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Erhellendes Wiedersehen mit alten Bekannten


Disney

Habe ich eigentlich schon mal erzählt, dass ich Lexika liebe? Ich glaube, nicht. Aber es ist tatsächlich so, und das schon ziemlich lange, wie ich neulich beim Ausmisten feststellen konnte. Da fand ich zwei alte Kinderlexika aus den 1970er Jahre und ich erinnerte mich, wie gern ich darin geblättert, gelesen und geschaut habe. Leider musste ich diese beiden Bücher nun dem Wiederverwertungskreislauf zuführen, da es gewisse Einträge in den Werken gab, die heute nicht mehr akzeptabel sind (die Darstellung und Benennung von Menschen aus anderen Kontinenten und Ländern). Es war jedoch eine gute Erinnerung daran, wie sehr Wissen veraltet und wie sehr wir uns in unserer Weltsicht glücklicherweise weiterentwickeln.

Disneys Welt

Eine gewisse Reise in die Vergangenheit liefert mir nun auch das Who’s-Who-Kompendium zum Disney-Kosmos, war doch Schneewittchen der erste Film, den ich je im Kino gesehen habe. Seit fast fünfzig Jahren begleitet mich Disney also durchs Leben, hält schöne Momente bereit, aber auch ambivalente Gefühle, wenn es um die Darstellung von Mädchen und Frauen in den alten Filmen geht.
In Disneys Who’s Who kann man sich jedoch ganz wunderbar auf die Suche nach seinen Lieblingsfiguren machen, die Inhalte der Filme nachlesen, endlich die Namen der Figuren lernen und richtig zuordnen sowie Wissenswertes über die Verflechtung und die jeweiligen Anspielungen der 61 hier vorgestellten Zeichentrick- und Animationsfilme untereinander erfahren. Unter der Rubrik

Schon gewusst?

gibt es nämlich Fakten zu Figuren, Frisuren und Vorlagen. Welche Filme zitieren welche Figuren aus dem Disney-Kosmos? Tinkerbell, Entschuldigung, Naseweis taucht in jedem Vorspann auf … Eine Fundgrube für kleine und große Schlaumeier, wenn z. B. die Anzahl der animierten Haare der Figuren diskutiert werden. So wartet Sully aus der Monster-AG mit stattlichen 2.320.413 einzelnen Haaren auf, während Eiskönigin Elsa sich mit gerade mal 400.000 begnügen muss. Okay, sie ist nicht ganzkörper behaart … Also, ein Lexikon voll geballtem nützlichen und nutzlosen Wissen, wie ich es liebe.

Von gezeichnet zu animiert

Die Abbildungen der Filmfiguren bringen einem dann jedoch nicht nur die Held:innen der Kindheit wieder, sondern illustrieren zudem überaus anschaulich die technischen und stilistischen Entwicklungen der Trickfilme. Waren Schneewittchen oder Susi und Strolch noch zweidimensional gezeichnet, so geht es bei Findet Nemo schon annähernd dreidimensional zu.
Auch den Wandel der Frauenfiguren lässt sich hier beobachten, von der blonden (!) Blauen Fee aus Pinocchio, für deren Animation in den 1940er Jahren eine Hollywood-Schauspielerin Patin stand, zu den starken Prinzessinnen wie Tiana aus Küss den Frosch oder der entschlossenen Vaiana, die nicht als abgemagertes Etwas mit unmenschlich schmaler Taille daherkommt. Ja, Disney hat im Laufe der Jahre ordentlich Gegenwind für seine klischeehaften Darstellungen von Mädchen bekommen. Ich mag die Hoffnung jedoch nicht aufgeben, dass sich das weiterhin ändert und noch mehr Vielfalt in die Filme einzieht. Auch könnte Disney sicher mal queerer werden. Der Hashtag #GiveElsaAGirlfriend ist meines Wissens bis jetzt nicht umgesetzt worden. Es wäre die Gelegenheit gewesen.

