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Wasserschweingeschichten

In Bilder- und Kinderbüchern tummeln sich bekanntlich Tiere. Viele Tiere. Tiere aller Art. Ich habe mal versucht, eines zu finden, das noch nicht im Bilderbuch ein Abenteuer erlebt hat. Mir ist keines einfallen. Ich habe nicht ausgezählt, welche Tierart am häufigsten in Büchern auftaucht – Wölfe und Bären stehen ziemlich weit oben, Hasen oder Kaninchen ebenfalls, von Hunden und Katzen mal ganz zu schweigen, aber auch die Bewohner von Luft und Wasser sind in ordentlicher Zahl vertreten. In manchen Büchern geht es schon so weit, dass jetzt Fantasietiere wie Einschweine, Neinhörner oder Schmetterschweine herhalten müssen. Ich erinnerte mich dann an eines meiner liebsten Bilderbücher aus meiner Kindheit, in der ein Tier eine Hauptrolle spielte: das Capybara, vulgo Wasserschwein. Vielleicht liebe ich diesen Großnager so, weil ich als Kind mal ein Meerschweinchen hatte, ich weiß es nicht. Jedenfalls habe ich mich daraufhin auf die Suche nach Wasserschweingeschichten gemacht. Die Auswahl ist begrenzt, daher zeige ich hier einfach alle. Es sind sechs.

Ende der 1960er Jahre erschien Unser Freund Capy von Bill Peet, in der Übersetzung von G. A. Strasmann, im Carlsen Verlag, der damals noch als „Reinbeker Kinderbücher“ auf dem Cover firmierte. Peet erzählt die Geschichte seines Sohnes Bill, der Tiere liebte, Biologie studierte und eines Tages ein Capybara in der Zoohandlung bestellt. Ein Vorgehen, das heute undenkbar ist. Der Riesennager im amerikanischen Bungalow mit Pool stellt den Familienalltag auf den Kopf, erschreckt die Katzen, frisst deren Futter, ruiniert den Rasen, verdreckt das Poolwasser – und wird schließlich depressiv. Denn Wasserschweine sind Rudeltiere und allein macht es Capy in der Menschenfamilie keinen Spaß, außer es sind die Nachbarskinder zur Poolparty da. Als das depressive Tier irgendwann einen Jungen leicht verletzt, wird es ausgesperrt und schließlich in einen Zoo gebracht, wo es bei den Nilpferden ein neues Zuhause findet.

Andere Zeiten, andere Geschichten

Mit anderen Worten: Eine Geschichte, die heute eigentlich kein Mensch mehr so schreiben oder gar veröffentlichen würde. Es war für mich damals in den 1970ern wahrscheinlich die erste, in der deutlich wurde, dass Menschen wilde Tiere nicht einfach so einsperren und zu Haustieren machen dürfen. Capy fand ich süß – was an den hervorragenden Zeichnungen von Bill Peet lag – und gleichzeitig tat er mir unendlich leid.

Neues Kleid für Capy

Umso erstaunlicher ist es, dass noch 2012 der österreichische Kinderbuchautor Franz S. Sklenitzka seine Figuren Olaf und dessen Großvater ein Wasserschwein aus einem Tierheim holen lässt. In Mein Freund Pepe Wasserschwein braucht Olaf nämlich ein Haustier, weil der Junge immer allein ist und sich vor Einbrechern fürchtet, seit sein Papa weg ist. Eigentlich soll er ein Meerschweinchen bekommen, doch das kann keine Einbrecher verjagen. Im Tierheim entdeckt er Pepe, das Wasserschwein – und kann das Quieken des Tieres verstehen. Bei den beiden ist es Liebe auf den ersten Blick.

