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Wortkreative Langeweile

bärDas Buch Die Große Wörterfabrik erschien, bevor ich diesen Blog auf die Beine gestellt habe – folglich ist das Werkvon Agnès de Lestrade mit den Illustrationen von Valeria Docampo an mir vorbeigegangen.
Doch nun haben die beiden einen würdigen Nachfolger herausgebracht: Der Bär und das Wörterglitzern, erneut feinfühlig übersetzt von Anna Taube.

Durch dieses quadratische Bilderbuch begleitet der Betrachter einen melancholischen blauen Bären, der nichts, aber auch gar nichts mit Käpt’n Blaubär gemein hat. Hingestreckt liegt er in seinem wackligen Bettgestell, hängt über zerbrechlichen Stühlen, verkriecht sich unter einem Buchzelt. Er erzählt keine zusammenhängende Geschichte, sondern liefert hellsichtige Gedanken über Langeweile, Stille, Tränen, Einsamkeit und den Rand des Winters.
Aus all seinen Überlegungen entstehen neue Wortkombinationen wie „traumschweben“ oder „eiszapfenglitzern“.
Dafür möchte man den blauen Bären knuddeln, ihn in den Arm nehmen, trösten und ihm danken. Denn er schenkt dem Leser die Einsichten, dass Langeweile, Stille und Kummer zum Leben dazu gehören und manchmal ganz wunderbare Dinge dabei herauskommen, wenn man sich diesen Zuständen stellt, sie aushält und nicht gleich wieder auf anderen Kanälen und Geräten wegdrückt. Wir sollten also auf jeden Fall mehr abhängen, mehr grübeln, mehr den Mund halten.

Denn nur dann sehen wir auf einmal den anderen ganz deutlich, spüren die Schmetterlinge im Bauch und wagen das Randspringen in eine unbekannte Welt mit warmen Farben und einer sanft schaukelnden Hängematte. Es kann nur gut sein. So wie dieses Buch.

Agnès de Lestrade: Der Bär und das Wörterglitzern, Übersetzung: Anna Taube, Illustration: Valeria Docampo, mixtvision, 2015, 40 S.  ab 3, 14,90 Euro

P.S.: Wenn ich dann genug abgehangen habe, greife ich doch auch mal zu meinem Tablet. Dort habe ich mittlerweile Die Große Wörterfabrik als App installiert. Seitdem sehe ich nun in jedem Wort ein kleines, wertvolles Juwel, das gehegt werden sollte. Und auch das ist ganz wundervoll.

Schauen, Besinnen, Konzentrieren

walWie gelingt es einem, sich zu konzentrieren? Sich nicht ständig ablenken zu lassen? Als Kind, genauso wie als Erwachsener. Es ist nicht einfach und doch eigentlich ganz leicht. Jedenfalls, wenn man das entzückende Bilderbuch Wenn du einen Wal sehen willst von Julie Fogliano genau studiert.

Eigentlich ist dieses Buch für Kinder ab vier Jahren gedacht, doch ich möchte behaupten, dass Menschen jeden Alters von dieser Geschichte angetan sein werden und profitieren können. Es zeigt einen kleinen rothaarigen Jungen im blau-weißen Ringel-Pulli zusammen mit seinem Hund. Sie schauen aufs Meer, in der Erwartung eines Wals. Solange der nicht kommt, schnuppern sie an Rosen, betrachten Wolken, Segelboote, einen Pelikan, winzige Raupen … während der Erzähler im Text sie auffordert genau dies nicht zu tun. Sie sollen sich nicht ablenken lassen, sondern die Augen auf das Meer richten und warten … warten … warten …

Beim Betrachten der zarten Zeichnungen von Erin A. Stead gerät man unweigerlich ins Träumen, geht auf Fantasiereise, entdeckt Lebewesen, Dinge, Details … und wird immer wieder sanft von dem Text, einfühlsam aus dem Amerikanischen von Uwe-Michael Gutzschhahn übersetzt, auf das Wesentlich, das Ziel, das Wunschobjekt, den Wal, hingewiesen.
Man besinnt sich, konzentriert sich, fokussiert sich, man meditiert, man kontempliert, man ist ganz bei sich, wenn man die Bilder betrachtet und doch auch bei dem Jungen und den Ablenkungen der Welt.

