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Auswanderungskunst

MigrarWimmelbücher stehen ja hoch im Kurs. Seit vielen Jahren schon. Nun hat mich eines erreicht, das man Kindern kaum in die Hand geben möchte, so kunstvoll ist es gemacht, und so düster ist seine Botschaft. Ein Kunstbuch für Erwachsene mehr als für Kinder. Und doch geht es auch die Kinder etwas an.
Anfangs, oben auf dieser ausklappbaren meterlangen Seite, scheint die Sonne freundlich vom Himmel. Vögel schwirren zwischen den Wolken umher, links geht schon der Mond auf. Eine Idylle, möchte man meinen. Doch was der Autor José Manuel Mateo hier in einem kurzen Text, übersetzt von Ilse Layer, erzählt und was der Illustrator Javier Martínez Pedro in schwarz-weiße Bilder umgesetzt hat, ist keine Idylle.

Mateo erzählt in Migrar.Weggehen von dem Wandel, der in einem mexikanischen Dorf vonstatten geht. Die Männer verlassen das Dorf, die Felder bleiben unbestellt, die Frauen und Kindern haben nicht mehr genug Geld. So auch die Familie des namenlosen Erzählers. Als sein Vater kein Geld mehr schickt, machen sich der Junge, seine Mutter und seine Schwester auf in die USA.
Mit dem Bus geht es zu den Bahngleisen, dort springen sie illegal auf einen Güterzug. Auf Zwischenhalts müssen sie sich vor uniformierten Männern verstecken. Die drei laufen zu Fuß weiter und überwinden den Zaun, schaffen es bis nach Los Angeles.

MIGRAR 2Das Thema der Auswanderung aus Mexiko bzw. der illegalen Einwanderung in die USA habe ich hier im Sommer schon einmal anhand von Dirk Reinhardts Buch Train Kids vorgestellt. Das Werk von Mateo und Martínez Pedro passt genau dazu. Hier werden zwar die Qualen der Reise nicht ausführlich beschrieben, der Text ist kurz und deutet die ganzen Gefahren und Hindernisse eher an, doch dafür klappt man hier ein dichtbemaltes schwarz-weißes Leporello auf.

Auf neun querformatigen Seiten hat Martínez Pedro in der Tradition des alten aztekischen Kodex‘ ein Wimmelbild gemalt, das die Stationen der Reise illustriert. Im anfänglichen Idyll sind die Häuser bewohnt, die Felder bestellt. Die vielen Menschen haben die Arme vor Freude erhoben, sie scheinen zu tanzen. Die Frauen holen Wasser vom Brunnen, die Kinder baden. Doch dann packen die Männer Taschen und Rucksäcke, verlassen das Dorf, die Fenster der Häuser werden vernagelt. Ein Leben ist dort nicht mehr möglich.
An dem Zug, den auch die Mutter mit ihren beiden Kindern nimmt, hängen viele Menschen oder sitzen auf dem Dach. Mit der Zugfahrt wandelt sich auch die Landschaft, Felder und Palmen verschwinden, Kakteen wachsen stattdessen in der Wüste.
In den USA schließlich beherrschen Autobahnen und Hochhäuser alles. Die Plattenbauten am unteren Ende des Leporello sind nicht schön, erinnern mich fast an Osterberlin, aber sie beherbergen die Hoffnung, den Vater wiederzufinden und endlich ein besseres Leben zu führen.

Dieser Leporello bietet sehr viel zum Schauen und Entdecken. In der verwobenen Gesamtkomposition macht man den Schrecken der Geschichte nicht gleich aus. Mit kleineren Kindern kann man auf visuelle Schatzsuche gehen, sollte und muss aber auch einiges erklären, damit keine Angst aufkommt, wenn die Einwanderer von den Zügen geholt werden.

Diese illustratorische Perle, edel in schwarzes Leinen gebunden, mit Satinband zum Verschließen versehen, kann man wenden und dann die Geschichte auch im spanischen Original lesen. Sie wurde mit dem Preis der Kinderbuchmesse Bologna ausgezeichnet und erinnert uns daran, dass kein Mensch seine Heimat freiwillig verlässt, dass so eine Flucht oder Reise kein Zuckerschlecken und keine Vergnügungstour ist, und dass am Ende nicht immer das Paradies steht, sondern immer noch sehr viel Kummer und Heimweh. Das sehen wir momentan täglich in den Flüchtlingsunterkünften in unserem Land … und es sollte uns immer wieder zu denken geben.