Literarische Vorlagen

Doch noch etwas Anderes wird beim Vor- und Zurückblättern in diesem Kompendium deutlich. Neben den offensichtlichen literarischen Vorlagen wie Pinocchio von Carlo Collodi oder Der Glöckner von Notre Dame von Victor Hugo bedient sich das Disney-Team immer wieder an der Literatur. So ist Jim Hawkins aus Der Schatzplanet dem Roman Die Schatzinsel von Robert Louis Stevenson entlehnt. Von Schneewittchen und Cinderella als Märchen-Ikonen mal ganz abgesehen. Hochkultur trifft hier auf Unterhaltung. Die sehr freien Umsetzung bei Disney werden Literaturliebende zwar nicht immer erfreuen, denn oft sind die Unterschiede erheblich, so wie ich das für Pinocchio auf Instagram vor ein paar Monaten angerissen habe.

Das kann man kritisieren und bemängeln, dennoch stecken im Disney-Kosmos unzählige großartige Geschichten und Figuren, seien es Prinzen und Prinzessinnen, Autos, Spielzeuge, Dinos oder Fische, Katzen und Dalmatiner, Micky-Mäuse oder ungarische weiße Mäuse-Damen, gemütliche Bären und hypnotisierende Schlangen, einäugige Glotzkowskis oder heldenhafte Hectors. Im Who’s Who begegnet man allen wieder, macht neue Entdeckungen, geht auf Zeitreise und stellt fest, welche Filme man unbedingt noch nachholen muss. Hier ist also der Disney’sche Kulturschatz aus fast 100 Jahren versammelt. Besser geht’s kaum.

Disney: Who’s Who – Das A bis Z der Disney-Figuren. Das große Lexikon
Das offizielle Standardwerk zu den Heldinnen und Helden aus den Disney-Filmen
, Übersetzung: Rahel Schumacher, Victoria Hahn, CHP Carlsen, 2021, ab 12, 32 Euro

Kluge Kämpferinnen

Abendliche Plauderei vor einiger Zeit mit einer jungen, früheren Kollegin, die ein Philosophiestudium begonnen hat: »Gibt es gar keine Philosophinnen?«, überlegt sie laut. Mir fällt spontan Hannah Arendt ein. Obwohl ich kaum etwas über die streitbare und kluge Frau wusste. Damals hatte ich noch nicht Ken Krimsteins grandiose Graphic Novel Die drei Leben der Hannah Arendt gelesen.
Vielleicht noch Simone de Beauvoir? Aber war das nicht eher eine Feministin und Schriftstellerin? Genau solche Überlegungen machen das von Rebecca Buxton und Lisa Whiting herausgegebene Kompendium Philosophinnen – Von Hypatia bis Angela Davis: Herausragende Frauen der Philosophiegeschichte so spannend und wichtig.

Nie »nur« Philosophinnen

Natürlich sind die 20 in diesem, auch optisch sehr attraktiven Band vorgestellten Frauen alle Philosophinnen. Aber nie »nur« Philosophinnen. Sie alle, vom alten Griechenland bis in die Gegenwart, vereint etwas sehr Handfestes, Praktisches, Lebensnahes und Kämpferisches. Das zeigen die komprimierten, vielschichtigen, teils sehr anspruchsvollen, doch immer gut lesbaren und flüssig übersetzten Porträts, geschrieben von 20 Gegenwartsphilosophinnen. Im Gegensatz zu den oft sehr abgehobenen und realitätsfernen, männlichen Kollegen, die eher dem Klischee des verkopften Geisteswissenschaftlers in seinem Elfenbeinturm entsprechen.

Für ihren Intellekt respektiert und bewundert

Schon Hypatia, die im antiken Griechenland circa von 350 bis 415 n. Chr. gelebt hat, war außergewöhnlich vielseitig: Sie war Mathematikerin (von wegen Mädchen können kein Mathe, ihr Vater Theon unterrichtete sie von klein auf und schon bald stellte sie ihn in den Schatten, wie Quellen belegen), Astronomin und Philosophin, außerdem versiert in Rhetorik und Dialektik. Hypatia unterrichtete in Klassenzimmern und auf öffentlichen Plätzen die Lehren Platons, Aristoteles‘ und anderer Philosophen. Sie wurde bewundert von ihren Studenten, war eine charismatische Rednerin und für ihren Intellekt respektiert.

