Alle für einen

alleEinschlafen ist eine schwierige Sache. Die fünf Brüder Martin, Pelle, Luigi, Bertil und Otto können ein Lied davon singen. In Stephanie Schneiders Bilderbuch Ich brauch euch alle! schlafen die Jungs in einem großen Bett. Zusammen mit Ottos riesiger Kuscheltiersammlung. So weit, so in Ordnung.

Doch als Otto auf dem Jahrmarkt das riesige Plüschschwein Elke gewinnt, wird es eng im Bett. Die Brüder wollen ausweichen, in den Schuppen, auf die Fernsehcouch, zum Kumpel. Otto ist entsetzt. Denn er braucht sie alle, um gut schlummern zu können. Eine Lösung entwickelt der erfindungsreiche Bertil …

Diese entzückende Einschlafgeschichte lebt von den Illustrationen von Astrid Henn. Sie hat aus den fünf Brüdern eine liebenswert internationale Combo gemacht: Bertil hat rote Locken, Pelle schwarze, Luigi ist strohblond, Martin und Otto haben glatte brauen Haare. Brüderlicher können diese Patchworkgeschwister also gar nicht sein. Jeder kleine Leser wird natürlich noch jede Menge andere Unterschiede entdecken – und es vermutlich völlig normal finden.

Diese fünf Helden zeichnen sich neben den körperlichen Merkmalen aber auch durch ihre unterschiedlichen Talente und Fähigkeiten aus: Der eine kann Knoten in Spaghetti machen, der andere regelt den Verkehr im Kinderzimmer, der dritte kann coole Zaubertrick. Gemeinsam gelingt es ihnen, Ottos großes Schlafproblem aus dem Weg zu räumen.

Die Lösung könnte in vielen Kinderzimmern zur Anwendung kommen, vor allem, wenn man nach dieser Lektüre all die knuffigen Kuscheltiere anschaffen muss, denn die sind neben den Brüdern die heimlichen Hauptdarsteller.

Ich habe lange darüber nachgedacht, ob es blöd ist, dass hier keine Mädchen vorkommen und ob das nicht ausgrenzend ist. Doch es gibt Zeiten im Leben und in der Kindheit, in denen man lieber mit seinen Geschlechtsgenossen zusammen ist. Das sollte man respektieren. Und trotzdem können auch Mädchen hier ihren Spaß mit den Kuscheltierhelden haben und sich für ihre eigenen Schlafprobleme inspirieren lassen. Dazu brauchen kleine Leserinnen nur ein bisschen Phantasie, die hier auf jeden Fall neues Futter bekommt.

Stephanie Schneider: Ich brauch euch alle! Illustration: Astrid Henn, Sauerländer, 2015, 32 Seiten, 14,99 Euro

Das Leben in Bildern

babySo unterschiedlich Bilderbücher auch sind, manchmal kann man sie in einen Zusammenhang stellen. Bei diesen vier tut sich beispielsweise die ganze Bandbreite unseres Lebens auf.

Auftakt liefert das Buch von Anna Herzog, Ein Baby in Mamas Bauch, das klassisch-knuffig von Joelle Tourlonias illustriert ist. Die Zwillinge Mia und Oskar bekommen ein Geschwister. Diese umwerfende Neuigkeit nutzen die beiden Kindergartenkinder, um jede Menge Fragen zu stellen, wie das mit Babys und ihrer Herstellung eigentlich so ist. Auch so „eklige“(O-Ton Mia) Sachen wie knutschen und „sexen“ kommen ganz offen zur Sprache, dazu die Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen, was es mit den Hormonen auf sich hat, ob eine Gebärmutter platzen kann und wie das Baby schließlich auf die Welt kommt.
Die fiktive Geschichte wird durch Kästen mit Sach-Information bereichert, in denen anatomische Details, Entwicklung des Babys oder die Entstehung von Zwillingen erklärt werden. Die Erläuterungen sind so dicht an der Lebenswelt von Kindern, dass diese wie selbstverständlich an so geheimnisvolle Vorgänge wie Zeugung, Schwangerschaft und Geburt herangeführt werden. Mit so einem liebevollen und schön anzusehenden Aufklärungsbuch wird die Ankunft des neues Familienmitglieds für alle ein Fest.

bus

Dass das Leben dann später nicht immer rund läuft, davon berichten Stefanie Harjes und Marjaleena Lembcke in Der Bus mit den eckigen Rädern.

Ein Konstruktionsfehler in der Fabrik führt dazu, dass der neue Bus eckige Räder hat. Damit kann er natürlich nicht im Linienverkehr eingesetzt werden. Traurig macht sich der Bus auf den Weg – und sammelt mit der Zeit doch Menschen ein, die sich auf seinen bequemen Sitzen niederlassen: eine alte Dame, die wehmütig auf ihr Leben zurückblickt, ein alter Mann, der überprüfen möchte, ob das Rote Meer wirklich rot ist, ein Junge, der in Alaska Lachse angeln will, ein Mädchen auf dem Weg zum Tanz, ein streitendes Ehepaar, ein Priester, der keine Gemeinde mehr hat. Im Bus werden sie für eine kurze Zeit zu Schicksalsgenossen, die ihrem Ziel immer näher kommen.

Stefanie Harjes illustriert die Lebensreise im holprigen Bus mit Collagen, in denen Bleistiftzeichnungen auf Fotos, Kartenmaterial, Wortschnipsel, Stempelabdrücke und bunte Farben zusammentreffen. Ziegen haben Kinderköpfe, Schnecken schlafen auf Baumstümpfen, die Tasche der alten Frau ist größer als sie selbst. Vieles ist rätselhaft, wie das Leben eben so ist, und dadurch sehr faszinierend. Jeder Betrachter wird eigene Assoziationen und Verbindungen haben, in die Bilder eigene Geschichten hineindenken.

unfall

Einen traurigen Teil im Leben schildert das psychologische Bilderbuch Papas Unfall vom Atelier artig. Zunächst lernt man eine ganz normale vierköpfige Familie kennen, die immer etwas Neues unternimmt, schwimmen geht, Rad oder Schlitten fährt. Alles ändert sich, als Papa eines Tages mit dem Motorrad verunglückt und danach nicht mehr laufen kann. Er liegt lange im Krankenhaus, ist traurig und kann nicht richtig sprechen. Mama organisiert das Leben neu, sucht sich einen neuen Job, kümmert sich um Papa, schafft ein Krankenbett ins Wohnzimmer. Die Schwestern sind jetzt zwar mehr mit Oma zusammen, doch sie merken genau, wie traurig alles ist.

Wut und Trauer herrschen in dieser Geschichte zwar vor, aber die Kinder begreifen, dass es Gründe dafür gibt. Für Familien, die Ähnliches erlebt haben, bietet dieses Bilderbuch Identifikation und Hoffnung, denn mit der Zeit gewöhnen sich alle an dieses neue Leben, das zwar anders ist, aber dennoch Alternativen und schließlich auch schöne Momente bieten kann.

bär

Von solchen Momenten, schönen wie schlimmen, könnte man dann Geschichten erzählen. So wie der Bär. Doch der hat sich leider den falschen Zeitpunkt zum Erzählen ausgesucht, denn so kurz vor dem Winter haben Maus, Ente, Frosch und Maulwurf Wichtigeres zu tun, als Bär zuzuhören. Und so fallen die ersten Schneeflocken und Bär legt sich schlafen.
Im Frühling versammeln sich dann die Freunde alle wieder um Bär und haben endlich Zeit, die Geschichte zu hören …

Erin Stead hat die Geschichte Als Bär erzählen wollte von Philip Stead mit duftigen Aquarellen und zarten Bleistiftstrichen illustriert und dabei ganz viel Weißraum gelassen, so dass eine poetische Leichtigkeit die Szenerie bestimmt. Der Zusammenhalt der Freunde und ihre Aufmunterung von Bär am Ende zeigen, dass Freundschaft auch dann hält, wenn man einmal keine Zeit für den anderen hat oder sich lange nicht sieht. Die entzückende Abschlusspointe kann ich hier natürlich nicht verraten …

