Hommage auf eine Stadt und einen Regisseur

BerlinEr war irgendwie immer da, in meiner persönlichen Film-Historie: Wim Wenders. Heute wird der Meister 70.  Und pünktlich zu diesem Anlass ist die Graphic-Novel-Adaption seines Films Der Himmel über Berlin erschienen.
Ich habe tatsächlich drei bis vier Anläufe gebraucht, bis ich Wenders Film  aus dem Jahr 1987 vollständig gesehen und einigermaßen verstanden habe. Warum das so war, kann ich gar nicht genau sagen. Vielleicht muss man eine gewisse Lebenserfahrung mitbringen, um alle Ebenen dieses Meisterwerkes ganz zu verstehen. Mit großer Wahrscheinlichkeit habe ich immer noch nicht alle Facetten erfasst und begriffen. Dabei kann mir nun auch diese Graphic-Novel helfen, mit der ich in meinem langsamen Tempo die Geschichte und die philosophischen Texte („Als das Kind  Kind war, wusste es nicht, dass es Kind war …“) nachlesen, nach-denken und genießen kann.

Das Autoren-Duo Sebastiano und Lorenzo Toma haben für die Comic-Adaption auf Basis des Drehbuches von Wim Wenders, Peter Handke und Richard Reitinger die Geschichte der Engel Damiel und Cassiel vor der Kulisse des heutigen Berlins neu inszeniert. Sie haben die Szenen mit Schauspielern nachgestellt, fotografiert und in Federzeichnungen verwandelt. Vor schwarzem Hintergrund, in zarten Strichen, die sich in manchen Panels Van-Gogh-mäßig am Himmel kringeln und drehen, lauschen die Engel den Gedanken der Menschen. Sie hören ihre Sorgen und Nöte, ohne selbst gesehen zu werden. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem Damiel sich in eine Akrobatin verliebt, sein ewiges Dasein aufgibt und sich ins Leben und die Liebe stürzt. Denn erst die Vergänglichkeit macht aus jedem Augenblick des Lebens etwas ganz Besonders.

Mögen die Darsteller anders aussehen als im Film, so hält sich diese Adaption relativ dicht an das Drehbuch. Wer Zeit und Muße hat, kann eine komparatistische Abhandlung über die Unterschiede und Gemeinsamkeiten verfassen (ja, der Film-Dreh mit Peter Falk fehlt …). Es wird sicher ein Spaß.
Doch auch ohne den genauen Vergleich ist diese Graphic Novel eine Freude, denn das wirklich Besondere ist, dass die Engel im Berlin von heute umherstreifen. Sie stehen auf dem Brandenburger Tor, belauschen die Menschen nicht in der Bibliothek, sondern am Holocaust-Mahnmal. Die Curvy-Brache – die jetzt schon wieder ganz anders aussieht – und der Molecule Man in Kreuzberg dienen als Kulisse, genauso wie die Lohmühlenbrücke. War die in Wenders Film noch durch die Mauer versperrt, so ist jetzt der Weg frei, hinüber in den Osten. Berührend ist, dass auch der Potsdamer Platz selbst heute noch nicht aufzufinden ist, trotz alter Ampel und protzigen Neubauten.
Neben den Locations sind auch manche Gedankengänge und Dialoge den gegenwärtigen Realien angepasst – da sehnt man sich nach einer SMS oder diskutiert über Cent und Euro.

Vater und Sohn Toma haben mit ihrer Version von Der Himmel über Berlin eine doppelte Hommage geschaffen: auf die große Stadt und auf den großen Regisseur. So ist diese Graphic Novel sowohl ein Muss für Hauptstadt-Liebhaber, als auch für Verehrer von Wim Wenders. Zudem beweisen sie nonchalant, wie zeitlos und allgemeingültig Wenders Geschichte weiterhin ist.

Wim Wenders sei hiermit herzlich zum Geburtstag gratuliert und gedankt für unzählige wunderbare, rätselhafte und groovende Filme. Mögen noch viele folgen. Der Himmel über Berlin werde ich mir heute Abend noch ein weiteres Mal, mit anderen Augen, anschauen.

Sebastiano & Lorenzo Toma: Der Himmel über BerlinJacoby & Stuart, 2015,  200 Seiten, 24 Euro

Bilderbuch-Perlen

bilderbuch 1Ich bin noch eine ganze Reihe von Bilderbücher-Rezensionen schuldig. Nun habe ich endlich die Zeit gefunden.

Den Auftakt macht Der Mondfisch in der Waschanlage von Andrea Schomburg und Dorothee Mahnkopf. Hier trifft man auf sehr merkwürdige, aber real existierende Tiere wie Thermometerhuhn, Nacktmull oder Pistolenkrebs. Jeweils auf einer Doppelseite gibt es eine detaillierte Illustration, auf der es jede Menge zu entdecken gibt. Flankiert werden die Getiere von zwei Texten: einem Sachtext, der über die Natur der Portraitierten – also Art, Größe, Lebensraum und Besonderheiten – aufklärt. Dazu gesellt sich dann ein extrem geistreiches, rhythmisch gereimtes Gedicht, bei dem man entweder vor Lachen nicht mehr weiterlesen kann oder sich stante pede in die seltsamen Gesellen verliebt. Der Vorlesespaß ist garantiert.

Bilderbuch 2Der Titel Noch mal! vom Bilderbuch von Emily Gravett ist Programm. Wer kennt das nicht, wenn vorgelesen wird: Ein ums andere Mal muss die Geschichte wiederholt, das Bild noch mal angesehen, die App noch mal durchgespielt werden. So auch hier: Mama-Drache liest ihrem Sprössling die Geschichte von Drache Chlodwig vor, ein gereimtes Epos. Und das Drachen-Junges bekommt natürlich nicht genug davon. Also: Noch mal!
Mama-Drache, sichtlich erschöpft mit hängenden Ohren, liest – und variiert. Aber der Lütte ist nicht zu befriedigen … bis schließlich ein Loch im Buch prangt.

Diese kleine Geschichte macht auch menschlichen Vorlesejunkies eindrücklich klar, dass irgendwann mal Schluss sein muss – vermutlich allerdings erst nach zehnmaliger Lektüre von Emily Gravetts Noch mal!

bilderbuch 3Verzweiflung ganz anderer Art kann kleine Menschen überkommen, wenn es zum ersten Mal heißt: Hilfe, der Babysitter kommt. Anke Wagner und Anee-Kathrin Behl erzählen in ihrem Bilderbuch von Olli. Dessen Mama und Papa wollen am nächsten Abend endlich mal wieder ins Kino. Beide freuen sich bannig. Olli unterhält sich mit Stubs, seinem Kuschlemuschelfreund, darüber, dass in der Zeit, in der Mama und Papa nicht da sind der Babysitter kommt. Stubs ist entsetzt und kann nicht einschlafen: Vielleicht ist der Babysitter eine „Schminkedame“ oder ein „aufgeblasener Muskelmann“ … Die Vorstellung, was der Babysitter alles sein kann, könnte als ein modernes Gruselkabinett durchgehen – wären die Illustrationen nicht so reizend und charmant bunt. Die Auflösung am nächsten Abend ist dann natürlich eine völlig andere … aber die wird hier nicht verraten.
Für alle, deren Vorstellungskraft immer schon zehn Kilometer vorneweg galoppiert und irrationale Ängste schürt, ist dieses Büchlein eine hervorragende Vorbereitung und Beruhigung für neue Situationen im Leben.

bilderbuch 4Wenn man klein ist und noch nicht so viel darf und noch weniger kann, ist das Leben manchmal echt schwierig. Das merkt der Kleine. Er möchte gern Etwas ganz Großes machen. Im Bilderbuch von Silvie Neemann und Ingrid Godon entspinnt sich ein Gespräch zwischen Groß und Klein. Gemeinsam überlegen die beiden, was man Großes machen könnte. Doch nichts scheint dem Kleinen groß genug, nicht der Leuchturm, nicht die Reise. Ein Spaziergang am Strand schließlich bringt die Lösung.

