Strand. Ein kurzes Wort, nur eine Silbe. Doch so verheißungsvoll. Strand – das löst ein Feuerwerk an Assoziationen und Erinnerungen aus. Wie der Duft von Sonnencreme. Erstaunlicherweise sind das Adjektiv und das Verb dazu eher negativ konnotiert: gestrandet, stranden. Merkwürdig. Strand ist auf jeden Fall ein hervorragender Buchtitel. Deshalb hat Ximo Abadia sein wunderschönes Bilderbuch so genannt. Strand steht auf dem Cover in Weiß auf blauem Grund über einer zunächst abstrakt scheinenden Anhäufung von Kreisen in Rot, Grün und Weiß auf sattem Gelb. Mit schwarzen Strichen in Achtel unterteilt, sehen sie aus wie Orangen-, Zitronen- und Limettenscheiben.
Sonne, Möwen und Frühaufsteher
Die Farben sind programmatisch und eine gute Einstimmung: Abadia verwendet sattes Sonnengelb, Rot in Variationen von Orange über Magenta bis Ziegel, sowie Blau, akzentuiert die Farben, kontrastiert und konfiguriert mit Weiß und Schwarz. So erzählt der katalanische Illustrator von allem, was zum Strand gehört. Wie die Umgebung aus Bergen und Feldern. Die Fischerboote. Auch die Anreise und wie man zum Strand gelangt, zeigt er. Erstes Highlight ist eine Doppelseite mit zwei Himmelskörpern und zentralen Protagonisten, Sonne und Möwen, für die eine einzelne stellvertretend auf einem Sonnenschirm steht.
So abstrakt, so lebendig
Gleich kommt die nächste faszinierende Doppelseite mit flächigem Farbauftrag und kräftigem Pinselstrich: Ein breites Stück Sandstrand, ein schmaler Streifen Wasser, dazwischen noch schmaler ein Saum weißer Gischt. Auf der rechten Seite eine einzelne Orangenscheibe wie auf dem Titelbild. »Manche Menschen stehen sehr früh auf, um sich den besten Platz am Strand zu sichern«, steht darunter. Die einzelne Orangenscheibe auf der rechten Seite ist der Sonnenschirm der Frühaufsteher und früh an den Strand Geher, aus der Vogelperspektive. Auf dem nächsten Panoramabild gesellen sich ganz viele Schirme dazu. So reduziert das Bild ist, so lebendig wirkt die Szenerie. Unter den abstrakten Schirmen meint man das Stimmengewirr zu hören, Rufen, Plaudern, Lachen, auch das Meeresrauschen und Möwenkreischen.
Der Cousin der Daltons verkauft buntes Eis
Abadias Humor dagegen ist ganz leise. Liebevoll deutet er die unterschiedlichsten Typen an, abenteuerlustige und zögerliche, wild umhertobende und ruhig abtauchende, sich treibenlassende und lesende Leute. Menschen aller Hautfarben – und Sonnenbrandgrade, wie es scheint. Der Eisverkäufer mit seinem imposanten Schnurrbart sieht aus, als hätte es einen Cousin der Daltons aus Lucky Luke an die See verschlagen, mit einer bunten Eispalette wie ein Farbkasten. Es gibt FKK-Anhänger, Schatzsucherinnen und einen erstaunlich geduldigen Großvater. Strand ist ein Ort auf der Landkarte und im Herzen. Strand steht für Vielfalt, für ein friedliches Nebeneinander, gemeinsame Freude, und, vielleicht könnte man auch sagen, gelebte Demokratie.
Mark Rothko, David Hockney, Ximo Abadia
Und dazwischen immer wieder diese großformatigen, bezaubernden Bilder aus dem Laufe eines typischen Strandtages vom Sonnenaufgang bis zum nächtlichen Sternenhimmel, in die man eintauchen möchte. Mit einem Farbzusammenspiel wie von Mark Rothko. Und einer Feier von Sonnenlicht und blauem Himmel, erfrischendem Wasser und sommerlicher Leichtigkeit wie bei David Hockney. Statt an kleinen Pools spielt sich hier das Leben am richtigen Meer mit Wellen und Sand ab.
Ein Wort, eine fantastische Reise und ein grandioses Vergnügen. Mit diesem Buch lässt es sich aufs Schönste stranden.
Ximo Abadia: Strand, Übersetzung: Sophie Zeitz, Gerstenberg, 32 Seiten, 16 Euro, ab 3 Jahre
Es beginnt wie eine klassische Liebesgeschichte. Wie ein Roman von John Green (außer dessen Welterfolg Das Schicksal ist ein mieser Verräter). Schüchterner Junge verliebt sich in selbstbewusstes, rätselhaftes Mädchen. Ponger ist so fasziniert von dem Mädchen im gelben Regenmantel, dass er mit der S-Bahn in die falsche Richtung fährt. »Im Tunnel hat sich in der Scheibe hinter Henny die ganze Zeit ihre Silhouette gespiegelt, hell umrandet.« So beginnt Nils Mohls außergewöhnlicher Roman Henny & Ponger. Tatsächlich lesen beide Margos Spuren – ein Roman von John Green. Wirklich nur ein Zufall?
Emotionale Verwirrung und andere Katastrophen
Das Mädchen hat eine Aura, silbrig schimmernd, auch ihre Stimme klingt so. Aber was sie sagt, ist sehr ernüchternd. Von zwei jungen Männern nach ihrer Meinung zu Rosen als romantisches Geschenk befragt, antwortet sie: »In einer Welt, in der das Kribbeln im Bauch zur ganz großen Geschichte gemacht wird, kann ich mir das nicht anders vorstellen.« Rumms. Das Mädchen, das barfuß in der S-Bahn steht, setzt nach: »Romantische Liebe lässt Menschen einfach ständig in emotionale Verwirrung und andere Katastrophen stolpern und stürzen.« Ihr Fazit: »Verliebtheit würde ich als extreme Gefahr einstufen.«
Was die Menschen so umtreibt
Entweder diese junge, barfüßige Gräfin ist einfach nur kaltschnäuzig und verkopft und pfeift auf Gefühle – oder sie hat wirklich den Durchblick und eine ganz andere Perspektive, auf das, was die Menschen so umtreibt. Sie und Ponger trennen Welten. Subtil und elegant gibt der Hamburger Autor Mohl erste Hinweise, wohin die Reise geht und was das Geheimnis dieses Mädchens ist. Henny kommt direkt auf Ponger zu, weil sie seine Hilfe braucht. Und steckt ihm ein Mobiltelefon in die Brusttasche seines Arbeitsoveralls. Ponger ist begnadeter Monteur für Flipperautomaten. Quasi ein Pinball Wizard. Instinktiv erkennt er, woran es hakt und haucht den Klassikern neues Leben ein.
Bilder, die zu Orten entstehen
Plötzlich zieht Henny die Notbremse und verschwindet in einer halsbrecherischen Aktion. An der nächsten S-Bahn-Station namens Sternschanze wird Ponger von zwei merkwürdigen Ermittlern befragt. Die Stadtviertel Hamburgs und die Nordseeinsel Amrum spielen auch eine Rolle in Mohls Roman, sie stehen bei Ortswechsel dem Kapitel voran. Wobei Mohl selbst sagt, dass es weniger um Lokalkolorit geht. Mehr darum, welche unterschiedlichen Bilder und Vorstellungen bei den Lesenden entstehen. Anders gesagt: Rothenburgsort ist nicht gleich Rothenburgsort. Schon in Mohls Debüt Es war einmal Indianerland begegnen sich ein Junge aus dem eher prekären Hamburger Osten und ein Mädchen aus den wohlhabenden sogenannten Elbvororten im Westen der Stadt. Nicht nur die Alster trennt ihre Lebenswelten
Kluge Frauen, Flipperautomaten, ein nicht ganz originaler Buick
Neben Henny und Ponger, einer Hansestadt und einer Insel, spielen zwei ältere kuriose, auch mal knurrige und überaus lebenskluge Frauen weitere Hauptrollen in seinem neuen Roman. Was das alles mit Flipperautomaten, Leberflecken und einem nicht ganz originalem Buick Skylark zu tun hat, erzählt Mohl fesselnd und bezaubernd in diesem Roman. Manche nennen es Jugendroman. Mohl sagt dazu, er schreibe Literatur. Nicht Jugendliteratur. Oder wie es im Buch in einer Szene von Ponger gegenüber dem undurchschaubarem Spezialagenten Winotzki heißt: »Erinnern sie sich an ihre Kindheit?« »Wie kommst du darauf? Hat das etwas mit den Büchern zu tun, die du liest?« »Warum sollte das mit den Büchern zu tun haben?« »Jugendbücher. Geschichten über die Wirren der Pubertät, über die Zeit direkt nach der Kindheit.« »Ich glaube es sind tendenziell eher Geschichten über die Zeit direkt vorm Erwachsenwerden, über die Wirren des menschlichen Miteinanders.«
Erwachsene sind kein bisschen schlauer
Besser als Ponger kann man es nicht sagen. In guten Jugendbüchern (sie sollen hier nur einmal explizit so genannt werden) steht alles drin über das Leben, über Gefühle, über Beziehungen. Erwachsene sind kein bisschen schlauer. Sie tun nur so. Und denken einfach nicht mehr soviel darüber nach, haben sich arrangiert, sind ernüchtert oder desillusioniert. Nils Mohl ist es definitiv nicht. Er hat sich die Offenheit, die Neugier und auch Klarsichtigkeit junger Menschen bewahrt. Auch die Lust, Neues auszuprobieren. So veröffentlicht er auch typografisch ausgefallene, illustrierte Gedichtbände. Der experimentierfreudige Verlag mixtvision hat Henny & Ponger ebenfalls eine nicht alltägliche Form gegeben. Ein in jeder Hinsicht außerirdisch guter Roman.
Nils Mohl: Henny & Ponger, mixtvision, 320 Seiten, 18 Euro, ab 14
Bei mir auf dem Schreibtisch hat sich in den vergangenen Wochen, sei es bei meiner Arbeit als Übersetzerin und Lektorin, als auch bei der Suche nach »schönen« Kinderbüchern ein Thema herauskristallisiert: die Angst. Gefühlt leben wir in einer Zeit, in der die Menschen immer mehr Angst haben. Vor Viren oder Impfstoffen dagegen, vor den Auswirkungen der Klimakatastrophe, vor drohenden Kriegen in nicht allzu weiter Entfernung. Die Liste ließe sich beliebig erweitern.
Ein Leben ohne Angst gibt es allerdings nicht und hat es auch nie gegeben. Das Gefühl der Angst ist uns angeboren und erfüllt eine wichtige Funktion, in dem sie uns vor lebensbedrohenden Gefahren schützen will. Nur, dass wir in unserem hochtechnisierten und durchgetakteten Leben voller Ansprüche und Erwartung mittlerweile auch vor Dingen Angst haben, die nicht unbedingt lebensgefährlich sind. Aber wie oft hat man als Erwachsener Angst um den Ruf oder den Job. Menschen wollen dazugehören, denn auch das sichert unser Überleben.
Kindern geht es nicht anders. Nur verfügen sie noch nicht über die Erfahrung, wie sie das unangenehme Gefühl Angst bewältigen können, welche Tricks und Kniffe man anwenden kann, um es wieder loszuwerden. Oder auch hinter die Schatten zu blicken. Aus Erwachsenenperspektive von oben herab zu sagen: »Da ist doch gar nichts« hilft den Kindern nicht. Die Angst bleibt und wird im schlimmsten Fall größer.
