschienen ist.

In Tage wie Jahre befasst sich Klaus Kordon sich mit den Zuständen in der DDR von 1953. Es ist der zweiten Teil seiner Trilogie über den Jungen Frank.
Frank, der mit seiner Mutter und seinem Stiefvater „Onkel Willi“ im Prenzlauer Berg lebt, ist das, was man früher als „Lausbube“ bezeichnet hat. Er ist zwar schlau, aber faul in der Schule und wird daher sitzen bleiben. Mit seinem Freund Kalle heckt er zunächst jedoch aus, dass sich die Jungs alle einen „Igel“ schneiden lassen, damit der verhasste Klassenlehrer sie nicht mehr an den Haaren ziehen kann. Während dieses schulischen Mini-Aufstandes braut sich in der Stadt, in der Stalin-Allee, der richtige Aufstand zusammen. Die Bauarbeiter protestieren gegen die erhöhten Arbeitsnormen, gegen die Fehler der SED und die DDR-Regierung. Was zunächst nur ein Protest gegen überzogene sozialistische Ansprüche war, wandelt sich in den Tagen im Juni zu einer politischen Revolte gegen das System.

Frank erfährt davon zunächst nur über einen Bekannten, der in Friedrichshain auf dem Bau arbeitet. Als jedoch der Ausnahmezustand verhängt wird, abends die Sperrstunde erlassen wird und das Gerücht von einem neuen Krieg die Runde macht, hält es den Jungen nicht mehr in seinem Kiez. Zusammen mit Kalle macht er sich auf nach Mitte, zum Alexanderplatz, von dort laufen sie zum Potsdamer Platz – und erleben, wie sowjetische Panzer aufziehen und schließlich tatsächlich Schüsse fallen.

Tage wie Jahre ist ein schmales Büchlein, das im Handel leider nur noch antiquarisch zu bekommen ist, aber Klaus Kordon fängt dort die Stimmung und die Lebenszustände in der DDR acht Jahre nach Ende des zweiten Weltkrieges ein. Die wirtschaftliche Lage im sowjetischen Sektor der Stadt ist prekär, Menschen verschwinden – es heißt, sie sind in den Westen geflüchtet –, andere werden verhaftet, angeblich aus politischen Gründen. Doch noch ist die Grenze in den Westen offen, und auch Frank macht sich an einem Tag auf, um von dort Schmerzmittel für die Mutter zu besorgen.

Klaus Kordons Text ist fast 30 Jahre alt, und das merkt man ihm an der langsamen, betulichen Erzählweise durchaus an. Gleichzeitig spiegelt sich in seiner Sprache das Nachkriegsdeutschland, in dem man Loser noch als „Nulpe“ bezeichnete – ich gebe es zu, ich liebe dieses Wort. Ein bisschen hat mich das an Stups und Lange Latte von Kurt Friedrich erinnert, dasmein Vater als Junge gelesen hat und das ich Jahre später selbst verschlugen habe. Moderne Literatur ist das natürlich nicht, aber das wohlige Gefühl von damals ist geblieben. Ansatzweise habe ich das bei Klaus Kordon wiedergefunden – trotz der dramatischen Ereignisse, die er schildert.

Falls doch noch junge Leser dieses Buch in die Hand nehmen – vielleicht gibt es das noch in gut bestückten Bibliotheken oder Bücherhallen –, werden sie dort auf jeden Fall einen guten Eindruck, über die Zustände in der DDR der 1950er Jahre und die Unterschiede zwischen Ost und West bekommen.
Diese spannende Episode der deutschen Geschichte könnte aber durchaus eine aktuelle Neugestaltung für Kinder und Jugendliche vertragen.

17. juniEin gelungenes Beispiel dafür – allerdings für Erwachsene – ist der Comic 17. Juni – Die Geschichte von Armin & Eva. Er wurde von Kitty Kahane gezeichnet, die Historiker Lahn, Köhler und Mönch haben die Geschichte recherchiert, konzeptioniert und die Texte geschrieben.

Sie erzählen in einem etwas verschachtelten Plot, wie Eva kurz nach der Wende ein Päckchen von Armin bekommt. Der Bote war ein Mitgefangenen von Armin im russischen Arbeitslager Workuta. Er erzählt Eva von Armins Schicksal. Dieser war kurz nach dem Aufstand des 17. Juni verschwunden – verschleppt von der ostdeutschen Polizei, die ihn dann den Russen ausgeliefert hat.

Eva hatte damals ihren Cousin Eddie, einen Reporter aus Westberlin, um Hilfe gebeten und nach Armin suchen lassen. Die beiden wollten heiraten. Eddie macht sich im Stahlwerk Hennigsdorf, im Nordwesten von Berlin im sowjetischen Sektor gelegen, auf Spurensuche. Doch im Stahlwerk trifft er auf eine Mauer des Schweigens. Erst ein Informant, der die Geschichte vom 17. Juni veröffentlicht sehen will, erzählt Eddie, was an den Tagen des Aufstandes im Stahlwerk und in Berlin passiert ist.

Die Verschachtelung der Plot-Stränge hat mich zunächst etwas verwirrt, doch sobald man in die Erzählung von den Streiks im Stahlwerk eintaucht und den Marsch der Arbeiter nach Ostberlin miterlebt, ist man gefangen von den Ereignissen und den kriegsähnlichen Zuständen in Ostberlin.
Vier längere Textpassagen klären über die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR auf – und sie erzählen, dass der Aufstand des 17. Juni bis in das russische Arbeitslager Workuta wirkte. Auch dort traten die Gefangenen in den Streik und verweigerten die Arbeit in den Kohlegruben. Doch dort schlug die Staatsmacht noch gnadenloser zu als in der DDR. Die Aufstände endeten blutig.

Kitty Kahanes stahlblaue Panels mit dem fast krickeligen Strich zeigen wenig bekannte Facetten vom 17. Juni und erweitern so den Horizont in Bezug auf dieses Geschichtskapitel auf eine schön gemachte Art.

Klaus Kordon: Tage wie Jahre, Beltz & Gelberg, 2001/1986, 123 Seiten, ab 10, nicht mehr lieferbar

Kitty Kahane/Alexander Lahl/Max Mönch/Tim Köhler: 17. Juni – Die Geschichte von Armin & Eva, Metrolit Verlag, 2013, 112 Seiten, 15,99 Euro