In grün-blau-roten Kohlezeichnungen zeigen die französische Autorin und die Illustratorin, dass auch kleine Dinge ganz groß sein können. Eine philosophische Erkenntnis, die man nie früh genug erfahren kann.

lebenBei all dem sollte man auch immer bedenken: Das Leben kann so schön sein! Genau das beweist der  französische Comic-Zeichners und Illustrators Floc’h in seinem Bilderbuch.

Auf schlichten weißen Seiten lädt ein elegant gekleideter, irgendwie altersloser Herr die Leser ein, in das Buch zu springen. Ein kleines Mädchen mit Pagenschnitt und Rock folgt seiner Aufforderung, und gemeinsam erkunden sie das Leben. Die schönen Seiten des Leben. Ein kleiner Hase wird Begleiter des Mädchens, Jäger mit üblen Absichten müssen draußen bleiben. Losgelöst von Zeit und Raum zeigt der Mann dem Mädchen, was die Fantasie alles vermag. Sie träumen sich in ein Baumhaus, freuen sich an schönen Kleidern und schnellen Fortbewegungsmitteln, können sogar fliegen – bis zu den Pyramiden (das Bilderbuch kommt ohne Reime aus … 😉 ).

Es spielt keine Rolle, ob das möglich ist oder nicht. Die Fantasie ist so stark, dass allein die Vorstellung von etwas glücklich machen kann. Dass es tatsächlich hauptsächlich die kleinen Dinge des Lebens sind, die das Mädchen und den Mann glücklich machen, erfährt man fast nebenbei: Schaukeln, ein Tennis-Match, ein Spaziergang, der Regentanz, einer Gute-Nacht-Geschichte lauschen.

Im Ligne-claire-Stil und in merkwürdig-schönen altmodischen Bildern entführt Floc’h nicht nur das kleine Mädchen, sondern jeden Betrachter. Man braucht keine komplizierte Geschichte, um an die einfachen Dinge des Lebens erinnert zu werden, die Frage: „Was ist das schöne Leben?“ reicht völlig. Die Fortsetzung im tatsächlichen Leben wird jede_r Vorleser_in mit den Kindern erleben, denn die Bilder regen ungemein dazu an, darüber nachzudenken, was für einen selbst schön ist. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt …

wolfFantasievoll geht es auch in DEM Bilderbuch für alle kleinen Buchliebhaber weiter, das mich ganz frisch erreicht hat. Der Held: Der Wolf, der aus dem Buch fiel. Der Ort: das Kinderzimmer, ein höchst gefährlicher Ort. Die Handlung: Aus dem übervollen Regal fällt eines Tages ein Buch, und der Wolf plumpst heraus. Sollte man nun meinen, dass der Wolf froh ist,  von den Fesseln seiner Geschichte befreit zu sein, hat man sich gründlich getäuscht. Im Kinderzimmer lauern schreckliche Gefahren: die Katze! Die Dinos! Genervte Schafe! Es ist ein Graus. Verzweifelt versucht der Wolf, in seine Geschichte zurückzufinden. Doch entweder ist er nicht richtig gekleidet oder er kommt zu früh oder zu spät … Bis er im Wald ein weinendes rotgekleidetes Mädchen trifft … und alles gut wird.

Charmant spielen Illustrator Grégoire Mabire und Texter Thierry Robberecht mit dem Zustand eines übervollen Kinderzimmers, mit den Märchen und Geschichten, die man als junger Mensch bereits kennt. Der Wiedererkennungseffekt dürfte bei Buchliebhabern ziemlich groß sein. Und die Erkenntnis, dass auch Figuren aus Büchern eine Heimat und eine bestimmte Aufgabe haben, bietet Raum sowohl für ernsthafte Gespräche, als auch Fantastereien, wenn man den Wolf im eigenen Kinderzimmer durch seine Lieblingsbücher schickt …

Andrea: Schomburg: Der Mondfisch in der Waschanlage, Illustration: Dorothee Mahnkopf, Tulipan, 2015, 36 Seiten,  ab 4, 14,95 Euro

Emily Gravett: Noch mal! Übersetzung: Uwe-Michael Gutzschhahn, FISCHER Sauerländer, 2. Aufl.2015, 32 Seiten, ab 4, 14,99 Euro

Anke Wagner/Anne-Kathrin Behl: Hilfe, der Babysitter kommt! Inkl. HörFux MP3 Hörbuch zum Downloaden.  NordSüd Verlag, 2015, 32 Seiten, ab 4, 13,99 Euro

Sylvie Neeman/Ingrid Godon: Etwas ganz Großes, E-Book inklusive. Übersetzung: Anna Taube, mixtvision, 2015,  32 Seiten, ab 5, 14,90 Euro

Floch: Das Leben kann so schön sein! Übersetzung: Edmund Jacoby, Jacoby & Stuart, 2015,  64 Seiten, ab 4, 16,95 Euro

Gregoire Mabire/Thierry Robberecht: Der Wolf, der aus dem Buch fiel, Übersetzung: Ilse Rothfuss,  Ravensburger Buchverlag, 2015, 32 Seiten, ab 4, 12,99 Euro

Boy sucht Girl

margoSeit gestern läuft in den Kinos die zweite Verfilmung eines Romans von John Green, amerikanischer Jugendbuchautor, über den ich vor drei Jahren hier, hier und hier berichtet habe. Da war ich natürlich neugierig, ob es wieder so ein Erlebnis wird. Folglich habe ich mir Margos Spuren, der bereits 2010 auf Deutsch erschienen ist, in diesen Tagen im Doppelpack gegeben: erst die Lektüre, dann den Film.

Green erzählt, in der Übersetzung von Sophie Zeitz, – man muss schon fast sagen – gewohnt locker-flockig die Geschichte des 18-jährigen Quentin, der seit Kindertagen in seine gleichaltrige Nachbarin Margo verknallt ist. Doch Margo will eigentlich nichts von ihm wissen. Bis sie eines Nachts Quentin als Helfershelfer für eine Rachetour an ihrem Ex-Freund braucht. Gemeinsam cruisen sie durch Orlando, Florida, verteilen Frischfisch, scheuchen Margos Ex beim Sex auf, entfernen einem anderen Klassenkameraden eine Augenbraue mit Enthaarungscreme, brechen bei Seaworld ein.
Margo geht unerschrocken und cool vor, Quentin überwindet ein ums andere Mal seine Ängste – so sehr ist er von Margo fasziniert. In ihm wächst die Hoffnung, dass Margo nun endlich seine Liebe erwidert. Doch am nächsten Morgen ist Margo verschwunden.

margoEs folgt eine Spurensuche, bei der Quentin mit seinen Freunden Ben, Radar und Lacey schließlich von Florida im Auto in den Staat New York fährt, um Margo in Agloe – einer so genannten Papierstadt, weil sie nur als Kopierschutz auf Straßenkarten existiert – aufzugabeln. Green brennt während dieser Roadtour ein Feuerwerk an Witzen und Gags ab, die im Kino den Saal zum Lachen brachte. Details verrate ich hier natürlich nicht.

