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Schöne Arroganz der Jugend

mason

Er konnte sie starren hören. Gleich würde sie ihm sagen, dass er ihr ein absolutes Rätsel sei. »Du bist mir ein absolutes Rätsel«, sagte sie. Und dann würde sie ihm sagen, dass sie gar nicht mehr wisse, wer er sei. »Garvie Smith«, sagte sie. »Ich weiß gar nicht mehr, wer das eigentlich ist.«
Mit dieser sehr lebensechten Szene – einer typischen Auseinandersetzung des 16-Jährigen Garvie Smith und seiner resoluten, alleinerziehenden Mutter – beginnt dieser hervorragende Krimi Running Girl von Simon Mason. Garvie ist ebenso intelligent wie gelangweilt von allem. Weshalb er zum Kummer seiner Mutter keine guten Noten mit nach Hause bringt und sich nur sporadisch in der Schule blicken lässt. »Was sah er, das ihn auch nur eine Sekunde lang daran zweifeln ließ, dass das Leben im Allgemeinen nichts weiter als ein in Zeitlupe vor sich hinschleichender, sinnloser, schäbiger und stinklangweiliger Teppichfussel billigster Machart war? Und daher starrte er mit unbewegtem Gesicht weiterhin an die Decke.»Ich glaube, wenn nicht gleich was passiert, raste ich aus«, sagt Garvie.« Und tatsächlich: Kurze Zeit später wird Garvies Mitschülerin, die »schöne, unsympathische Chloe«, ermordet in einem Tümpel aufgefunden. Und Garvies Lebensgeister erwachen.

Vor lauter geistiger Unterforderung unausstehlich

Das ist nur ein Parallele zum berühmtesten Meisterdetektiv Sherlock Holmes. Der wurde vor einigen Jahren in drei BBC-Miniserien mit angemessener Würdigung des Originals exzellent modernisiert. »Gebt ihm einen Fall«, lautet der verzweifelte Ruf seiner Freunde, wenn Sherlock vor lauter geistiger Unterforderung absolut unausstehlich wird.
Revival des legendären Helden von Arthur Conan Doyle, der die von ihm geschaffene Figur schon bald als Monster und Belastung empfand und töten wollte, gab es schon einige, eigentlich war er nie weg. Im Jugendbuch berufen sich auffällig viele weibliche Hauptfiguren auf  Sherlock, zum Beispiel Ingrid in der packenden Trilogie von Peter Abrahams Anfang der 2000er Jahre. Auch bei den aktuellen Krimis fragen sich die jungen, klugen Heldinnen wiederholt »Was würde Sherlock tun?« Und das liegt nicht daran, dass der berühmte Detektiv in Benedict Cumberbatch einen hinreißend attraktiven Wiedergänger gefunden hat.
Simon Mason erwähnt den genialen Kriminalisten namentlich nur spöttisch-ironisch.
Bewusste Irreführung, denn das Vorbild schimmert überall durch und wird ebenso charmant wie raffiniert neu interpretiert – nicht nur in Form von Garvie Smiths sehr ansehnlich beschriebenem Äußeren.

Sherlocks Wiedergänger

Er ist ein brillanter Beobachter mit fotografischem Gedächtnis und nimmt jedes Detail, besonders die vermeintlich unwichtigen wahr.  Seine Merkfähigkeit ist erstaunlich, nebenbei jongliert Garvie im Kopf mit komplexen Zahlen und zieht nachvollziehbare Analogien aus der abstrakten Mathematik. Und er kann sich an Szenen und Dialoge so exakt erinnern, dass es fast quälend ist.
Der 16-jährige Gelegenheitskiffer sieht immer hinter das Offensichtliche und lässt sich nie zu voreiligen Schlussfolgerungen verleiten. Weshalb er auch bei der ersten Begegnung mit Inspektor Singh diesem wütend »Es sind alles die falschen Fragen!« entgegenschleudert. Der Sikh Ramidar Singh ist ein moderner Inspektor Lestrade, nicht dumm, aber gefangen in einem konservativen Polizeiapparat und starren Vorurteilen und immer einen Schritt hinter dem geistig enorm wendigen Garvie.