Ähnliche Geschichte

Zu Hause kürzt Pepe den Rasen, schwimmt im Gartenteich, frisst Radiergummis und Katzenfutter und wird die Attraktion für die Kinder der Gegend. Pepe wird größer und irgendwann langweilt er sich … Das Wasserschwein selbst erzählt dann Olaf, dass es Gesellschaft braucht. Und so wird Pepe schließlich in einen Tierpark zu seinen Artgenossen gebracht.
Die Ähnlichkeit dieses Erstleserbuches zu Bill Peet ist trotz diverser Unterschied nicht zu übersehen. Es scheint fast so, als hätte Sklenitzka die Geschichte von Capy gekannt…

Wasserschweine mit Botschaft

Wasserschweine können aber auch anders. Das zeigen zwei aktuelle Bilderbücher. In Die Wasserschweine im Hühnerhof des Uruguayaners Alfredo Soderguit taucht eines Tages eine Horde Wasserschweine im Hüherhof auf. Die Hühner, gestört in ihrem beschaulich-ruhigen Dasein, sind beunruhigt: »Niemand kennt die Wasserscheine, und niemand hat sie erwartet.« Für die vielen großen, nassen, haarigen Nager ist kein Platz im Hühnerhof. Nur können die Wasserschweine nicht mehr zurück in ihre Sumpflandschaft, denn dort wird Jagd auf sie gemacht.

So bekommen sie von den Hühnern Regeln diktiert, wie sie sich im Hof zu verhalten haben. Eigentlich dürfen sie nichts, vor allem nicht die Regeln hinterfragen. Doch die Neugierde der kleinen Hofbewohner lässt sich nicht aufhalten: Ein Küken und ein Mini-Capy freunden sich an. Und als die großen Wasserschweine das Küken vor einem der Jagdhunde beschützen, ändert sich alles. Einträchtig grasen Hühner und Wasserschweine im Gehege, schlafen zusammen im Stall. Und als die Jagdsaison zu Ende ist, kehren die Wasserschweine in ihren Lebensraum zurück. Allerdings nicht allein …

Mit schlichtem Strich und wenigen Farben (die Wasserschweine sind braun, die Kämme der Hühner rot, der Rest ist schwarz-weiß) erzählt Soderguit das komplexe Thema von Flucht und Vorurteilen – und bricht es überzeugend auf. Die menschlichen Jäger stehen am Ende mit leeren Händen da, während sich die Tiere zu einer starken, solidarischen Gemeinschaft zusammenfinden.

Zurück zur Natur

In seinem angestammten Urwald-Habitat, im brasilianischen Urwald, hingegen bewegt sich Capy, das kleinste Wasserschwein einer Capybara-Familie, in Die Papagei-Ei-Rettung von Sandra Grimm und Lisa Rammensee. Am Morgen fällt dem Wasserschwein-Mädchen ein Papageien-Ei quasi vor die Pfoten. Sofort steht für Capy fest, dass sie das Ei zu den Papageien-Eltern zurückbringen muss. Sie macht sich auf den Weg, das Ei unter den Bauch gebunden und durchquert den Urwald. Auf dem Weg begegnet sie netten Helfern, wie dem Kolibri Fedro, dem Brüllaffen Bört sowie dem Kaiman-Mädchen Kara, und gemeinsam bringen sie das Ei zu den blauen Aras zurück.
Die Freundschaftsgeschichte strahlt in grün-erdigen Urwaldfarben und diese Capy ist wieder so niedlich wie das Ur-Capy von Bill Peet.

Bedrohter Lebensraum

Im Anschluss an das Abenteuer gibt es acht Seiten mit Informationen über das Pantanal in Brasilien, das größte Binnenland-Feuchtgebiet der Erde, seine Artenvielfalt und die Besonderheiten der Wasserschweine (Schwimmhäute zwischen den Zehen). Kleine Tierliebhaber:innen lernen Jaguar, Gürteltier und Nandus kennen. Liebevoll werden hier schon die Kleinsten an schützenswerte Naturräume und exotische Tierarten herangeführt – was vielleicht dazu beiträgt, dass sie später einmal unserer Umwelt mit Respekt begegnen.

