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Extrem gefährlich

Ponger

Es beginnt wie eine klassische Liebesgeschichte. Wie ein Roman von John Green (außer dessen Welterfolg Das Schicksal ist ein mieser Verräter). Schüchterner Junge verliebt sich in selbstbewusstes, rätselhaftes Mädchen. Ponger ist so fasziniert von dem Mädchen im gelben Regenmantel, dass er mit der S-Bahn in die falsche Richtung fährt. »Im Tunnel hat sich in der Scheibe hinter Henny die ganze Zeit ihre Silhouette gespiegelt, hell umrandet.«
So beginnt Nils Mohls außergewöhnlicher Roman Henny & Ponger. Tatsächlich lesen beide Margos Spuren – ein Roman von John Green. Wirklich nur ein Zufall?

Emotionale Verwirrung und andere Katastrophen

Das Mädchen hat eine Aura, silbrig schimmernd, auch ihre Stimme klingt so. Aber was sie sagt, ist sehr ernüchternd. Von zwei jungen Männern nach ihrer Meinung zu Rosen als romantisches Geschenk befragt, antwortet sie: »In einer Welt, in der das Kribbeln im Bauch zur ganz großen Geschichte gemacht wird, kann ich mir das nicht anders vorstellen.« Rumms. Das Mädchen, das barfuß in der S-Bahn steht, setzt nach: »Romantische Liebe lässt Menschen einfach ständig in emotionale Verwirrung und andere Katastrophen stolpern und stürzen.« Ihr Fazit: »Verliebtheit würde ich als extreme Gefahr einstufen.«

Was die Menschen so umtreibt

Entweder diese junge, barfüßige Gräfin ist einfach nur kaltschnäuzig und verkopft und pfeift auf Gefühle – oder sie hat wirklich den Durchblick und eine ganz andere Perspektive, auf das, was die Menschen so umtreibt. Sie und Ponger trennen Welten.
Subtil und elegant gibt der Hamburger Autor Mohl erste Hinweise, wohin die Reise geht und was das Geheimnis dieses Mädchens ist.
Henny kommt direkt auf Ponger zu, weil sie seine Hilfe braucht. Und steckt ihm ein Mobiltelefon in die Brusttasche seines Arbeitsoveralls. Ponger ist begnadeter Monteur für Flipperautomaten. Quasi ein Pinball Wizard. Instinktiv erkennt er, woran es hakt und haucht den Klassikern neues Leben ein.

Bilder, die zu Orten entstehen

Plötzlich zieht Henny die Notbremse und verschwindet in einer halsbrecherischen Aktion. An der nächsten S-Bahn-Station namens Sternschanze wird Ponger von zwei merkwürdigen Ermittlern befragt. Die Stadtviertel Hamburgs und die Nordseeinsel Amrum spielen auch eine Rolle in Mohls Roman, sie stehen bei Ortswechsel dem Kapitel voran. Wobei Mohl selbst sagt, dass es weniger um Lokalkolorit geht. Mehr darum, welche unterschiedlichen Bilder und Vorstellungen bei den Lesenden entstehen. Anders gesagt: Rothenburgsort ist nicht gleich Rothenburgsort.
Schon in Mohls Debüt Es war einmal Indianerland begegnen sich ein Junge aus dem eher prekären Hamburger Osten und ein Mädchen aus den wohlhabenden sogenannten Elbvororten im Westen der Stadt. Nicht nur die Alster trennt ihre Lebenswelten

Kluge Frauen, Flipperautomaten, ein nicht ganz originaler Buick

Neben Henny und Ponger, einer Hansestadt und einer Insel, spielen zwei ältere kuriose, auch mal knurrige und überaus lebenskluge Frauen weitere Hauptrollen in seinem neuen Roman. Was das alles mit Flipperautomaten, Leberflecken und einem nicht ganz originalem Buick Skylark zu tun hat, erzählt Mohl fesselnd und bezaubernd in diesem Roman. Manche nennen es Jugendroman. Mohl sagt dazu, er schreibe Literatur. Nicht Jugendliteratur. Oder wie es im Buch in einer Szene von Ponger gegenüber dem undurchschaubarem Spezialagenten Winotzki heißt:
»Erinnern sie sich an ihre Kindheit?«
»Wie kommst du darauf? Hat das etwas mit den Büchern zu tun, die du liest?«
»Warum sollte das mit den Büchern zu tun haben?«
»Jugendbücher. Geschichten über die Wirren der Pubertät, über die Zeit direkt nach der Kindheit.«
»Ich glaube es sind tendenziell eher Geschichten über die Zeit direkt vorm Erwachsenwerden, über die Wirren des menschlichen Miteinanders.«

