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Schinkensandwich mit Marmelade

„Träges Auge, Riesenschädel, schnarcht wie ein Nilpferd, oft krank, abartiger Essgeschmack, schreckliches Gedächtnis, ständig außer Atem, schmächtig, frech, kann nichts allein machen oder sich mehr als zwei Sekunden auf irgendetwas konzentrieren, Hirn tickt verkehrt, keinen Begriff für Gefahren. Mein absolut bester Kumpel der Welt.“

Martin liebt seinen drei Jahre jüngeren Bruder Charlie heiß und innig. Charlie wurde viel zu früh geboren, hat in seinen ersten Lebenstagen und –wochen mehrmals mit dem Tod gerungen und gewonnen. Vor zehn Jahren stand er als das „Wunderbaby“ sogar in der Zeitung, er ist ein ganz besonderes Kind unter Millionen, oder Charlillion, wie Charlie selbst sagen würde. Mit dem Preis, dass der Junge unter Asthma, Herzschwäche, und Konzentrationsstörungen leidet. Vieles, was für Kinder in seinem Alter selbstverständlich ist, kann er nicht und wird es auch nie lernen, er ist immer auf Hilfe und jemanden, der ihn im Auge behält, angewiesen.

Charlie ist wie ein springender Delfin, wie Mark Lowerys neuer Roman („Das peinlichste Jahr meines Lebens“) hierzulande heißt – was das bedeutet, wird später verraten. Er ist scheinbar der perfekte Held für ein Buch über gelungene Inklusion, das selbstverständliche Zusammenleben von Menschen, egal, ob „normal“ oder mit geistiger oder körperlicher Behinderung (selbst die Aktion Mensch, ehemals Aktion Sorgenkind, spricht von „Behinderung“, der naive, politisch überkorrekte Euphemismus „anders begabt“ ist passé).

Neulich ging es in der sowieso sehr empfehlenswerten Radiosendung „Büchermarkt für junge Leser“ (Samstagnachmittag um fünf nach vier im Deutschlandfunk) um Inklusion. Angefangen mit Klassikern wie Peter Härtlings Das war der Hirbel oder Max von der Grüns Die Vorstadtkrokodile wurden auch neuere Titel wie Wunder von Raquel Palacio und Sarah Crossans Eins vorgestellt. Denn immer mehr Jugendromane handeln von Menschen, die anders sind, die mit physischen und psychischen Problemen zu kämpfen haben. Wie ein springender Delfin ist eine spritzige Variante des Themas.

Charlie ist ungeheuer witzig, auch weil laut Martin sein Gehirn „anders verdrahtet“ ist, und haut Sätze raus, wie „wir fahren in die Schweiz, da kriegt mein Schniedel-Laser ein Upgrade“. Damit wehrt er zum Beispiel lässig die Fragen des misstrauischen Kioskbesitzers ab, der wissen will, warum der 13-jährige Martin mit seinem kleinen Bruder Ende Oktober schon frühmorgens unterwegs ist. Die beiden brechen auf in ein großes Abenteuer. Im Gepäck eine Keksdose mit „super-besonderen Weihnachts-Überbleibsel-Keksen“ (unter anderem mit Schokokränzen aus 90 Prozent Schokolade, fünf Prozent Keks, die restlichen fünf Prozent sind „Träume“, sagt Charlie) und Schinkenbroten mit Marmelade, Charlies Lieblingssandwiches.

Nennt mich naiv, aber ich habe mich mitreißen lassen und mitgefiebert, wenn die Jungs brenzlige Situationen, teils von Charlie provoziert, mit fanatischen Fußballfans oder neugierigen Kartenverkäuferinnen meistern, und Schaffnern und Polizisten immer wieder entwischen. Spannend und lustig erzählt Martin vom aufregenden Trip mehrere hundert Kilometer aus ihrer nordenglischen Heimatstadt Preston an die Küste Cornwalls, im Wechsel mit Rückblenden auf ihre Sommerferien eben dort im vergangenen Jahr. Auch die eingestreuten, von Martin geschriebenen Gedichte haben mir gefallen, zum Beispiel ein hübsches Haiku

Du lebst nur einmal.
Wie wär es dann einfach mit
Keksen zum Frühstück?

Drei Zeilen mit fünf, sieben und wieder fünf Silben, so kann man sich die japanische Gedichtform doch endlich gut merken. Oder ein Formgedicht über und in Form einer Sanddüne.

Die Anzeichen, dass etwas nicht stimmt, habe ich willentlich ignoriert. Wer sich auf Mark Lowerys raffiniert aufgebaute, von Uwe-Michael Gutzschhahn erfrischend übersetzte Geschichte unvoreingenommen einlässt, den trifft die Wende umso heftiger. Gespoilert wird nicht, nur soviel: Die Fahrt nach Cornwall ist für Martin eine Reise zu sich selbst und ein Rettungsversuch. Familie ist ein fragiles Konstrukt. Und auch alle Liebe und Hingabe macht nicht alles möglich. Menschen mit Behinderungen sind sich meist schmerzlich bewusst, dass sie vieles nie werden tun und erreichen können. Sie haben dieselben Träume und Wünsche nach einem selbstbestimmten Leben, aber nicht die Freiheit, sie sich zu erfüllen.

Deshalb fühlt Charlie sich so zu dem Delfin hingezogen, den er im Sommer an Cornwalls Küste beobachtet. Ein freies Wesen, das nicht eingesperrt lebt und unabhängig ist. Ein Tier, in dessen wilden, kraftvollen Sprüngen sich Charlies Schicksal und das seiner Familie in allen Facetten spiegelt: Schöne Metapher, klasse Helden, tolles Buch!

Elke von Berkholz

Mark Lowery: Wie ein springender Delfin, Übersetzung: Uwe-Michael Gutzschhahn, Rowohlt, 2017, 221 Seiten, ab 12, 14,99 Euro