Bei der Durchsicht der aktuellen Verlagsvorschauen sind mir dann eine Vielzahl von Neuerscheinungen zum Thema Angst aufgefallen. Daraufhin habe ich mich ein bisschen umgesehen und erst einmal die Bilderbücher aus den vergangenen drei Jahren gesichtet (weiter zurück zu gehen würde das Internet sprengen…). Die Bandbreite bei Bilderbüchern zum Thema Angst ist riesig. Auffallend ist, dass hauptsächlich tierische Akteuere auf die eine oder andere Art gegen ihre Angst ankämpfen, vom Opossum bist zum klassischen Wolf, vom Hasen bis zum Mops, es ist alles dabei. Sogar ein Ents-ähnlicher Baum hilft bei der Angstbewältigung. Mag sein, dass die Angst so weniger Angst macht und die Identifikation leichter fällt. Dazu gibt es in so einigen Büchern Reime und Bannsprüche, die im realen Leben Halt und Hilfe geben können.
Ich habe versucht, die Bücher ein wenig nach Themen zu sortieren. Aber ich erhebe hier natürlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Auch ersetzt die Lektüre nicht eine professionelle psychologische Betreuung, wenn ein Kind unter einer Angst so sehr leidet, dass es davon ernsthaft krank wird. Aber meine kleine Hoffnung ist, dass ihr hier vielleicht Anregungen findet, wie ihr eurem Kind die Angst vor der Angst nehmen könnt. Es gibt hier sehr viel zu gucken, zu entdecken, zum Schmunzeln und zum Lachen. Vor der Angst braucht sich niemand zu fürchten. Sie gehört zu uns, zu unserem Leben dazu. Es ist eine Frage der Einstellung und des Wissens, wie wir ihr begegnen. Und sie dann letztendlich in Mut verwandeln und uns viel mehr trauen. Viel Spaß beim Stöbern.
Sich etwas trauen gegen die Angst
Schon für die kleinsten Leser:innen lässt sich das Gefühl Angst mit Hilfe eines Buches bewältigen. Das Pappbilderbuch Kleiner Angst-Frosch hab doch Mut! von Christine Kugler und Jutta Berend zeigt kindgerechte Alltagssituationen, in denen Angst aufkommen kann: auf der Rutsche, beim Sprung ins Schwimmbecken, abends im Bett oder auf der Bühne beim Chorkonzert. In kurzen gereimten Texten wird die Situation erklärt und Hilfe in Form von Freunden, Taschenlampe oder Mitsingenden geboten. So überwindet Frosch Ferdi schließlich seine Angst. Und jede kleine Leser:in erfährt schon hier, dass Angst etwas ganz Normales ist.
Angst versus Mut treffen unmittelbar im Wendebuch von Andrea Schütze und Stéffie Becker aufeinander: Ich trau mich/Ich trau mich nicht. Das mutige Orang-Utan-Mädchen Olivia und der ängstliche Tiger Jonte leben im Urwald und wüschen sich eigentlich nur einen Freund, ganz für sich. Die Elternteile können den beiden dabei nicht besonders gut helfen, ermuntern den jeweiligen Spross aber, auf die Suche zu gehen. Olivia und Jonte begegnen dem Krokodil Rokko, der sich als Freund anbietet. Allerdings unter der Bedingung, dass die beiden eine Mutprobe bestehen sollen … Das Gegenüber der unterschiedlichen Charaktereigenschaften der Figuren lässt kleine Leser:innen sicher über die Vielfalt im Leben nachdenken. Die identische Reaktion von Olivia und Jonte auf die Mutprobenfrage von Rokko macht ihnen jedoch auch klar, dass Freundschaft nicht unter Bedingungen geschlossen werden kann – und es mitunter sehr mutig ist, Nein zu sagen.
Die Neuausgabe von Valeri Gorbachevs Nur Mut, kleine Küken! ist im Grunde ein Klassiker von 2001 und begleitet zwei Kükengeschwister bei ihrem ersten Besuch auf den Spielplatz. Alles ist groß und scheinbar gefährlich: die Wippe mit den Hundekindern, das Karussell mit den Ferkeln drauf, die Schaukeln, die von den Kätzchen besetzt sind. Die anderen Tierkinder sind nett und fragen die Küken, ob sie mitmachen wollen, doch die beiden antworten stets: »Danke, aber dafür sind wir noch zu klein.« Man kann es ihnen nicht verdenken… Doch als der Biberjunge auf der Rutsche Verständnis für ihre Angst zeigt (er hatte beim ersten Mal auch Angst) und mit ihnen gemeinsam rutscht, überwinden die beiden ihre Scheu. Die nicht Verurteilung von Angst, das Verständnis der anderen und die Hilfsbereitschaft, die knuffige Tierfiguren hier zeigen, fördern auch bei den Betrachter:innen den Mut, sich auf neue Abenteuer, sei es auf dem Spielplatz oder sonst wo im Leben, einzulassen.
Der kleine rote Drache mit den niedlichen Flügeln traut sich nicht – zu fliegen. Obwohl das doch genau das ist, wozu er geboren ist, finden die großen Tiere wie Fuchs, Hase und Dachs. Allein Mama Drossel verteidigt den Ziehsohn: »Ach, das macht er schon noch, wenn die Zeit gekommen ist.« Bis dahin entdeckt der kleine Drache die Moosrutsche auf dem Baumstamm, malt Bilder in den Sand, betrachtet hübsche Blumen. Alle Versuche seiner tierischen Genossen, ihn zum Fliegen zu bewegen, bringen nichts. Bis er es eines Nachts selbst ausprobiert … Neben der Bewältigung der Furcht vor einer zu erlernenden Fähigkeit, geht es in Ein komischer Vogel traut sich was von Michael Engler und Joëlle Tourlonias auch um das Aushalten von gesellschaftlichem Druck. Alle erwarten etwas, drängen den kleinen Drachen förmlich – doch nur die Ziehmutter hat im Blick, dass jedes Wesen seinen eigenen Rhythmus hat und Zeit braucht. Ein Mutmachbuch für kleine Leser:innen der besonderen Art, ganz im Sinne: Kommt Zeit, kommt Mut.
Tiere gibt es im psychologischen Bilderbuch Muträuber von Johannes Traub, Wiebke Alphei und Suse Schweizer nicht: Dafür sind die Räuberbrüder Hugo und Zugo ziemlich verschieden. Hugo ist eher der angstfrei Draufgänger, Zugo der ängstlich Zurückhaltende. Zugo möchte gern mutiger sein, weiß aber nicht, wie er das anstellen soll. Der Räubervater gibt ihnen den Tipp, sich Mut zu räubern. Und Mut findet man da, wo Angst ist … und so stellt sich Zugo seinen Ängsten (der großen Rutsche, Radfahren). Hugo unterstützt ihn dabei, so dass auch Zugo sich schließlich traut. Geschickt sind hier im Text verschiedene Arten von Angst und ihre körperlichen Merkmale eingebaut. Die bestärkende Art von Hugo gegenüber dem Bruder zeigt den Lesenden, wie bei Kindern Ängste abgebaut werden sollten. Die Variante, dass hier nur Jungs und der Vater auftreten, macht das Buch zu einer perfekten Vater-Sohn-Vorlesegeschichte.
Mitmachbücher
Konkrete Strategien, wie Kinder mit ihren Ängsten umgehen können, liefern Nanna Neßhöver und Eleanor Sommer in Wenn ich ängstlich bin. Murmeltier Mumm verlässt seinen Bau und ist plötzlich einsam und bekommt Angst. Bär, Luchs, Mauerläufer und Steinbockmädchen machen ihm vor, wie sie ihre Angst wegbrummen, weghopsen, sich groß machen oder sich schöne Orte vorstellen. Mumm probiert das alles aus und findet schließlich das, was er am besten kann: pfeifen.
Mit kleinen Aufforderungen im Text werden die Kinder beim Betrachten der Bilder animiert, beispielsweise auf die Blüten zu tippen, über einen Stein zu streichen oder sich ihren Lieblingsplatz vorzustellen. Die Macherinnen zeigen den Kids durch süße Bilder und einfache Texte, wie sich die Angst körperlich zeigt (zittern), wofür sie gut ist (Warnung) und wie sie damit umgehen können (atmen, vorstellen, hopsen). Das Abenteuer von Mumm hat Unterhaltungswert und hilft Kindern und Eltern gleichzeitig mit alltäglicher Angst umzugehen.
Ähnlich geht es in dem Mitmachbuch Nur Mut, kleiner Schmollmops von von Lucy Astner und Alexandra Helm zu: Der Mopswelpe hat vor seinem ersten Tag in der Möpschen-Spielgruppe ein ganz seltsam kribbeliges Gefühl im Bauch. Mops-Eltern und -Großeltern konstatieren dem Nachwuchs Angst und reden ihm Mut zu. Doch wie wird man mutig? Hilfe naht durch Specht, Hamster, Dachs und Katze. Jedes Tier bringt dem kleinen Mops eine Entspannungs-Mutmach-Technik bei, die die kleinen Leser:innen dem Schmollmops aktiv vormachen sollen. Da wird geklopft, Katzenbuckel gemacht, die Backen aufgeblasen und durchgeatmet. Der Trick, den Kindern so ein paar Entspannungskniffe beizubringen, ist entzückend, bedarf aber sicher mehr als eine Lektüre, um alles wirklich zu verinnerlichen. Am Ende merkt der Schmollmops, dass es in der Spielgruppe gar nicht schlecht ist und er einfach seinem Herzen folgen sollte.
Angst vor Unbekanntem
Angst hat immer auch etwas mit dem Unbekannten, dem Fremden zu tun. Darum geht es in Jessica Meserves Die Welt da draußen. Die Betrachtenden tauchen ein in die Welt der Kaninchen, die am liebsten zu Hause und mit ihresgleichen zusammen sind. Am liebsten futtern sie Möhren und haben es gern kuschlig warm in ihrem Bau. Das Helden-Kaninchen gerät beim Ausrupfen eines leckeren Mörchens, das ein klein wenig außerhalb des bekannten Gefildes wächst, ins Neuland. Es kullert in ein unbekanntes Loch und erlebt ganz unkaninchenhafte Dinge wie Nasswerden und Luftanhalten. Auf seiner Reise begegnet es einem Tier mit Krallen und Haaren, vor dem Kaninchen immer gewarnt wurde. Kaninchen steht böse Ängste aus. Doch das Nicht-Kaninchen ist gar nicht schlimm, im Gegenteil, es versorgt Kaninchen mit lecker Essen … Und so kommt Kaninchen auf den Geschmack, dass es auch noch was anderes im Leben geben kann. In einem Baum, auf den es ganz unkaninchenhaft klettert, findest es Freunde mit Federn, Schuppen, Hörnern oder Hufen – und von allen kann es etwas lernen … Diese neue Häschen-Schule ist quasi ein Plädoyer für eine bunte Gesellschaft, in der wir alle von anderen sehr viel lernen können. Der Angst vor dem Fremden, dem vermeintlich Gefährlichen, wird hier eine charmante Absage erteilt – und tut uns allen gut.