Ein abschließende Bitte hätte ich an die Illustratoren da draußen: Hier kommen in drei von vier Büchern alte Damen und Großmütter vor. Die Darstellung mit Kopftuch, Dutt und Puschen mag ja ganz heimelig und liebenswert sein, aber ich kenne heute keine Großmütter mehr, die so antiquiert herumlaufen. Es ist an der Zeit mal ein neues Großmutterbild zu entwickeln, würde ich sagen …

Anna Herzog: Ein Baby im Mamas Bauch, Illustration: Joelle Tourlonias, Sauerländer, 2015, 40 Seiten, ab 4, 14,99 Euro

Marjaleena Lembcke: Der Bus mit den eckigen Rädern, Illustration: Stefanie Harjes,
Ravensburger, 2015, 32 S.  ab 6, 15,99 Euro

Achim Kirsch: Papas Unfall, Balance Buch + medien, 2015, 40 Seiten, ab 4, 14,95 Euro

Philip Stead: Als Bär erzählen wollte, Übersetzung: Uwe-Michael Gutzschhahn,   Illustration: Erin A. Stead, Sauerländer, 2015, 32 Seiten, ab 4, 14,99 Euro

 

 

Endlich! Die Antwort auf eine immens wichtige Frage

weihnachtsmannAlle Jahre wieder … steht man vor der Frage, wie man seinen Kindern, Nichten oder Neffen erklären soll, dass der Weihnachtsmann in nur einer Nacht alle Kinder der Welt beschenken kann. Ein Drama!

Einen Lösungsvorschlag liefert nun die japanische Sachbuchautorin Hiroko Motai in dem Bilderbuch Tausend Millionen Weihnachtsmänner, übersetzt von Anu Stohner. Demnach gab es anfangs tatsächlich nur einen Weihnachtsmann. Aber es gab auch weniger Menschen auf der Erde, also auch weniger Kinder, und so schaffte er es, sein Pensum in einer Nacht zu absolvieren.
Doch die Menschen vermehrten sich, und so wurden auch die Kinder immer zahlreicher. Für den Weihnachtsmann wurde die Belastung im Job immer höher, auch das Rentier brauchte jetzt öfter eine Pause. Da wandte sich der Weihnachtsmann an Gott und bat, dass dieser aus ihm zwei Weihnachtsmänner machen sollte. Gott erfüllte ihm diesen Wunsch. Jedoch halbierte er die Weihnachtsmänner in der Größe.
Doch auch zwei Weihnachtsmänner schafften es irgendwann nicht mehr, die unzähligen Wünsche der vielen Kinder zu erfüllen. Wieder fragten sie Gott, wieder wurden sie erhört, wieder wurden sie kleiner und kleiner und kleiner …

Die Illustratorin Marika Maijala hat Motais Geschichte in Kreidezeichnungen umgesetzt, die ein ganz besonders heimeliges Weihnachtsgefühl aufkommen lassen. Zwischen Schneegestöber schleppen die rotbemützten Weihnachtsmänner Geschenke zu den Rentieren, Kinder laufen Schlittschuhe, Eltern hetzen durch die vorweihnachtliche Stadt. Die Bilder sind im Stil von Kinderzeichnungen gehalten, was durchaus nicht einfach hinzubekommen, sondern eine große Kunst ist. Sie sind dadurch jedoch ganz dicht bei den kleinen Betrachtern und sind über jeden Zweifel an dieser Erklärung erhaben.

Für Kinder, die jedoch der Überzeugung sind, dass das Christkind die Geschenke bringt, dürfte Tausend Millionen Weihnachtsmänner allerdings ein harter Brocken sein. Denn auf diese Grundsatzfrage antwortete dieses Buch leider nicht. Ich bin mir auch nicht sicher, ob es überhaupt ein Bilder- oder Kinderbuch gibt, das hier mal für Aufklärung sorgt.  😉

Hiroko Motai: Tausend Millionen Weihnachtsmänner, Übersetzung: Anu Stohner, Illustrator: Marika Maijala, Sauerländer, 2015, 40 Seiten, ab 4, 14,99 Euro

[Gastrezension] Diese Bücher verkürzen den Advent …

adventJetzt, wenn die Temperaturen frostiger werden, es tagsüber gar nicht mehr hell wird, selbst auf den kleinsten Plätzen Weihnachtsmärkte eröffnen und sogar Hamburg einen Sonntagnachmittag in magischem Schneeweiß glitzerte, kommt man endlich in Weihnachtsstimmung. Aber was macht man in den kommenden Wochen? Adventskalender wirken ziemlich profan. Helfen können zwei Bücher, die die Zeit bis Heiligabend viel schöner versüßen und von denen alle etwas haben:

Ausgerechnet am ersten Dezember verfängt sich die Fliege Bisy in Kai Pannens Buch Du spinnst wohl! im Netz der Spinne Karl-Heinz. Die freut sich über den Festtagsbraten, verschnürt Bisy zum Paket und will ihn schön bis Heiligabend abhängen lassen. Aber so leicht lässt der wort- und weltgewandte Bisy sich nicht einwickeln und zum Essen degradieren. Sein Name ist nicht nur onomatopoetisch, also lautmalerisch zu verstehen. Die flotte Stubenfliege ist sehr umtriebig, also busy, weiß von Supermärkten voller Köstlichkeiten für jeden Krabbeltiergusto unter der Spüle zu erzählen, gibt Tipps für festliche Dekoration und ist eine hervorragende Netzwerkerin. Und in 24 Tagen im Advent kann viel passieren und sich viel ändern.

Kai Pannen erzählt in seiner cartoonesk illustrierten Adventsgeschichte von einer außergewöhnlichen Freundschaft. Einer unmöglichen eigentlich. Denn die Spinne hängt immer nur auf ihrem Sofa ab und bekommt nichts mit von der Welt. Das liegt an ihrem fesselnden Wesen und ihren für alle anderen extrem ungesunden Ernährungsgewohnheiten, die bisher jede Kontaktaufnahme scheitern ließen. Selbst Karl-Heinz‘ Tante Kassandra würde ihn nach Spinnenart bei Gelegenheit als Zusatzhappen goutieren, was das Verhältnis zu ihr doch sehr distanziert macht.
So verlässt Karl-Heinz nur selten das Netz, verputzt Unmengen von Süßigkeiten, bekommt Zahnschmerzen, weiß aber weder, dass es überhaupt einen Zahnarzt gibt, der ihn von seinen Schmerzen erlösen könnte, noch wo der zu finden ist. Bisy hingegen kennt sich aus und erzählt der Spinne von dem Zahnarzt, der am goldenen Bilderrahmen praktiziert. Karl-Heinz’ Kommentar: „Typisch, so eine teure Gegend kann sich auch nur ein Zahnarzt leisten.“ So locker und witzig geschrieben ist diese Adventsgeschichte, deren 24 Kapitel vom 1. Dezember bis Heiligabend zum Vorlesen einladen, wirklich ein großer Spaß, süß, aber nicht so zuckrig und wesentlich inhaltsreicher als jeder Adventskalender.