Das unübersetzte Capybara

Ein weiteres Wasserschwein-Bilderbuch fand ich dann noch in den Weiten des Netzes – allerdings ist es (noch) nicht auf Deutsch erschienen. Die Italienerin Michela Fabbri stellt in ihrem auf englisch erschienenen Buch I Am a Capybara die Tierart selbst vor. Dafür lässt sie ein namenloses Capybara von sich und seiner Art erzählen. Denn das größte Nagetier der Erde wird gern mit Mäusen, Bibern oder Murmeltieren verwechselt. So stellt es seine Besonderheiten im Vergleich zu einem Hund heraus: riesige Nase, immer halbgeschlossene Augen, winzige Öhrchen, versteckter Minischwanz, Schwimmhäute an den Pfoten, verborgene Nagezähne… Doch das wirklich Besondere ist aus Sicht dieses Capybaras ist seine Liebe zum einfachen Leben in Gesellschaft. Es spielt gern, erkundet die Gegend, schwimmt und streckt sich schließlich in yoga-ähnlichen Posen (das herabschauende Capybara).

Mehr Capybara sein

Das reale Wasserschwein entwickelt hier fast menschliche Züge: es trägt eine Fliege für den Besuch in der Oper, liebt eine gute Brühe und freundet sich mit einem kleinen Vogel an. Und natürlich kuschelt es gern mit seinen Artgenossen … Diese Mini-Capy-Autobiografie hat Michela Fabbri mit sparsamen Buntstiftzeichnungen illustriert und vermittelt den Betrachter:innen damit hauptsächlich, dass wir alle viel mehr wie ein genügsam-geselliges Capybara sein sollten. Ein eigentlich sehr erstrebenswertes Ziel.

Wasserschweine im Selbstverlag

Zum Schluss noch ein schmales Selfpublisher-Bilderbuch von Catalina Montoya Palacio mit Illustrationen von Vanessa forero Ramirez. Als das Umarmen verboten war erzählt vom Wasserschweinkind Dodo, das nicht vor die Tür darf, weil ein Virus kursiert und ansteckend ist. Die Wasserschweinmutter mit Perlenkette reicht Dodo das Smartphone und lässt ihn all seine Freunde, Hund, Katze, Vogel, Äffchen anrufen, damit sie einander nicht vergessen. Die Geschichte ist eher schlicht. Hier geht es nicht um das Wasserschwein an sich, sondern um die fehlende Nähe der Freunde in Coronazeiten. Ein netter Gedanke, leider eher unprofessionell umgesetzt (Layout, Schrifttype, fehlendes Impressum). Es soll hier aber der Vollständigkeit halber kurz erwähnt sein.

Bitte mehr Wasserschweingeschichten

Wasserschweine oder Capybaras sind meiner Ansicht nach also völlig unterrepräsentiert in der Bilderbuchfauna. Die sympathischen Nager mit ihrem geselligen Sozialverhalten haben Potential, in diverse Richtungen. Ich warte dann mal auf weitere Capy-Geschichten … und setze die Sammlung dann hier fort.

Alfredo Soderguit: Die Wasserschweine im Hühnerhof, Übersetzung: Eva Roth, atlantis, 2012, 48 Seiten, ab 4, 18 Euro

Sandra Grimm: Die Papagei-Ei-Rettung, Illustration: Lisa Rammensee, mixtvision, 2022, 40 Seiten, ab 4, 16 Euro

Michela Fabbri: I Am a Capybara, englische Ausgabe, Princeton Architectual Press, 2021, 40 Seiten, ab 4, 16,70 Euro