Schon ganz junge Bilderbuchbetrachter:innen nimmt der kleine Bär, ein Puh-der-Bär-Look-a-like, mit auf einen Weg gegen die Furcht. Nach dem Besuch bei Großvater Bär geht der kleine Bär allein, aber mit einer Laterne in der Pfote nach Hause. Im Wald hört er immer wieder unheimliche Geräusche und findet kleine Tierkameraden, die sich im Dunkeln fürchten. Mit dem titelgebenden Mantra »Ich habe ein Licht und fürchte mich nicht!« nimmt er die Freunde mit und so gelangen alle schließlich sicher nach Hause. Gerade dieser Reim, den auch kleine Kinder ganz rasch behalten, wirkt wie eine erhellende Ermutigung. Der blau gehaltene Nachtwald mit den Augen, den versteckten Tierchen und deren süßen Behausungen (genau hinschauen!) machen das Buch von Brigitte Weninger und Laura Bednarski zu einer Lektüre voller Überraschungen.
Auf eine Reise oder einen Weg begibt sich auch die Ente. Zusammen mit der Maus macht sie sich in Wird schon schiefgehen, Ente! von Daniel Fehr und Raphaël Kolly auf, den Biber an seinem neuen Damm zu besuchen. Nur plagen die Ente unzählige Alltagsängste: Man könnte sich verlaufen, sich im Regen erkälten, verhungern oder verdursten. Zum Glück hat die entspannte Maus Proviant dabei und erträgt die schwarzseherische Ente mit einer bewundernswerten Gelassenheit. Und plötzlich sind die beiden am Ziel – und nichts ist passiert. Dieser sommerlich orangefarbige Reisegeschichte ist im Grunde der Monolog der ängstlichen Ente. Die Maus reicht ihr zu essen und zu trinken und lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Auch so kann man oder sollte man Ängsten von anderen vielleicht begegnen: Nicht viel sagen, sondern einfach weitermachen. Das Ergebnis ist überzeugender als jede Erklärung.
In einem tiefen, aber wunderbar bunten Wald treffen in Ab hier kenn ich mich aus von Andrea Schomburg und Amrei Fiedlerein ein Menschenkind und ein Baumwesen, das erstaunlich an die Ents aus »Herr der Ringe« erinnert aufeinander. Das Kind hat sich verlaufen, findet den Weg nicht mehr. Dazu die unheimlichen Geräusche, das Geraschel, Gepiepse, Geheule und Geklopfe. Der Baum erklärt und zeigt, und gemeinsam finden sie den Weg aus dem Wald und gelangen in die Stadt mit den vielen Menschen, Häusern, Autos, der Enge, dem Gerumpel. Nun erklärt das Menschenkind und findet den Weg nach Hause wieder. Andrea Schomburg reimt was das Zeug hält und öffnet die Augen für die Schönheit der schützenswerten Natur, auch in der Stadt. Der Angst des Kindes im Wald setzt sie die Angst des Baumes in der vollen Stadt entgegen und zeigt, dass die Angst verschwindet, sobald man sich besser auskennt und gewisse Regeln (die Ampel) beachtet.
Angst vor Gewitter
Die Angst vor dem Naturphänomen Gewitter findet sich aktuell in zwei Bilderbüchern. In Da liegt was in der Luft von Malin Hörl wohnt Svea mit ihren zwei Schwestern, Mama und Papa irgendwo auf dem Land, als ein Sommergewitter aufzieht. So ein richtig heftiges. Die Mädchen sind leicht panisch, ziehen im Haus die Stecker aus den Dosen. Aber Papa bleibt cool, erklärt wie man Schutz sucht und die Entfernung des Gewitters berechnet. Dann schmiert er Erdnussbutterbrote und vom geschützten Balkon beobachten Vater und Töchter das Naturspektakel, mit ganz viel Respekt. Dieser und die gelassene Zugewandtheit des Papas bewirkt, dass Svea schließlich sagt: »Ich mag Gewitter.« Die gemeinsame Lektüre und das Betrachten der warmfarbigen, aber sturmbewegten Bilder kann kleinen Menschen vielleicht die Gewitterangst nehmen.
Auch Hibiskus, der Hase, findet Gewitter nicht gerade toll. In Hase Hibiskus und das grausige Gruseln von Günther Jakobs und Andreas König freut sich der Langohrheld auf einen geruhsamen Abend mit Kakao, doch stattdessen zieht ein Gewitter auf und der Strom fällt aus. Allein im Dunkeln ist es ganz schön gruselig. Schaurige Geräusche dringen von außen ins Haus, dunkle Schatten sind zu sehen, Monster schauen durchs Fenster. Doch glücklicherweise sind es lauter Freunde von Hibiskus, die nach und nach vom Gewitter überrascht bei ihm Unterschlupf suchen. So füllt sich das Hasenhaus mit Maus, Bär, Esel, Uhu und Schlange. Und gemeinsam bei einem Becher Kakao sind sich die Freund einig: »Und gruselt dich auch mal etwas, hab keine Angst, wir klären das.« Genaues Hingucken hilft also gegen Angst, erfahren kleine Leser:innen hier – und Kakao im Warmen ist bei Gewitter ein Seelentröster.
Dunkelheit und Schattenwesen
Die generelle Angst vor der Dunkelheit thematisiert das künstlerische Bilderbuch Louisa und die Schattenmonster von Liliane Steiner. Louisas Eltern haben sich für das Mädchen einen Bannspruch ausgedacht, damit es im Dunkeln keine Angst mehr hat: »Feenschmalz und Kräutersalz, lässt verschwinden von allein, Geister, Monster und Gebeine.« Dazu wird Glitzerstaub verstreut. Dennoch wird Louisa mulmig, wenn das Licht aus ist. Die Schatten an der Wand sind einfach unheimlich. Licht und Zauberspruch helfen ihr zunächst. Doch auf dem Weg in die Küche begegnen ihr noch mehr gruselige Schatten… Die Künstlerin arbeitet geschickt mit den Schatten von Alltagsdingen. So werden Holzlöffel, Spaghettizange und Kelle zu einem Skelett, Kehrblech, Handbesen und Wischeimer zu einem Teufel. Die Seiten sind dem Setting entsprechend dunkel gehalten, was für kleine Betrachter:innen spannend sein kann. Louisa enttarnt die Schattenmonster und verliert ihre Angst. Auf dem Vorsatz sind Beispiele für Schattenspiele mit den Händen zu sehen, die sofort zum Nachmachen animieren und die Verwandlung von verschränkten Fingern zu mehr oder minder gefährlichen Tierschatten veranschaulicht.
Die Angst vor der Dunkelheit findet in Hab keine Angst, kleines Dunkel von Peter Vegas und Benjamin Chaud eine reizvolle Umkehrung: Das kleine Dunkel hat nämlich Angst vor dem Licht. Es versteckt sich in Schubladen, unterm Bett und traut sich erst vor die Tür, wenn die Sonne weg ist. Das Dunkel bleibt die ganze Nacht wach, damit die Kinder ruhig schlafen können, auch wenn es selbst dann nichts erlebt. Dafür lieben Fledermäuse und Sterne das Dunkel. Dunkelheit kommt hier als ein sehr sympathisches und wichtiges Element in unserem Leben daher. Es wird Kindern, die sich davor fürchten, wie ein guter Freund präsentiert, dem man durchaus mal »Hallo« sagen kann. Nach dieser Lektüre können junge Leser:innen dem Dunkel mit ganz anderen Augen begegnen.
Ganz anders geht es in der folgenden Geschichte zu: Eines sonnigen Morgens entdeckt Hase, dass etwas nicht stimmt. Da war plötzlich noch jemand: Schwarzhase. Und ganz gleich, was Hase tat – rennen, verstecken, schwimmen – Schwarzhase verfolgte ihn und machte ihm Angst. Erst im dunklen Wald hat er Ruhe vor Schwarzhase. Bis ihn der Wolf zu jagen beginnt. Als Hase aus dem Wald in die Sonne rennt, passiert es … Das Schattenspiel in Philippa Leathers Bilderbuch Schwarzhase verdeutlicht die Funktion von menschlichen Ängsten schon für ganz kleine Leser:innen. Sie sind immer bei uns, aber sie schützen uns vor lebensbedrohlichen Gefahren.
Von Träumen und Albträumen
In der Dunkelheit kann es sein, dass wir von bösen Träumen belästigt werden. So er geht es Anton in Ben Furman und Mathias Weber Buch Antons Albtraum. Er soll bei Oma schlafen. Aber Anton hat in letzter Zeit immer wieder Albträume und kann nur schwer einschlafen. Oma weiß nichts davon und die Eltern vergessen, es ihr zu erzählen. Als Anton ihr selbst davon erzählt, sagt Oma: »Es gibt gar keine Albträume.« Aus dieser überraschenden Aussage entsteht ein Gespräch über Antons Albtraum. Oma nimmt die Bilder aus Antons Traum auf und erzählt dazu eine Geschichte mit einem schönen Ende. Die Beschäftigung damit hilft Anton, ohne Angst einzuschlafen. Nicht alle Albträume sind natürlich so »harmlos« wie Antons, daher erläutert Autor und Psychologe Ben Furman in einem Nachwort, wie Eltern damit umgehen können, wenn ihre Kinder etwas wirklich Erschreckendes erlebt oder gesehen haben. Offene Gespräche über das Erlebte oder Geträumte, das Malen von Bildern oder die Besuche von Orten oder Einrichtungen, die im Traum eine Rolle spielen, helfen den Kindern bei der Verarbeitung. Dieses Buch liefert eine wunderbarer Idee dafür.
Fantasie und Wirklichkeit treffen auf eine leichtere Art im Buch Timo kann was Tolles von Nikola Huppertz und Tobias Krejtschi aufeinander. In seinen Träumen ist Timo mutig, fliegt, hat keine Angst vor Dschungeltieren oder fährt große Feuerwehrautos. Doch tagsüber im Kindergarten schafft er es nicht hoch zu schaukeln, hat Angst einen Regenwurm zu streicheln und seine Bilder sehen aus wie Krikelkrakel. Die anderen Kinder lachen ihn aus. Bis auf Ava. Erst als sie Timo fragt, ob sie etwas zusammen machen wollen, erkennt Timo seine besondere Gabe. Und auf einmal fallen ihm zusammen mit Ava die Dinge ganz leicht. Träum können also wahr werden, wenn Kinder den Mut aufbringen, sich anderen anzuvertrauen. Gemeinsam ist man stärker und kann gewissen Hindernisse überwinden.
Angst als Freundin
Dass wir der Angst anders begegnen können, thematisieren zwei sehr ähnliche Bücher. In Mirjam Zels erdig-pastelligem Bilderbuch Fast wie Freunde geht es um das Mädchen Sophie. Sie wohnt in einer ganz normalen Stadt, in der die Leute sich zwar grüßen, aber nicht so genau hinschauen. Was sie nicht genau sehen, ist zunächst nicht erkennbar. Nach und nach wird klar, dass Sophie eine schwarze Last mit sich herumschleppt: ihre Angst. Sie hat Angst auf den Baum zu klettern oder im Teich zu schwimmen. Niemand versteht, was mit ihr los ist. Erst als sie ganz allein ist, entdeckt sie ihre Angst – und stellt fest, dass sie eigentlich gar nicht so schlimm ist. Sophie ändert ihre Taktik: Statt die Angst einfach herumzuschleppen, nimmt sie sie wie eine Freundin an die Hand und zeigt sie den Menschen in der Stadt. Und nun ändert sich etwas: Sophie erkennt, dass die Angst manchmal ganz sinnvoll ist – als Warnung vor Gefahren –, sie aber oftmals gar nicht nötig ist. Ihr Beispiel steckt an und so zeigen nun auch die anderen Menschen ihre Ängst und alle werden irgendwie netter zueinander. Mut zur Angst ist hier das wichtige Thema. Denn kein Mensch ist ohne Angst. Sie macht uns menschlich. Die eigene Angst zuzugeben, zu ihr zu stehen macht vielleicht angreifbar, aber das Zusammenleben gestaltet sich freundlicher, wenn wir für andere Verständnis entwickeln.