Bis zu diesem Punkt ist die Geschichte ein scheinbar spaßiger Highschool-Roman und leicht naive Teenie-Liebe, die mir fast ein bisschen auf die Nerven ging, weil mir die Richtung nicht klar war, in die John Green will. Im Buch haben dann jedoch die letzten 20 Seiten die entscheidende Wendung gebracht.
Green ist ein Meister für Projektionen. Denn so wie Miles in Eine wie Alaska und Hazel Grace in Das Schicksal ist ein mieser Verräter schickt er auch hier seinen Protagonisten Quentin auf die Suche. Quentin hat dabei eine ziemlich genaue, mystifizierte Vorstellung von der gesuchten Margo. Und genau das ist der Knackpunkt. Denn es ist quasi unausweichlich, dass diese Suche nicht zu dem Ergebnis führt, das der Junge sich wünscht. Denn: „Die Vorstellung ist nie vollkommen“, schreibt Green (S. 325). Darin liegt die Lektion, die für Jugendliche vermutlich sehr viel bitterer ist als für Erwachsene mit ihrer Lebenserfahrung. Doch auch als Erwachsener kann man sich immer wieder gern an diese allzu menschliche Neigung erinnern, dass man etwas in geliebte Menschen hineinprojiziert, war gar nicht da ist, dass man sich Dinge wünscht, die nicht der Wirklichkeit entsprechen, dass man sich selbst viel zu wichtig nimmt.

Der Film ist perfekt gemachtes, sehr unterhaltsames Popcorn-Kino, mit frischen Jungschauspielern – Cara Delevingne ist zweifellos ein verdammt schönes Mädchen mit einem sehr cool-ironischen Gesichtsausdruck, allerdings habe ich im Nachhinein den Eindruck, dass sie bis jetzt eben nur diesen einen drauf hat. Nun gut, es, nach ein paar Kurzauftritten in Fernsehfilmen und Serien, ist ihre zweite große Filmrolle. Das wird also noch. Eine echte Entdeckung allerdings ist Ben-Darsteller Austin Abrams, der das Green’schen Witzefeuerwerk mit jugendlichem Verve abbrennt. Ich wünsche ihm, dass er sein Talent noch in weiteren Filmen zeigen kann.

Natürlich gibt es im Film Veränderungen im Vergleich zum Buch. Doch die sind sinnvoll und dem Medium entsprechend angepasst, gedreht und verdichtet. Da könnte man kleinlich die Unterschiede aufzeigen, doch das bringt einen nicht weiter. Die Lektüre geht natürlich in die Tiefe, bieten über 300 Seiten eben mehr Platz für Details und Hintergründe, als knapp zwei Stunden Film-Spaß. Doch so ergänzen und bereichern die beiden Medien die Geschichte von Quentin und Margo: das Buch liefert die Hintergründe, der Film eine ganz spezielle Art von Happy-End.

Und den Anteil der echten John-Green-Fans im Kino erkennt man spätestens, wenn der junge Tankwart seinen Auftritt hat …

John Green: Margos Spuren, Übersetzung: Sophie Zeitz,

Ausgezeichnet mit dem Corine – Internationaler Buchpreis, Kategorie Kinder- und Jugendbuch 2010. Nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2011,
Hanser, 2015, 336 Seiten, ab 13, 16,90 Euro (Hardcover-Neuauflage)

Das Buch zum Film: Reihe Hanser dtv Taschenbücher, 2015, 336 Seiten, 9,95 Euro

Einer von tausend Toden

1000TodeZur Frankfurter Buchmesse im Oktober wird die finale Fassung von Christiane Frohmanns Mega-E-Book-Projekt Tausend Tode schreiben erscheinen. In der Version, die im März erschienen ist, ist auch ein Text von mir zu finden. Für mich ist das jetzt Anlass genug, meinen Text hier noch einmal lesbar zu machen.

Der ICE fuhr pünktlich in München ab. Ich wollte nach Hause, nach Berlin, in die Stadt des Bling-Bling. So schnell wie möglich. Keine Zeit für Zwischenstationen. Nach Seminar-Besuch, viel Input, viel Wein, viel von allem, wollte ich wieder Alltag. Berlin war nur ein paar Zugstunden entfernt. Ich hatte zwei Sitze für mich allein. Alles gut.

Hinter Nürnberg nahm der ICE Fahrt auf, Franken sauste vorbei, als es plötzlich rumpelte, schepperte, ein Ruck durch den Zug ging. Vollbremsung. Halt auf freier Strecke. Fahrgäste stöhnten, tuschelten, Zugbegleiter zogen sich grellorange Warnwesten an. Noch bevor die Durchsage kam, war klar, dass es nicht schnell nach Berlin gehen würde.

Unfall mit Personenschaden, so die Umschreibung für das, was den Zug zum Halten gebracht hatte. Ein Mensch war zu Tode gekommen, ob freiwillig oder unfreiwillig wusste in diesem Moment niemand. Die Fahrgäste im Großraumabteil bedauerten den Zugführer, nicht schön so was, der Arme.

Ich schaute aus dem Fenster. Felder, am Horizont sanfte Hügel, ein Kirchturm, ein Dorf. Der Anblick kam mir bekannt vor. Mein langjähriger Freund T. wohnte mit Frau und zwei kleinen Kindern im schicken, neugebauten Haus hier. In diesem Dorf. Wäre ich in Nürnberg ausgestiegen, hätte ich noch einen Abstecher zu ihnen machen können. Jetzt saß ich in diesem Zug, auf freiem Feld, konnte nicht aussteigen. Ein Notfallseelsorger, in grellorangener Weste, ging durch den Zug, bot an zu reden, wenn Redebedarf bestünde. Ich schüttelte den Kopf, schaute aus dem Fenster. T. litt an Depressionen. Ich hatte ihn ewig nicht gesehen. Hätte mich mal melden sollen.

Das Zugpersonal informierte über Lautsprecher, man erwäge eine Evakuierung in Busse. Auf der Landstraße reihten sich Polizei- an Krankenwagen. Es blieb ruhig im Abteil. In meinem Kopf schossen die Gedanken quer. Depression und Suizid lagen dicht beieinander. T.’s Haus lag gleich hinter dem Feld. Nein. Das konnte nicht sein. Er würde seine beiden Kinder nicht im Stich lassen. Nie. Er war bei der Arbeit, ganz sicher. Seine Frau auch. Da war bestimmt alles in bester Ordnung.

Die nächste Durchsage verkündete, die Staatsanwaltschaft habe den Zug freigegeben, der Ersatz-Zugführer sei eingetroffen, man würde nicht evakuieren, nur noch säubern und dann die Fahrt fortsetzen. Zu viel der Information, danke. Nach anderthalb Stunden fuhr der ICE weiter. Neunzig Minuten für einen toten Menschen.

Ich weiß nicht mehr, wie ich die restliche Fahrtzeit überstanden habe. In Berlin am Hauptbahnhof, zwischen all dem Bling-Bling, war mir schlecht. Der Zug, in dem ich gesessen hatte, hatte einen Menschen getötet. Zum ersten Mal im Leben kaufte ich einen Flachmann, leerte ihn, schwankte nach Hause. Hatte ich den Menschen also mitgetötet? War ich schuldig? Wieso fielen mir solche Fragen immer erst so spät ein. Ich hätte sie gern dem Notfallseelsorger gestellt. Hätte, hätte.

Ich traute mich nicht bei T. anzurufen. Suchte stattdessen im Netz nach Zeitungsnachrichten über den Vorfall. Ich fand nichts. Es gibt ein Schweigeabkommen zwischen Bahn und Presse, um Nachahmungstaten zu verhindern.

Zwei Tage später klingelte mein Handy, T.’s Name auf dem Display. Ich antwortete fröhlich, erleichtert, und hörte von einer unbekannten, schluchzenden Stimme, dass T. sich zwei Tage zuvor das Leben genommen hätte. Depressiver Schub. ICE aus Nürnberg. T. hatte sich mit ausgebreiteten Armen und einem Lächeln auf dem Gesicht auf die Gleise gestellt.