Doch das Warten, das uns allen heutzutage scheinbar immer schwerer fällt, das wir nicht mehr wollen, für das wir keine Zeit mehr haben, dieses Warten jedoch führt zum Ziel, zum Wal.
Kleinen Lesern kann man so vielleicht ein bisschen die Ungeduld erleichtern, große Leser können sich wieder rückbesinnen, auf ihre Ziele, ihre Wünsche, ihre Träume. Es reicht der weite Horizont, das Meer, das Nichts. Keine Ablenkung. Man wird belohnt, vom Warten. Und von diesem kleinen, großen Buch.

Julie Fogliano: Wenn du einen Wal sehen willstÜbersetzung: Uwe-Michael Gutzschhahn, Illustration: Erin A. Stead, FISCHER Sauerländer, 2014,  32 Seiten, ab 4, 14,99 Euro

Die Leere füllen

lochBücher mit Löchern sind was Tolles. Das fand ich schon als Kind, als ich Die kleine Raupe Nimmersatt von Eric Carle rauf und runter gelesen habe. Vergangenes Jahr lieferte Jimi Lee ein weiteres Buch mit Loch, das mich begeistert hat, Unsere Erde. Und nun das: Das Loch von Øyvind Torseter.

Das Loch ist gar nicht groß. In der Mitte der fast quadratischen Seite klafft es. Anfangs ist das Loch in der Wand, als die Hauptfigur, ein mauseohriges Wesen, in seine neue Wohnung zieht. Es ist einfach da, man erfährt nicht, woher es kommt, warum es dort ist. Es ist. Einfach. Da.

Der neue Hausbewohner findet das natürlich nicht toll, das Loch in der Wand. Er geht ihm auf den Grund. Denn normalerweise ist ein Loch ein Schaden, etwas, das kaputt ist und nicht so sein soll. Und nun wandelt sich das Loch. Es wird zu Waschmaschinenöffnung, wandert von der Wand zum Boden, prangt plötzlich in der Tür, dann im Schrank. Der Bewohner fängt es ein, steckt es in einen Karton, bringt es in ein Labor, damit es untersucht wird, das Loch. Auf dem Weg dahin wird das Loch zum Rad, zur Ampel, zum Gulli, Luftballon, Auge, Nasenloch, Lampe, Mülleimer, Sonne, Mond …

Mit zarten Strichen lenkt Øyvind Torseter die Aufmerksamkeit auf die Leere, das Rund, den Kreis. Jede Seite bietet eine neue Überraschung, nicht wo das Loch ist, das ist immer in der Mitte der Seite, sondern was es ist. Die Leere füllt sich mit Bedeutung. Man kann die Geschichte schlicht als einen Tag im Leben einer mauseohrigen Figur lesen. Doch gleichzeitig fängt man an zu grübeln. Über Löcher an und für sich, über die Leere und das Nichts, und womit wir das füllen und ob das überhaupt notwendig ist.
Kleine Leser werden staunen und mit Entdeckersinn jede Seite erkunden, das philosophische Denken wird sich im Laufe der Zeit dann in ihr Bewusstsein schieben. Der Entdeckung der Welt um uns herum wird so auf ganz entzückende Weise Vorschub geleistet. Eine schönere Aufgabe kann ein Loch eigentlich nicht haben.

Øyvind Torseter: Das Loch, Übersetzung: Maike Dörries, Gerstenberg Verlag, 2014, 64 Seiten, ab 4, 19,95 Euro

Mehr Momo sein …

momoJubiläen sind was Tolles. Ich entdecke dabei jedes Mal Dinge wieder, an die ich oftmals sehr lange nicht gedacht habe. In diesen Tagen ist es Momo von Michael Ende. Denn Momo feiert ihren 40. Geburtstag – wenn man das für eine Romanfigur so sagen kann.