Francesca Sanna, die hierzulande mit ihrem Buch Die Flucht bekannt wurde, verarbeitet in diesem künstlerischen Bilderbuch in ähnlicher Weise ihre eigenen Ängst. Sie zeigt ein Mädchen, das ihre Angst als weißes Knuddelmonster immer dabei hat. Diese Angst ist mal kleiner und mal größer, oft beschützt diese Angst das Mädchen. Doch als es in ein neues Land kommt, in dem sich das Mädchen nicht wohl fühlt, wird diese Angst riesengroß. Sie stellt sich zwischen das Mädchen und die neuen Mitschüler:innen, sie verhindert, dass das Mädchen mit anderen reden kann, sie zerrt das Mädchen immer gleich wieder nach Hause. Erst als ein Junge aus ihrer Klasse ihr etwas zeigt und später beim Spielen seine eigene Angst offenbart, wird die Angst des Mädchens wieder kleiner. Die Darstellung der Angst als Barbapapa-förmiges Etwas entspricht der von Mirjam Zels in Fast wie Freunde. Die Beherrschung von Angst durch die Hilfe eines Freundes ist auch hier eine wichtige Botschaft.
Märchen reloaded
Seit Rotkäppchen und der Wolf ist dieses wunderbare Tier zu einem Angstsymbol geworden – völlig zu Unrecht. Er bietet sich trotzdem immer wieder an, die Angst zu illustrieren oder damit zu spielen. Ein herrliches Spiel mit diesen Stereotypen ist das Bilderbuch von Jan De Kinder: Keine Angst, Großer Wolf. Schon der Titel könnte stutzig machen: Warum wird der Große Wolf angesprochen? Das zeigt sich auf der ersten Doppelseite: Der kleine Wolf geht mit dem großen Papa Wolf in den Wald. Der kleine marschiert voran, der große mit angstvoller Schnauze hinterher. In farblich schön reduzierten Bildern lockt der Wolf-Sohn den Vater durch das Unterholz, erklärt, was für Geräusche zu hören sind, was es so zu sehen und zu riechen gibt. Bis die zwei tatsächlich jemandem begegnen und der große Wolf reiß aus nimmt. De Kinder spielt geschickt mit dem Märchen von Rotkäppchen. Er löst Ängst durch genaues Beobachten auf. Gleichzeitig zeigt er Kindern durch die Umkehrung der Vater-Sohn-Rolle, dass sie mutiger sein können als der Papa. Und nimmt am Ende das psychologische Trauma des Vaters aufs Korn – was für erwachsene Vorleser:innen eine sehr amüsante Pointe darstellt.
Das angebliche Angsttier Wolf schwebt auch in Myriam Ouyessads und Ronan Badels Der Wolf kommt nicht, quasi über allem. Hasenmutter bringt hier ihr Hasenkind ins Bett, das ständig fragt: »Bist du ganz sicher, dass der Wolf nicht kommt?« Hasenmutter beruhigt mit allen möglichen Argumenten: Es gibt keine Wölfe mehr, sie leben weit weg im Wald, ein Wolf kommt nicht in die Stadt, im Verkehr würde er nicht überleben und so weiter. Häschen versteckt sich derweil unter der Decke, schaut erschreckt. Die Hasenszenen mit dem Text finden sich immer auf der linken Seite, während rechts der Wolf in den verschiedenen Situationen gezeigt wird und immer näher kommt. Als sich Häschen scheinbar beruhigt hat und das Licht aus ist, klingelt es an der Tür … Die Auflösung ist so charmant, die müssen die Lesenden selbst herausfinden. Der Twist, den die Geschichte dadurch bekommt, ist absolut Angstvertreibend.
Ein weiteres Spiel mit Märchenklischees ist Prinzessin Riesenmut von Rachel Valentine und Rebecca Bagley. In knallbunten Illus machen sich die drei Prinzessinnen-Schwestern Thea, Juno und Liliy entgegen dem Verbot ihres Königs-Großvaters auf, den Riesen zu suchen. Dieser hat das Land verwüstet und treibt sein Unwesen. Angst kennen die drei scheinbar nicht: der Zauberwald schreckt sie nicht. Die Spinnen, die darin hausen, setzen sie geschickt außer Gefecht. Eine kaputte Brücke über eine Schlucht überqueren sie mit Kreativität. Und schließlich holen sie den Riesen ein, verschnüren und verhaften ihn. Ein klärendes Gespräch liefert dann die Erklärung für das zerstörerische Verhalten des Riesen … und alles wird gut. Der Mut der Prinzessinnen und ihr resolutes, aber auch einfühlendes Vorgehen räumt gehörig mit dem Image von braven Prinzessinnen auf, die auf ihren Prinzen warten und sich ihm unterwerfen. Die moderne Prinzessin trägt Kopfhörer und Sneakers, fährt Rollerskates, ist mit technischem Gerät ausgestattet und tanzt durchs Leben, ohne sich von schissigen Rittern Angst machen zu lassen. Die coolen Prinzessinnen geben vorzügliche Rolemodels ab.
Ängste im Alltag
Manchmal ist es natürlich auch so, dass wir mit der Angst leben, sie in unseren Alltag integrieren müssen. Wie so etwas entspannter geht, zeigt Kommt Zeit, kommt Opossum von Jennifer Black Reinhardt, das im April erscheint. Wenn Opossum Alfred Angst hat, erstarrt es und stellt sich tot. Das ist jedoch nicht besonders hilfreich in der Schule oder beim Sport. Freunde hat er so auch nicht gefunden. Doch dann lernt er Sofia, das Gürteltier, kennen. Sie rollt sich immer zu einer Kugel zusammen, wenn sie sich erschrickt. Die Erkenntnis der beiden, dass sie etwas gemeinsam haben, entspannt die Lage schließlich. Immer wenn der eine erstarrt oder die andere sich zusammenrollt, wartet er oder sie einfach ab. Und mit der Zeit passiert es ihnen immer seltener. Stattdessen entdecken sie, dass auch die anderen ihre Ängste habe: der Krake versprüht schwarze Tinte, die Schildkröte versteckt sich im Panzer, die Ziege fällt auf den Rücken. Doch mit Geduld und Verständnis weitet sich so ihr Freundeskreis aus. Die Verteidigungs- und Schutzmechanismen aus der Natur hat die Autorin für diese charmante Geschichte genutzt, um zu verdeutlichen, dass alle Menschen Ängste haben – und sogar die Tiere. Die Hilfe gegen die Angst liegt hier im Verständnis, das wir anderen gegenüber aufbringen sollten.
Auch Igel können Angst haben und bekanntermaßen rollen sie sich bei Gefahr zu stachligen Kugeln zusammen. Bei Autos haben sie damit leider nicht viel Glück. Doch in Britta Teckentrups Ich hab doch keine Angst! entgehen der große und der kleine Igel diesem Schicksal. Die beide Stacheltiere verleben einen schönen Tag zusammen, aber auch hier gibt es immer wieder Momente, in denen sie Angst haben könnten: der dunkle Keller, Geräusche im Wald, der Fuchs, das herannahende Auto, der Nebel. Dabei hat der große Igel genauso wie der kleine Igel Angst. Der Lütte behauptet jedoch steif und fest: »Ach was, ich hab doch keine Angst!« – was nicht immer ganz stimmt. In poetischen Illustrationen erleben die Betrachtenden hier, dass auch Erwachsene Ängst haben und damit umgehen müssen. Die Hilfe der befreundeten Katze verschafft den beiden Igeln schließlich einen guten Tagesabschluss.
In Kate Hindleys und Pamela Butcharts Buch Mika und das mutigste Mädchen der Welt hat der Titelheld Mika Angst vor allem: verbranntem Toast, komischen Socken, entlaufenen Dinos, zu knusprigen Keksen, bösen Eichhörnchen. Er benutzt keine Reißverschlüsse mehr, weil die ja klemmen könnten. Und am schrecklichsten ist der Wind, der ihn wegwehen könnte. Als Mika die unbeschwerte Emily trifft, die immer sagt: »Was soll schon passieren?«, erwacht sein Beschützerinstinkt. Doch da passiert’s: Der Wind bläst ihn davon, über Schnee und Meer zu den Piraten, bis ein Hubschrauber ihn rettet. Mika merkt, dass das alles gar nicht so schlimm ist und sogar Spaß machen kann. Und so wird er genauso mutig, wie das mutigste Mädchen der Welt. Gleichzeitig machen er und das Emily den jungen Leser:innen Mut, Dinge einfach mal auszuprobieren, denn: Was soll schon passieren?
Der Klassiker
Momentan ist auch wieder ein Klassiker der der psychologischen Bilderbücher zum Thema Angst auf dem Markt: Susi Bohdals Selina, Pumpernickel und die Katze Flora. In Neuauflage ist er seit vergangenem Jahr wieder zu haben. In schwarzweißen Federzeichnung erzählt Bohdal die Geschichte von Selina, die sich mit der Maus Pumpernickel anfreundet. Pumpernickel hat jedoch Angst vor der großen Katze Flora, der besten Mäusefängerin der Stadt. Als Selina sich zwischen Flora und Pumpernickel stellt, wird Flora wild und verfolgt das Mädchen. Immer größer wird die Angstkatze, während Selina mit der Maus vor ihr flieht. Eindrucksvoll ist die Katze auf den Illus irgendwann größer als die Häuser der Stadt. Pumpernickels Rat: »Du musst gegen sie laufen und ihr fest in die Augen sehen!« Selina nimmt allen Mut zusammen und wendet sich der Katze zu. Sie blickt ihr in die Augen. Und so wird Flora wieder kleiner. Natürlich merkt man diesem Buch sein Alter an. Illustrationen und Erzählstil haben eben schon 40 Jahre auf dem Buckel. Doch die Message gilt immer noch: Sich der eigenen Angst stellen, ihr in die Augen zu sehen, das kann helfen.
Das Sachbuch
Fiktive Geschichten können mit bunten Bildern, knuffigen Figuren und aufregenden Abenteuern bei der Angstbewältigung eine Form von Hilfe sein. Aber auch sachliche Texte, die zur Reflexion anregen, sind natürlich nicht zu unterschätzen. Ein solches Sachbuch ist Hey, du bist großartig von Karen Young und Norvile Dovidonyte, in dem es um Angst, Mut und die besonderen Fähigkeiten von kleine Menschen geht. Karen Young erklärt in einfachen Sätzen, was es mit unseren Angst-Gefühlen auf sich hat, welche Rolle das Gehirn dabei spielt und wie wir es trainieren oder verändern können. Bestärkende Gefühle und Gedanken können die Kinder quasi zu Superhelden machen, so dass sie in sich den Mut finden, schwierige Dinge zu meistern – beispielsweise vom Sprungturm im Schwimmbad zu springen. Young zeigt den jungen Lesenden, wie sie ihre Aufmerksamkeit auf das Hier & Jetzt lenken können, wodurch die Angst ebenfalls verschwinden kann. Sie fördert die Kinder in ihrer Kreativität und ihrer Entdeckerlust, unterstützt sie bei Entscheidungsfindungen. Dieses bestärkende Buch spricht die Kinder direkt als »du« an, kommuniziert also auf Augenhöhe und gibt ihnen das Gefühl, dass sie wichtig und eben großartig sind. Ein paar einfache Achtsamkeitsübungen schließen den Text ab und hinterlassen ein wohliges Gefühl.