Wer jetzt meckert – „Das ist doch total unrealistisch!“ –, dem sage ich nur: Hey, das ist keine biologische Abhandlung über die Interaktion von Insekten und Spinnentieren, obwohl manche Details stimmig sind. Aber die Originalgeschichte vom Christkind erhebt auch nicht Anspruch auf historische Exaktheit, ganz abgesehen von den Abwandlungen mit Weihnachtsmann, fliegendem Rentierschlitten und Overnight-Express-Lieferung durch den Kamin. Eine Adventsgeschichte soll die Wartezeit auf Heiligabend verschönern, sie soll aufheitern, glücklich machen und an das Gute in der Welt glauben lassen. Und das gelingt Kai Pannen ganz famos!

adventBei jeder Neuerscheinung aus dem brillanten aracari Verlag sind meine Erwartungen hoch. Vor fünf Jahren starteten die Schweizer mit dem berührenden koreanischen Bilderbuch Abschied von Aika. Zwei Jahre später landete aracari einen absoluten Bestseller mit dem kunterbunten Gefühlskaleidoskop Heute bin ich der Niederländerin Mies van Hout. Auch Guido van Genechtens knuffiger Schneemann Ben hat bei den Eidgenossen seine verlegerische Heimat gefunden. Und jetzt gesellt sich mit Der kleine Christbaum die Belgierin Ruth Wielockx dazu, übersetzt von Martin Rometsch.

Die Geschichte von dem noch jungen Nadelgewächs, das auch endlich zum Zuge kommen möchte, ist niedlich. Der kleine Baum beneidet seine großen Freunde, werden diese doch zum „Bäcker-Christbaum“, „Metzger-Christbaum“ oder „Marktplatz-Christbaum“. Da möchte der Kleine natürlich mithalten. Zum Glück kommt schließlich der Weihnachtsmann persönlich vorbei und überträgt ihm quasi die Hauptrolle für Christbäume …
Das ist ganz schön, aber auch etwas schade, denn die Story hätte mehr Potenzial gehabt. Auch dass die Bäume alle Gesichter haben, die an altmodische Bilderbuchsonnen erinnern, wirkt etwas behäbig.
Allerdings ist es fast schon mutig, und das sage ich als überzeugte Atheistin, heute politisch unkorrekt von einem Christbaum zu sprechen und potenzielle Käufer abzuhalten, vielleicht aber auch andere umso mehr anzusprechen… Der Originaltitel lautet De kleene kerstboom, also eigentlich„Der kleine Weihnachtsbaum“, aber „Christbaum“ klingt natürlich auch weniger hölzern als Weihnachtsbaum oder womöglich „Jahresendzeitgewächs“.

Dieses putzige Bilderbuch passt trotzdem sehr schön zum Thema Weihnachten, illustriert es doch ganz vortrefflich, dass zu hohe Erwartungen die Freude trüben können.

Elke von Berkholz

Kai Pannen: Du spinnst wohl!, Tulipan Verlag, 2015, 99 Seiten, ab 4,14,95 Euro

Ruth Wielockx: Der kleine Christbaum, Übersetzung: Martin Rometsch, aracari Verlag, 2015, 32 Seiten, ab 4, 13,90 Euro

Auswanderungskunst

MigrarWimmelbücher stehen ja hoch im Kurs. Seit vielen Jahren schon. Nun hat mich eines erreicht, das man Kindern kaum in die Hand geben möchte, so kunstvoll ist es gemacht, und so düster ist seine Botschaft. Ein Kunstbuch für Erwachsene mehr als für Kinder. Und doch geht es auch die Kinder etwas an.
Anfangs, oben auf dieser ausklappbaren meterlangen Seite, scheint die Sonne freundlich vom Himmel. Vögel schwirren zwischen den Wolken umher, links geht schon der Mond auf. Eine Idylle, möchte man meinen. Doch was der Autor José Manuel Mateo hier in einem kurzen Text, übersetzt von Ilse Layer, erzählt und was der Illustrator Javier Martínez Pedro in schwarz-weiße Bilder umgesetzt hat, ist keine Idylle.

Mateo erzählt in Migrar.Weggehen von dem Wandel, der in einem mexikanischen Dorf vonstatten geht. Die Männer verlassen das Dorf, die Felder bleiben unbestellt, die Frauen und Kindern haben nicht mehr genug Geld. So auch die Familie des namenlosen Erzählers. Als sein Vater kein Geld mehr schickt, machen sich der Junge, seine Mutter und seine Schwester auf in die USA.
Mit dem Bus geht es zu den Bahngleisen, dort springen sie illegal auf einen Güterzug. Auf Zwischenhalts müssen sie sich vor uniformierten Männern verstecken. Die drei laufen zu Fuß weiter und überwinden den Zaun, schaffen es bis nach Los Angeles.

MIGRAR 2Das Thema der Auswanderung aus Mexiko bzw. der illegalen Einwanderung in die USA habe ich hier im Sommer schon einmal anhand von Dirk Reinhardts Buch Train Kids vorgestellt. Das Werk von Mateo und Martínez Pedro passt genau dazu. Hier werden zwar die Qualen der Reise nicht ausführlich beschrieben, der Text ist kurz und deutet die ganzen Gefahren und Hindernisse eher an, doch dafür klappt man hier ein dichtbemaltes schwarz-weißes Leporello auf.

Auf neun querformatigen Seiten hat Martínez Pedro in der Tradition des alten aztekischen Kodex‘ ein Wimmelbild gemalt, das die Stationen der Reise illustriert. Im anfänglichen Idyll sind die Häuser bewohnt, die Felder bestellt. Die vielen Menschen haben die Arme vor Freude erhoben, sie scheinen zu tanzen. Die Frauen holen Wasser vom Brunnen, die Kinder baden. Doch dann packen die Männer Taschen und Rucksäcke, verlassen das Dorf, die Fenster der Häuser werden vernagelt. Ein Leben ist dort nicht mehr möglich.
An dem Zug, den auch die Mutter mit ihren beiden Kindern nimmt, hängen viele Menschen oder sitzen auf dem Dach. Mit der Zugfahrt wandelt sich auch die Landschaft, Felder und Palmen verschwinden, Kakteen wachsen stattdessen in der Wüste.
In den USA schließlich beherrschen Autobahnen und Hochhäuser alles. Die Plattenbauten am unteren Ende des Leporello sind nicht schön, erinnern mich fast an Osterberlin, aber sie beherbergen die Hoffnung, den Vater wiederzufinden und endlich ein besseres Leben zu führen.

Dieser Leporello bietet sehr viel zum Schauen und Entdecken. In der verwobenen Gesamtkomposition macht man den Schrecken der Geschichte nicht gleich aus. Mit kleineren Kindern kann man auf visuelle Schatzsuche gehen, sollte und muss aber auch einiges erklären, damit keine Angst aufkommt, wenn die Einwanderer von den Zügen geholt werden.

Diese illustratorische Perle, edel in schwarzes Leinen gebunden, mit Satinband zum Verschließen versehen, kann man wenden und dann die Geschichte auch im spanischen Original lesen. Sie wurde mit dem Preis der Kinderbuchmesse Bologna ausgezeichnet und erinnert uns daran, dass kein Mensch seine Heimat freiwillig verlässt, dass so eine Flucht oder Reise kein Zuckerschlecken und keine Vergnügungstour ist, und dass am Ende nicht immer das Paradies steht, sondern immer noch sehr viel Kummer und Heimweh. Das sehen wir momentan täglich in den Flüchtlingsunterkünften in unserem Land … und es sollte uns immer wieder zu denken geben.

José Manuel Mateo: Migrar. Weggehen, Illustration: Javier Martínez Pedro, Übersetzung: Ilse Layer, Edition Orient, 2015, 20 Seiten, 28,90 Euro

Wortkreative Langeweile

bärDas Buch Die Große Wörterfabrik erschien, bevor ich diesen Blog auf die Beine gestellt habe – folglich ist das Werkvon Agnès de Lestrade mit den Illustrationen von Valeria Docampo an mir vorbeigegangen.
Doch nun haben die beiden einen würdigen Nachfolger herausgebracht: Der Bär und das Wörterglitzern, erneut feinfühlig übersetzt von Anna Taube.