Die genauen Infos zu dem Projekt und die Downloadmöglichkeiten gibt es hier:

Christiane Frohmann (Hg.): Tausend Tode schreiben, EUR 4,99; FR 6,00

Ansteckend

fieberVor ein paar Monaten gingen die Berichte über die Ebola-Epidemie in Westafrika fast täglich durch die Presse. Nun scheint das Übel bekämpft und Normalität – soweit man das von hier aus beurteilen kann – wieder eingezogen. Wir in Nordeuropa haben das Glück, dass hier schon lange keine wirklich verheerende Krankheit mehr ausgebrochen ist, die unzählige Tote gefordert hätte. Ich weiß, es ist ein heikles Terrain, denn auch hier gibt es Opfer von Masern oder Grippe, und jedes ist eines zuviel. Doch ich möchte den Blick auf richtige Epidemien richten, die es auch in unseren Breiten gegeben hat und die sich junge Menschen wahrscheinlich nur schwer vorstellen können.

Eine Ahnung, wie es gewesen sein könnte, als vor fast 100 Jahren die Spanische Grippe ausbrach, liefert der Roman Das Fieber von Makiia Lucier, feinfühlig ins Deutsche gebracht von Katharina Diestelmeier. Erzählt werden knapp zwei Monate im Leben der fast 17-jährigen Cleo. Sie lebt in einem Internat in Portland, Oregon, hat Vater und Mutter vor Jahren bei einem Kutschenunfall verloren und nur noch ihren Bruder Jack und dessen Frau Lucy. Es ist Herbst 1918, in Europa tobt noch der große Krieg und an der Ostküste breitet sich gerade die Spanische Grippe aus. In Portland, an der Westküste, glauben sich Cleo und ihre Familie in Sicherheit. So brechen Jack und Lucy in ihre Flitterwochen auf, Cleo soll die Herbstferien im Internat verbringen.

Die Grippe schert sich natürlich nicht um irgendwelche Küstenverläufe, und wenige Tage später werden die ersten Krankheitsfälle in der Stadt gemeldet. Das Internat muss schließen. Cleo macht sich allein zum Haus des Bruders auf, obwohl dort niemand ist. Als sie in der Zeitung einen Aufruf vom Roten Kreuz liest, das Freiwillige sucht, meldet sie sich, um zu helfen.
Der Kontrast könnte nicht größer sein. Aus dem behüteten, gut bürgerlichen Zuhause erlebt Cleo auf einmal die Welt von Krankheit, Siechtum und Tod. Sie holt erkrankte Kinder und Frauen aus ihren Wohnungen, hilft im Notkrankenhaus aus, das im örtlichen Theater eingerichtet wurde – und würde nach einem Tag am liebsten weglaufen. Doch die Krankenschwestern Kate und Hannah und der junge Medizinstudent Edmund, der schwer verwundet aus Europa zurückgekehrt ist, machen ihr Mut.

Lucier versteht es meisterhaft, den Leser in die Zeit vor 100 Jahren zurückzuversetzen, wo es nicht selbstverständlich war, dass Mädchen Auto fahren oder gar allein in einem Haus wohnen, wo es noch keine Impfung gegen die Grippe gab und die Waschmaschinen noch nicht selbsterklärend waren. Und mittendrin Cleo, die ihren eigenen Kopf hat und täglich neu ihre Ängste überwindet. Das ist für eine Coming-of-Age-Geschichte sicherlich ein ungewöhnliches Setting, mit dem man sich heute vielleicht nicht besonders gut identifizieren kann. Doch es ist ein faszinierendes Beispiel dafür, wie man in nicht alltäglichen Situationen über sich hinauswachsen kann, wie in schwierigen Zeiten Freundschaft und Liebe entstehen können, wie man auf eigenen Beinen stehen kann. Eingebettet in die historische Tatsache der Spanischen Grippe und kombiniert mit einer sich zart andeutenden Liebesgeschichte ist Makiia Lucier eine sehr fesselnde Geschichte gelungen.

Makiia Lucier: Das Fieber, Übersetzung: Katharina Diestelmeier, Carlsen/Königskinder, 2015, 368 Seiten,  ab 14, 17,99 Euro

[Jugendrezension] Gefährliches Spiel

panicPanic, so heißt das verbotene Spiel. Jeder Schulabgänger, der Mut hat, macht mit. Alle zahlen ein, aber nur einer kann gewinnen. Die Siegprämie beträgt diesmal 670.000 Dollar und ist die Eintrittskarte in eine bessere Zukunft.
Heather könnte von ihrer drogen- und alkoholabhängigen Mutter weg. Für sie und andere ist das Spiel die Chance auf ein unbeschwertes Leben. Doch sie ahnt nicht, worauf sie sich einlässt: Um zu gewinnen, müsste sie lebensgefährliche Aufgaben bestehen.
Bald steigern sich ihre Probleme. Heather leidet unter der Trennung von ihrem Freund und hat große Schwierigkeiten zu Hause. Kurzerhand reißt sie mit der kleinen Schwester aus und lebt obdachlos auf der Straße. Nun ist ihre einzige Hoffnung der Sieg bei Panic. Sie legt alles daran, zu gewinnen. Selbst im Angesicht des Todes.

Der andere Protagonist des Buches ist Dodge. Er lebt mit seiner behinderten Schwester Dayna und seiner Mutter in einem verfallenen Haus. Auch er will seinen Verhältnissen entfliehen, indem er an Panic teilnimmt.

Panic – Wer Angst hat, ist raus! von Lauren Oliver ist ein unglaublich fesselnder Roman. Die Geschichte ist abwechselnd aus den Erzählperspektiven von Heather und Dodge geschrieben. Dadurch bekommt man zwei Sichtweisen auf die Geschichte vermittelt, was das Ganze noch spannender macht.
Ich würde das Buch auf jeden Fall weiterempfehlen, es ist sehr aufregend. Es ist außerdem gar nicht so unrealistisch. Vielleicht gibt es oder gab es schon irgendwo einmal ein ähnliches Spiel …

Katharina (13)

Lauren Oliver: Panic – Wer Angst hat, ist raus! Übersetzung: Katharina Diestelmeier, Carlsen, 2014, 368 Seiten, ab 13, 17,99 Euro

[Jugendrezension] Rätselhafter Tod

sanneLiam und Louise werden aneinander gekettet in einem See gefunden. Sie sind tot und keiner kann sich erklären, was die beiden in den Tod getrieben hat, denn sie waren glücklich. Sie waren ein Paar und hatten immer viel Spaß zusammen gehabt. Jeppe, der beste Freund von Liam, war auch oft bei ihnen.
Alles war in Ordnung, bis Liam und Jeppe auf einen Drogendealer treffen. Ab nun verkaufen die beiden Drogen für ihn. Es läuft gut, doch plötzlich passiert Jeppe ein Fehler, und die Jugendlichen müssen handeln.
Denn ist nichts so, wie es war, und Liam und Louise müssen Entscheidungen treffen, die ihr Leben für immer verändern werden, denn sie sind auf der Flucht. Als sie schließlich tot im See gefunden werden, sind ihre Eltern ratlos. Niemand weiß, was passiert ist und so versuchen sie, Hinweise zu finden, um den Tod von Liam und Louise zu verstehen.

Das Buch Wir wollten nichts. Wir wollten alles von Sanne Munk Jensen und Glenn Ringived ist wirklich gut. Anfangs war es etwas seltsam, denn es ist aus der Sicht von Louise geschrieben, aber als ich mich reingelesen hatte, fand ich wirklich Gefallen daran.

Man erfährt auf der einen Seite, die Geschichte von Liam und Louise und auf der anderen Seite auch die der Familie, die sie vermisst und sich nach einer Erklärung für alles sehnt. Nach und nach löst sich so das Rätsel. Auf diese Lösung hat man das ganze über Buch gewartet, denn bereits im ersten Kapitel werden die zwei Leichen von Liam und Louise gefunden. Deswegen bleibt die Frage, warum sie tot im Wasser liegen, während der ganzen Lesezeit offen.

Insgesamt finde ich das Buch richtig toll und kann es nur weiterempfehlen.