Christine Kugler: Kleiner Angst-Frosch, hab doch Mut!, Illustration Jutta Berend, Penguin Junior, 2022, 12, Seiten, ab 2, 9 Euro Andrea Schütze: Ich trau mich/Ich trau mich nicht!, Ein Wendebuch, Illustration: Stéffie Becker, Ellermann, 2022, 52 Seiten, ab 5, 15 Euro Valeri Gorbachev: Nur Mut, kleine Küken!, Übersetzung: Christiane Jung, NordSüd, überarbeitete Neuausgabe 2022 (2001), 40 Seiten, ab 4, 15 Euro Brigitte Weninger: Ich habe ein Licht und fürchte mich nicht!, Illustration: Laura Bednarski, Annette Betz, 2019, 32 Seiten, ab 4, 14,95 Euro Michael Engler: Ein komischer Vogel traut sich was, Illustration: Joëlle Tourlonias, Annette Betz, 2020, 32 Seiten, ab 3, 14,95 Euro Johannes Traub/Wiebke Alphei: Muträuber. Hugo und Zugo besiegen die Angst, Illustration: Suse Schweizer, Balance, 2020, 40 Seiten, ab 3, 17 Euro Nanna Neßhöver: Wenn ich ängstlich bin, Illustration: Eleanor Sommer, Carlsen, 2022, 40 Seiten, ab 3, 15 Euro Lucy Astner: Nur Mut, kleiner Schmollmops, Illustration: Alexandra Helm, esslinger, 2022, 32 Seiten, ab 3, 14 Euro Jessica Meserve: Die Welt da draußen, Übersetzung: Uwe-Michael Gutzschhahn, Bohem, 2022, 40 Seiten, ab 3, 16,95 Euro Daniel Fehr: Wird schon schiefgehen, Ente!, Illustration: Raphael Kolly, Thienemann, 2022, 32 Seiten, ab 4, 14 Euro Andrea Schomburg: Ab hier kenn ich mich aus, Illustration: Amrei Fiedler, Tulipan, 2021, 48 Seiten, ab 4, 15 Euro Malin Hörl: Da liegt was in der Luft, annette betz, 2022, 32 Seiten, ab 4, 14,95 Euro Günther Jakobs: Hase Hibiskus und das grausige Gruseln, Illustration: Andreas König, Ravensburger, 2022, 32 Seiten, ab 3, 14,99 Euro Liliane Steiner: Louisa und die Schattenmonster, Kunstanstifter, 2021, 28 Seiten, ab 4, 20 Euro Peter Vegas: Hab keine Angst, kleines Dunkel, Illustration: Benjamin Chaud, Übersetzung: Ebi Naumann, Aladin, 2022, 36 Seiten, ab 4, 14 Euro Philppa Leathers: Schwarzhase, Übersetzung: Salah Naoura, Thienemann, 2019 (2013), 40 Seiten, ab 4, 13 Euro Ben Furman: Antons Albtraum, Illustration: Mathias Weber, Carl-Auer, 2. Auflage 2021, 28 Seiten, ab 4, 19,95 Euro Nikola Huppertz: Timo kann was Tolles, Illustration: Tobias Krejtschi, Tulipan, 2022, 32 Seiten, ab 4, 15 Euro Mirjam Zels: Fast wie Freunde, Kunstanstifter, 2. korrigierte Auflage 2020 (2017), 44 Seiten, ab 4, 22 Euro Francesca Sanna: Ich und meine Angst, Übersetzung: Thomas Bodmer, NordSüd, 2019, 40 Seiten, ab 4, 16 Euro Jan De Kinder: Keine Angst, Großer Wolf, Übersetzung: Eva Schweikart, Sauerländer, 2020, 40 Seiten, ab 4, 14,99 Euro Myriam Ouyessad: Der Wolf kommt nicht, Übersetzung: Ina Kronenberger, Illustration: Ronan Badel, Gerstenberg Verlag, 2020, 32 Seiten, ab 4, 13 Euro Rachel Valentine: Prinzessin Riesenmut, Übersetzung: Sabine Rahn, Illustration: Rebecca Bagley, Penguin Junior, 2021, 38 Seiten, ab 4, 14 Euro Jennifer Black Reinhardt: Kommt Zeit, kommt Opossum, Übersetzung: Ingrid Ickler, dtv, 2022, 32 Seiten, ab 4, 14 Euro – erscheint am 13.4.2022 Britta Teckentrup: Der große und der kleine Igel – Ich hab doch keine Angst, Jacoby & Stuart, 2022, 32 Seiten, ab 3, 12 Euro Kate Hindley: Mika und das mutigste Mädchen der Welt, Illustration: Pamela Butchart, Übersetzung: Michael Petrowitz, Ravensburger, 2021, 32 Seiten, ab 3, 12,99 Euro Susi Bohdal: Selina, Pumpernickel und die Katze Flora, Carl-Auer, 3. Auflage 2021 (ursprünglich 1981), 30 Seiten, ab 4, 19,95 Euro Karen Young/Norvile Dovidonyte: Hey, du bist großartig! Ein Buch über Angst, Mut und deine besonderen Fähigkeiten, Übersetzung: Siegfried Joel, Peter Lieder und Weronika M. Jakubowska, Carl-Auer, 2. Auflage 2021, 38 Seiten, ab 6, 19,95 Euro
Federvieh in der KJL hat momentan Hochkonjunktur. Neulich hatten wir hier das ultimative Hühnerbuch, jetzt gibt es gleich zwei Bücher mit entsprechenden Protagonisten. Bei Ulrich Hubs neuestem Werk meint man vielleicht in einem Treppenwitz gelandet zu sein, wenn man den Titel Lahme Ente, blindes Huhn betrachtet und die Assoziationen im Kopf schießen sofort ins Kraut. Doch die Lektüre offenbart bereits auf Seite eins eine der entzückendsten Fabeln über das Leben, versteckte Wünsche, die Macht der Fantasie und die Freundschaft.
Eine tierisch gute Kombination
In einem grauen Hinterhof lebt die lahme Ente, futtert Erdnüsschen und wünscht sich eigentlich jemanden, mit dem sie diesen Snack teilen könnte. Eines Tages schneit das laute und selbstbewusste blinde Huhn herein und lässt sich durch nichts beirren. Die beiden raufen sich zusammen und ziehen hinaus in die Welt. Das Huhn stützt, die Ente sieht. So geht es eine lange Straße entlang, durch einen dunklen Wald, über eine hohe Schlucht, den höchsten Berg hinauf bis zum goldenen Tor, hinter dem die verborgenen Wünsche erfüllt werden.
Perfekte Ergänzung und das Wesentliche
Natürlich geht so eine Reise nicht ohne Konflikte und Streitigkeiten ab. Doch der Weg verändert die beiden Held:innen. Sie lernen sich gegenseitig besser kennen, aber auch sich selbst – so entdeckt die Ente, dass Fliegen ja ganz leicht ist … Und sie finden heraus, auf was es im Leben wirklich ankommt. Ulrich Hub, Experte für allzu menschliche Tierstorys, erzählt dies mit so hintersinniger Leichtigkeit, dass auch Erwachsene an dieser Geschichte Gefallen finden werden. Denn hier spiegelt sich der Kern des Lebens in seinen Facetten: Wir sind alle nicht perfekt, gleichen uns jedoch in unseren grundsätzlichen Wünschen nach Gesehen-werden und Freundschaft. Das alles suchen wir manchmal an weit entfernten Orten, können gar nicht schnell genug vom Hof kommen … um dann festzustellen, dass so manches schon ganz nah ist. Allen Redewendungsassoziationen zum Trotz gleitet Ulrich Hub aber nie ins Banale oder Kitschige ab, sondern schafft es mit feiner Ironie und viel Humor, dass einem mit jeder Seite Huhn und Ente mehr ans Herz wachsen und man das Wesentliche unsere Existenz erkennt.
Love rules
Eine weitere ungewöhnliche Vogelpaarung findet sich in dem Bilderbuch Der Habicht und der Hahn von Käptn Peng und Melanie Garanin. Der Habicht, der normalerweise eine Gefahr für Hühner darstellt, mag in diesem Fall den Hahn. Und dieser erwidert die Gefühle, sehr zum Unverständnis von Bauer und Hühnerschar. Doch die beiden lassen sich von ihrer Umwelt nicht abhalten und verschmelzen zu einer Einheit.
Dynamisch in Musik und Strich
Der kurze Text stammt aus dem gleichnamigen Song von Käptn Peng, auch bekannt als Robert Gwisdek, Schauspieler, Musiker, Autor. Man kann sich das Buch also quasi vorsingen lassen und zwar in bester Liedermacherqualität, bei der die Stärke des Textes so richtig zu Geltung kommt. Doch auch die schwarzkonturierten, aber farbig-strahlenden Aquarelle von Melanie Garanin sind eine Wonne, die den Aufruhr im Hühnerstall um die beiden Liebenden dynamisch und verspielt zeigen. Da wird der Bauer fast zum Schwein und der Regenwurm schwingt die Rassel.
Liebe, wen du willst
Die Botschaft ist natürlich klar und ein Plädoyer für eine grenzenlose Liebe, jenseits von Geschlechtern oder sonstigen Schubladen. Das ist zum einen ein Buchtrend unserer Zeit, aber eben auch immer noch nicht selbstverständlich und daher wichtig, es auch den ganz jungen Menschen auf so charmante Weise klarzumachen. Nur mit solchen Geschichten wird es vielleicht mal Generationen geben, die um gleichgeschlechtliche Liebe und queere Lebensformen kein Gewese mehr machen werden.
Ulrich Hub: Lahme Ente, blindes Huhn, Illus: Jörg Mühle, Carlsen, 2021, ab 8, 13 Euro Käptn Peng: Der Habicht und der Hahn, Illus: Melanie Garanin, Huckepack, 2021, ab 5, 15 Euro
„Träges Auge, Riesenschädel, schnarcht wie ein Nilpferd, oft krank, abartiger Essgeschmack, schreckliches Gedächtnis, ständig außer Atem, schmächtig, frech, kann nichts allein machen oder sich mehr als zwei Sekunden auf irgendetwas konzentrieren, Hirn tickt verkehrt, keinen Begriff für Gefahren. Mein absolut bester Kumpel der Welt.“
Martin liebt seinen drei Jahre jüngeren Bruder Charlie heiß und innig. Charlie wurde viel zu früh geboren, hat in seinen ersten Lebenstagen und –wochen mehrmals mit dem Tod gerungen und gewonnen. Vor zehn Jahren stand er als das „Wunderbaby“ sogar in der Zeitung, er ist ein ganz besonderes Kind unter Millionen, oder Charlillion, wie Charlie selbst sagen würde. Mit dem Preis, dass der Junge unter Asthma, Herzschwäche, und Konzentrationsstörungen leidet. Vieles, was für Kinder in seinem Alter selbstverständlich ist, kann er nicht und wird es auch nie lernen, er ist immer auf Hilfe und jemanden, der ihn im Auge behält, angewiesen.