Von Gegnern gefürchtet und brutalst ermordet

Skurril ist die Anekdote, wie Hypatia sich eines besonders hartnäckigen Verehrers erwehrt hat. Nachdem es ihr nicht gelang, den jungen, schmachtenden Mann mit stundenlangem Musizieren abzuwimmeln, »zog sie ein mit Menstruationsblut verschmiertes Tuch hervor, das sie dem jungen Mann unter die Nase hielt und ihm erklärte, es sei nur ihre Lust, die er begehrte, und diese sei in ihrer Schönheit nicht annähernd vergleichbar mit ihrem Intellekt und dem Wunder der Philosophie.«
Außerdem war Hypatia eine kluge politische Ratgeberin und setzte sich sehr für das Gemeinwohl ein. Vor allem Orestes schätzte ihre Unterstützung so sehr, dass sie von Schergen seines Gegners brutalst gefoltert und ermordet wurde. Bis dahin galten Philosoph:innen als unantastbare Figuren des öffentlichen Lebens. Nicht nur die Stadt Alexandria stand damals unter Schock. Es dauerte Jahrhunderte bis erneut Philosophinnen auf den Plan traten.

Durch die Lehre vom Sinn des Lebens dem Leben Sinn geben

Was bereits Hypatia auszeichnete gilt auch für die herausragenden Frauen, die ihr folgten: Sie sind Feministinnen, Schriftstellerinnen, Aktivistinnen und Kämpferinnen. Philosophie ist die Lehre vom Sinn des Lebens. Und das bedeutet für Frauen auch dem Leben Sinn zu geben und durch kluges Handeln die Welt zu verändern. Hannah Arendt bezeichnete sich selbst nie als Philosophin – sondern als politische Denkerin. Eines ihrer großen, viel zu wenig beachteten Themen war, auch aufgrund persönlicher Erfahrung, der Status von Geflüchteten und Staatenlosen. Arendt sagt, dass jeder »das Recht hat, Rechte zu haben.«

Philosophie nicht nur Selbst(darstellungs)zweck

Eine der interessantesten Philosophinnen ist die von Ellie Robson porträtierte Mary Midgley (1919–2018). Bis zum Alter von gut 50 Jahren war Midgley vor allem Lehrende, Wissenschaftlerin und Mutter dreier Söhne. Dem ureigenen Gesetz des Wissenschaftsbetriebs zum Trotz – »wer schreibt, der bleibt« – begann sie erst zum Ende ihres Berufslebens, philosophische Texte zu veröffentlichen. »Davor wusste ich nicht, was ich dachte.«
Für Midgley war Philosophie nie nur Selbst(darstellungs)zweck. Während sie bei ihren männlichen Kommilitonen beobachtete, wie diese in Wortgefechten vor allem die eigene Intelligenz zur Schau stellten, hatte Midgley ein praxisorientiertes Interesse und ging mithilfe der Philosophie lösungsorientiert alltägliche Sorgen an.

Wie Wasserleitungssystem – grundlegend und lebenswichtig

Anschaulich ist ihr Vergleich der Philosophie mit dem Wasserleitungssystem. »Beides sind grundlegende Strukturen, die unverzichtbar sind, weil sie Menschen mit lebenswichtigen Mitteln versorgen.« Und es ist die Aufgabe des Philosophen, wie ein Klempner »den Fußboden aufzureißen«, unsere fehlerhaften Konzepte unter die Lupe zu nehmen und sich dranzumachen, das Problem zu beheben.
Allein Midgleys mittreißende Lebensgeschichte lohnt bereits, Philosophinnen zu lesen. Die versammelten herausragenden Denkerinnen weiten den Blick, machen Mut, motivieren nachzudenken, sich zu informieren und einzufühlen. Und zeigen, dass Philosophie keinesfalls nur abgehobener Intellektuellenfirlefanz ist. Sondern im Gegenteil elementar für das menschliche Zusammenleben. Und Philosophinnen haben einen mindestens ebenso großen Anteil wie die bekannten männlichen Protagonisten. Sie machen bloß nicht so ein Gewese drum. Und nutzen ihre klugen Gedanken für viel Sinnvolleres als den reinen Selbstzweck.