[Gastrezension] Vom Kampf gegen die Depression

depression„Alles super!“ – das klingt irgendwie verdächtig, wenn auch noch relativ sympathisch und harmlos in Zeiten von facebook-Euphemismen, wo alles mindestens „suuupiduupi“ (schlimm), „ultratollo“ oder „megageil“ (ganz schlimm) ist. Und natürlich ist nicht alles super zu Hause bei den Geschwistern Raymond und Gloria im Roman Alles super! von Roddy Doyle.
Denn Onkel Ben, Papas jüngerer Bruder, ist bei der Familie eingezogen und wohnt nun in Glorias Zimmer. Ihre rosa Bettdecke hingegen liegt auf einer Matratze in Raymonds Zimmer. Dass sie sich jetzt ein Zimmer teilen, findet Raymond allerdings insgeheim sogar ganz gut.
Doch der geliebte Onkel Ben ist anders als sonst: Er musste seinen Malerbetrieb mangels Aufträgen dichtmachen und kann die Hypothek für sein Haus nicht mehr bezahlen. Ben ist gar nicht mehr lustig und leichtlebig, lacht nie, unternimmt nichts mehr mit den Geschwistern, ist nur noch ein schwermütiger Schatten seiner selbst.
„Der schwarze Hund, die Depression, ist diesem armen Jungen auf den Rücken gekrochen“, sagt Omi, Mamas Mutter, die auch im Haus wohnt. „Und Dublin hat sein Narrenbein verloren. Keiner lacht mehr.“

Also schleichen Raymond und Gloria sich nachts raus, um den schwarzen Hund zu vertreiben und treffen dabei Eddie, der als Schulversager das sprichwörtlich schlechte Beispiel für alle Kinder des Viertels ist und sich neuerdings als Vampir versucht. Bei der Jagd nach dem schwer zu fassenden, ständig Größe und Form ändernden Biest, das außerdem eine unheimliche Kälte ausstrahlt, treffen die drei immer mehr Kinder. Jedes von ihnen kennt einen geliebten Menschen, der vom schwarzen Hund angefallen wurde, oder wohnt in einem Haus, wo dieses fast dementorenartige Wesen vor der Schlafzimmertür des Vaters lauert, der dahinter apathisch im Bett liegt.

Die Darstellung der Depression als schwarzer Hund ist ein Klassiker der Visualisierung dieser Krankheit: Depression als ständige Begleiterin, man kann sie zähmen und in Schach halten, aber sie kann auch immer wieder gefährlich werden (sehr gut übrigens, dass im Buch konsequent der Singular verwendet wird und nicht von „Depressionen“ die Rede ist, als ob eine nicht schlimm genug sei). Roddy Doyle aber erzählt hier von mehr: Nicht nur von der psychischen Erkrankung, die einzelnen Betroffenen jede Freude und Empfindungsfähigkeit nimmt, sondern auch von der wirtschaftlichen Depression, die so viele Leute, ja eine ganze Stadt wie Dublin deprimiert. Die Finanzkrise von 2008, die alle westlichen Industrienationen erschüttert hat, hat Irland, in Anlehnung an prosperierende asiatische Staaten auch „keltischer Tiger“ genannt, besonders hart getroffen. Einst war Irland das ärmste Land Westeuropas, doch um die Jahrtausendwende waren die Iren sehr reich geworden – und fielen um so tiefer, verloren Arbeit und Häuser, kostspielige Pferde und andere Tiere wurden zu Tausenden ausgesetzt. Finanzielle Nöte deprimieren die Menschen, belasten und lähmen sie, sitzen ihnen im Nacken oder hängen wie ein Mühlstein um ihren Hals.

Kinder bekommen das sehr wohl mit und leiden ebenso unter den Auswirkungen der finanziellen Depression. Und Roddy Doyle, der sich in allen seinen Romanen mit gesellschaftlichen Problemen und Ungerechtigkeit beschäftigt, hat ein sehr eindringliches Bild für die Erschütterungen seiner Heimat gefunden und erzählt ebenso humorvoll wie eindringlich vom Kampf gegen die kollektive Depression.