Angenehm pädagogisch inkorrekt

Der hübsche Schlacks hat eine rasante Auffassungsgabe und erkundet zum Beispiel blitzschnell eine terra incognita wie die weibliche Psyche und verwendet sie für seine Zwecke. Gleichzeitig kokettiert er: »Nichts ist das einzige, was ich wirklich gut beherrsche.« Überhaupt nichts hält er von Ordnung, »sie erschien ihm als eine Form persönlicher Verblödung«. Tatsächlich gerät die »verhängnisvolle Dämlichkeit der Ordnungsliebe« dem Täter zum Verhängnis.
Wie Sherlock greift Garvie auch auf die Fähigkeiten seiner kleinkriminellen Freunde zurück. Ob die Methoden, ein Fahrradschloss oder eine Balkontür zu knacken, tatsächlich so funktionieren, wie minutiös beschrieben, würde man gern ausprobieren. Das ist nur ein erfrischendes Detail von Simon Masons flottem und packendem Stil. Garvie raucht Zigaretten und Gras, das ist stimmig und angenehm pädagogisch unkorrekt. Entzückend ist ein kurzes Zitat aus dem Klassiker To Have and Have Not, der coolste Flirt der Filmgeschichte und gleichzeitig die erste Begegnung Humphrey Bogarts mit seiner späteren großen Liebe und Ehefrau Lauren Bacall. Aber keine Sorge, eine Liebesgeschichte gibt’s in Running Girl nicht.
Überhaupt schreibt Mason, der im Hauptberuf Verlagsleiter ist und bereits die  sympathisch schräge Familiensaga der Quigleys geschrieben hat, wunderbar kitsch- und klischeefrei. Mit so originellen Einsprengseln wie den »auf gewinnende Art schiefen Zähnen«  eines jungen Polizisten.

Beinahe tödliche Coming-of-Age-Erkenntnis

Bis auf eine spätere Szene mit Garvies im Laufe der Geschichte immer mehr von Sorgen zerfressenen Mutter. Aber was zunächst wie ein Fall von emotionaler Erpressung, eine der scheußlichsten Erziehungsmethoden überhaupt, wirkt, läuft später auf eine Coming-of-Age-Erkenntnis hinaus. Natürlich ist Garvie Smith auch die pure Arroganz der Jugend: Man hat alles gecheckt, weiß viel besser, wie das Leben läuft, und die Alten haben sowieso keine Ahnung. Aber plötzlich, auf schmerzhaft eindringliche und beinahe tödliche Weise, versteht Garvie, was es bedeutet, Verantwortung zu tragen: »Ich weiß es jetzt«, flüsterte er, den Mund gegen ihre Schulter gepresst, »ich weiß, was es heißt, Mutter zu sein. Ich weiß, wie es ist, wenn alles deine Schuld ist.« Ein bisschen melodramatisch, aber wahr.
Karsten Singelmann hat Running Girl bereits 2014 übersetzt, damals erschien der Roman unter dem Titel einfallsreicheren Titel Zu schön, um tot zu sein, Rowohlt übernimmt einfach das englische Original. Bei der Gelegenheit hätte ein kleiner Makel redigiert werden können: Es wird ein bisschen zu oft »die Stirn gerunzelt«. Da hätte ein »skeptischer Blick« oder eine »nachdenkliche Mine« oder ein »grübelnder Gesichtsausdruck« gut getan.
Dem fesselndem Krimivergnügen insgesamt mit einem der liebenswertesten Sherlock-Epigonen schadet das nicht. Und der zweite Band Kid Got Shot ist auch soeben erschienen.

Simon Mason: Running Girl, Übersetzung: Karsten Singelmann, Rowohlt, 2019, 480 Seiten, ab 14, 14,99 Euro
Simon Mason: Kid Got Shot, Übersetzung: Alexandra Ernst, Rowohlt, 2019, 416 Seiten, ab 14, 14,99 Euro

[Jugendrezension] Berliner Machenschaften

51zirbsinml-_sx350_bo1204203200_Die Geschwister Johanna und Finn aus City Crime – Blutspur in Berlin von Andreas Schlüter nehmen am ersten Kinderparlament im Bundestag teil.
Dort dürfen die Kinder entscheiden, ob neben dem Reichstag ein Abenteuerspielplatz oder ein Gamehouse gebaut wird. Aber schnell merken die Geschwister, dass hier nicht alles mit rechten Dingen zugeht.