Rebecca Buxton und Lisa Whiting (Hg.): Philosophinnen – Von Hypatia bis Angela Davis: Herausragende Frauen der Philosophiegeschichte, Übersetzung: Roberta Schneider, Daniel Beskos, Nefeli Kavouras, mairisch, 2021, 240 Seiten, 22 Euro, ab 16 Jahre

Tierisch interessanter Sex

sexÜber Sex bei Menschen glauben bereits die meisten Grundschüler gut Bescheid zu wissen, unter anderem durch Videos, die gemeinsam auf dem Pausenhof angeguckt werden.

Aber wie machen es eigentlich die Tiere? „Wie machen Elefanten Sex? Können Tiere schwul sein?“ Solche angesichts von einschlägigen Bildungsmedien wie YouPorn rührend kindlich-naive Fragen hört die Sexualpädagogin Katharina von Gathen häufig. Und deshalb hat sie jetzt im Klett Kinderbuch Verlag, der ohnehin für mutige, gegen den Strich gebürstete Veröffentlichungen steht, ein ganz besonderes Tierbuch herausgebracht: Das Liebesleben der Tiere.

Umfassend, in zahlreichen Kapiteln und inklusive eines Registers aller genannten Tiere informiert sie auf 144 Seiten über alles, was zum Thema Sex gehört und weit über den eigentlichen Akt hinausgeht. Auch erwachsene Leser, die wissen, dass das Liebesleben ganz schön kompliziert sein kann, wundern sich und lernen noch einiges. „Lustiges und Erstaunliches, Gruseliges und Merkwürdiges, Vertrautes und Fremdartiges“ verspricht die Autorin, und das ist noch untertrieben. Die Formen der Fortpflanzung treiben mitunter bizarre Blüten. Und doch hat sich alles für die jeweilige Art und Gattung bewährt und ist von der Evolution erprobt und für sinnvoll befunden.

Es fängt wie beim Menschen meist auch mit der Partnersuche an: Da wird zunächst gebalzt und geworben, ganz ohne Datingportale, dafür umso variantenreicher und farbenfroher. Lauben werden gebaut, es wird getanzt, gerubbelt, und nicht nur Nachtigallen und Vögel im allgemeinen trällern Liebeslieder. Auch männliche Buckelwale und Bootsmannfische locken mit süßen Sirenengesängen (oder was für die weiblichen Ohren der jeweiligen Tierart so klingt). Gibbons finden mit der idealen Duettpartnerin auch die perfekt passende Gespielin. Und Kugelfische malen tagelang mit ihren Flossen kunstvolle Mandalas in den Meeresgrund.

Dann geht’s zur Sache: ganz langsam oder sekundenschnell, einige setzten auf Täuschung oder Bestechung, manchen reicht einmal im Leben (und es ist nicht die Eintagsfliege), andere legen Marathons hin, stundenlang oder bis zu 40 Mal am Tag, bis zur Erschöpfung oder sogar bis zum Tod! Arme Breitfuß-Beutelmausmänner.

Sex dient auch bei Tieren nicht nur der Fortpflanzung, sondern erfüllt zudem soziale Funktionen: Bonobos setzten bekannterweise auf körperliche Liebe statt Gewalt.