Charlie ist wie ein springender Delfin, wie Mark Lowerys neuer Roman („Das peinlichste Jahr meines Lebens“) hierzulande heißt – was das bedeutet, wird später verraten. Er ist scheinbar der perfekte Held für ein Buch über gelungene Inklusion, das selbstverständliche Zusammenleben von Menschen, egal, ob „normal“ oder mit geistiger oder körperlicher Behinderung (selbst die Aktion Mensch, ehemals Aktion Sorgenkind, spricht von „Behinderung“, der naive, politisch überkorrekte Euphemismus „anders begabt“ ist passé).
Neulich ging es in der sowieso sehr empfehlenswerten Radiosendung „Büchermarkt für junge Leser“ (Samstagnachmittag um fünf nach vier im Deutschlandfunk) um Inklusion. Angefangen mit Klassikern wie Peter Härtlings Das war der Hirbel oder Max von der Grüns DieVorstadtkrokodile wurden auch neuere Titel wie Wunder von Raquel Palacio und Sarah Crossans Eins vorgestellt. Denn immer mehr Jugendromane handeln von Menschen, die anders sind, die mit physischen und psychischen Problemen zu kämpfen haben. Wie ein springender Delfin ist eine spritzige Variante des Themas.
Charlie ist ungeheuer witzig, auch weil laut Martin sein Gehirn „anders verdrahtet“ ist, und haut Sätze raus, wie „wir fahren in die Schweiz, da kriegt mein Schniedel-Laser ein Upgrade“. Damit wehrt er zum Beispiel lässig die Fragen des misstrauischen Kioskbesitzers ab, der wissen will, warum der 13-jährige Martin mit seinem kleinen Bruder Ende Oktober schon frühmorgens unterwegs ist. Die beiden brechen auf in ein großes Abenteuer. Im Gepäck eine Keksdose mit „super-besonderen Weihnachts-Überbleibsel-Keksen“ (unter anderem mit Schokokränzen aus 90 Prozent Schokolade, fünf Prozent Keks, die restlichen fünf Prozent sind „Träume“, sagt Charlie) und Schinkenbroten mit Marmelade, Charlies Lieblingssandwiches.
Nennt mich naiv, aber ich habe mich mitreißen lassen und mitgefiebert, wenn die Jungs brenzlige Situationen, teils von Charlie provoziert, mit fanatischen Fußballfans oder neugierigen Kartenverkäuferinnen meistern, und Schaffnern und Polizisten immer wieder entwischen. Spannend und lustig erzählt Martin vom aufregenden Trip mehrere hundert Kilometer aus ihrer nordenglischen Heimatstadt Preston an die Küste Cornwalls, im Wechsel mit Rückblenden auf ihre Sommerferien eben dort im vergangenen Jahr. Auch die eingestreuten, von Martin geschriebenen Gedichte haben mir gefallen, zum Beispiel ein hübsches Haiku
Du lebst nur einmal.
Wie wär es dann einfach mit
Keksen zum Frühstück?
Drei Zeilen mit fünf, sieben und wieder fünf Silben, so kann man sich die japanische Gedichtform doch endlich gut merken. Oder ein Formgedicht über und in Form einer Sanddüne.
Die Anzeichen, dass etwas nicht stimmt, habe ich willentlich ignoriert. Wer sich auf Mark Lowerys raffiniert aufgebaute, von Uwe-Michael Gutzschhahn erfrischend übersetzte Geschichte unvoreingenommen einlässt, den trifft die Wende umso heftiger. Gespoilert wird nicht, nur soviel: Die Fahrt nach Cornwall ist für Martin eine Reise zu sich selbst und ein Rettungsversuch. Familie ist ein fragiles Konstrukt. Und auch alle Liebe und Hingabe macht nicht alles möglich. Menschen mit Behinderungen sind sich meist schmerzlich bewusst, dass sie vieles nie werden tun und erreichen können. Sie haben dieselben Träume und Wünsche nach einem selbstbestimmten Leben, aber nicht die Freiheit, sie sich zu erfüllen.
Deshalb fühlt Charlie sich so zu dem Delfin hingezogen, den er im Sommer an Cornwalls Küste beobachtet. Ein freies Wesen, das nicht eingesperrt lebt und unabhängig ist. Ein Tier, in dessen wilden, kraftvollen Sprüngen sich Charlies Schicksal und das seiner Familie in allen Facetten spiegelt: Schöne Metapher, klasse Helden, tolles Buch!
Elke von Berkholz
Mark Lowery: Wie ein springender Delfin, Übersetzung: Uwe-Michael Gutzschhahn, Rowohlt, 2017, 221 Seiten, ab 12, 14,99 Euro
Bücher, die das Wort „Reise“ im Titel tragen, üben auf mich eine seltsame Anziehung aus. Vielleicht, weil ich selbst gern reise. Denn jede Reise ist Aufbruch, Entdeckung von Neuem, Erweiterung des eigenen Horizonts, Abenteuer. Wer wünscht sich das nicht?
Der 11-jährige Archer in Nicholas Gannons Debüt-Roman Die höchst wundersame Reise zum Ende der Welt kann genau das eigentlich gar nicht erwarten. Er will endlich aufbrechen, hinaus aus seinem Haus, in dem ihn die Mutter fast wie einen Gefangenen hält. Dies tut sie allerdings nicht aus Bosheit, sondern aus Angst. Denn Archer hat eine Neigung. Die Neigung, alles zu erforschen und zu ergründen. Diese Neigung hat er von seinen Großeltern, den bekannten Naturforschern Ralph und Rachel Helmsley. Das Haus, in dem Archer mit seinen Eltern lebt, gehört den Großeltern und ist dem entsprechend ausgestattet mit ausgestopften Tieren aus aller Welt und anderen Objekten, die die Großeltern von ihren Forschungsreisen mitgebracht haben.
Doch seit zwei Jahren sind die Großeltern verschollen. Angeblich sind sie auf einem Eisberg festgefroren. Archer glaubt jedoch nicht daran. Er will Oma und Opa, die er noch nie im Leben gesehen hat, in der Antarktis suchen.
Auf seiner Reise sollen ihn die Nachbarkinder Oliver Glub und Adelaide Belmont begleiten. Zu dritt machen sie sich heimlich an die Vorbereitungen. Nur ist Oliver etwas ängstlich, was sich immer darin äußert, dass er die Augen zumacht, wenn es gefährlich wird.
Adelaide hingegen, die eine talentierte Ballerina war, hat durch einen Unfall ein Bein verloren, kann jedoch niemandem die Wahrheit sagen, sondern erfindet lieber abenteuerliche Geschichten, die ihre Freunde auf eine falsche Fährte locken, was ihre Reise-Erfahrung angeht.
Gemeinsam jedoch nehmen die drei Freunde es mit all den Erwachsenen auf, die ihnen Hindernisse in den Weg legen wollen …
Nun ja, dass die drei es nicht ganz bis zum Südpol schaffen, darf ich wohl verraten. Doch wie es dazu kommt, ist ein ganz großes Lesevergnügen, nicht zuletzt durch die frech frische Übersetzung von Harriet Fricke. Die drei Helden erleben schon vor Abreise jede Menge Abenteuer, die sie als Freunde immer enger zusammenschweißen. Sie beweisen dabei ganz nonchalant, dass der Weg das Ziel sein kann. Und dass man sich von den Meinungen der Erwachsenen nicht gleich von seinen Überzeugungen abbringen lassen sollte.
Die Geschichte von Archer, Oliver und Adelaide ist mit Illustrationen vom Autor selbst ausgestattet. Und diese Illustrationen sind so wundersam wie die Geschichte selbst. In zarten Sepia- und Rottönen entführt Gannon die Lesenden in das Haus der Helmsleys, zeigt die vielen Tiere, Globen und geheimnisvollen Schränke, Schubladen und Koffer. Er liefert architektonische Zeichnungen vom Haus und der Schule der Kinder. Es ist eine verwunschene Welt, der jegliche heutige Technik fehlt, in der es noch genügend Raum für Fantasie und Träumereien gibt. Ein echter Kindheitskokon.
Man ahnt, dass die drei Helden, sobald sie diesen Kokon wirklich verlassen und es in die harte Welt hinausschaffen, sie sich irgendwann genau danach wieder zurücksehen. Die Fortsetzung des Romans wird zeigen, wie es mit ihnen weitergeht. Bis dahin kann man schon mal seine eigenen wundersamen Reisen sonst wohin planen …
Nicholas Gannon: Die höchst wundersame Reise zum Ende der Welt, Übersetzung: Harriet Fricke, Coppenrath Verlag, 2016, 368 Seiten, ab 10, 14,95 Euro
Was für ein wunderbares Bilderbuch! Die fabelhafte Reise des Gaspard Amundsen ist das Debüt der jungen Illustratorin Laura Fuchs, deren Textidee der erfahrene Autor Martin Gülich zu einer überzeugenden Geschichte ausgebaut hat. Ein BRAVO gleich vorweg!
Worum geht´s?
Gaspard Amundsen lebt allein, aber nicht unglücklich, umgeben von warmer Häuslichkeit inmitten eines Büchermeers. Er zählt 107 Jahre und hat sich prima gehalten. Auch dank seiner bevorzugten Teesorte: dem Brennnesseltee. Eigentlich ist er rundum zufrieden mit sich und seinem Leben in der großen Stadt. Und doch, etwas regt sich in ihm — eine seltsame Unruhe, das Gefühl, Neues wagen zu wollen. Gaspard fasst sich ein Herz, sammelt dies und das für die Reise zusammen. Gepäck ohne Ende, inklusive Lieblingstee.
Doch kaum aus dem Haus und auf dem Weg zum Bahnhof passiert Unglaubliches: Man raubt ihn aus! Eine freche Bande von Waschbären macht sich über sein Zeug her, nur ein kleiner Rucksack bleibt ihm. Soll er zurück ins eng gewordene Zuhause? Nein! Er muss raus in die Welt, die eigenen Grenzen sprengen.
Im Zug schnappt er das Gespräch zweier Flugenten auf. Vom Fliegen ist die Rede. Ach ja, genau das will er: Fliegen! Kurz darauf begegnet er dem ziemlich blinden, aber routinierten Flugprofi Maulwurf, und gemeinsam schrauben sie sich in ungeahnte Höhen. Wie riesig diese Wolkenberge, wie klitzeklein die Welt am Boden. Gaspard ist hin und weg. Und dann? Plötzlich knallt und rumpelt es in der altersschwachen Maschine. In letzter Minute gelingt eine Bruchlandung auf unbekanntem Eiland mitten im Ozean. Soll das etwa das Ende seines Abenteuers sein? Gaspard weiß: Ein Krokodil wie er muss keine Angst vorm Wasser haben. Und eh sich Pilot Maulwurf versieht, entert sein Fluggast ein Ruderboot und schippert auf und davon.
Wie weit ist das Meer, wie glatt, wie unsagbar schön! Gaspard genießt seine Reise, und als ihn ein Blauwal einlädt in seine Welt unter Wasser, gibt es kein Zögern. Geschmeidig gleitet er hinter ihm her und fühlt sich auf einmal so jung!