Ihr zu Ehren habe ich also meine alte Ausgabe aus dem Regal gezogen und mich wieder in das antike Amphitheater versetzt – und gestaunt.
Als ich Momo das erste Mal gelesen habe, war ich bereits erwachsen und studierte gerade Philosophie. Dementsprechend philosophisch fand ich Endes Text über die Zeit und die Zeit-Diebe.
Daran hat sich nach der aktuellen Lektüre nicht viel geändert, doch habe ich jetzt noch so viele andere Dinge entdeckt, die meine Verehrung für Michael Endes visionäres Gespür und Genie noch weiter steigern. Denn Momo merkt man ihre vierzig Jahre eigentlich nicht an. Die Dinge, die Ende dort beschreibt, finden sich aktuell noch genauso: Die Städte sind voll von „Seelensilos“ und Schnellrestaurants, die „Kinder-Depots“ nennen sich heute Ganztagsschulen (die aber zum Glück nicht so düster sind wie im Buch), die „vollkommene Puppe“ kommt momentan in Form von XBox und Smartphone in fast jedem Haushalt vor. Die Buchbranche ist voll von all den „albernen und rührseligen“ Geschichten, mit denen Gigi Fremdenführer Karriere macht und sich von seiner ursprünglichen Kunst des Erzählens entfremdet. Die grauen Herren gehören momentan wohl zur Kaste der „Selbstoptimierer“, die über Apps und Computer so sehr an der eigenen „Performance“ arbeiten, bis wahrscheinlich nur noch ein Burnout sie wieder auf ein menschliches Maß zurückholen kann.
Menschen wie Momo dagegen sind heute eher selten zu finden. Zuhören, sich Zeit nehmen für die andern und achtsam mit sich selbst umgehen sind selten gewordene Tugenden. Die Logorrhö, mit der wir uns analog und virtuell immer mehr präsentieren und vermarkten, lässt kaum noch Raum für das, was Momo ihren Freunden schenkt: ungeteilte Aufmerksamkeit.

Doch die können alle gebrauchen – die Kinder genauso wie die Erwachsenen. Genau aus diesem Grund ist für mich Michael Endes Klassiker nicht nur ein Kinderbuch, sondern Belletristik für jedes Alter. Denn in jedem Alter entdeckt man in dieser Geschichte immer wieder neue, immer höchst aktuelle Aspekte, die Wegweiser und Ratgeber durch das eigene Leben sein können.
Nach dieser so bereichernden Lektüre nimmt man sich automatisch vor, ein bisschen mehr wie Momo zu werden. Denn das, was man den anderen an Aufmerksamkeit schenkt, bekommt man genauso wieder zurück. Und dieser Zugewinn an Lebensqualität und Lebenszeit ist einfach unbezahlbar.

Ich werde meine alte Retro-Taschenbuch-Ausgabe in den kommenden Jahren auf jeden Fall erneut konsultieren. Für alle, die Momo jetzt erst entdecken, gibt es eine Jubiläumsausgabe mit einem wunderschönen neuen Cover und neuen Illustrationen von Dieter Braun. Möge Momo in ihrer Zeitlosigkeit so auch noch in den nächsten Jahrzehnten unzählige Leser und Fans gewinnen, die den grausamen Zeit-Dieben – in welcher Form auch immer sie auftreten – den Garaus machen.

Michael Ende: Momo. Oder Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte.  Ausgezeichnet mit dem Deutschen Jugendbuchpreis 1974, Thienemann Verlag, 2013, 304 Seiten,  ab 12, 19,95 Euro

Eine Seefahrt wie das Leben

Bär im BootEs gibt Bücher, die faszinieren bereits durch die Aufmachung. Bei Bär im Boot von Dave Shelton war ich sofort entbrannt. Dabei kommt das Buch eigentlich ziemlich heruntergekommen her: Abgestoßen, verblasst, ein Fliegenschiss rechts oben in der Ecke, der Abdruck einer Kaffeetasse links unten. Gebrauchsspuren, noch bevor man das Bücher überhaupt aufgeschlagen hat, deuten daraufhin, dass man dieses Buch sehr lieb haben und viel darin lesen wird. Großartig.