Silberfischchen bauen Stolperfallen, die Befruchtung findet indirekt, wenn auch nicht im Reagenzglas statt. Und Fledermäuse, Mauersegler oder Nacktschnecken stehen auf Funsportvarianten. Es gibt aber nicht nur Kuschelsex: Erpel, die ganz rührende und treue Entenpapas werden, stehen auf brutale Gruppenvergewaltigung. Und Katerpenisse haben an der Eichel Stacheln und Widerhaken und sind äußerst schmerzhaft. Kein Wunder, dass Katzen danach nicht gut auf die Kerle zu sprechen und die meiste Zeit des Jahres aufs Rolligsein überhaupt nicht scharf sind.

Katharina von der Ganthen beschreibt diese Kuriositäten wohltuend klar und nüchtern, ohne zu vermenschlichen oder verniedlichen und niemals mit einem Feigenblatt vor dem Mund. Der Humor ergibt sich aus den tierischen Absurditäten an sich.

Das alles wäre aber nur halb so unterhaltsam und lesenswert ohne Anke Kuhls brillante und eigenwillige Illustrationen. Kuhl, die mit dem schrägen Antiwestern-Bilderbuch Cowboy will nicht reiten (Carlsen) debütierte und mit Alle Kinder (Klett) charmant politisch unkorrekte Scherze mit Namen gemacht hat, bildet seit Klär mich auf. 101 Kinderfragen rund um ein aufregendes Thema seit 2014 mit von der Gathen ein bewährtes Duo in Sachen Aufklärung. Die charakteristischen kleinen Glubschaugen verleihen ihren Figuren, ob Mensch, ob Tier, grandios treffende Gesichtsausdrücke und Emotionen.

Echte Hingucker sind ihre beiden aufklappbaren Panoramaseiten mit „Geniale Genitalien“: Es gibt nichts, was es nicht gibt, und Größe ist beileibe nicht alles.

Auch in den Abschnitten Schwangerschaft, Geburt und Familienleben finden sich etliche Kuriositäten, von denen die zweifache Geburt der Kängurubabys die bekannteste und entzückendste ist. Katharina von der Gathen hat im Vorwort nicht zu viel versprochen. Bei „Vertrauten“ ertappt sich der erwachsene Leser immer wieder dabei, Parallelen zu ziehen und festzustellen, dass im menschlichen Miteinander auch nicht alles so anders ist und vieles bestimmt nicht logisch.

Nur der Begriff „Liebesleben“ im Titel ist nicht ganz treffend, denn mit dem, was wir unter Liebe verstehen und was beim Sex eine Rolle spielen kann, aber nicht muss, hat der tierische Akt nichts zu tun. Es macht auf jeden Fall Riesenspaß, darüber zu lesen, und genau so sollte Sex auch sein: Nicht wie in den einschlägigen Filmchen athletisch und hyperästhetisiert, sondern lustig, entspannt, unreflektiert, auch mal unfreiwillig komisch, lächerlich, gelegentlich peinlich, doch stets ein Vergnügen und keine Pflichtleibesübung.

Katharina von der Gathen, Anke Kuhl (Illustrationen): Das Liebesleben der Tiere, Klett Kinderbuch Verlag, 2017, 144 Seiten, ab 8, 18 Euro

[Gastrezension] Die ganze Welt des Whodunit

krimiKrimis sind aus unserem Alltag und unserer Kultur nicht mehr wegzudenken. Gemeinsam Tatort gucken ist Kult; und zu Beginn dieses Jahres waren, bevor die echten Verbrechen der Silvesternacht bekannt wurden, die gewaltgeladenen Til-Schweiger-Episoden und die anschließende wilde, verbale Ballerei in den sozialen Medien das Thema. Thriller, vorwiegend skandinavischen Ursprungs, verkaufen sich wie geschnitten Brot beziehungsweise smørebrød. Deren Auflagen potenzieren sich mit der Anzahl der Leichen, die von den im Genre höchstbeliebten, in Wirklichkeit total unrealistischen, Serienkillern produziert werden. Und selbst in Jugendbüchern gibt es echte Morde, nicht nur an unschuldigen Haustieren, die von den abgebrühten Nachfolgern Emils und den Detektiven aufgeklärt werden.