Erst wird Johanna fast „über den Haufen“ gefahren, dann taucht der Mann, der Johanna beinahe umgefahren hätte, auf dem Klo im Bundestag auf und droht Finn. Viele der jungen „Parlamentarier“ besitzen plötzlich die neuesten Smartphones. Werden sie etwa bestochen?

Spätestens als eine von denen, die vorher für den Abenteuerspielplatz war, plötzlich gegen ihn ist, wird auch Johanna klar, dass es um mehr als nur um das Gamehouse geht. Mit Hilfe von ihren Freunden versuchen Johanna und Finn Vieles aufzudecken. Doch nun wird es auch noch gefährlich, zum Beispiel als die Kinder in ein Büro einbrechen…

BerlinWenn ich euch jetzt neugierig gemacht habe, dann lest das Buch City Crime – Blutspur in Berlin doch auch einmal!

Ich empfehle dieses spannende Buch Jungen und Mädchen ab 10 Jahren.

Lese-Lotta, 9 Jahre

Andreas Schlüter: City Crime – Blutspur in Berlin, Tulipan, 2016, 192 Seiten, ab 10, 11,95 Euro

 

 

[Gastrezension] Die ganze Welt des Whodunit

krimiKrimis sind aus unserem Alltag und unserer Kultur nicht mehr wegzudenken. Gemeinsam Tatort gucken ist Kult; und zu Beginn dieses Jahres waren, bevor die echten Verbrechen der Silvesternacht bekannt wurden, die gewaltgeladenen Til-Schweiger-Episoden und die anschließende wilde, verbale Ballerei in den sozialen Medien das Thema. Thriller, vorwiegend skandinavischen Ursprungs, verkaufen sich wie geschnitten Brot beziehungsweise smørebrød. Deren Auflagen potenzieren sich mit der Anzahl der Leichen, die von den im Genre höchstbeliebten, in Wirklichkeit total unrealistischen, Serienkillern produziert werden. Und selbst in Jugendbüchern gibt es echte Morde, nicht nur an unschuldigen Haustieren, die von den abgebrühten Nachfolgern Emils und den Detektiven aufgeklärt werden.

Dabei fing alles relativ harmlos an, mit zwei Opfern, einem tierischen Täter, aber keinesfalls bestialischem Verbrechen: 1841 veröffentlichte Edgar Allan Poe seine Erzählung „Der Doppelmord in der Rue Morgue“ – Ursprung aller Krimis und gleichzeitig Beginn der Spielart der „Locked Room Mystery“, einer rätselhaften Tat, die sich in einem verschlossenen Raum ereignet hat.

Genau damit beginnt auch das famose Kompendium Krimi! von Katharina Mahrenholtz und Dawn Parisi, der neueste Band ihrer außergewöhnlichen Sachbuchreihe.
Die Chronologie als Zeitstrahl ist seit dem 2012 erschienenen Auftaktband Literatur! der rote Faden, der unten über sämtliche Seiten läuft. Und daran reiht die Kulturwissenschaftlerin und Radiojournalistin Mahrenholtz Meilensteine und Klassiker des Genres neben Kuriositäten und skurrilen Randbemerkungen auf. Und zeigt, wie historische Ereignisse und Entwicklungen sich in der Krimiliteratur niederschlagen. Dawn Parisi illustriert auch das neue Werk der gemeinsam konzipierten Edition geistreich und charmant. Mit nur wenigen Strichen und sparsam verwendeten Farben schafft sie unverwechselbare Charakterporträts von berühmten Ermittlern und ihren Schöpfern.

In diesem Krimi-Band sind sie nun alle vereint: Von Poe und Doyles Sherlock Holmes geht es über die englischen Krimiladies Agatha Christie und Dorothy L. Sayers zu den abgeklärt-desillusionierten hard boiled stories aus den Remington Schreibmaschinen eines Raymond Chandler oder Dashiell Hammett. Die englischen Ex-Spione und Bestsellerautoren Ian Fleming und John le Carré sind natürlich ebenso vertreten wie die mittlerweile mehr aus Fernsehfilmen bekannte Figuren wie Henning Mankells depressiver Eigenbrötler Wallander oder Donna Leons venezianischer Lebemann Commissario Brunetti. Krimis aus Schottland, Deutschland, der Schweiz, Niederlande, Israel, Südafrika, den USA und Dänemark, selbst den Färöer Inseln – überall blüht zumindest in der Literatur das Verbrechen. Längst ist aus den einst belächelten, trivialen Fortsetzungsgeschichten in Heftchenformat ein milliardenstarker Absatzmarkt geworden.