Durch dieses quadratische Bilderbuch begleitet der Betrachter einen melancholischen blauen Bären, der nichts, aber auch gar nichts mit Käpt’n Blaubär gemein hat. Hingestreckt liegt er in seinem wackligen Bettgestell, hängt über zerbrechlichen Stühlen, verkriecht sich unter einem Buchzelt. Er erzählt keine zusammenhängende Geschichte, sondern liefert hellsichtige Gedanken über Langeweile, Stille, Tränen, Einsamkeit und den Rand des Winters.
Aus all seinen Überlegungen entstehen neue Wortkombinationen wie „traumschweben“ oder „eiszapfenglitzern“.
Dafür möchte man den blauen Bären knuddeln, ihn in den Arm nehmen, trösten und ihm danken. Denn er schenkt dem Leser die Einsichten, dass Langeweile, Stille und Kummer zum Leben dazu gehören und manchmal ganz wunderbare Dinge dabei herauskommen, wenn man sich diesen Zuständen stellt, sie aushält und nicht gleich wieder auf anderen Kanälen und Geräten wegdrückt. Wir sollten also auf jeden Fall mehr abhängen, mehr grübeln, mehr den Mund halten.

Denn nur dann sehen wir auf einmal den anderen ganz deutlich, spüren die Schmetterlinge im Bauch und wagen das Randspringen in eine unbekannte Welt mit warmen Farben und einer sanft schaukelnden Hängematte. Es kann nur gut sein. So wie dieses Buch.

Agnès de Lestrade: Der Bär und das Wörterglitzern, Übersetzung: Anna Taube, Illustration: Valeria Docampo, mixtvision, 2015, 40 S.  ab 3, 14,90 Euro

P.S.: Wenn ich dann genug abgehangen habe, greife ich doch auch mal zu meinem Tablet. Dort habe ich mittlerweile Die Große Wörterfabrik als App installiert. Seitdem sehe ich nun in jedem Wort ein kleines, wertvolles Juwel, das gehegt werden sollte. Und auch das ist ganz wundervoll.

Leuchtende Traumwelten

träumeDie Novembernächte gehören bekanntlich zu den ungemütlichsten und düstersten, sind sie doch nach dem langen Sommer und dem strahlenden Herbst echt gewöhnungsbedürftig. Vielleicht wird auch deshalb erst einmal Halloween gefeiert, damit das Unbehagen vor diesen Nächten gar nicht erst aufkommen kann.

Die argentinische Autorin und Illustratorin Isol hat ihr ganz eigenes Rezept mit dunklen Nächten entspannt umzugehen: Man stelle ihr Umklappbuch Nachts leuchten alle Träume neben das Bett auf den Nachttisch, lasse vor dem Einschlafen, beim Lesen also, noch etwas Licht auf die Seiten fallen – und genieße dann später im Dunkel die fluoreszierende Magie, die sich entfaltet.

Zwölf Rezepte, also Bilder, hält Isol parat und entführt die Betrachter in Traumwelten. Da öffnen sich verbotene Türen, Meeresbewohner tauchen aus den Tiefen auf, Schmusekätzchen verwandeln sich, langweilige Bücher geben ihre Geheimnisse preis, verborgende Lebensräume werden sichtbar, aus dem Samenkorn erwächst etwas.
Und wer diese Leuchtgebilde auf sich wirken lässt, träumt womöglich etwas ganz Besonderes ins diesen Nächten.

Isols einfache Strichzeichnungen funktionieren auf zwei Ebenen. Tagsüber sieht man die klar umrissene Ausgangssituation und liest pro Seite einen Satz, der die Fantasie bzw. den Traum anregt. Nachts leuchtet dann – erstaunlich lange, wie ich feststellen konnte, als ich irgendwann mal zwischendrin wieder aufwachte – die fluoreszierende Beschichtung und offenbart ihre Geheimnisse. Und selbst, wenn der eine Satz auf der Seite etwas Gruseliges ankündigt, so sind die Auflösungen doch immer so liebenswert, dass kein Betrachter schlimme Alpträume befürchten muss.

Die Gefahr, dass man durch das Leuchten zu lange wach gehalten wird, kann ich nicht bestätigen. Es ist viel mehr ein sanftes Hinübergleiten in den wohltuenden Schlaf. Auf Kleine Schlafverweigerer könnten diese vergänglichen Bilder möglicherweise beruhigend wirken. Die kommenden Novembernächte werden für mich jedenfalls in diesem Jahr zu einem traumhaften Vergnügen.

Isol: Nachts leuchten alle Träume, Übersetzung: Karl Rühmann, Fischer Sauerländer, 2015, 36 Seiten,  ab 4, 15,99 Euro

Die Blutprinzessin und die Vogelpracht

cneutHerbst gleich Erntezeit. Irgendwie ist es auch in der Buchbranche so. Jedenfalls bei mir … ist doch grad ganz frisch eine meiner Übersetzungen eingetroffen, die ich in diesem Frühjahr angefertigt habe: Das Märchen Der goldene Käfig von Anna Castagnoli, prächtig illustriert vom Flamen Carll Cneut.

Erzählt wird die Geschichte der verwöhnten und widerspenstigen Prinzessin Valentina und ihrem Tick, Vögel zu sammeln. Wie in Märchen üblich geht es nicht zimperlich zur Sache, denn sobald das gute Kind nicht das bekommt, was es möchte, rollen Köpfe. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Die Interpretation dieser Vorgänge überlasse ich anderen Lesern, meine Vermutung, dass die Autorin sich unter anderem auch von Lewis Carrolls Alice im Wunderland hat inspirieren lassen, habe ich hier schon mal geäußert.

Was ich jetzt aber viel besser einschätzen kann, sind die Illustrationen, besser gesagt, die Gemälde von Carll Cneut. Für die Übersetzung hatte ich vor Monaten nur ein kümmerliches PDF auf dem Bildschirm und war mit dem Kopf eh viel mehr bei den einzelnen Worten und Begriffen als bei den Bildern. Doch nun, im fertigen Zustand, überwältigt mich die Vogelpracht, die Cneut hier geschaffen hat. Jeder Vogel ist eine Persönlichkeit. Jede Seite bietet Schauriges und Schönes. Mal meint man in einem japanischen Holzschnitt gelandet zu sein, dann wieder in der Sesamstraße. Groben Pinselstrich kombiniert er mit feinst ausgearbeiteten Federn, die die Tiere plastisch hervortreten lassen. Valentinas Hutschmuck ist so vielfältig wie ihre Vögel. Den Dienern ist die Überforderung und der Schrecken im Gesicht abzulesen. Die zarten Gewächse des Gartens verwandeln alles in einen Urwald, man hört das Gekreische der Papageien.
Und wenn man dann die Bilder immer wieder betrachtet, so wandelt sich das Gefühl, das man gegenüber der verzogenen, grausamen Blutprinzessin am Anfang hegt, in Mitleid. Denn das arme reiche Kind ist ziemlich einsam …

Ich kann mir zwar kaum vorstellen, dass Vierjährige mit dieser Geschichte viel anfangen können. Aber dafür ist nach oben hin keine Grenze für die Altersempfehlung gesetzt, denn über Valentinas Verhalten und das Ende der Geschichte kann man lange nachdenken und vorzüglich diskutieren.

Für mich ist es heute erneut ein hinreißendes Erlebnis, dass sich die Sätze aus meinem schlichten Word-Dokument nun in einem so wunderschönen Kleid wiederfinden.

Anna Castagnoli/Carll Cneut: Der goldene KäfigÜbersetzung: Ulrike Schimming, Bohem Press, 2015, 48 Seiten,  ab 4, 28,95 Euro

Leise Laute laut lesen lernen

lesenIm vergangenen Jahr habe ich ein paar Stunden Sprechunterricht bei einer Schauspielerin genommen. Ich wollte präpariert sein, um aus einer meiner Übersetzungen vor Publikum zu lesen. Bis dato hatte ich nicht viel vorgelesen, hielt mich auch nicht gerade für talentiert, weil ich mich ständig verhaspelte und Fehler machte und irgendwann keine Luft mehr bekam. Nicht schön, weder für mich, noch für mögliche Zuhörer. Aber wie so vieles ist auch das Vorlesen eine Kunst, die man lernen und trainieren kann. Das haben mir die Stunden gezeigt und mir die Angst vor dem Vortragen genommen. Es macht mir mittlerweile richtig Spaß und so manches Mal lese ich mir selbst laut vor.