Als Gaspard zum Luftholen auftaucht, ist das Boot weg. Was nun? Bange machen gilt nicht mehr, dafür hat er bereits zu viel Neues gemeistert. Und tatsächlich, die Rettung ist nah. Ein prächtiger Dreimaster nähert sich, und Kapitän Albatros nimmt ihn an Bord bis an den Rand des Eismeers.
Hier beginnt die letzte Etappe seines Abenteuers: Über ihm funkeln die Sterne, neben ihm genießen ein Eisbär und ein Wolf das grandiose Lichterspiel. Und doch, es ist Zeit: Gaspard spürt, sein Zuhause wartet auf ihn. Leichtfüßig wandert er heim. Ab heute wird er sein Tässchen Tee hoch oben auf dem Dach seines Hauses genießen, neue Entdeckungen nicht ausgeschlossen …
In wenigen Worten eine ganze Welt: Martin Gülich beschreibt die wundersame Wandlung des Gaspard Amundsen sparsam und eindringlich zugleich. Sein Text lädt ein, mit zu träumen und zu reisen in ferne Welten, farbenfroh und höchst lebendig illustriert von Laura Fuchs. Der alte Gaspard, ein wenig weltfremd und naiv, ist so liebevoll und unverwechselbar gezeichnet, dass wir am liebsten an seiner Seite wären. Die Illustratorin hat ein Händchen für Charaktere, ob so kess wie die Waschbären, so verschroben wie der Maulwurf oder so in sich ruhend wie der Blauwal. Dazu die große Stadt, die Landschaften, das Meer, der Himmel, das All. Wir sind Teil des Ganzen, atmen die Weite, die Luft und entdecken die Schönheit dieser Welt — und uns selbst.
Und mein Lieblingsbild? Der Rochenschwarm im Grün-Ton-Konzert des Meeres. Da capo!
So unterschiedlich Bilderbücher auch sind, manchmal kann man sie in einen Zusammenhang stellen. Bei diesen vier tut sich beispielsweise die ganze Bandbreite unseres Lebens auf.
Auftakt liefert das Buch von Anna Herzog, Ein Baby in Mamas Bauch, das klassisch-knuffig von Joelle Tourlonias illustriert ist. Die Zwillinge Mia und Oskar bekommen ein Geschwister. Diese umwerfende Neuigkeit nutzen die beiden Kindergartenkinder, um jede Menge Fragen zu stellen, wie das mit Babys und ihrer Herstellung eigentlich so ist. Auch so „eklige“(O-Ton Mia) Sachen wie knutschen und „sexen“ kommen ganz offen zur Sprache, dazu die Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen, was es mit den Hormonen auf sich hat, ob eine Gebärmutter platzen kann und wie das Baby schließlich auf die Welt kommt.
Die fiktive Geschichte wird durch Kästen mit Sach-Information bereichert, in denen anatomische Details, Entwicklung des Babys oder die Entstehung von Zwillingen erklärt werden. Die Erläuterungen sind so dicht an der Lebenswelt von Kindern, dass diese wie selbstverständlich an so geheimnisvolle Vorgänge wie Zeugung, Schwangerschaft und Geburt herangeführt werden. Mit so einem liebevollen und schön anzusehenden Aufklärungsbuch wird die Ankunft des neues Familienmitglieds für alle ein Fest.
Dass das Leben dann später nicht immer rund läuft, davon berichten Stefanie Harjes und Marjaleena Lembcke in Der Bus mit den eckigen Rädern.
Ein Konstruktionsfehler in der Fabrik führt dazu, dass der neue Bus eckige Räder hat. Damit kann er natürlich nicht im Linienverkehr eingesetzt werden. Traurig macht sich der Bus auf den Weg – und sammelt mit der Zeit doch Menschen ein, die sich auf seinen bequemen Sitzen niederlassen: eine alte Dame, die wehmütig auf ihr Leben zurückblickt, ein alter Mann, der überprüfen möchte, ob das Rote Meer wirklich rot ist, ein Junge, der in Alaska Lachse angeln will, ein Mädchen auf dem Weg zum Tanz, ein streitendes Ehepaar, ein Priester, der keine Gemeinde mehr hat. Im Bus werden sie für eine kurze Zeit zu Schicksalsgenossen, die ihrem Ziel immer näher kommen.
Stefanie Harjes illustriert die Lebensreise im holprigen Bus mit Collagen, in denen Bleistiftzeichnungen auf Fotos, Kartenmaterial, Wortschnipsel, Stempelabdrücke und bunte Farben zusammentreffen. Ziegen haben Kinderköpfe, Schnecken schlafen auf Baumstümpfen, die Tasche der alten Frau ist größer als sie selbst. Vieles ist rätselhaft, wie das Leben eben so ist, und dadurch sehr faszinierend. Jeder Betrachter wird eigene Assoziationen und Verbindungen haben, in die Bilder eigene Geschichten hineindenken.
Einen traurigen Teil im Leben schildert das psychologische Bilderbuch Papas Unfall vom Atelier artig. Zunächst lernt man eine ganz normale vierköpfige Familie kennen, die immer etwas Neues unternimmt, schwimmen geht, Rad oder Schlitten fährt. Alles ändert sich, als Papa eines Tages mit dem Motorrad verunglückt und danach nicht mehr laufen kann. Er liegt lange im Krankenhaus, ist traurig und kann nicht richtig sprechen. Mama organisiert das Leben neu, sucht sich einen neuen Job, kümmert sich um Papa, schafft ein Krankenbett ins Wohnzimmer. Die Schwestern sind jetzt zwar mehr mit Oma zusammen, doch sie merken genau, wie traurig alles ist.
Wut und Trauer herrschen in dieser Geschichte zwar vor, aber die Kinder begreifen, dass es Gründe dafür gibt. Für Familien, die Ähnliches erlebt haben, bietet dieses Bilderbuch Identifikation und Hoffnung, denn mit der Zeit gewöhnen sich alle an dieses neue Leben, das zwar anders ist, aber dennoch Alternativen und schließlich auch schöne Momente bieten kann.
Von solchen Momenten, schönen wie schlimmen, könnte man dann Geschichten erzählen. So wie der Bär. Doch der hat sich leider den falschen Zeitpunkt zum Erzählen ausgesucht, denn so kurz vor dem Winter haben Maus, Ente, Frosch und Maulwurf Wichtigeres zu tun, als Bär zuzuhören. Und so fallen die ersten Schneeflocken und Bär legt sich schlafen.
Im Frühling versammeln sich dann die Freunde alle wieder um Bär und haben endlich Zeit, die Geschichte zu hören …
Erin Stead hat die Geschichte Als Bär erzählen wollte von Philip Stead mit duftigen Aquarellen und zarten Bleistiftstrichen illustriert und dabei ganz viel Weißraum gelassen, so dass eine poetische Leichtigkeit die Szenerie bestimmt. Der Zusammenhalt der Freunde und ihre Aufmunterung von Bär am Ende zeigen, dass Freundschaft auch dann hält, wenn man einmal keine Zeit für den anderen hat oder sich lange nicht sieht. Die entzückende Abschlusspointe kann ich hier natürlich nicht verraten …
Ein abschließende Bitte hätte ich an die Illustratoren da draußen: Hier kommen in drei von vier Büchern alte Damen und Großmütter vor. Die Darstellung mit Kopftuch, Dutt und Puschen mag ja ganz heimelig und liebenswert sein, aber ich kenne heute keine Großmütter mehr, die so antiquiert herumlaufen. Es ist an der Zeit mal ein neues Großmutterbild zu entwickeln, würde ich sagen …
Anna Herzog: Ein Baby im Mamas Bauch, Illustration: Joelle Tourlonias, Sauerländer, 2015, 40 Seiten, ab 4, 14,99 Euro
Marjaleena Lembcke: Der Bus mit den eckigenRädern, Illustration: Stefanie Harjes,
Ravensburger, 2015, 32 S. ab 6, 15,99 Euro
Achim Kirsch: PapasUnfall, Balance Buch + medien, 2015, 40 Seiten, ab 4, 14,95 Euro
Philip Stead: AlsBärerzählenwollte,Übersetzung: Uwe-Michael Gutzschhahn, Illustration: Erin A. Stead, Sauerländer, 2015, 32 Seiten, ab 4, 14,99 Euro
Die Novembernächte gehören bekanntlich zu den ungemütlichsten und düstersten, sind sie doch nach dem langen Sommer und dem strahlenden Herbst echt gewöhnungsbedürftig. Vielleicht wird auch deshalb erst einmal Halloween gefeiert, damit das Unbehagen vor diesen Nächten gar nicht erst aufkommen kann.
Die argentinische Autorin und Illustratorin Isol hat ihr ganz eigenes Rezept mit dunklen Nächten entspannt umzugehen: Man stelle ihr Umklappbuch Nachts leuchten alle Träume neben das Bett auf den Nachttisch, lasse vor dem Einschlafen, beim Lesen also, noch etwas Licht auf die Seiten fallen – und genieße dann später im Dunkel die fluoreszierende Magie, die sich entfaltet.
Zwölf Rezepte, also Bilder, hält Isol parat und entführt die Betrachter in Traumwelten. Da öffnen sich verbotene Türen, Meeresbewohner tauchen aus den Tiefen auf, Schmusekätzchen verwandeln sich, langweilige Bücher geben ihre Geheimnisse preis, verborgende Lebensräume werden sichtbar, aus dem Samenkorn erwächst etwas.
Und wer diese Leuchtgebilde auf sich wirken lässt, träumt womöglich etwas ganz Besonderes ins diesen Nächten.
Isols einfache Strichzeichnungen funktionieren auf zwei Ebenen. Tagsüber sieht man die klar umrissene Ausgangssituation und liest pro Seite einen Satz, der die Fantasie bzw. den Traum anregt. Nachts leuchtet dann – erstaunlich lange, wie ich feststellen konnte, als ich irgendwann mal zwischendrin wieder aufwachte – die fluoreszierende Beschichtung und offenbart ihre Geheimnisse. Und selbst, wenn der eine Satz auf der Seite etwas Gruseliges ankündigt, so sind die Auflösungen doch immer so liebenswert, dass kein Betrachter schlimme Alpträume befürchten muss.
Die Gefahr, dass man durch das Leuchten zu lange wach gehalten wird, kann ich nicht bestätigen. Es ist viel mehr ein sanftes Hinübergleiten in den wohltuenden Schlaf. Auf Kleine Schlafverweigerer könnten diese vergänglichen Bilder möglicherweise beruhigend wirken. Die kommenden Novembernächte werden für mich jedenfalls in diesem Jahr zu einem traumhaften Vergnügen.
Tomomi Ishikawa hat sich das Leben genommen. Ihrem besten Freund Ben Constable hinterlässt sie rätselhafte Botschaften, welche ihn auf eine Reise durch ihre Vergangenheit schicken. Ben begibt sich mit seiner imaginären Katze Cat auf eine Suche, die ihn durch Paris und New York führt. Dabei findet er unglaubliche Sachen über Tomomi heraus. War Tomomi eine Mörderin? Sind ihre Geschichten nur einer blühenden Fantasie entsprungen? Ist sie wirklich tot? Ben weiß nicht mehr, was er glauben soll.