Sehr gut sind Doyles Beschreibungen von typischem Erwachsenenverhalten aus Kindersicht, zum Beispiel unterscheiden die Geschwister zwischen „Reden“, „Plaudern“ und „Murmeln“ – bei letzterem geht es um sehr ernste Themen, die Kinder gar nicht wissen sollen, so wie den schwarzen Hund.
Als die Kinder das depressiv machende Wesen verfolgen, erweist sich das Wort „super“ als Geheimwaffe, als Laserschwert gegen die dunkle Macht und Beschwörungsformel gegen böse Beschimpfungen. Mit einem laut gerufenen„Super!“ zaubern sie Licht in die Nacht und machen sich Mut. Neben der Eiseskälte hat der Hund nämlich eine besonders perfide Waffe: Er beschimpft die Kinder als „unnütz“. Und da empfinden die Kinder, was Depression bedeutet: Sie fühlen sich niedergedrückt, so sehr, dass sie sich nur noch hinlegen möchten, nie wieder aufstehen und sterben, sich vom Meer wegspülen lassen. Es sind dann die Tiere, Katzen, Hunde, Möwen und Exoten im Zoo, die die Kinder daran erinnern, warum sie wichtig sind und was sie stark macht: „Ihr seid die Zukunft!“.

Das macht auch Roddy Doyles neuen Roman so charmant: Wie er von ernsten Themen mit liebenswerten Charakteren, viel Witz und intelligenten Humor erzählt und sogar noch ein überzeugendes happy ending beschert. Allein für die Nebenfiguren Ernie und die Omi lohnt es sich. Das ist leicht zu lesen (nicht zu schreiben!), aber nie seicht. Roddy Doyle ist sozusagen der irische Andreas Steinhöfel. Da passt es auch sehr gut, dass Steinhöfel mehrere Kinder- und Jugendbücher Doyles übersetzt hat. Leider nicht Alles super!, das hätte uns vielleicht das eine oder andere falsche „macht Sinn“, „von daher“ und affektiertes „oh, mein Gott“ erspart. Warum „Football“ nicht mit „Fußball“ übersetzt wurde, bleibt auch das Geheimnis von Bettina Obrecht. In Irland ist sicher nicht „American Football“ gemeint?!

Im Original heißt „super“ übrigens „brilliant“ – ein ungleich stärkeres, überzeugenderes, funkelnderes Schlagwort. Aber im Deutschen ist es schwierig, einen entsprechenden Begriff zu finden: krass, cool, voll fett? Wohl eher nicht …
Ansonsten ist alles super bei Roddy Doyles jüngstem Roman, schlicht: brillant!

Elke von Berkholz

Roddy Doyle: Alles super!, Übersetzung: Bettina Obrecht, cbj Verlag, 2015, 192 Seiten, ab 8, 12,99 Euro

[Jugendrezension] Der Wald gibt jedem, was er verdient

oskari„Ein Junge, den man in die Wildnis schickt, kehrt als Mann zurück“: So ist es Tradition in Oskaris Dorf. Oskari steht kurz vor dem dreizehnten Geburtstag und damit vor der größten Prüfung seines Lebens. Er muss beweisen, dass er ein Mann ist. Dass sein Vater der beste Jäger des Dorfes ist und der Junge seinen Ruf nicht beschmutzen darf, macht ihm die Prüfung nicht leichter.

Eine Nacht muss Oskari alleine im Wald überleben und als Erfolg eine Jagdtrophäe vorzeigen. Das erlegte Tier hat eine bestimmte Bedeutung für das weitere Leben. Ein Hirsch steht z. B. für Intelligenz. Zum Glück hat sein Vater ihm von seinem geheimen Jagdgrund erzählt, wo er garantiert fündig werden wird.

Dass schon die Anfangszeremonie schiefläuft, hätte Oskari nicht erwartet. Er bringt nicht genug Kraft auf, um den rituellen Jagdbogen bis zur Wange zu ziehen. Bisher hatte er immer nur mit kleineren Bögen geübt. Normalerweise muss sich jeder Junge dem Ritual unterziehen, aber unter diesen Umständen sind sich die Einheimischen unsicher. Ein Kind, das denn Bogen nicht spannen kann, hatte es noch nie gegeben.

Oskaris Vater besteht darauf, dass sein Sohn bei der Prüfung teilnehmen kann. Sonst wäre es eine große Schande für ihn und besonders für Oskari. Nach einer Diskussion setzt der Vater sich durch, und Oskari zieht mit festem Willen in den Wald. Er muss unbedingt lebend wieder herauskommen. Noch einen Verlust würde der Vater nicht überstehen. Nach dem Tod von Oskaris Mutter lächelt er nicht mehr viel.