Während des Sprechunterrichtes bekam ich irgendwann Texte, mit denen Schauspieler die einzelnen Laute verstärkt üben. Der Inhalt der Texte war eher absurd widersinnig und für mich nicht so anregend. Ganz anders nun die Sammlung von 50 kurzen Vorlesegeschichten von Daniel Napp, die er für das Buch Löwen mögen schöne Zöpfe geschrieben und illustriert hat. Für jeden Laut gibt es eine eigene Geschichte, dazu kommen Texte, in denen lange und kurze Vokale betont und im Wechsel geübt werden können. In „Kampf gegen die Kilos“ wechseln sich beispielsweise G und K ab, in „Hundedelikatesse“ werden P und B sowie T und D variiert. Man erliest den Unterschied von stimmhaftem und stimmlosen S, erkundet das vordere und das hintere CH und dringt so in die schier unendlichen Weiten des eigenen Rachen- und Klangraumes vor.

Sind bei den Sprechübungstexten für Erwachsene, wie in Der kleine Hey, die Inhalte meist ziemlich gaga, so schafft es Napp immer, eine kleine, runde, wenn auch oftmals bizarre Geschichte zu erzählen. Dabei hält er sich nicht sklavisch daran, immer nur den einen entsprechenden Laut zu benutzen – à la Ottos Mops von Ernst Jandl –, sondern erlaubt sich durchaus Abweichungen. Die aber sind von entzückender Manier, wie Beispielsweise beim kurzen U: „Kurz vor Fulda verguckte sich Muldenkipper Ulf in den Bus Uschi.“
Man verguckt sich in laut lesender Weise Seite um Seite in dieses Buch, ins Vorlesen, in die Laute, die Buchstaben und die Bilder noch dazu.

So verbinden sich hier aufs Schönste unterhaltsame Kurzgeschichten mit nützlichem Wissen um den akkuraten Gebrauch von Lippen, Zunge und Luftstrom beim Sprechen. Nach meinen wenigen Stunden Sprechunterricht bin ich natürlich keine professionelle Sprecherin geworden, doch die Freude an der korrekten Aussprache und dem Lesen hat dazu geführt, dass dieses Buch nicht so schnell im Regal verstauben wird, sondern mich immer wieder dazu verführt, einen neuen Laut anhand einer anderen Geschichte zu üben und zu vertiefen. In diesem Sinne ist Napps Buch nicht nur etwas für die Lütten, sondern für alle, die an ihrer Aussprache feilen möchten.

Daniel Napp: Löwen mögen schöne Zöpfe. Das LAUT Lesebuch, Carlsen, 2015, 176 Seiten, ab 4-99, 18,99 Euro

[Gastrezension] Scheitern als Chance

stecktFür jemanden wie mich, der nach dem Motto „schlimmer geht immer“ lebt, ist Oliver Jeffers’ neues Bilderbuch Steckt sehr lustig, geradezu selbstironisch und tröstlich. Allerdings halte ich diese auf Erfahrung beruhende Lebenseinstellung (Wissenschaftler nennen das „evidenzbasiert“) für gesunden Realismus, und sehe mich weniger als Pessimistin.

Dazu passt Steckt. Selbiges tut nämlich Floyds roter Papierdrache in einem großen Baum: Das Flugobjekt hat sich im Geäst verhakt und steckt fest. Und wie man das so macht, wirft der energische, kleine Junge einen Schuh, genauer den linken von seinem Lieblingspaar hinterher, um den Drachen zu befreien. Doch der Schuh bleibt ebenso wie der hinterhergeschleuderte rechte stecken. Fragt Ihr Euch auch manchmal, wie eigentlich die vielen Schuhe auf Laternenmasten und Bäume kommen? Jetzt wisst Ihr es. Und der Ärger geht weiter: Floyd schnappt sich Mitch, die Katze, gleiches Verfahren, gleiches Ergebnis. „Katzen bleiben ja ständig auf Bäumen stecken. Aber das ging langsam zu weit.“ Also holt Floyd eine Leiter – und wirft sie ebenfalls auf den Baum, wo sie natürlich steckenbleibt.

Jetzt gibt es für den Rotschopf kein Halten mehr, schließlich hat er die Leiter nur vom Nachbarn geborgt und muss sie definitiv zurückstellen, bevor jemand merkt, dass sie weg ist. Floyd schmeißt einen Eimer rosa Farbe hinterher, was die nun leicht bekleckerte Katze vergrätzt und Jeffers’ auf das wesentliche reduzierten, in kräftigen Farben gemalten Bildern noch ein paar Akzente hinzusetzt. Floyd wird richtig sauer, eine kleine Gewitterwolke braut sich über ihm zusammen, die Augenbrauen werden zum wütenden Strich. Und er macht weiter: Eine Ente folgt der Farbe, dann das Fahrrad eines Freundes, der massive Spülstein, die extra ausgebaute Haustür, das Familienauto und der Milchmann, der verwirrt die mittlerweile entspannte Katze fragt, ob sie auch auf dem selben Weg dort oben gelandet sei.

Das ist wunderbar absurd und lustig, aber absolut konsequent. Der kleine Drachenjäger (erfrischenderweise ist damit mal keine Fantasyfigur gemeint) hat sich in etwas verrannt und kann jetzt unmöglich zurück. Das kennt jeder. Und mehr und mehr verliert man das ursprüngliche Objekt der Begierde aus den Augen. Denn es landen des weiteren ein Orang-Utan, ein kleines Boot und ein großer Ozeandampfer, ein Nashorn und das Nachbarhaus auf dem Baum.

Steckt, darin klingt auch „sitzt, passt, wackelt und hat Luft an“ und genau das passiert: Im Geäst fügt sich alles zusammen und bildet eine Welt für sich, zu der sich schließlich noch ein Sattelschlepper, ein Leuchtturm und ein „Wal, der nur zur falschen Zeit am falschen Ort war“, gesellen.
Diese Geschichte hat eine innere Logik, die Kinder sofort verstehen. Und die Erwachsene nur allzu gut kennen und fürchten, angefangen beim falschen Studium, über blöde Jobs, von denen man sich mehr versprochen hat, bis hin zu Beziehungen, die nicht funktionieren, und groß angelegten Projekten, wie Wohnung renovieren und einmal gründlich auszumisten.

Steckt versteht man auch ohne Text, der lakonische Tonfall macht das Buch aber noch witziger. Der vielfach ausgezeichnete Illustrator Oliver Jeffers hat mit Pinguin gefunden sowie dem Nachfolger Up and Down bezaubernde Bücher über Freundschaft geschaffen. Im preisgekrönten Das Herz in der Flasche erzählt der 1977 in Australien geborene, in Belfast aufgewachsene und mittlerweile in New York lebende Kinderbuchkünstler anschaulich von einem Mädchen, das aus Trauer sein Herz verschließt. Aber ohne Gefühle ist ihr Leben langweilig, fade, trist, monoton, sichtbar farblos. Erst Emotionen machen es lebenswert und Schmerz gehört dazu. Steckt zeigt nun das Scheitern als Chance: Floyd macht durch seine Sturheit zunächst alles immer noch schlimmer. Aber schließlich ergibt sich aus dem größten Chaos die Lösung – im wortwörtlichen Sinn. Oliver Jeffers’ neues Buch steckt voller kurioser Komik, charmantem Witz und kluger Philosophie.