Dabei fing alles relativ harmlos an, mit zwei Opfern, einem tierischen Täter, aber keinesfalls bestialischem Verbrechen: 1841 veröffentlichte Edgar Allan Poe seine Erzählung „Der Doppelmord in der Rue Morgue“ – Ursprung aller Krimis und gleichzeitig Beginn der Spielart der „Locked Room Mystery“, einer rätselhaften Tat, die sich in einem verschlossenen Raum ereignet hat.

Genau damit beginnt auch das famose Kompendium Krimi! von Katharina Mahrenholtz und Dawn Parisi, der neueste Band ihrer außergewöhnlichen Sachbuchreihe.
Die Chronologie als Zeitstrahl ist seit dem 2012 erschienenen Auftaktband Literatur! der rote Faden, der unten über sämtliche Seiten läuft. Und daran reiht die Kulturwissenschaftlerin und Radiojournalistin Mahrenholtz Meilensteine und Klassiker des Genres neben Kuriositäten und skurrilen Randbemerkungen auf. Und zeigt, wie historische Ereignisse und Entwicklungen sich in der Krimiliteratur niederschlagen. Dawn Parisi illustriert auch das neue Werk der gemeinsam konzipierten Edition geistreich und charmant. Mit nur wenigen Strichen und sparsam verwendeten Farben schafft sie unverwechselbare Charakterporträts von berühmten Ermittlern und ihren Schöpfern.

In diesem Krimi-Band sind sie nun alle vereint: Von Poe und Doyles Sherlock Holmes geht es über die englischen Krimiladies Agatha Christie und Dorothy L. Sayers zu den abgeklärt-desillusionierten hard boiled stories aus den Remington Schreibmaschinen eines Raymond Chandler oder Dashiell Hammett. Die englischen Ex-Spione und Bestsellerautoren Ian Fleming und John le Carré sind natürlich ebenso vertreten wie die mittlerweile mehr aus Fernsehfilmen bekannte Figuren wie Henning Mankells depressiver Eigenbrötler Wallander oder Donna Leons venezianischer Lebemann Commissario Brunetti. Krimis aus Schottland, Deutschland, der Schweiz, Niederlande, Israel, Südafrika, den USA und Dänemark, selbst den Färöer Inseln – überall blüht zumindest in der Literatur das Verbrechen. Längst ist aus den einst belächelten, trivialen Fortsetzungsgeschichten in Heftchenformat ein milliardenstarker Absatzmarkt geworden.

Wirklich exzellent sind in Krimi! die übergreifenden Doppelseiten: Da werden, von Dawn Parisi witzig bebildert, ungewöhnliche Mordwaffen und berühmte Krimiheldinnen und Ermittlerinnen unter die Lupe genommen.
Auch die ursprünglichen Berufe der Autoren sind höchst interessant: Jo Nesbø war vor Harry Hole erfolgreicher Börsenmakler und Popsänger. Léo Malet, Autor wunderbarer Paris-Krimis, versuchte sich als Chansonnier, und Raymond Chandler hat seinen gut bezahlten Job als Direktor einer Ölgesellschaft versoffen.

Krimi! ist eine prickelnde Perle dieser Sachbuchreihe, aus der aktuell auch die Monographie Shakespeare! zum 400. Todesjahr des Theatermeisters zu empfehlen ist.

Elke von Berkholz

Kathatrina Mahrenholtz, Dawn Parisi (Illustrationen): Krimi! Mord und Totschlag in der Literatur, Hoffmann und Campe, 77 Seiten, ab 14, 15 Euro

Körperwissen

körperWenn ich nicht gerade Kinder- und Jugendbücher lese, darüber blogge oder selber welche aus dem Italienischen ins Deutsche übersetze, arbeite ich bei einer Gesundheitszeitschrift. Für die rezensiere ich unter anderem neue Ratgeber und Sachbücher. Bücher für Kinder passen da leider nicht rein – dabei gibt es auch für junge Leser ganz wunderbare Sachbücher, die sich mit dem menschlichen Körper beschäftigen.