José Manuel Mateo: Migrar. Weggehen, Illustration: Javier Martínez Pedro, Übersetzung: Ilse Layer, Edition Orient, 2015, 20 Seiten, 28,90 Euro

Rache ist …

antoinetteSchulzeit, schwere Zeit. Nicht nur, weil man von den Lehrern mit neuem Stoff gepiesackt wird und lernen muss, sondern auch, weil es Mitschüler gibt. Olivia Vieweg hat dieses bittere Kapitel im Leben in einen eindrucksvollen Comic gepackt: Antoinette kehrt zurück.

Antoinette lebt seit Jahren in Los Angeles, ist erfolgreich und mit einem berühmten Filmstar verheiratet. Was will man mehr? Doch die junge Frau wird von dem Gedanken an die alte Heimat in Deutschland gequält. Obwohl sie ihre Herkunft verschweigt, ja fast verleugnet, wirft sie täglich über eine Webcam einen Blick auf ihr altes Dorf.
Eines Tages taucht eine weibliche Figur vor der Kamera auf, die Antoinette verdammt ähnlich sieht. Der Protagonistin bleibt nichts anderes übrig als noch einmal nach Hause zurückzukehren.

Und während sie lange Stunden im Flugzeug sitzt, tauchen die ersten Erinnerung von ihrer Vergangenheit auf: die grausamen Mitschüler, die das schlaue Mädchen ausgrenzen, verhöhnen  und demütigen. Kaum setzt Antoinette einen Fuß ins Dorf, trifft sie auch schon eine von den verhassten Peinigerin von früher. Wie im falschen Film sieht sie auf einer Geburtstagsfeier auch die anderen verhassten Menschen wieder. Die sind nun erwachsen, „vernünftig“ und schmeißen sich an die „Berühmtheit“ aus LA ran. Ihren Neid können sie nur schlecht verbergen. Man weiß nicht, was schlimmer ist, Vergangenheit oder Gegenwart. Nur Jonathan fehlt. Der hatte Antoinette am schlimmsten von allen gequält …

In sonnengelb-grau-schwarzen Panels eröffnet Vieweg einen tiefen Blick in die Psyche eines Mobbing-Opfers. Das heitere kalifornische Gelb kontrastiert mit dem satten Schwarz der Seelenabgründe und aus der scheinbaren harmlosen Rückkehr in die Heimat wird langsam ein düsterer Rachefeldzug – für den man das vollste Verständnis entwickelt, wenn Antoinette mit ihrem Engelshaar sich nach und nach an alle schrecklichen Details ihrer Qual erinnert. Gleichzeitig fragt man sich beständig, wie weit Rache wirklich gehen darf, um die Geister der Vergangenheit wieder loszuwerden. Und ob man Antoinette daher noch nett und sympathisch finden darf. Das ist eine ziemlich harte Nuss, die Vieweg dem Leser hier zu knabbern gibt. Wie und ob dies alles irgendwie zu beurteilen und aufzuwiegen ist, diese Schlussfolgerungen muss jeder Leser selbst ziehen.

Antoinette kehrt zurück, für den Olivia Vieweg 2012 das Comic-Stipendium der Egmont Verlagsgesellschaften gewann, zeigt wieder einmal, dass sich das Medium Comic extrem gut für die visuelle Darstellung und somit für die Bewusstmachung von psychischen Abgründen eignet. Die leeren weißen Augen von Antoinettes Doppelgängerin sind so eindrucksvoll gruselig und erschreckend, dass die ganze Dimension von Mobbing für die Opfer mit einem Bild klar wird. Dafür brauchen andere Medien manchmal endlos lange Seiten oder Sequenzen. Vieweg schafft das mit ein paar klaren Strichen.

Olivia Vieweg: Antoinette kehrt zurück, Egmont Graphic Novel, 2014, 96 Seiten, 14,99 Euro