Elke von Berkholz

Oliver Jeffers: Steckt, Übersetzung: Anna Schaub, NordSüd Verlag, 2015, 32 Seiten, ab 4, 14,90 Euro

Bilderbuch-Perlen

bilderbuch 1Ich bin noch eine ganze Reihe von Bilderbücher-Rezensionen schuldig. Nun habe ich endlich die Zeit gefunden.

Den Auftakt macht Der Mondfisch in der Waschanlage von Andrea Schomburg und Dorothee Mahnkopf. Hier trifft man auf sehr merkwürdige, aber real existierende Tiere wie Thermometerhuhn, Nacktmull oder Pistolenkrebs. Jeweils auf einer Doppelseite gibt es eine detaillierte Illustration, auf der es jede Menge zu entdecken gibt. Flankiert werden die Getiere von zwei Texten: einem Sachtext, der über die Natur der Portraitierten – also Art, Größe, Lebensraum und Besonderheiten – aufklärt. Dazu gesellt sich dann ein extrem geistreiches, rhythmisch gereimtes Gedicht, bei dem man entweder vor Lachen nicht mehr weiterlesen kann oder sich stante pede in die seltsamen Gesellen verliebt. Der Vorlesespaß ist garantiert.

Bilderbuch 2Der Titel Noch mal! vom Bilderbuch von Emily Gravett ist Programm. Wer kennt das nicht, wenn vorgelesen wird: Ein ums andere Mal muss die Geschichte wiederholt, das Bild noch mal angesehen, die App noch mal durchgespielt werden. So auch hier: Mama-Drache liest ihrem Sprössling die Geschichte von Drache Chlodwig vor, ein gereimtes Epos. Und das Drachen-Junges bekommt natürlich nicht genug davon. Also: Noch mal!
Mama-Drache, sichtlich erschöpft mit hängenden Ohren, liest – und variiert. Aber der Lütte ist nicht zu befriedigen … bis schließlich ein Loch im Buch prangt.

Diese kleine Geschichte macht auch menschlichen Vorlesejunkies eindrücklich klar, dass irgendwann mal Schluss sein muss – vermutlich allerdings erst nach zehnmaliger Lektüre von Emily Gravetts Noch mal!

bilderbuch 3Verzweiflung ganz anderer Art kann kleine Menschen überkommen, wenn es zum ersten Mal heißt: Hilfe, der Babysitter kommt. Anke Wagner und Anee-Kathrin Behl erzählen in ihrem Bilderbuch von Olli. Dessen Mama und Papa wollen am nächsten Abend endlich mal wieder ins Kino. Beide freuen sich bannig. Olli unterhält sich mit Stubs, seinem Kuschlemuschelfreund, darüber, dass in der Zeit, in der Mama und Papa nicht da sind der Babysitter kommt. Stubs ist entsetzt und kann nicht einschlafen: Vielleicht ist der Babysitter eine „Schminkedame“ oder ein „aufgeblasener Muskelmann“ … Die Vorstellung, was der Babysitter alles sein kann, könnte als ein modernes Gruselkabinett durchgehen – wären die Illustrationen nicht so reizend und charmant bunt. Die Auflösung am nächsten Abend ist dann natürlich eine völlig andere … aber die wird hier nicht verraten.
Für alle, deren Vorstellungskraft immer schon zehn Kilometer vorneweg galoppiert und irrationale Ängste schürt, ist dieses Büchlein eine hervorragende Vorbereitung und Beruhigung für neue Situationen im Leben.

bilderbuch 4Wenn man klein ist und noch nicht so viel darf und noch weniger kann, ist das Leben manchmal echt schwierig. Das merkt der Kleine. Er möchte gern Etwas ganz Großes machen. Im Bilderbuch von Silvie Neemann und Ingrid Godon entspinnt sich ein Gespräch zwischen Groß und Klein. Gemeinsam überlegen die beiden, was man Großes machen könnte. Doch nichts scheint dem Kleinen groß genug, nicht der Leuchturm, nicht die Reise. Ein Spaziergang am Strand schließlich bringt die Lösung.

In grün-blau-roten Kohlezeichnungen zeigen die französische Autorin und die Illustratorin, dass auch kleine Dinge ganz groß sein können. Eine philosophische Erkenntnis, die man nie früh genug erfahren kann.

lebenBei all dem sollte man auch immer bedenken: Das Leben kann so schön sein! Genau das beweist der  französische Comic-Zeichners und Illustrators Floc’h in seinem Bilderbuch.

Auf schlichten weißen Seiten lädt ein elegant gekleideter, irgendwie altersloser Herr die Leser ein, in das Buch zu springen. Ein kleines Mädchen mit Pagenschnitt und Rock folgt seiner Aufforderung, und gemeinsam erkunden sie das Leben. Die schönen Seiten des Leben. Ein kleiner Hase wird Begleiter des Mädchens, Jäger mit üblen Absichten müssen draußen bleiben. Losgelöst von Zeit und Raum zeigt der Mann dem Mädchen, was die Fantasie alles vermag. Sie träumen sich in ein Baumhaus, freuen sich an schönen Kleidern und schnellen Fortbewegungsmitteln, können sogar fliegen – bis zu den Pyramiden (das Bilderbuch kommt ohne Reime aus … 😉 ).

Es spielt keine Rolle, ob das möglich ist oder nicht. Die Fantasie ist so stark, dass allein die Vorstellung von etwas glücklich machen kann. Dass es tatsächlich hauptsächlich die kleinen Dinge des Lebens sind, die das Mädchen und den Mann glücklich machen, erfährt man fast nebenbei: Schaukeln, ein Tennis-Match, ein Spaziergang, der Regentanz, einer Gute-Nacht-Geschichte lauschen.

Im Ligne-claire-Stil und in merkwürdig-schönen altmodischen Bildern entführt Floc’h nicht nur das kleine Mädchen, sondern jeden Betrachter. Man braucht keine komplizierte Geschichte, um an die einfachen Dinge des Lebens erinnert zu werden, die Frage: „Was ist das schöne Leben?“ reicht völlig. Die Fortsetzung im tatsächlichen Leben wird jede_r Vorleser_in mit den Kindern erleben, denn die Bilder regen ungemein dazu an, darüber nachzudenken, was für einen selbst schön ist. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt …

wolfFantasievoll geht es auch in DEM Bilderbuch für alle kleinen Buchliebhaber weiter, das mich ganz frisch erreicht hat. Der Held: Der Wolf, der aus dem Buch fiel. Der Ort: das Kinderzimmer, ein höchst gefährlicher Ort. Die Handlung: Aus dem übervollen Regal fällt eines Tages ein Buch, und der Wolf plumpst heraus. Sollte man nun meinen, dass der Wolf froh ist,  von den Fesseln seiner Geschichte befreit zu sein, hat man sich gründlich getäuscht. Im Kinderzimmer lauern schreckliche Gefahren: die Katze! Die Dinos! Genervte Schafe! Es ist ein Graus. Verzweifelt versucht der Wolf, in seine Geschichte zurückzufinden. Doch entweder ist er nicht richtig gekleidet oder er kommt zu früh oder zu spät … Bis er im Wald ein weinendes rotgekleidetes Mädchen trifft … und alles gut wird.