Laura (15)

Sanne Munk Jensen/Glenn Ringtved: Wir wollten nichts. Wir wollten alles, Übersetzung:  Ulrich Sonnenberg, Oetinger, 2015, 336 Seiten, ab 16, 16,99 Euro

[Jugendrezension] Zukunftsrätsel

stewnerDie Zukunft ist eine wirklich spannende Zeit. In dem Buch Der Sommer in dem die Zeit stehen blieb von Tanya Stewner geht es um das Mädchen Juli.
Juli lebt mit ihren stinkreichen Eltern in einem noblen Viertel, außerdem ist sie superschlau und schreibt in der Schule immer Einsen. Davon abgesehen ist ihr Leben sehr unspektakulär, denn Juli und ihre beste und einzige Freundin Whoopie sind ziemliche Nerds und werden deshalb von den anderen ausgeschlossen.
Doch Julis Leben bleibt nicht lange so langweilig. Als sie mal wieder zum Nachdenken auf „ihrer“ Lichtung ist, bekommt sie dort plötzlich Besuch. Ein, wie sie findet, bildhübscher Junge, steht auf einmal neben ihr. Er scheint verwirrt, doch nach einiger Zeit verrät er ihr seinen Namen: Anjano. Doch zu der Frage, wo er herkommt und warum er so anders spricht, sagt er, er dürfe es nicht verraten. Durch Zufall trifft sie ihn wieder und alles wird noch merkwürdiger, denn nur Juli kann mit ihm reden …
Als sie Whoopie etwas von Anjano erzählen will, geschehen so viele komische Dinge, dass Juli bei den Geschehnissen nicht mehr an zufällige Ereignisse glaubt … Kommt Anjano vielleicht aus der Zukunft?
Doch wer Anjano wirklich ist, ob er tatsächlich aus der Zukunft kommt und was es mit den vielen Zufällen auf sich hat, dass musst du schon selbst herausfinden …

Ich finde das Buch Der Sommer in dem die Zeit stehen blieb sehr spannend, denn ich wollte unbedingt wissen, wer Anjano nun wirklich ist, insbesondere auch, da er zwischendurch immer wieder verschwindet. Ich habe die ganze Zeit gespannt darauf gehofft, dass er bald wieder auftaucht.

Meiner Meinung nach passt der Titel Der Sommer in dem die Zeit stehen blieb nicht wirklich zum Inhalt des Buches. Außerdem hatte ich beim Lesen zunächst Schwierigkeiten, mich in die Geschichte einzufinden. Nachdem ich dann aber „in der Handlung angekommen war“, fiel es mir schwer, das Buch wieder wegzulegen.
Ich empfehle das Buch Mädchen zwischen 11 und 15 Jahren, denen spannende und auch ein wenig mystische Geschichten gefallen.

Bücherwurm (13)

Tanya Stewner: Der Sommer, in dem die Zeit stehenblieb, FISCHER KJB, 2. Aufl. 2015, 320 Seiten,  ab 12, 14,99 Euro

Die Qualen einer Flucht

train kidsNeulich läuteten in Köln und Umgebung die Glocken im Gedenken an die Flüchtlinge, die seit dem Jahr 2000 im Mittelmeer, vor den Grenzen Europas, umgekommen sind. 23000 Mal erklangen die Glocken, für jeden Toten ein Glockenschlag. Eine schöne Geste, aber längst wieder verhallt.
Dass es nicht nur im Mittelmeer Flüchtlinge gibt, die ihr Leben riskieren, weil sie sich in der Ferne ein menschenwürdigeres Leben erhoffen, ist bekannt. Eine Art der Flucht holt uns Dirk Reinhardt mit seinem Roman Train Kids eindrücklich ins Bewusstsein.

Die Jugendlichen Miguel, Fernando, Emilio, Angel und das Mädchen Jaz machen sich von der Südgrenze Mexikos auf nach Norden. Auf Güterzügen wollen sie bis nach Nuevo Laredo an der Grenze zu den USA gelangen, um von dort illegal in das anscheinend gelobte Land einzuwandern. Jeder von ihnen hat gute Gründe, die Heimat in Guatemala, El Salvador oder Honduras zu verlassen. In den USA hoffen sie, Verwandte wiederzufinden, Mütter oder Brüder, und endlich ein besseres Leben ohne Elend und Hunger führen zu können. Doch der Weg dorthin ist lang, beschwerlich und gespickt mit Gefahren.

Fernando, der die Tour bereits einmal gemacht hat und von den mexikanischen Behörden erwischt und zurückgeschickt wurde, wird zum Leitwolf der Gruppe. Gemeinsam haben die Kids bessere Chancen durchzukommen, denn Fernando weiß, wo die Gefahren lauern und wie man sie am besten umgehen kann. Die Jugendlichen lernen das Aufspringen auf die Züge, wie man sich vor Ästen und Hochspannungsmasten schützt, wie man Tunnel übersteht, im Fahren Orangen pflückt. Doch trotz aller Vorsicht und aller Warnungen von Fernando bleibt es nicht aus, dass sie Banditen, Drogenhändlern und Polizisten in die Hände fallen. Sie müssen Schutzgelder zahlen, werden erpresst und ausgeraubt. Sie leiden Hunger und Durst, frieren nachts in der Wüste und in den Bergen, aber sie erleben auch die Hilfsbereitschaft eines Pastors und seiner Gemeinde und von der einfachen Landbevölkerung. Und die Freundschaft in der Gruppe. Dennoch schaffen es nicht alle der fünf es bis an die Grenze …

Reinhardts Buch fesselt und macht gleichzeitig betroffen, denn das, was er erzählt entspricht den Tatsachen. Reinhardt hat vor Ort in Mexiko recherchiert, mit realen Train Kids gesprochen und ihren Leidensweg hautnah nachvollzogen. Etwa 50 000 von diesen Kindern sind ständig in Mexiko unterwegs, schreibt Reinhardt in seinem Nachwort. Laut Amnesty International gehört die Flucht auf den Güterzügen durch das Land zu den gefährlichsten Fluchten der Welt. Nur ein Bruchteil der Flüchtlinge erreicht das Ziel. Warum das so ist, weiß man nach der Lektüre von Train Kids ziemlich genau.

Reinhardts Quintessenz aus seinem Nachwort, gilt jedoch nicht nur für Mittelamerika: „Will man wirklich etwas tun, um dieses Problem anzugehen, so kann die Lösung nicht darin bestehen, die Grenzen abzuriegeln und Migranten zu jagen, als wären sie Kriminelle. Langfristig ist es sinnvoller die Wirtschaft in den [jeweiligen] Ländern zu stärken und die Armut zu bekämpfen.“ Ist das wirklich so schwierig?

Dirk Reinhardt: Train Kids, Gerstenberg Verlag, 2015, 320 Seiten, ab 13, 14,95 Euro

[Jugendrezension] Düstere Visionen im viktorianischen London

madisonSeit langem habe ich kein Buch mehr gelesen, über das ich so eine gemischte Meinung hatte, wie Madison Mayfield –Die Augen des Bösen von Rainer M. Schröder.

Protagonistin des Romans ist die 17-jährige Madison, die seit dem tragischen Tod ihrer Eltern bei ihren Verwandten im London des Jahres 1890 ein trostloses Dasein fristet. Zwar können ihr reicher Onkel und ihre Tante ihr materiell alles bieten, doch spürt Madison permanent, dass sie unerwünscht ist. Besonders ihre Cousinen machen ihr das Leben schwer.