Wirklich exzellent sind in Krimi! die übergreifenden Doppelseiten: Da werden, von Dawn Parisi witzig bebildert, ungewöhnliche Mordwaffen und berühmte Krimiheldinnen und Ermittlerinnen unter die Lupe genommen.
Auch die ursprünglichen Berufe der Autoren sind höchst interessant: Jo Nesbø war vor Harry Hole erfolgreicher Börsenmakler und Popsänger. Léo Malet, Autor wunderbarer Paris-Krimis, versuchte sich als Chansonnier, und Raymond Chandler hat seinen gut bezahlten Job als Direktor einer Ölgesellschaft versoffen.

Krimi! ist eine prickelnde Perle dieser Sachbuchreihe, aus der aktuell auch die Monographie Shakespeare! zum 400. Todesjahr des Theatermeisters zu empfehlen ist.

Elke von Berkholz

Kathatrina Mahrenholtz, Dawn Parisi (Illustrationen): Krimi! Mord und Totschlag in der Literatur, Hoffmann und Campe, 77 Seiten, ab 14, 15 Euro

Kreuz & quer durch Prag

pragGeschichten, in denen die Orte eine der Hauptrollen spielen, faszinieren mich irgendwie. Ganz besonders, wenn ich die Städte kenne. Ansatzweise kenne ich Prag – und war daher gespannt, was es mit der City-Crime-Reihe von Andreas Schlüter auf sich hat.

Dieses Mal hat Joanna, Finns Schwester, Karten für ein Popkonzert ihrer Lieblingsband in Prag gewonnen. Die Familie reist für ein Wochenende nach Tschechien und finden sich schon bald in dem Touristentrubel der Karlsbrücke wieder. Hochzeitspaare, Puppenspieler, Menschenmassen, kein Durchkommen. Während Joanna von einem gutaussehenden Marionettenspieler fasziniert ist, bemerkt Finn ein Ehepaar, das nach einem Portmonee sucht. Dabei vergessen sie eine Tüte mit einer Marionette auf der Brücke. Nun kommt eins zum anderen: Die Mutter verknackst sich den Fuß und muss zum Arzt, Joanna will Zeit mit dem Puppenspieler verbringen und Finn will die Marionette zurückgeben. Noch eher sie bis drei zählen können, stecken die Geschwister in einer verwickelten Drogen-Entführungs-Erpressungsgeschichte.

Schlüter gelingt hier das Kunststück, Krimi und Reiseführer in eins zu gießen. Die Helden erkunden nämlich die Stadt und kommen auf der Jagd nach den Bösewichten an den wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt vorbei. Die Infos über Prag werden dabei wie selbstverständlich in den Plot eingearbeitet – für junge Prag-Reisende ist das eine sehr unterhaltsame und aufschlussreiche Art, sich über die Stadt zu informieren.
Auch die tschechische Sprache kommt nicht zu kurz. Originalsätze der Einheimischen geben einen klanglichen Eindruck, die Übersetzung des Tschechischen findet sich am Ende des Buches in einem kleinen Wortschatz, der das wichtigste Vokabular für den Kurztripp liefert.

Wer also mit seinen Kindern eine Städtereise nach Prag plant, sollte den Kids diese spannende Reiselektüre mit auf den Weg geben. Sie werden die Stadt mit ganz anderen Augen sehen.

Andreas Schlüter: City Crime – Puppentanz in Prag, Illustration: Daniel Napp, Tulipan, 2015, 192 Seiten, ab 10, 11,95 Euro