Autor Benjamin Constable und die Hauptperson tragen denselben Namen. Das ist merkwürdig, passt aber gut zum Roman, denn hier verschwimmen die Grenzen von Realität und Fiktion. Auch nach dem Lesen bin ich mir nicht sicher, was in der Geschichte alles nicht stimmte. Nur eins kann ich mit Sicherheit sagen: Die drei Leben der Tomomi Ishikawa zählt zu den Büchern, die eine Weile im Kopf bleiben.
Benjamin Constable schreibt in einer Sprache, die leicht und schwermütig zugleich ist. Es geht viel um traurige Themen wie Tod, Verlust und Sterbehilfe, welche beim Lesen nachdenklich machen. Dies ist kein Buch, das man nebenbei liest.
Der Autor glänzt durch tolle Ortsbeschreibungen. Er schafft es, jeden Moment so einzufangen, dass man ihn bildlich vor sich sieht.
Empfehlen würde ich das Buch für Jugendliche ab 14 und für Erwachsene. Das Buch ist oft traurig und nachdenklich, aber an vielen Stellen muss man auch lachen oder schmunzeln. Die drei Leben der Tomomi Ishikawa ist anders als die meisten Bücher – genau deshalb sollte man es lesen!
Bei dem Buch Die unglaublichen Abenteuer des Barnaby Brocket von John Boyne haben mir gleich das Titelbild und die Bilder sehr gefallen, weil sie sehr lustig gezeichnet sind.
In dem Buch geht es um den zehn Jahre alten Barnaby Brocket, der – wie man nach dem Titelbild schon vermuten kann – etwas ganz Besonderes ist: Er schwebt. Er kann seit seiner Geburt nicht aus eigener Kraft auf dem Boden bleiben. Um nicht fortzuschweben, muss er an ein Seil gebunden werden oder einen Rucksack mit Sandsäcken tragen. Das Erste wird ihm fast zum Verhängnis, als seine Spezialschule abbrennt und er, während alle anderen fliehen, an seinen Stuhl gebunden vergessen wird. Er muss jetzt auf eine normale Schule gehen und, damit er nicht unangenehm auffällt, den Rucksack mit Sandsäcken tragen. Das geht gut, bis eines Tages seine Mutter Eleanor Brocket mit ihm spazieren geht und ein Loch in Barnabys Sandsäcke schneidet. Der Sand läuft aus und als logische Konsequenz fliegt Barnaby los. Zum Glück sammeln ihn zwei Ballonfahrerinnen auf, die ihn zu ihrer Kaffeeplantage in Brasilien mitnehmen. Barnaby will zurück nach Sydney, ahnt aber noch nicht, dass das Beginn einer spannenden und teilweise auch gefährlichen Weltreise ist. Doch darüber schreibe ich nichts, weil es ansonsten die ganze Geschichte verrät und dem Leser die Spannung nimmt.
Im Ganzen sind Die unglaublichen Abenteuer des Barnaby Brocket sehr schön, sehr spannend und immer wieder, auch wegen der Bilder von Oliver Jeffers, lustig.
Das Buch ist nur zu empfehlen. Es ist für Kinder ab 9 oder 10 Jahren sehr gut geeignet, für jüngere Kinder ist es wohl noch zu aufregend.
Ein Mal im Jahr scheine ich ein Buch über Grabschändung und den perfekten Ort für eine Bestattung rezensieren zu können. War es im vergangenen Jahr der Roman von Boris Koch, so ist es nun Anke Webers Regenbogenasche. Vielleicht wird ja eine Tradition daraus…
Auch in Regenbogenasche geht es darum, einem Toten seinen letzten Willen zu erfüllen: Rhinas Vater ist bei einem Unfall gestorben. Seine große Sehnsucht war Namibia, und die fast 15-jährige Rhina setzt sich in den Kopf, seine Asche dorthin zu bringen und an dem schönsten Ort zu verstreuen. Zusammen mit ihrem Schulkameraden Unkas, schmiedet Rhina zunächst den Plan, die Urne unbemerkt auszubuddeln.
Später schließen sich die beiden Jugendlichen einer namibischen Kulturorganisation an, die Reisen in das afrikanische Land organisieren. Mit umgefüllter und eingefärbter Asche machen sich Rhina und Unkas auf nach Namibia.
Für Rhina ist diese Reise jedoch mehr, als nur den toten Vater an seinen Lieblingsort zu bringen. Sie war sieben als ihr Vater starb, seitdem vermisst sie ihn und kann irgendwie kein eigenes Leben beginnen. Unkas, der ihr bei diesem Abenteuer treu zur Seite steht, wird zu ihrem Vertrauten und besten Freund. Und je mehr Rhina über ihren Vater, seine Herkunft und seinen Tod herausfindet, um so mehr wandelt sie sich zu einem freien Mädchen, das ihren eigenen Lebensweg geht und die Liebe kennenlernt.
Anke Weber schafft es auf faszinierende, fesselnde Art und Weise, die Gegensätze von Leben und Tod in einem spannend Road-Roman zu vereinen. Sie macht jugendlichen Lesern deutlich, dass das eigene Leben von dem der Eltern mehr beeinflusst wird, als man so manches Mal meint oder es sich wünscht. Die Schatten der elterlichen Vergangenheit legen sich immer auch auf das Leben der Kinder. Weber erzählt das jedoch mit einer Leichtigkeit und dem exotischen Touch der namibischen Wüste, das man ganz gebannt Rhinas gesetzwidrige Grabschändung akzeptiert, mit ihr liebt, leidet und sich schließlich freut, als sie in Namibia nicht nur ihr Ziel erreicht, sondern auch eine große Überraschung erlebt.
Regenbogenasche variiert das Thema Grabschändung auf eine fast unbeschwerte Art und zeigt, wie wichtig es für Jugendliche ist, über die Herkunft und die Traumata der Eltern aufgeklärt zu werden. Jeder Mensch hat zwar durchaus ein Recht auf Geheimnisse, doch sobald diese sich auf die Nachkommen auswirken, haben diese wiederum ein Recht, sie zu erfahren. Erst dann können Jugendliche sich bewusst entscheiden, wie sie ihren eigenen Lebensweg einschlagen. So wie Rhina, die ihr Glück und ihren inneren Frieden erst findet, als sie das Geheimnis ihres Vaters gelüftet hat und den toten Vater am richtigen Ort weiß. Damit macht sie jugendlichen Lesern Mut, sich den eigenen Familiengeheimnissen zu stellen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Der düstere Tod wandelt sich in diesem Buch zu einer kunterbunten Liebeserklärung an das Leben.
Eigentlich habe ich es ja nicht mit Autogrammen und dem Promi-Hinterherrennen, doch dieses Mal konnte ich einfach nicht anders. Und jetzt ist meine Presseausgabe von John Greens Roman Das Schicksal ist ein mieser Verräter mit der Unterschrift des Autors versehen. Irgendwie schön. Das Ganze passierte heute Abend auf dem 12. Internationalen Literaturfestival in Berlin, wo John Green seine Deutschland-Lesereise begann.
Ich war etwas zu früh im Haus der Berliner Festspiele, der Abend war noch lau und trocken. Als ich in den Garten schlenderte, saß er dort. In hellem Hemd, Jeans und Adidas-Turnschuhen. John Green himself. Ganz entspannt gab er ein Interview. Und anstatt die ersten Autogrammjäger fortzujagen, fing er an zu signieren und meinte: „Lieber jetzt schon, als später, wenn alle kommen.“ Ich nahm allen Mut zusammen, zumal ich mich für die Beantwortung meiner Fragen vor ein paar Wochen persönlich bedanken wollte. Er war so nett und erfreut, dass es mir regelrecht die Sprache verschlug, und ich irgendwas von „confused“ stotterte. Tzz. Er nahm es mit Humor und erzählte, dass er so jelaged sei und auch ganz confused … Nun, man sah es ihm nicht an. Auch nicht das Mammutprogramm, dass er einen Tag nach seiner Ankunft in Deutschland schon hinter sich hatte: Zwei Lesungen, Interview-Marathon, Aufnahmen mit einem Fernsehteam im Plänterwald. Das quietschende Riesenrad, das sich dort langsam gedreht hätte, würde so wunderbar zu der Vergänglichkeit in seinem Roman passen, wurde mir zugetragen.
Wenig später füllte sich der große Saal im Festspielhaus langsam. Etwa 250 Menschen drängten hinein, hauptsächlich junge Mädchen. Und als um 19.38 Uhr John Green auf die Bühne trat, brandete Jubel auf, als würde ein Popstar erscheinen. Doch er gebärdete sich ganz und gar nicht so, sondern setzte sich fast bescheiden auf seinen Stuhl. Einer launigen Vorstellung folgte die erste Lesung, zunächst John Green selbst auf Englisch, dann rezitierte Regina Gisbertz so mitreißend die deutsche Übersetzung von Sophie Zeitz, dass der Autor ganz fasziniert an ihren Lippen hing und bekannte, dass er sich durch ihren Vortrag wieder genauso fühlte, wie in dem Moment als er das Buch geschrieben hatte.
Im Anschluss erzählte er von Empathie, die beim Schreiben wichtiger ist, als den richtigen Slang der Jugend zu treffen. Den hätte er selbst in jungen Jahren überhaupt nicht gesprochen und nie gewusst, worüber sich seine Altersgenossen so unterhielten. Doch das Mitgefühl für die Menschen, die an einer lebensbedrohlichen Krankheit leiden, für die sie nichts können, war ihm während des Schreibens wichtiger. Für ihn müssen die Emotionen der Figuren aus dem Bauch herauskommen, dann gelänge es auch, die Leser zu fesseln. So findet er es denn auch heroisch, wenn sich die Helden von der Stärke zur hin Schwäche entwickeln und nicht anders herum. In einer Welt, in der Stärke oder zumindest der Anschein von Stärke extrem weit oben rangiert, ist das eine ganz wunderbare Haltung, die er in seinem sechsten Roman perfekt umgesetzt hat.
Ansonsten hält er es mit dem ur-amerikanischen Konzept der Reise: Wenn etwas nicht richtig läuft, verreise. Die Reise als Problemlöser ist ihm wichtig. Nicht nur, weil er selbst gern verreist, sondern weil jede physische Reise auch immer eine emotionale Veränderung nach sich zieht, und so zumeist eine Reise zu sich selbst wird. Auch das spiegelt sich in Das Schicksal ist ein mieser Verräter ganz eindrücklich.
Die einzige Frage aus dem Publikum, die er mit einem kategorischen Nein beantwortete, war die, ob er je unter dem Pseudonym Peter Van Houten den Roman Ein herrschaftliches Leiden schreiben wird. Für diese große, intellektuelle Herausforderung sei er nicht gut genug, denn die Vorstellung von diesem Buch sei einfach unerreichbar. Das glaube ich ihm zwar nicht, aber auch er hat natürlich ein Recht, Fragen unbeantwortet zu lassen. Was ihn auf jeden Fall noch interessanter macht.
Fast ging es ein bisschen unter, dass es in seinem Buch auch um die Beziehung zwischen Autoren und Lesern geht. Und um die Dankbarkeit der Autoren gegenüber ihren Lesern. Diese Dankbarkeit könnten die Autoren nur sehr schwer äußern, behauptete er – doch John Green ist dies an diesem kurzweiligen Abend auf seine reizende, unaufgeregte, fast bescheidene Art perfekt gelungen!