Doch damit nicht genug, denn seit einem schweren Unfall wird Madison immer wieder von anfallartigen Visionen heimgesucht. Diese Visionen zeigen Madison grausame Morde – durch die Augen des Täters! Von ihrer Umwelt wird Madison zunächst verrückt gehalten. Für einige Wochen wird sie in eine Irrenanstalt eingeliefert. Madison ist heilfroh, als sie endlich entlassen wird. Doch ihre mysteriösen Anfälle haben sich herumgesprochen. Bald wird Madison von einem ehemaligen Scotland-Yard-Detective namens Blake Scarboro aufgesucht. Er glaubt, dass Madisons Visionen die Zukunft zeigen. Die Morde, die sie gesehen hat, sind tatsächlich verübt worden. Madison ist zunächst skeptisch. Doch Scarboro ist nicht der Einzige, dem Madisons Visionen zu Ohr gekommen sind …

Die Bücher von Rainer M. Schröder habe ich schon immer mit Vergnügen gelesen, da ich großer Fan von historischen Büchern bin. Als ich dann auch noch London, viktorianisches Zeitalter und Scotland Yard hörte, war ich sofort Feuer und Flamme. Doch muss ich sagen, dass es mir nicht immer leicht gefallen ist, die Geschichte zu lesen. Besonders am Anfang fand ich es schwer, mich an Schröders Schreibstil zu gewöhnen. Schröder ist für seine ausgeschmückten Beschreibungen bekannt, das war in seinen bisherigen Büchern auch so. Bisher hat mich das nie gestört. Diesmal war es anders. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass ich älter geworden bin und in letzter Zeit viele Bücher mit einfachem, knappen Satzbau gelesen habe, oder dass Schröder vielleicht tatsächlich anders geschrieben hat. Mir kam es so vor, als stünde vor fast jedem Nomen mindestens ein Adjektiv. Manche davon empfand ich als unnötig, wie zum Beispiel „dunkler Schatten“. (Ich habe noch nie einen hellen Schatten gesehen).

Auf der anderen Seite muss man sagen, dass Schröders Beschreibungen stets bis ins kleinste Detail recherchiert sind. Man merkt, dass Schröder sich ein fundiertes Wissen über die Zeit angeeignet hat. So erwacht das viktorianische London zum Leben. Ich konnte beim Lesen förmlich die Menschen und die Straßen sehen. Und obwohl ich zu behaupten wage, schon einiges über diese Epoche zu wissen, konnte ich noch vieles dazulernen. Zum Beispiel über Irrenanstalten und die Behandlung psychisch kranker Menschen (sehr schockierend!), aber auch über Indien und die Sikhs, sowie Priesterlöcher, als auch die irische Freiheitsbewegung, und noch so viel mehr. Es muss eine Heidenarbeit gewesen sein, all diese Informationen zusammenzutragen. Aber das ist es gerade, was einen historischen Roman ausmacht: nicht bloß Fakten, die kann einem auch ein Schulbuch vermitteln, die Zeit muss zum Leben erweckt werden! Man muss sie riechen, schmecken und spüren können. Das gelingt Rainer M. Schröder wie keinem anderen und macht ihn in meinen Augen zu einem der größten Autoren historischer Literatur in Deutschland.

Mit Madisons Visionen hat er dieser Geschichte ein Fantasy-Element hinzugefügt. Ich fand es gut. Es hat zu der Geschichte gepasst und sie noch interessanter gemacht. Überhaupt kann man sagen, dass die Handlung nur schwer vorhersehbar war und immer wieder überraschende Wendungen bot.

Die Charaktere der Hauptperson und auch von vielen Nebenpersonen sind vielschichtig und faszinierend. Einige Charaktere sind meiner Meinung nach wiederum zu blass geblieben, wie zum Beispiel Blake Scarboro. Auch Duffy war mir ein ewiges Rätsel und erinnerte mich eher an ein Kinderbuch, als an ein Buch für junge Erwachsene.

Vielleicht hätte der Geschichte ein bisschen weniger Handlung gut getan. Es sind so viele Handlungsstränge miteinander verflochten, dass man bei einigen Sachen nur an der Oberfläche bleiben konnte. Manchmal fand ich es unglaubwürdig, wie sich Personen verhielten. Zudem hätte ich mir ein anderes Ende für Madison und Leona gewünscht. Aber dann gab es in dem Buch auch wieder unglaublich starke Szenen.

Auch wenn mein Feedback nicht durchweg positiv ausgefallen ist, bereue ich es nicht, das Buch gelesen zu haben. Zwar hätte ich mir ein paar Sachen anders gewünscht, aber im Großen und Ganzen war die Handlung interessant und abwechslungsreich und mal etwas erfrischend anderes. Außerdem sollte ein Fan von historischer Literatur das Buch schon allein wegen der tollen Beschreibungen lesen!

Juliane (16)

Rainer M. Schröder: Madison Mayfield – Die Augen des Bösen, cbj, 2014, 512 Seiten,  ab 12, 18,99 Euro

Wer hat an der Uhr gedreht …

antonEin Leben ohne Uhr – wäre eigentlich überaus erstrebenswert, aber leider nicht sehr hilfreich. Das weiß man als Erwachsener, nur zu gut. Für Kinder ist die Zeit bis zu einem gewissen Alter ein Mysterium, zwischen Unendlichkeit und rum in null Komma nix. Davon erzählt das schnuckelige Buch Anton hat Zeit von Meike Haberstock.

Anton versteht sich normalerweise ziemlich gut mit seiner Mama. Nur an manchen Tagen läuft alles schief, wenn er wieder einmal etwas sehr gründlich gemacht hat, weil Mama das so wollte. Aber dann hat Mama auf einmal keine Zeit mehr und die beiden müssen die Treppen hinunterrennen, um pünktlich zu sein.
Dann fühlt sich Anton schrecklich, hat einen blöden Kugelfisch im Bauch und versteht die Welt nicht mehr. Mama kann zwar erstaunlich viele Dinge gleichzeitig machen und fragt sich doch ständig, wo die Zeit nur geblieben ist.
Aber Anton erkennt auch, dass nicht nur Mama ein Problem mit der Zeit hat, sondern scheinbar alle Erwachsenen, der Schulbusfahrer, die Betreuerin aus dem Hort, die schreckliche Mutter von Antons Freundin Marie. Nicht mal für ein Spontanbegräbnis eines Eichhörnchens bleibt ausreichend Zeit. Das ist alles überaus merkwürdig.
Hilfe liefert schließlich Antons Opa, der sich Zeit nimmt.

Liebevoll und voller Witz führt Meike Haberstock junge Leser an das Thema Zeit heran. Es geht nicht darum, die Uhr lesen zu lernen, sondern um das Bewusstsein, dass es so etwas wie Zeit gibt. Mit einem großen Augenzwinkern hält sie dabei den Erwachsenen den Spiegel vor, die aus welchen Gründen auch immer nie Zeit haben. Hier lernen folglich Groß und Klein etwas.
Damit bei der Lektüre keinem die Zeit zu lang wird, hat die Autorin die Geschichte gleich auch noch mit entzückenden Illustrationen und frechen Sprechblasen angereichert. Vor jedem Kapitel steht zudem, wie lange man für das Lesen brauchen wird, jedoch nicht in minütlichen Einheiten, sondern in Tätigkeiten, wie Rechenaufgaben lösen, Schokotorte in sich reinstopfen oder auf einen Apfelbaum klettern. Schon da fängt man an zu grübeln, warum man als Erwachsener alles in Stunden und Minuten abmessen und einteilen muss, anstatt der eigentlichen Tätigkeit den Zeitraum zu geben, den sie eben braucht. Könnte man mal drüber nachdenken …

Meike Haberstock: Anton hat Zeit – Aber keine Ahnung warum, Oetinger, 2015, 112 Seiten, ab 6, 12,99 Euro

[Jugendrezension] Unzertrennlich

lilly„Ich liebe dich April. Ich liebe dich so sehr, dass ich in der Klinik einbrechen würde, um dich da rauszuholen und zurück nach Hause zu bringen.“

Phoebe und April aus dem Roman Was fehlt, wenn ich verschwunden bin von Lilly Lindner sind Geschwister und lieben sich, trotz kleiner Streitigkeiten, sehr.