Psycho in Bologna

lucarelliNeulich in Florenz bin ich durch die verbliebenen Buchhandlungen der Innenstadt gezogen und über den neuesten Krimi von Carlo Lucarelli gestolpert. Ich musste ihn mitnehmen – den Krimi, nicht Signor Lucarelli – denn Ende der 90er Jahre habe ich mal seine zwei Jugendkrimis übersetzt und dann so gut wie alles von ihm verschlungen. Umso mehr habe ich mich gefreut, dass in Il Sogno di Volare, das noch nicht auf deutsch übersetzt ist (was aber nicht mehr lange dauern kann…), Grazia Negro wieder ermittelt. Sie hatte vor 16 Jahren bereit in Der grüne Leguan einen Serienmörder zur Strecke gebracht und dabei ihren derzeitigen Freund Simone kennengelernt. Beide Figuren trifft man jetzt wieder, in einer Beziehung, die auf der Kippe steht und nur noch von dem fast schon verzweifelten Wunsch nach einem Kind zusammengehalten wird. Dementsprechend übel ist Grazia drauf. Sie spritzt sich Hormone, um eine künstliche Befruchtung vorzubereiten, und sollte eigentlich jeglichen Stress vermeiden. Was sie natürlich nicht tut, denn die Befindlichkeiten einer Ermittlerin treten hinter der Jagd nach einem Serienmörder natürlich erstmal zurück. Der Mörder, der aus der Ich-Perspektive erzählt, offenbart sich bereits in den ersten Zeilen als psychisch ziemlich gestört. Sein erstes Opfer zerfleischt er förmlich, auch bei den nächsten geht er nicht gerade zimperlich vor, will er doch die Herzen seiner Opfer fressen. An den Tatorten lässt er Geifer wie von einem tollwütigen Hund zurück. Nichts für schwache Nerven also. Grazia und ihre Kollegen vermuten zunächst eine mafiös-orientierte Tat, doch die nächsten Opfer führen in die Misere der Wohnungswirtschaft, der illegalen Einwanderer und schließlich in die Reihen der Polizei selbst. Mehr kann ich hier eigentlich gar nicht schreiben, denn Lucarelli droht allen, die den Plot spoilern, ihnen das Herz herauszureißen … und das möchte ich dann doch nicht riskieren. Aber soviel kann erzählt werden: Lucarelli bleibt sich als Hardcore-Krimi-Noir-Autor treu. Die Morde sind drastisch, die Sprache ist derbe und durchaus vulgär, was aber die Realität perfekt wiedergibt. Grazias Frust über die scheiternde Beziehung zu Simone ist glaubhaft und mitfühlend dargestellt, man leidet mit der jetzt 30-Jährigen mit. Zudem bindet Lucarelli auch seinen Faible für Musik wieder in die Geschichte ein, hat er doch den Song Il Sogno di Volare von Andrea Buffa nicht nur zum Titel gemacht, sondern auch als wiederkehrendes Motiv und geschickte Spur in den Roman eingebaut. Das Miträtseln um den Täter gelingt, und ab circa zwei Dritteln des Buches steigt im Leser eine Ahnung auf, die so gruselig ist, dass man es nicht wirklich glauben will. Der Plot ist gekonnt und spannungssteigernd gewoben, und die verschiedenen Erzählperspektiven sind stimmig. Auch die Kritik an den italienischen Lebensverhältnissen zwischen Prekariat und mafiösen Strukturen kommt nicht zu kurz. Man gruselt sich also nicht nur aufgrund der Morde und psychotischer Mörder… Für mich war Il Sogno di Volare zwischen all den vielen schönen Kinder- und Jugendbüchern seit langer Zeit mal wieder ein perfekt gemachter und gelungener Ausflug in das Krimi-Genre, der mich nicht mehr losgelassen und mir den Flug von Florenz nach Berlin extrem verkürzt hat. Genauso möchte ich Krimis haben … Jetzt bin ich nur noch gespannt, wann das Buch auf Deutsch vorliegt. Das werde ich dann hier verlinken. Für alle, die Italienisch können, ist diese Geschichte allerbeste Unterhaltung zum Mitfiebern.

Update am 20.06.2014 lucarelli

Lucarellis Thriller erscheint am 19. August 2014 unter dem Titel Bestie in der Übersetzung von Karin Fleischanderl beim Folio Verlag. Am 11. September liest Lucarelli dann in Hamburg im Rahmen des Harbourfont Literaturfestivals – ich sollte hingehen …

Carlo Lucarelli: Bestie, Übersetzung: Karin Fleischanderl, Folio Verlag, 2014, 288 Seiten, 19,90 Euro

Carlo Lucarelli: Il Sogno di Volare, Einaudi, 2013, 260 Seiten, 21,95 Euro (auf italienisch!)

Pünktchen des 21. Jahrhunderts

roxy sauerteig
Eigentlich hätte ich schon längst mal wieder einen Roman von Erich Kästner lesen wollen, so zur Entspannung und Erbauung, doch neulich habe ich eine ebenbürtige Geschichte aus dem aktuellen Herbstprogramm entdeckt, nämlich Roxy Sauerteig von Katharina Reschke.