Erwachsene sind kein bisschen schlauer

Besser als Ponger kann man es nicht sagen. In guten Jugendbüchern (sie sollen hier nur einmal explizit so genannt werden) steht alles drin über das Leben, über Gefühle, über Beziehungen. Erwachsene sind kein bisschen schlauer. Sie tun nur so. Und denken einfach nicht mehr soviel darüber nach, haben sich arrangiert, sind ernüchtert oder desillusioniert.
Nils Mohl ist es definitiv nicht. Er hat sich die Offenheit, die Neugier und auch Klarsichtigkeit junger Menschen bewahrt. Auch die Lust, Neues auszuprobieren. So veröffentlicht er auch typografisch ausgefallene, illustrierte Gedichtbände. Der experimentierfreudige Verlag mixtvision hat Henny & Ponger ebenfalls eine nicht alltägliche Form gegeben. Ein in jeder Hinsicht außerirdisch guter Roman.

Nils Mohl: Henny & Ponger, mixtvision, 320 Seiten, 18 Euro, ab 14

Saturday-Night-Pussys

mogelDie Vorstadt kann die Hölle sein. Der Stadtrand auch. Beides spielt bei Nils Mohl nach Es war einmal Indianerland und Stradtrandritter erneut eine wichtige Rolle, wenn nicht sogar die Hauptrolle. Dieses Mal schickt er in seinem Roman Mogel den Jugendlichen Miguel Dos Santos in die Arena.

Der Leser begleitet ein pubertierendes Quartett aus 15-jährigen an einem Samstagabend. Miguel hat sturmfreie Bude und lädt seine Kumpels Flo, Silvester und Dimi in den Partykeller des Reihenhauses. Man spielt Bierpong, ein Trinkspiel mit Tischtennisbällen und gefüllten Polystyrolbechern. Nur dass das Bier alkoholfrei ist, zum Ärger von Flo.
Zur Strafe muss Miguel, den seine Kumpels gern auch „Pussy“ nennen, sich als ebendiese Pussy verkleiden und mit ins ChackaBum!, die Stadtrand-Disko. Mit gezupften Augenbrauen, in Netzstrümpfen und mit Ohrklipps mogelt er sich durch einen Abend voller Höhen und Tiefen, zwischen Tanke mit Mini-Discokugeln, Mädchenklo und Schrebergarten-Porno-Horror. Nein, den Jungs passiert nichts Schlimmes, soviel darf ich wohl verraten. Doch wie sie diesen Samstagabend und vor allem wie Miguel davon erzählt, ist … ist … mir fehlen hier die Worte, bzw. mein karger Wortschatz kann nicht ausdrücken, was Nils Mohl sprachlich vollbringt. Sein Begriff „erektionswürdig“ trifft es am besten, aber der ist jetzt eben doch geklaut … und nun für immer und ewig in meinem Kopf verankert und mit Mogel verbunden. Es gibt wahrscheinlich Schlimmeres.

Wer sich über solche Begriffe aufregt, der sollte Mogel nicht lesen. Denn gefühlt wimmelt es nur so davon. Aber eben nur gefühlt. Der Rest ist locker-umgangssprachlich-pubertierender Jugendsprech. Und den macht Mohl brillant. Man sieht die Jungs leibhaftig vor sich, keine Kinder mehr, aber auch noch nicht erwachsen, cool, aber noch nicht souverän, hormongesteuert und doch schon verantwortungsbewusst (die Eierbecher). Man könnte sich die ganze Zeit vor Lachen in die Ecke werfen, wenn einem nicht ständig das Lachen im Hals stecken bliebe, weil es in der Stadtrandhölle doch auch echt traurig zugeht.
Als Erwachsener ist man froh, diesen Höllenkreisen – Stadtrand, Vorstadt, Pubertät – entronnen zu sein. Man hat jetzt andere Höllen zu bereisen. Mohl erinnert auf extrem unterhaltsame Weise daran, was man einst so oder ähnlich durchgemacht hat oder haben könnte. Trotz aller Schnodderigkeit begleitet er dabei seine vier Jungs überaus liebevoll durch die Nacht und ins Leben der Erwachsenen.

Jugendliche Leser dürften ihren Spaß an dieser Saturday-Night-Variante haben, sich darin wiederfinden, sich erkennen, eventuell auch etwas über das Leben lernen. Aber das ist hierbei eigentlich egal. Es gibt viele Samstagabende im Leben, man sollte sie einfach genießen. So wie dieses Buch.

Nils MohlMogelRowohlt, 2014, 208 Seiten, ab 14, 9,99 Euro

Ausgezeichnet!

patrick Ness sieben minuten nach MitternachtZurück von der Buchmesse 2012 – ich bin noch ganz berauscht von den Buch- und Menschenmassen. Viele Termine, viele Gespräche, viele Ideen und Anregungen haben die vergangenen Tage bestimmt, und die muss ich jetzt erst einmal verarbeiten. Außerdem muss ich unbedingt noch ein paar Bücher lesen: Denn gestern Abend wurden der Deutsche Jugendliteraturpreis 2012 verliehen – und ich habe von den Gewinnern erst zwei gelesen (auch das passiert, wenn man vor lauter fesselnder Neuerscheinungen überhaupt nicht hinterher kommt mit der Lektüre …).