Oskari will seinen Vater stolz machen, was leider nicht so gut klappt. Als der Wald ihm endlich die Chance bietet, einen Hirsch zu erlegen, ertönt der ohrenbetäubende Lärm eines landenden Hubschraubers. Noch schlimmer ist, wer aussteigt. Es sind Hazar und seine Männer. Hazar, ein Berufskiller, scheut sich nicht, mal eben einen seiner Männer zu erschießen.

Oskari weiß nicht, was der Psychopath hier will und wer er ist. Er weiß nur, dass er fliehen muss. Blind vor Angst läuft er durch die Wildnis und ist kurz davor, zurück zu seinem Dorf zu laufen. Aber dann stößt er auf eine fremdartige große Metallkapsel. Aliens, ist seine erste Vermutung. Doch es ist nicht das Werk Außerirdischer. Der Mann, der aus der Metallkapsel herauskommt, ist niemand anderes als der Präsident der Vereinigten Staaten. Hazar hat es auf ihn abgesehen und die beiden müssen fliehen. Oskari merkt, dass der Präsident sich nicht in der Natur auskennt und nicht alleine zurechtkommt. Also übernimmt er das Kommando.

Diesmal ist er es, der den Durchblick hat. Oskari genießt es, nicht im Schatten des Vaters zu stehen und zum ersten Mal der bessere Jäger zu sein. Es beginnt ein fesselndes Abenteuer, und plötzlich fällt Oskari auf, dass es kein Zufall ist, dass er den Präsidenten getroffen hat. Der Wald gibt jedem, was er verdient.

Ich wollte Big Game – Die Jagd beginnt von Dan Smith lesen, weil das erste Kapitel mich an mein Lieblingsbuch erinnerte. Doch die Geschichte entpuppte sich als ein völlig anderes Genre, was mir aber sehr gut gefiel, weil es viele unerwartete Wendungen gab. Ich hatte zum Beispiel gehofft, dass Oskari endlich ein Tier erlegt. Was schließlich seine Trophäe sein würde, kam absolut überraschend. Gefallen hat mir auch der besondere Schreibstil. Es kam mir vor, als wäre der Autor selbst mal ein Jäger gewesen. Außerdem konnte ich mich gut in Oskari hineinversetzen. Welches Kind musste nicht einmal eine Mutprobe bestehen, um seine Stärke zu beweisen?

Katharina (12)

Dan Smith: Big Game – Die Jagd beginnt, Übersetzung:Birgit Niehaus, Carlsen Chicken House, 2015, 304 Seiten, ab 12, 15,99 Euro.

Ab 18.6. läuft die Verfilmung dieser Geschichte auch im Kino.

London gestern und heute

colferEigentlich bin ich kein großer Fan von Zeitreisegeschichten, über die genauen Gründe meiner Abneigung gegen dieses Gedankenspiel muss ich jetzt allerdings noch mal genau nachdenken. Denn Eoin Colfer hat mit WARP – Der Quantenzauberer eine Variante dieses Genres vorgelegt, die ich nicht mehr aus der Hand legen konnte.

Die 16-jährige Chevron arbeitet als jugendliche Hilfsagentin für das FBI. Nach einem misslungenen Einsatz in Los Angeles wird sie nach London strafversetzt, bis Gras über die Sache gewachsen ist. In der britischen Hauptstadt wartet ein langweiliger Bewachungsjob auf sie – was aber natürlich nicht so bleibt … denn das Objekt, das Chemie im Auge behalten soll, ist eine Zeitreisemaschine des anonymen Zeugenschutzprogramms „Witness Anonymus Relocaton Programme“ – kurz WARP. Damit schickt das FBI gefährdete Zeugen in der Zeit zurück ins 19. Jahrhundert, wo angeblich niemand an sie herankommt. Dass dieses Konzept nicht aufgeht, merkt Chevie ganz schnell, als in dem Ding plötzlich ein Toter und ein Junge aus der Vergangenheit auftauchen.