Gegenseitig geben sie sich Halt, in einer Familie, die nicht mehr funktioniert, denn ihre Eltern sind maßlos überfordert. Deshalb reagieren sie in den meisten Situationen auch falsch. In den Momenten, in denen ihre Kinder Halt bräuchten, geben sie ihnen keinen. Als April in eine Klinik kommt, weil sie magersüchtig ist, fühlt sich Phoebe oft alleine, obwohl sie ihre guten Freundinnen hat.
Zu Hause ist nichts mehr, wie es vorher war. Das Mädchen wird nicht mehr von ihren Eltern verstanden. Ihr Vater arbeitet viel und ihre Mutter strickt nur noch. Phoebe will auf jeden Fall Kontakt mit April halten, deshalb schreibt sie oft Briefe an sie. Selbst wenn April nicht antwortet, schreibt sie trotzdem immer weiter. Sie erzählt von ihrem Leben zu Hause, von ihren Eltern und Freunden und von den schönen Erinnerungen mit April. Sie vermisst ihre große Schwester sehr und hofft, dass sie bald wieder zurück nach Hause kommt.

Was fehlt, wenn ich verschwunden bin von Lilly Linder ist ein trauriges und herzzerreißendes Buch. Die Beziehung zwischen Phoebe und April ist so stark, dass sie unzertrennlich scheint.

Diesen Roman zu lesen war sehr schön, denn er zeigt, wie sehr sich Geschwister lieben können, wenn sie getrennt sind und nicht mehr den ganzen Tag beisammen sind. Gleichzeitig war das Buch nicht nur angenehm, sondern auch sehr traurig, denn es wurde auch von der schlimmen Krankheit Magersucht erzählt. Da Lilly Lindner einen ganz eigenen Schreibstil hat und das Buch nur in Briefen geschrieben ist, kann man es rasch in einem Zug durchlesen. Wegen all diesen guten Sachen kann ich dieses Buch nur weiterempfehlen.

Laura (15)

Lilly Lindner: Was fehlt, wenn ich verschwunden bin, FISCHER Kinder- und Jugendtaschenbuch, 2015, 400 Seiten, ab 14, 9,99 Euro

Liebenswert-hinreißend-absurder Fantasy-Quark

ffordeAuf Wikipedia werden die Romane von Jasper Fforde mit dem schnöden Label „Alternativweltgeschichten“ versehen. Kann man machen, trifft es aber nur rudimentär. Ich wäre geneigt, eher von literarisch-absurd-intertextuellem-urkomisch-ironischem-Größenwahn zu sprechen.
Jetzt ist endlich Ffordes Jugendroman Die letzte Drachentöterin auf deutsch erschienen, übersetzt von Isabel Bogdan. Und auch der haut genau in diese Kerbe.

Wie in Ffordes Thursday-Next-Reihe spielt die Drachentöterin in einem zerfallenen Ununited Kingdom, von dem man noch Reste des britischen Empires zu erkennen meint, dann aber doch wieder durch die wahnwitzigen Absurditäten auf völlig andere Fährten gesetzt wird. Lässt man sich darauf ein, erlebt man das Abenteuer von Jennifer Strange, fast 16. Sie leitet Kazam, die Vermittlungsagentur für Magier, und betüddelt alternde Zauberer, die sich gegen das Abklingen der Magie und billigere Konkurrenten wehren müssen.
Als die Präkogniker eines Tages den Tod des letzten Drachen voraussagen, ändert sich Stranges beschauliches Leben schlagartig, denn sie ist ausersehen, das Schuppentier ins Jenseits zu befördern. Der Drache Maltcassion selbst lebt in einem abgegrenzten Reich, dessen magisch abgesicherte Hochspannungsgrenze jeden Eindringling, außer der Drachentöterin, sofort verpuffen lässt.  Nach seinem Tod jedoch würde diese Grenze fallen und das weite, unberührte Land könnte von Siedlern besetzt werden.
Da sich die Nachricht von Maltcassions bevorstehenden Tod natürlich in Windeseile herumspricht, sammeln sich die Menschen an der Grenze zum Drachenland, die Könige verschiedener Länder versuchen bei Strange, der auf einmal wichtigsten Person in Ununited Kingdom, Strippen zu ziehen und ihre Macht spielen zu lassen, Medien und Sponsoren stürzen sich auf sie … nur hat Jennifer Strange ganz andere Dinge im Sinn.

Plotmäßig kann ich hier natürlich nicht mehr erzählen, das wäre doch zu fies. Allerdings sei gesagt, dass es Fforde mit einer faszinierenden Leichtigkeit, die auch der frech-forsch-flappsigen Übersetzung von Isabel Bogdan geschuldet ist, sprechende Fantasy-Drachen-Smaug-Reminiszensen so mit Medien- und Gesellschaftskritik zu verheiraten, dass es eine Wonne ist. Die Gier von Regierenden, Medienschaffenden und normalem Volk trifft auf ein kämpferisches Mädchen, das sich von nichts und niemandem einschüchtern lässt und auch auf scheinbar unabänderliche Voraussagen pfeift. Man kann nicht anders, man schließt Jennifer Strange ins Herz – zusammen mit ihrem merkwürdigen tierischem Begleiter, dem furchterregend aussehenden, aber zutiefst sanftmütigen Quarktier.

Die Absurditäten in Ffordes Geschichten (Marzipan als Droge, Bananen zum Schwerterschleifen, Magier, die Leitungen verlegen und anderes mehr) und der Ideenreichtum des Autors suchen meines Erachtens seines Gleichen. Und unterhalten ganz vorzüglich. So finde ich es sehr bedauerlich, dass längst nicht alles von Jasper Fforde auf deutsch erschienen ist. Ich kenne eigentlich keine andere Fantasy-Literatur, die so grandios mit Verweisen auf andere literarische Werke (die ich hier beileibe nicht alle erkannt habe, was aber dem Vergnügen überhaupt keinen Abbruch tut) spielt und gleichzeitig die absurden Auswüchse unserer Gesellschaft aufdeckt. Davon will ich mehr. Möge also „The Song of the Quarkbeast“, der Nachfolge-Band der Drachentöterin, nicht erst in drei Jahren hier zu lesen sein …

Jasper Fforde: Die letzte Drachentöterin, Übersetzung: Isabel Bogdan,  Lübbe ONE, 2. Aufl. 2015, 252 Seiten, ab 14, 14,99 Euro

[Gastrezension] Auf der Suche nach dem Vater

„Hugo wusste ja gar nicht, dass er Vater war. Plötzlich tat er mir leid, denn eigentlich war es wie bei Hunden. Wenn man einen kleinen Hund bekam, musste man ihm beibringen, dass er nicht drinnen pinkeln durfte und ordentlich an der Leine laufen musste. Genauso mussten Väter viel lernen. Sie durften nicht auf der Straße singen, nicht komisch mit der Kellnerin rumscherzen und keine doofen Klamotten tragen“, überlegt der zehnjährige Samuel, der in den Ferien einem Mädchen hilft, ihren Vater kennenzulernen. Eine erfrischende Neuinterpretation des alten Spruchs „Vater werden ist nicht schwer, Vater sein dagegen sehr“ ist diese wunderbar seltsame Woche mit Tess. Und ebenso der furiose Roman Fünf Dinge, die ich über meinen Vater weiß. In diesen zwei Büchern, übrigens beide von jungen Niederländerinnen geschrieben, suchen Mädchen nach ihren Vätern – ein klassisches Thema, das in Zeiten moderner Familienstrukturen und Lebensformen spannend und herzzerreißend schön erzählt wird.

So weiß Kiki njongmanur fünf Dinge über ihren Vater, genau genommen nicht mal die mit Sicherheit, da sie lediglich auf vagen Erinnerungen ihrer Mutter beruhen. Weil das der 14-Jährigen aber nicht reicht, macht sie sich mit ihrer besten Freundin Lottie, einer begnadeten Zeichnerin aus einer glücklichen Familie, auf die Suche, nach dem Mann, der mehr sein soll als nur ihr Erzeuger. Außerdem hilft ihr Wieger, Exfreund der Mutter, der lange liebevoller Ersatzpapa war, jetzt aber eine eigene Familie und dementsprechend weniger Zeit hat.