Charmant spielen Illustrator Grégoire Mabire und Texter Thierry Robberecht mit dem Zustand eines übervollen Kinderzimmers, mit den Märchen und Geschichten, die man als junger Mensch bereits kennt. Der Wiedererkennungseffekt dürfte bei Buchliebhabern ziemlich groß sein. Und die Erkenntnis, dass auch Figuren aus Büchern eine Heimat und eine bestimmte Aufgabe haben, bietet Raum sowohl für ernsthafte Gespräche, als auch Fantastereien, wenn man den Wolf im eigenen Kinderzimmer durch seine Lieblingsbücher schickt …

Andrea: Schomburg: Der Mondfisch in der Waschanlage, Illustration: Dorothee Mahnkopf, Tulipan, 2015, 36 Seiten,  ab 4, 14,95 Euro

Emily Gravett: Noch mal! Übersetzung: Uwe-Michael Gutzschhahn, FISCHER Sauerländer, 2. Aufl.2015, 32 Seiten, ab 4, 14,99 Euro

Anke Wagner/Anne-Kathrin Behl: Hilfe, der Babysitter kommt! Inkl. HörFux MP3 Hörbuch zum Downloaden.  NordSüd Verlag, 2015, 32 Seiten, ab 4, 13,99 Euro

Sylvie Neeman/Ingrid Godon: Etwas ganz Großes, E-Book inklusive. Übersetzung: Anna Taube, mixtvision, 2015,  32 Seiten, ab 5, 14,90 Euro

Floch: Das Leben kann so schön sein! Übersetzung: Edmund Jacoby, Jacoby & Stuart, 2015,  64 Seiten, ab 4, 16,95 Euro

Gregoire Mabire/Thierry Robberecht: Der Wolf, der aus dem Buch fiel, Übersetzung: Ilse Rothfuss,  Ravensburger Buchverlag, 2015, 32 Seiten, ab 4, 12,99 Euro

… und Action!

bilderbuch1Einfach nur schauen, blättern, vorlesen – das war gestern. So könnte man meinen, wenn man die vier Bilderbücher betrachtet, die in diesem Frühjahr bei mir gelandet sind. In jedem steckt ein Goodie, das zum Mitmachen einlädt.

Den Auftakt macht Ulff, ein undefiniertes, schuppiges Ungeheuer, das am liebsten Backenhörnchen verspeist und sich mit seinem Lasso folglich auf Backenhörnchenjagd macht. Doch Ulff ist etwas schusselig und verlegt das Lasso. Irgendwo. Also macht er sich auf nach Irgendwo. Durch den Wald, durch die Stadt, am Flughafen, am Meer, unter Wasser und in der Wüste sucht Ulff.
Dem Leser steht für diese Lektüre eine gestreifte Folie zur Verfügung, die auf jeder dieser Seite bestimmte Elemente der Bilder in Bewegung bringen kann: Räder routieren, Blätter im Baum rascheln, Rauch quillt aus dem Schornstein, die Sonne flimmert, Wellen plätschern. Man muss ein bisschen üben, um die richtige Geschwindigkeit herauszufinden, doch dann  bietet jede Seite eine neue Überraschung.

bilderbuch 2Eine Folie in Form eine Lupe findet sich auch im Magischen Zauberlupenbuch. Man begleitet den Vogel Rotschnabel durch rotgezeichnete Landschaften. Hinter den Bäumen, Ameisenhaufen, der Fabrik, der Großstadt und den Bergen jedoch verstecken sich komplett andere Welten, die erst sichtbar werden, wenn man mit der Lupe darüber fährt.
Hier braucht man ein bisschen Geduld, um alle Details mit der Lupe abzufahren und zu erkunden, denn sie zeigt nur einen kleinen Ausschnitt der großformatigen Seiten.
Doch die zarten Stichzeichnungen befeuern die Fantasie und machen spielerisch klar, dass hinter dem Offensichtlichen manchmal etwas ganz anderes stecken kann.

bilderbuch 3Ohne Folie, dafür mit einem Smartphone oder Tablet erkundet man die Geschichten von Was ist denn hier passiert?
Mittels QR-Code kann man zu den an sich schon skurrilen Bildern nicht weniger merkwürdige und lustige Ultrakurz-Filme laden, die die Geheimnisse der Bilder lüften: von den Hasen im Schnee, der fliegenden Oma im rosa Auto, vom angebissen Schiff auf der einsamen Insel, von Krebsen im Weltall …
Bilder und Filme kommen ohne Worte auf. Die muss man sich als Betrachter selbst ausdenken – doch die Bild-Collagen allein bieten schon so viele Details, die es zu entdecken gilt, dass es ganz viel zu erzählen gibt.

lindberghUnd wer sich dann doch alles lieber vorlesen lassen möchte, der sollte sich die App von Tigerbooks auf sein Tablet laden und sich die animierte Version von Torben Kuhlmanns Lindbergh holen.
Tausend verschiedene Animationen und Soundeffekte stecken in diesem digitalisierten Bilderwerk. Die sepiafarbenen Zeichnungen von Kuhlmann werden fast filmisch animiert. Da wird in die Szene hineingezoomt und -geschwenkt. Diskrete Kreise zeigen den Betrachtern, wo sie die „Action“ in den Bildern anstoßen können: Da gongt dann der Hamburger Michel, die kleine Maus schnüffelt, Mausefallen schnappen zu … Auf manchen Seiten ist man richtig lange beschäftigt, alle Gimmicks ausfindig zu machen.
Allerdings – wer diese digitale Lindbergh-Version kennt, den „Porsche“ unter den animierten Bilderbüchern, ist hinterher von anderen animierten Bücher möglicherweise enttäuscht. Denn so üppig und so liebevoll wie dieses ist kaum ein anderes Buch bis jetzt als Digi-Version umgesetzt worden. Aber es zeigt, was animierte Bilderbücher können und wo die Reise im Digitalen möglicherweise hingehen wird.

Torben Kuhlmann: Lindbergh, Tigerbooks/Oetinger, 2015, ab 5, 1,99 Euro

Julia Neuhaus/Till Penzek: Was ist denn hier passiert? Ein Bilderbuch mit zwölf Trickfilmen. Mit QR-Codes. Tulipan, 2015, 36 Seiten, ab 3, 18 Euro

Agathe Demois/Vincent Godeau: Das magische Zauberlupenbuch, Übersetzung: Barbara  Heller, FISCHER Sauerländer, 2015, 32 Seiten, ab 4, 14,99 Euro

Katja Alves/Trixi Schneefuß: Ulff, die Backenhörnchen und eine irre VerfolgungsjagdBewegte Bilder wie durch Zauberhand,  mixtvision, 2015, 32 Seiten, ab 4, 16,90 Euro

Wetterkunst

wetterÜbers Wetter reden geht ja immer. Nicht nur bei so einem Sturm wie dieser Tage. Ach, diese Kälte. Der Regen macht mich fertig. Es soll endlich Sommer werden. Herrlich, diese Sonne. Jetzt haben mir die Wolken die Sonnenfinsternis verdorben. Wetter geht immer.

Ab jetzt kann man sogar noch sagen:
Ich hab gerade ein irre tolles Buch über das Wetter gelesen.
Ach wirklich?
Ja, echt. Heißt Alle Wetter und ist von Britta Teckentrup.
Kenn ich nicht.
Musst du dir ansehen. So schöne Bilder, übers Wetter.
Ach, echt?

Ja, echt! In vier Kapiteln erzählt Teckentrup in kurzen, fast poetischen Texten von den unterschiedlichsten Wetterphänomenen – Sonnenschein, Regen, Eis und Schnee, Unwetter. Dazu gibt es phänomenale Bilder, die den Betrachter gefühlsmäßig komplett einfangen. Man spürt förmlich die sommerliche Hitze auf dem gelben Getreideacker, atmet die frische Luft im zartgrünen Frühlingswald, fröstelt bei Nebel, Regen, Schnee und ist doch gleichzeitig fasziniert von den dünnen, dichten Strichen, der Dynamik von Wind und Wolken, träumt sich bei den fallenden Schneeflocken in eine stille Winterlandschaft und möchte dem Fuchs durch den unberührten Schnee folgen.
Die oftmals dunklen Bilder wirken in ihren monochromen Farbgebungen zudem beruhigend, fast meditativ. Man möchte sich darin versenken .
In den Texten erfährt man dann  Dinge über Graupelkörner, Sprühregen, Inversionslage, Kristallisationskerne und Mittelgebirgsstau. Aber all diese Infos treten hinter den eindrucksvollen Bildern ganz schnell zurück. Man schaut und staunt.