Der ebenfalls 16-jährige Riley ist Assistent des Zauberers Albert Garrick. Dieser arbeitet jedoch hauptsächlich als Auftragsmörder im London von 1898. Gerade als Riley von Garrick zu seinem ersten Mord gezwungen wird, aktiviert das Opfer einen so genannten Timekey und katapultiert sich durch ein Wurmloch in die Gegenwart. Garrick, der merkwürdigerweise an seinem Assistenten wie an einem Sohn hängt, folgt Riley später in die Zukunft. Ein rasantes Hin und Her zwischen Vergangenheit und Gegenwart entspinnt sich, bei dem Garrick durch das Zeitreisen zu einem Magier mit Superkräften mutiert und nun in James-Bond-Bösen-Manie leicht größenwahnsinnig die Weltherrschaft in seiner Zeit erlangen will.
Chevie, die mit Riley zusammen vor Garrick flüchtet, erlebt nicht nur das sehnlichst herbeigewünschte Agenten-Abenteuer, sondern lernt dabei auch den Gestank und das Elend des viktorianischen Englands kennen. In all dem Trubel von Verfolgungsjagden durch die Zeiten findet Riley schließlich heraus, wer seine Eltern getötet hat …

Eoin Colfer ist ein rasant-frecher Pageturner gelungen, der mit einem Augenzwinkern auf Charles Dickens, Arthur Conan Doyle und Jules Vernes anspielt und auch die Gegenwart mit ihren Absonderlichkeiten aufs Korn nimmt. Claudia Feldmann hat diese Geschichte entsprechend pfiffig ins Deutsche übersetzt. WARP ist spannendes Lesefutter für Liebhaber von Agentengeschichten – und wird zum Glück erst einmal nicht von einer Liebesgeschichte der Helden Chevie und Riley überlagert, sondern lebt ganz von dem Kontrast der verschiedenen Epochen in London. Das wird besonders anschaulich, wenn Riley in der Zukunft feststellt, dass er die Menschen gar nicht mehr riechen kann. Eine feinsinnigere Beobachtung, in was für einer angenehmen und bequemen Zeit wir heutzutage leben, kann es eigentlich kaum geben.

Eoin Colfer: WARP – Der Quantenzauberer, Übersetzung: Claudia Feldmann, Loewe Verlag, 201,4 352 Seiten, ab 14, 16,95 Euro

PS: Und endlich gibt es mal einen wirklich reizenden Buchtrailer, den ich hier gerne einbinde…

 

London calling…

ashton place 2Fortsetzung sind ja manchmal so eine Sache. Die Erwartungen sind hoch, die Fallhöhe auch. Umso schöner, wenn sich auch in einem zweiten Teil das gleiche Gefühl und die gleiche Wonne wie beim Vorgänger einstellt. So geschehen gerade bei Maryrose Woods Fortsetzung von Das Geheimnis von Ashton Place.

In Teil zwei, Die Jagd ist eröffnet, reist Penelope Lumley, Gouvernante und Swanburne-Mädchen aus vollem Herzen, mit den drei Unerziehbaren Alexander, Beowulf und Cassiopeia, nach London. Dort will Penelope ihre ehemalige Erzieherin Miss Mortimer treffen. Diese hat der 15-Jährigen einen Hixby-London-Reiseführer geschickt, der sich mit seinen Berg- und Naturbildern als überaus merkwürdig und wenig hilfreich erweist. So irrt Penelope nach der Ankunft in der Großstadt durch die schmutzigen Gassen und findet den Weg in die vornehme Muffinshire Lane nicht, wo ihre Arbeitgeber Lady Constance und Lord Frederick eine hochherrschaftliche Villa angemietet haben.