Gerade ist das Buch Körper von Andrea Schwendemann in der Reihe „Wieso? Weshalb? Warum? Profiwissen“ erschienen, und das zeigt auf sehr kurzweilige und schlaue Art, was so alles in uns steckt. Da erfährt man Interessantes über Knochen, Muskeln, Gehirn, Blut und unsere Sinne. Aber auch, warum wir Sauerstoff und Nahrung brauchen. Oder was beim Verliebtsein im Körper passiert. Die körperlichen Unterschiede von Mädchen und Jungen werden genauso erklärt, wie Pubertät, Sex, Verhütung und Schwangerschaft.
Die kurzen, gut verständlichen Texte sind angereichert mit so genanntem Spezial-Wissen, Rezepten für Honig-Ei-Shampoo und Anti-Pickel-Paste oder auch amüsanten Quizfragen. Zudem gibt es kurze Interviews mit einem Sportmediziner, einer Schlafforscherin und dem Leichtathleten Heinrich Popow, der bei den Paralympics 2012 eine Goldmedaille im 100-Meter-Lauf holte. Gerade dieses Interview auf der letzten Seite finde ich besonders schön, da es den Kindern zeigt, dass man nicht körperlich vollkommen sein muss, um großartige Dinge zu machen. Popow macht betroffenen Kindern also jede Menge Mut.

Andrea Schwendemanns Körper-Buch lebt aber darüber hinaus von den vielen Bilder und Illustrationen von Rolf Bunse und Billa Spiegelhauer. Sie liefern einen klaren Eindruck in unser Innenleben und das Funktionieren der Organe, Gelenke, Zellen. Es gibt also jede Menge zu schauen und zu entdecken, langweilig wird hier mit Sicherheit niemandem. Und vielleicht hat nach dem vielen Blättern und Lesen der eine oder die andere ein wenig mehr Respekt vor dem eigenen Körper und geht liebevoller mit ihm um. Oder vielleicht wird die eine oder der andere angestachelt, später mal Medizin, Biologie oder Sport zu studieren. Lauter schöne Aussichten, die dieses Buch vermittelt.

Andrea Schwendemann: Körper, Illustration: Rolf Bunse und Billa Spiegelhauer,    Wieso? Weshalb? Warum? Profiwissen, Bd. 5, Ravensburger Buchverlag 2014, 56 Seiten,  ab 8, 14,99 Euro

Es muss nicht immer Dr. Sommer sein…

Ja, es gibt sexuelle Aufklärung jenseits des Dr.-Sommer-Teams. Mädchen ab 12, denen die Bravo zu peinlich ist, können jetzt auf den Jugend-Brockhaus „Total verknallt!“ ausweichen. Dort finden sie verständlich geschriebene Artikel zu allen Themen rund um Liebe, Sex und Zärtlichkeit. Ohne mit dem moralischen Zeigefinger zu wedeln, erklären die Autoren tabulos, aber sachlich nicht nur die Basics der körperlichen Vorgänge, Sexualpraktiken oder das jugendliche Gefühlschaos, sondern plädieren auch für die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit. Vom Quickie bis Queer ist hier alles drin, was wichtig ist, und was man vielleicht nicht zu fragen wagt …

Layout-technisch ist dieses Nachschlagewerk frech aufgemacht. Das Rosa-Lila von Schrift und Hintergrund wirkt jung und Girls-kompatibel, aber nicht kindisch – und ist auf jeden Fall keine Pink-Orgie á la Lillifee. Nur warum die Verweise und die Randbemerkungen gelb gedruckt wurden, verstehe ich nicht so richtig. Lesbarkeit ist für mich jedenfalls etwas anderes … aber vielleicht bin ich auch schon zu alt und augenschwach, um diese Entscheidung wirklich nachvollziehen zu können.

Der Jugend-Brockhaus: Total verknallt! Alles über Liebe, Sex und Zärtlichkeit. Brockhaus in der Wissenmedia, 2011, 192 Seiten, ab 12, 12,95 Euro