Einen Vorgeschmack gibt es hier:

Nach diesem Buch wird man sich wahrscheinlich nie mehr so über das Wetter beschweren, wir wir es sonst in unserer Gleichgültigkeit gerne tun. Man wird viel mehr den Himmel, die Landschaft, die Stadt, die Wolken, den Regen, die unzähligen Schattierungen von Grau-Weiß-Blau-Rosa-Violett, einfach alles genauer beobachten und sich womöglich überlegen, was für ein Kunstwerk man da gerade vor sich hat.

Britta Teckentrup: Alle Wetter! Jacoby & Stuart, 2015, 168 Seiten, ab 6, 24,95 Euro

Endlich mal neu sortiert

tiereMal ehrlich, der Mensch braucht Ordnung. Wir räumen vielleicht nicht gern auf, aber wenn es dann mal getan ist, alles an seinem Platz steht, freuen wir uns und atmen durch. Ordnung brauchen wir auch außerhalb der vier Wände, um diese doch sehr komplexe Welt um uns herum wenigstens ansatzweise zu verstehen.

So haben die Zoologen beispielsweise die Tierwelt ordentlich kategorisiert und in so wunderbare -ologien, wie Entomologie (Insektenkunde), Ichthyologie (Fischkunde) oder Malakologie (Weichtierkunde) unterteilt. Und natürlich haben sie nicht an Untergruppen gespart: Allein bei den Säugetieren unterscheiden sie Chordatiere, Wirbeltiere, Kiefermäuler, Landwirbeltiere, Beutelsäuger und was nicht noch alles. Ich komm da immer ganz durcheinander. Aber Ordnung muss sein.

Das Ordnung auch anders gehen kann, davon hat mich Adrienne Barman schon auf den ersten Seiten ihres GROSS-AR-TI-GEN Sammelsurium-Buch Walsross, Spatz und Beutelteufel überzeugt. Darin hat die Schweizerin, die in Genf lebt, alle möglichen und unmöglichen Tiere in satten Farben und mit lustig verdrehten Augen gezeichnet. Und sortiert. Und hier liegt das Faszinosum, denn sie hat weder alphabetisch gearbeitet, noch nach irgendwelchen zoologischen Klassen, Stämmen oder Reihen, sondern Barman hat ganz eigene Kriterien für die Zusammenstellung entworfen.

So sortiert sie beispielsweise nach Farben: Da treffen bei den „Schneeweißen“ Eisbär auf Weißhaubenkakadu und Weißgesicht-Scheidenschnabel, bei den „Himmelblauen“ gesellt sich Fächertaube zu Plattbauch, Siedleragame zu Blaumeise. Ich gebe zu, ich kenne mit Nichten alle diese Tiere. Und das zieht sich durch das ganze Buch, wenn ich mir die Kategorie „Stubenhocker“ anschaue oder die „Tauchkünstler“. Überall entdecke ich neue Tiere, neue Informationen (so ein Pottwal kann 90 Minuten unter Wasser bleiben …), die „Verschwundenen“ erinnern an die ausgestorbenen Dinos, die „Gezähmten“ zeigen den Einfluss des Menschen auf die Tiere, die „Bedrohten“ rühren mit den Tränen in den Augen den Betrachtern. Erklärenden Text gibt es in diesem Buch nicht – und  der ist auch gar nicht nötig. Denn entweder erfindet man durch die ungewohnten Zusammenstellung der Tiere sofort eine eigene Geschichte oder ist so angeregt, dass man selbst anderen Orts nachliest.
Und immer weiter geht es mit Kategorien, die die wichtigsten Eigenschaften von bestimmten Tieren in den Mittelpunkt stellen: die „Stachligen“, die „Gestreiften“, die „Schnellen“, die „Lauten“, die „spektakulären Verführer“. Es ist eine Wonne, weil jede Kategorie überrascht und scheinbar Selbstverständliches in andere Beziehungen setzt. Man kann stundenlang blättern und schauen. Dieses Buch verführt zum hin und her springen, die Farbkonzepte der einzelnen Seiten ziehen einen magisch an, der subtile Witz in den Bildern fordert die ganze Aufmerksamkeit.

Bei all der Schauerei und dem Vor- und Zurückblättern geht einem dann irgendwann auf, dass man sich viel öfter von althergebrachten Ordnungen trennen könnte und seine eigenen Kriterien aufstellen sollte. Der Blick weitet sich, das Kreativ-Gen fängt an zu rumoren und es kribbelt im Bauch. So etwas können Leser und Betrachter jeden Alters gebrauchen, weshalb dieses Werk für mich in die Kategorie All-age gehört und ein Highlight meines Buchjahres ist.

Adrienne Barman: Walross, Spatz und Beutelteufel. Das große Sammelsurium der Tiere, Übersetzung: Susanne Schmidt-Wussow,  Aladin, 2015,  216 Seiten, ab 4, 24,90 Euro

Der Maulwurf in uns

MaulwurfBehaglich haben es die Maulwürfe, unter der grünen Wiese: Plüschsessel, Streifenbettwäsche, Pünktchentapete, Bollerofen. In schwindelerregende Tiefe graben sie ihr Reich und nutzen immer ausgefeiltere Maschinen, um ihre Gänge auszubauen. Selbst legen sie keine Hand mehr an das Erdreich. Immer mehr Maulwurfshügel zieren die grüne Wiese.

Und in Moletown müssen die Maulwürfe Schlange stehen, wenn sie die Tram nehmen wollen.
Riesige Vortriebsbohrer legen neue Wege für Moletown an, immer mehr Aktenordner füllen sich mit Papieren über die Maulwurfstadt.
Die Behaglichkeit und der Luxus der Maulwürfe nimmt zu: Lautsprecher, Telefonanlagen, TV, künstliche Sonnen, Wasserklosett und Grammophon. Gemütlich haben es die Maulwürfe.
Doch die Straßen von Moletown sind voll: mit Autos, Straßenbahnen, Hüte tragenden Maulwürfen. Und um die Maulwurfshügel, oben auf der Wiese, ist keine Wiese mehr, sondern nur noch Abgasgrau und Fördertürme. Nur ein kleines Fleckchen Gras ist noch da, abgesperrt mit einem rot-weißen Flatterband  … Trist haben es die Maulwürfe.

Natürlich braucht man keine zwei Sekunden um im Maulwurf uns Menschen wiederzukennen. Aber wie Torben Kuhlmann das macht, in diesem schmalen Bilderbuch, ist ganz fein. Auf wenigen Seiten durchlaufen die Maulwürfe einen Jahrhunderte lange Entwicklung. Dabei sollte man aber ganz genau hinsehen, um all die Details und Seitenhiebe auf unsere dekadent-entartete-naturferne Gesellschaft zu entdecken.
Mit Maulwurfstadt hat Torben Kuhlmann nach Lindbergh sein zweites Bilderbuch vorgelegt. Er kommt dabei mit zwei Sätzen Text aus, den Rest erzählen seine Bilder. Die gedeckten Braun- und Sepiatöne geben der Geschichte ein wunderbar antiquiertes Aussehen, von dem man sich aber nicht täuschen lassen darf. Spätesten mit den Schwarzweißbildern auf den Umschlaginnenseiten wird klar, an wen sich diese Maulwurfiade richtet.

Mag sein, dass es für uns und die Natur um uns herum schon zu spät ist. Doch nach diesem Buch nimmt man sich vor, ganz schnell etwas zu ändern, am eigenen Leben, an der Umweltverschmutzung, am täglichen, blinden Gehetze durch die Stadt. Und den kleinen Lesern wird so schon sehr früh klar, auf wessen Kosten unsere Behaglichkeit und Bequemlichkeit geht. Vielleicht wissen die, die nach uns kommen, die Natur höher zu schätzen. Denn niemand möchte so enden wie die Maulwürfe.

Torben Kuhlmann: MaulwurfstadtNordSüd Verlag, 2015, 32 Seiten,  ab 5, 14,99 Euro