Hilfe bietet ihr schließlich der junge Theaterschriftsteller Simon Harley-Dickinson, der sich im Laufe von Penelopes London-Aufenthalt zu einem unverzichtbaren Freund entwickelt. Zuvor jedoch haben die drei Kinder eine unheimliche Begegnung mit einer alten Wahrsagerin, die beim Schicksal der Unerziehbaren erschreckt ihre Sachen zusammenpackt und das Weite sucht, nachdem sie geheimnisvoll prophezeit hat: „Die Jagd ist eröffnet.“

Penelope jedenfalls ist fest entschlossen, ihren Schützlingen die Sehenswürdigkeiten und kulturellen Höhepunkte der britischen Hauptstadt näherzubringen: Buckingham Palace, die Parks, das British Museum, in dem ihr der Hixby die Abteilung 17 „Übermäßiger Symbolismus in historischen Porträts von untergeordneter Bedeutung“ ausdrücklich ans Herz legt, sowie eine Theaterveranstaltung im Westend. Zudem trifft sie sich mit Miss Mortimer im angesagtesten Hotelrestaurant der Stadt. Und die alte Erzieherin warnt Penelope, ohne genau zu sagen, vor was eigentlich. So entwickelt sich der London-Trip zu einem mysteriösen Abenteuer, bei dem die junge Gouvernante langsam erahnt, dass  hinter der Herkunft der Kinder, aber auch ihrer eigenen, etwas Größeres stecken muss.

Alexander, Beowulf und Cassiopeia, die mittlerweile annähernd gutes Benehmen erlernt haben, fallen hin und wieder in ihre alten Jagdgewohnheiten zurück. Sie belagern die Bärenmütze von einer der Palastwachen, helfen im Zoo bei der Elefantenpflege, jagen in der Theateraufführung einen Papagei und sabotieren das ganze Spektakel. Im British Museum allerdings stellt Beowulf überaus fachmännisch fest, dass eines der Bilder auch auf dem Dachboden von Ashton Place zu finden ist.

Und also ob das nicht schon genug Aufregung wäre, erleben auch die Herrschaften von Penelope durchaus Schreckliches: Lady Constance, die sich auf all die gesellschaftlichen Empfänge und Einladungen gefreut hat, katapultiert sich ins Society-Abseits, als sie unangemessen verkleidet zur Prämiere des Theaterstücke „Piraten auf Urlaub“ erscheint.   Für die Klatschpresse ein gefundenes Fressen, für Lady Constance der Absturz.
Ihr Gatte Lord Frederick hingegen entpuppt sich als ein Mensch, der ohne seinen Almanach, in dem die Mondphasen verzeichnet sind, nicht leben kann. Als dieses wichtige Büchlein verschwindet und gerade einmal wieder Vollmond ist, gebärdet sich der Lord höchst merkwürdig, heult, bellt und kratzt sich an Türrahmen, als würde ein Wolf in ihm stecken.

Die Jagd ist eröffnet ist ein kurzweiliges, extrem unterhaltsames Abenteuer in einer großen Stadt, mit einer überaus liebenswerten Penelope, die sogar überlegt, mit ihrer launischen Herrin Freundschaft zu schließen. Kulturelles vermischt sich mit Kulturkritik, die zwar den erwachsenen Lesern eher offensichtlich sein wird als den jungen. London-Kenner haben Wiedererkennungsmomente, London-Neulinge bekommen erste Hinweise auf die Sehenswürdigkeiten. Neben den vielen Irrungen und Aufregungen sind jedoch die Anspielungen auf Herkunft und verwandtschaftliche Beziehungen zwischen Penelope, den Kindern und Lord Frederick viel wichtiger. Und gerade all diese Andeutungen machen mich schon ganz kribbelig, wie dieses Geheimnis von Ashton Place wohl ausgehen mag. Bleibt nur zu hoffen, dass Band 3 nicht allzu lange auf sich warten lässt.

Maryrose Wood: Das Geheimnis von Ashton Place – Die Jagd ist eröffnet, Übersetzung: Eva Plorin, Thienemann Verlag, 2012, 336 Seiten,  ab 11,  12,95 Euro