Die Verleihung im Saal Harmonie des Frankfurter Congress Centrums war mit 1200 Gästen proppenvoll, und die Spannung war förmlich zu spüren. Zurecht bezeichnete Nils Mohl die Veranstaltung als „Folter“. Für seinen Jugendbuchroman Es war einmal Indianerland und vier weitere Titel ging das etwa ein einhalbstündige Martyrium dann aber mit einem Preis, der Momo, aus. Ganz besonders hat mich die Wahl der Jugendjury gefreut, die sich für Sieben Minuten nach Mitternacht von Patrick Ness entschieden hat.

Diesen berührenden Roman habe ich vor genau einem Jahr nach der Buchmesse 2011 gelesen. Und daraufhin diesen Blog eingerichtet, um meine Begeisterung darüber unmittelbar teilen zu können. So hat sich gestern für mich nach einem Jahr Bloggen ein Kreis geschlossen. Was ich nun als gutes Omen für dieses Unternehmen hier deute und das mich anspornt, weiter über wundervolle Bücher zu schreiben. So stapeln sich auf meinem Schreibtisch auch schon die nächsten Romane und Bilderbücher, die ich demnächst in diesem Rahmen vorstellen werde. Zudem haben sich in den vergangenen Tagen schon die nächsten spannenden und vielversprechenden Titel angekündigt. Schöner kann eine Buchmesse eigentlich nicht laufen!

Die Gewinner des Deutschen Jugendliteraturpreises 2012 möchte ich, auch wenn ich nicht alle bis jetzt gelesen habe, hier dennoch nennen:

deutscher jugendliteraturpreis 2012

In der Sparte Bilderbuch: Pija Lindenbaum: Mia schläft woanders, Übersetzung: Kerstin Behnken, Oetinger Verlag, 2011, 40 Seiten, ab 4, 12,95 Euro.

Die Jury meint: „Eine ganz alltägliche Kindererfahrung wird […] gegen den Strich gebürstet und in beeindruckende Bilder un einen klugen Text gefasst.“

 

deutscher jugendliteraturpreis 2012In der Sparte Kinderbuch: Finn-OleHeinrich/Ran Flygenring,: Frerk, du Zwerg! Bloomsbury Verlag, 2011, 96 Seiten,  ab 7, 16 Euro.

„Der sprachgewandte, fabulierlustige und semantisch kreative Text Heinrichs mit den frech-versponnenen Krakelbildern Flygenrings ist Quatsch in seinem allerbesten und feinsten Sinne“,  sagt die Kritikerjury.

deutscher jugendliteraturpreis 2012In der Sparte Sachbuch: Oscar Brenifier: Was, wenn es nur so aussieht, als wäre ich da? Illustrationen: Jacques Després, Übersetzung: Norbert Bolz, Gabriel Verlag, 2011, 96 Seiten, ab 10, 14,95 Euro

Dieses ungewöhnliche Philosophie-Buch „plädiert für eine Denkkultur, die in einer an Informationen und Fakten überreichen Welt auf eine Tiefe setzt, die nur aus der ‚Langsamkeit‘ analogen Denkens heraus entstehen kann“ – so die Jury.

deutscher jugendliteraturpreis 2012In der Sparte Jugendbuch: Nils Mohl: Es war einmal Indianerland, Rowohlt Verlag, 2011, 345 Seiten, 12,99 Euro.

Die Jury hält diesen Roman für kunstvoll gebaut, „der mit seinen zahlreichen Neologismen auch sprachlich innovativ und überzeugend ist. Er bietet dem Leser eine neue und aufregende Variante aus Bildungsroman und Liebesgeschichte.“

Und schließlich der Preis der Jugendjury: Patrick Ness/Siobhan Dowd: Sieben Minuten nach Mitternacht, Übersetzung: Bettina Abarbanell, cbj Verlag, 2011,   213 Seiten,  ab 12,  16,99 Euro.

Die Jugendlichen meinen, dass „die mächtigen sprachlichen Bilder und die Illustrationen eine perfekte Atmosphäre für die diese traurige, berührende, teilweise aber auch unterhaltsame Geschichte liefern.“

Der Sonderpreis für das Gesamtwerk ging dieses Jahr an den Illustrator Norman Junge, der spätestens seit Fünfter sein von Ernst Jandl in fast allen Haushalten präsent sein dürfte…

Herzlichen Glückwunsch allen Autoren, Übersetzern, Illustratoren und Verlagen!