Bassist soll Kikis biologischer Vater gewesen sein, und so sammeln die Mädchen Merkmale von bassspielenden Bandmusikern für ein Porträt. Dabei lernen sie die unterschiedlichsten Typen kennen, treten in einige Fettnäpfchen, gewinnen bleibende Eindrücke unter Alkohol, werden nach einem Einbruch verhaftet und stellen ihre Freundschaft auf eine harte Probe. Kiki erzählt flott in raffinierten Zeitsprüngen, mit viel Wortwitz und Selbstironie. Nebenbei spielt Mary Shelleys Roman Frankenstein eine Rolle, selten wurde der Stoff so charmant und mit soviel Sympathie für das Monster adaptiert.

Kiki hat mitreißende Ideen, ist schlau, etwas schräg, manchmal überschießend und ganz schön mutig. So eine Tochter lässt sich nicht mit vermeintlich harmlosen Lügen abspeisen, die in Wahrheit mehr ihrer immer noch ziemlich jungen Mutter helfen.
In 5 Dinge, die ich über meinen Vater weiß von Mariken Jongman krachen Mütter und Töchter mehrfach heftig aufeinander, denn auch Kikis Mama ist mit ihrer Mutter nicht im Reinen. Jahrelang schwelen Streitereien, wie sie wahrscheinlich nur zwischen starken Müttern und selbstbewussten Töchtern ausgetragen werden. Und immer wollen die Älteren nur das Beste für ihre Kinder. Aber die wollen und müssen das für sich selbst entdecken. Und so findet Kiki bei der Suche nach ihrem Vater auch ganz viele andere Dinge heraus – und schließlich ihre eigene, eigenartige, ebenso liebenswerte wie liebevolle Familie.

woltzDass man nicht selbst auf der Suche nach seinem Vater sein muss, um vieles über sich und die eigene Familie zu rauszufinden, erfährt Samuel, als er Tess begegnet. Im Roman Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess von Anna Woltz trifft der grüblerische Zehnjährige, von seinem älteren Bruder gehässig „Professor“ genannt,  das nur ein Jahr ältere, aber gut einen Kopf größere Mädchen in den Ferien auf der niederländischen Insel Texel. Und kaum hat sie ein paar merkwürdige Fragen auf ihn abgefeuert, übt sie auch schon Walzer mit ihm – denn „der Rest meines Lebens hängt davon ab“, sagt Tess. Ihre burschikose, selbstbewusste Mutter meint zwar, auf Männer könne man gut verzichten, trotzdem hat Tess ihren Vater durch schlaue Recherchen ausfindig gemacht und nun auf die Insel gelockt, ohne ihm zu verraten, dass sie seine Tochter ist. Sie will ihn erst kennenlernen und dann entscheiden.

Samuel ist eigentlich zu verkopft für soviel Spontanität. Außerdem übt er gerade, sich gegen Gefühle abzuhärten, um nicht vom Kummer überwältigt zu werden, wenn jemand Geliebtes stirbt. Die Beerdigung des Vaters einer Klassenkameradin hat ihn dazu gebracht. Ganz anders Tess, die ein Feuerwerk unterschiedlichster Emotionen ist, für Samuel ebenso faszinierend wie rätselhaft. Sie konfrontiert ihn auch erstmals mit einem feministischen Dilemma: Zum Beispiel ist Tess überzeugt, dass Frauen sich zu oft entschuldigen, und lässt es folglich bleiben, obwohl ihr tollkühner Plan auch mal schiefgeht und sie Samuels Hilfe braucht.

Samuel ist ein exzellenter Beobachter, trotzdem kann er sich nicht auf alles einen Reim machen. Aber wer so tolle, treffende Begriffe wie Dünenkaninchen und Schienbeinmuskelkater in einem Zusammenhang verwendet, versteht und erlebt mehr als andere. Diese Ferienwoche ist spannend, abenteuerlich, verrückt, lustig, kurios und philosophisch. Regine Kehns mal prägnante, mal leicht versponnene Bilder untermalen das sehr schön. Seltsam? Vielleicht. Wunderbar? Definitiv! Wie Tess’ funkelnde Pünktchenaugen.

Elke von Berkholz

Mariken Jongman: 5 Dinge, die ich über meinen Vater weiß, Übersetzung: Birgit Erdmann, Carlsen, 2015, 252 Seiten, ab 14, 10,99 Euro

Anna Woltz: Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess, Übersetzung: Andrea Kluitmann, Illustrationen: Regina Kehn, Carlsen, 2015, 176 Seiten, ab 10, 10,99 Euro

 

 

Iiiiiiehhh … ähhh … wie cool!

ekligOkay, reden wir Tacheles: Das Leben steckt voll richtig ekliger Dinge wie Körperausscheidungen aller Art, Kriech- und Krabbeltieren, Nagern, Abfall und Abgasen … und gleichzeitig sind diese auch überaus faszinierend, so dass man sich mit einem wohligen Schauer immer wieder mit ihnen befasst.
In dem Sachbuch Voll eklig! von Bärbel Oftring kann man nach Lust und Laune den ekligsten Substanzen und Getieren auf den Grund gehen. Wie entstehen Pickel? Warum mögen wir weder Zecken noch Kakerlaken? Warum ekeln wir uns vor Kot, Kotze, Blut, Urin, Ohrenschmalz und Popeln? Wie wurde in früheren Zeiten gekackt, als es noch keine Wasserklosetts gab? Antworten liefert Oftring in kurzen, aber sehr aufschlussreichen Texten, so dass der Ekelfaktor nicht überstrapaziert wird. Quizfragen und Forscheraufgaben reizen dann das eigene Wissen heraus oder machen dem Leser bewusst, wie er mit einem dieser Ekelthemen umgeht.

Ekel ist kein angeborener Instinkt, sondern von Eltern, Familie und der Gesellschaft, in der wir leben, anerzogen. Dabei hat die Gefühlsmischung aus Abneigung und Widerwillen durchaus einen Sinn, schützt sie uns doch vor Gefahren und Krankheiten. Allerdings können wir bei gewissen ekligen Dingen den Ekel auch wieder verlernen, zum Beispiel mit Hilfe von Oftrings „Nicht-mehr-ekeln-Tipps“.

Das Schöne an Bärbel Oftrings Buch ist, dass es ohne Tabus daherkommt, die Dinge klar beim Namen nennt, um die im normalen Leben meist verschämt herumgeredet wird. Die Fotos und Illus entsprechen dieser Offenheit, so dass man sich zwar manchmal überwinden muss, gleichzeitig aber auch seinem Voyeurismus ungehemmt freien Lauf lassen kann. Durch die vielen Mitmachelemente – man kann ankreuzen, ausfüllen, rätseln, am Ende eine persönliche Ekel-Hitparade aufstellen – führt sie fast nebenbei das wissenschaftliche Prinzip des Hinterfragens und genau Ansehens ein. Den Kindern macht sie so klar, dass das Ekeln durchaus okay ist, aber dass man auch unangenehme Dinge hinterfragen kann und sollte. Dass die Kids – und die erwachsenen Leser ebenso – ganz nebenbei dazu noch eine Menge über Hygiene, andere Kulturen, Geschichte, Biologie und das menschliche Leben lernen, ist da fast nebensächlich. Und nach der Lektüre kann es durchaus passieren, dass manches auf einmal gar nicht mehr so eklig ist …

Bärbel Oftring: Voll eklig! 55 eklige Dinge und was dahinter steckt, Haupt, 2014, 129 Seiten, ab 8, 19,90 Euro