Innen drin illustrieren entzückende Schwarzweißbilder kurze Kapitel, im Laufe der Geschichte gibt es ein paar farbige Doppelseiten. Dave Shelton erzählt so die Geschichte eines Jungen, der das Boot des Bären besteigt. Er möchte einfach nur rüber auf die andere Seite. Was sich nach einer einfachen Übung anhört, entwickelt sich jedoch zu einer unendlichen Seefahrt. Das andere Ufer ist nicht zu sehen, aus einer kurzen Überfahrt werden lange Stunden im Ruderboot „Harriet“. Der Bär ist höflich, er versteht sein Handwerk, doch im Laufe der Zeit kommen bei dem Jungen Zweifel auf. Scheinbar haben sie sich verirrt. Der Bär wehrt sich vehement gegen die Anschuldigungen, trinkt pünktlich um vier Uhr nachmittags Tee und schaut noch mal auf die Seekarte. Die jedoch zeigt nur eine blaue Fläche mit Längen- und Breitengraden, ein Ufer ist auch hierauf nicht zu erkennen, nur ein Fleck in der Ecke. Der soll laut Bär ein Felsen sein.
Der Proviant geht zu Ende, lediglich ein schrecklich altes, gammeliges Sandwich ist noch übrig – das jedoch keiner der beiden essen möchte. Also bleibt nur der Fischfang. Die beiden Helden raufen sich zusammen und meistern die Herausforderungen eines Seemannsleben: Sie fangen Fisch, kämpfen mit einem Seeungeheuer, entern ein Geisterschiff, bauen ein Floß, überstehen einen schlimmen Sturm, verlieren die Harriet und schwimmen schließlich weiter dem Horizont entgegen. Sie sind fast da.

Selten habe ich bei einer Geschichte von der ersten Seite so mitgefiebert wie bei Bär im Boot. Im Grunde hat man zwar ständig das Gefühl, dass nicht viel passiert – die beiden sind ja die ganze Zeit auf dem kleinen Ruderboot – aber dennoch ist man von Anfang bis Ende bis zum Anschlag gespannt, wann der Bär denn nun endlich das andere Ufer erreicht. Dass es sich bei dem Bär um ein eher schlichtes Gemüt handelt, merkt man spätestens, als er mit dem Jungen „Ich sehe was, was du nicht siehst“ spielt. Aber dafür ist er ein Bär mit Prinzipien, dem seine Teestunde heilig ist. Er erinnert unweigerlich an Pu der Bär.
Als erwachsener Leser wird man bei der Lektüre an so einiges erinnert: Der alte Mann und das Meer, Fluch der Karibik, Schiffbruch mit Tiger … Wahrscheinlich ist noch wesentlich mehr in der Geschichte zu entdecken. Und das ist eine Wonne.

Denn diese Seefahrt ist wie das Leben, mal ruhig, mal langweilig, mal aufgewühlt, mal katastrophal, mal überraschend, mal unverständlich – und ein Ende ist nicht abzusehen. Die Schlichtheit der Geschichte und ihre gleichzeitige Raffinesse sind wunderbar philosophisch, bieten jede Menge Raum für eigene Gedanken und Interpretationen und verlocken zu wiederholter Lektüre. Denn in jeder Lebenslage lässt sich sicherlich eine andere Erkenntnis aus Bär im Boot ziehen. Es eignet sich hervorragend zum Vorlesen, nicht zu letzt durch die geschmeidige Übersetzung von Ingo Herzke, und wird zwischen den Generationen garantiert Diskussionen aufwerfen. Denn oftmals benimmt sich der Bär wie ein nervendes Elternteil, während der Junge sich pubertierend gegen den unklaren Kurs auflehnt.

Die herrlich gefakten Gebrauchsspuren werden dann ganz rasch von echten Lesespuren ergänzt – und nicht nur dafür wird man dieses Buch lieben.

Dave Shelton: Bär im Boot, Übersetzung: Ingo Herzke, Carlsen, 2013, 304 Seiten, ab 9-99, 14,90 Euro