Darin zieht Roxy mit ihrer Mutter in ein kanarienvogelgelbes Haus mit delfinblauer Tür in Berlin-Mitte. In dem etwas heruntergekommenen Haus bewohnen sie das luxussanierte Dachgeschoss mit eigenem Lift und allem Drum und Dran. Aber das ist Roxy, im Gegensatz zu ihrer Etepetete-Mutter, völlig schnuppe. Das Mädchen ist ganz wild auf „Abendteuer“. Nein, kein Tippfehler, sondern einer von Roxys Spezialausdrücken, von denen es im Buch nur so wimmelt. Roxy ist überzeugt, dass sich Abenteuer hauptsächlich abends abspielen, wenn es schon dunkel ist, und daher sollten sie nach Roxys Meinung auch so genannt werden.

Gleich in der ersten Nacht macht sich Roxy auf und erkundet die Hintertreppe, von der die Hauswartsfrau gesagt hat, dass die eigentlich niemand benutzt, außer … So ein unfertiger Satz reizt das Mädchen ungemein, und schon steht sie eine Etage tiefer bei Herrn Grindelmann in der Wohnung. Dort ist alles bis unter die Decke mit Dingen vollgestellt, denn Herr Grindelmann sammelt Dinge von der Straße auf, die andere weggeworfen haben, die aber noch zu gebrauchen sind, und gibt ihnen ein Zuhause. Grindelmann ist Einzelgänger, trinkt „Äußere-Ruhe-und-innere-Ordnung-Tee“ und kann mit Kindern so gar nicht. Das wiederum schreckt Roxy überhaupt nicht. Mit Vorwitz und Neugierde drängt sie sich in das Leben des Nachbarn und steckt schneller, als sie denken kann, in einer richtigen Detektivgeschichte.

Dabei spielen ein entwendeter Schokoladenbrunnen, das Bild eines Feldblumenstraußes sowie die anderen geheimnisvollen Nachbarn aus dem Haus wichtige Rollen. Ich könnte jetzt den Inhalt des Buches noch weiter ausführen, aber das würde eigentlich viel zu viel von der Spannung nehmen und dem Charme dieser Geschichte ganz und gar nicht gerecht. Denn das Tolle daran ist die kleine Protagonistin. Roxy läuft immer mit einer quietschgrünen Taucherbrille und Gummistiefeln herum, hat ihr rosanes Rüschenkleid, das der Mutter so gefällt, grün gefärbt und von allem Firlefanz befreit. Außerdem ist Roxy ein Sprachgenie. Sie schreibt an einem Lexikon mit ganz besonderen Ausdrücken: Da findet sich der „Blütaniker“, der sich selbstverständlich mit Blüten beschäftigt; „dov“ steht für „D.epp o.hne V.erstand“ und „Wissenschaffer“ sind Menschen, die eben Wissen schaffen. Alles herrlich einleuchtend und ganz im Sinne und in der Tradition von Erich Kästners Pünktchen. Mit ihrem unkonventionellen und frischen Denken betrachtet Roxy also die Umwelt und bringt die Erwachsenen um sie herum ziemlich aus dem Tritt. So kommt sie am Ende nicht nur einem Kunstfälscher-Skandal auf die Schliche und befreit einen Goldfisch, sondern sie löst im Leser auch den unstillbaren Drang aus, es ihrem leuchtenden Beispiel sofort nachzutun. Man möchte seine Mitmenschen auf ihre verschrobenen Verhaltensweisen ansprechen, immer und überall nachbohren und sich auf gar keinen Fall mit den scheinbar unabänderlichen Gegebenheit zufrieden geben.

Wenn das die Kinder, die Roxys Geschichte lesen, dann tatsächlich auch machen, werden sie sich im Laufe der Jahre – hoffentlich – zu selbstbewussten, unkonventionellen, unangepassten und kritischen Menschen entwickeln, von denen diese Welt nicht genug haben kann. Ich glaube, Erich Kästner hätte Roxy Sauerteig gefallen…

Katharina Reschke: Roxy Sauerteig. Das 4. Obergeheimnis links, Illustrationen: Susanne Göhlich, Baumhaus Verlag, 2012, 224 Seiten,  ab 8, 12,99 Euro