Von der Verführbarkeit

Hin und wieder wird mir mit fast entschuldigenden Worten ein Buch angekündigt, das an einem Tabu rührt, das ganz sicher kontrovers diskutiert werden wird, bei dem man Vorbehalte verstehen könne. All das regt natürlich meine Neugierde an – und zeigt gleichzeitig, wie beeinflussbar und manipulierbar ich bin, und sei es nur bei der Bewertung eines Buches.

Genau um das Thema der Beeinflussung, Verführbarkeit und Manipulation geht es in John Boynes neuem Roman Der Junge auf dem Berg, in der vorzüglichen Übersetzung von Ilse Layer. Ich werde trotz der Ankündigungen versuchen, meine eigene Einschätzung der Geschichte hier abzugeben.

John Boyne, der seit seinem Roman Der Junge im gestreiften Pyjama bekannt dafür ist, die deutsche Historie um den Nationalsozialismus aufwühlend anders darzustellen, erzählt nun in drei Teilen von dem Jungen Pierrot, der in Frankreich geboren wurde. Seine Mutter ist Französin, sein Vater Deutscher, der im ersten Weltkrieg gekämpft und dort traumatisiert wurde.
Im ersten Teil verfolgen wir die frühe Kindheit Pierrots in Paris, seine Freundschaft zu dem tauben Nachbarsjungen Anshel, die häusliche Gewalt, die der trinkende Vater an der Mutter auslässt, das Verschwinden des Vater und den Tuberkulose-Tod der Mutter. Pierrot kommt in ein Waisenhaus, erlebt dort weitere Gewalt durch einen anderen Jungen. Schließlich findet sich die Schwester von Pierrots Vater, Tante Beatrix, die den Jungen bei sich aufnimmt.

Dieses „bei sich“ ist jedoch speziell, denn Tante Beatrix arbeitet als Hauswirtschafterin auf dem Berghof Adolf Hitlers in Berchtesgaden.
In den Teilen 2 und 3 des Romans, die die Jahre 1937 bis 1945 umfassen, schildert Boyne das Leben Pierrots auf dem Berghof und wie er sich von einem mitfühlenden Jungen in ein gefühlskaltes, karrieregeiles „Nazi-Spielzeug“ verwandelt.
Zunächst versteht Pierrot noch nicht viel von den Vorgängen auf dem Berghof, wundert sich, warum seine Tante und der Chauffeur ihm einen neuen Namen geben – Peter – und ihm einschärfen, dass er nie von seinem jüdischen Freund Anshel erzählen soll. Doch mit der Zeit, in der Pierrot immer öfter mit Hitler spricht, den Führer mit seinem zackigen Hitlergruß und seiner Ergebenheit beeindruckt, gerät er immer weiter in den Einflussbereich des Diktators.
Das geht so weit, dass er selbst den Chauffeur und damit auch seine Tante verrät, die vor den Augen des Jungen hingerichtet werden.

Mit anderen Worten, der Junge, dem man im ersten Teil alle Sympathien schenkt, wird zu einem echten Kotzbrocken und im Grunde zu einem Mittäter. Dies wird Pierrot am Ende des Krieges schließlich klar, doch seine Reue ist dann nur noch Teil des Epilogs.

Boyne, der konsequent aus der Sicht von Pierrot schreibt, ist ein Meister der Andeutung. Oft beschreibt er Dinge, die er nicht benennt, die er jedoch im Leser evoziert. Diese Art des Erzählens schätze ich sehr, lässt sie doch dem Leser genügend Spielraum, fordert ihn nachzudenken – und hält ihn somit bei der Stange. So leidet man anfangs mit Pierrot unglaublich mit, dessen Leben aus Verlust und Gewalt besteht. Man bekommt eine Ahnung, warum der Junge so von Uniformen begeistert ist, und erschrickt gleichzeitig, wenn der Chauffeur erklärt: „Uniformen erlauben es uns, unsere Grausamkeit auszuleben, ohne jemals Schuld zu empfinden.“
Und jeder, der in dieser Geschichte eine Uniform trägt, übt Gewalt aus.

Für mich sind es solche Sätze, die manchmal noch mehr als die Geschichte selbst, Messages transportieren, über die wir genauer nachdenken sollten.
Die Verführbarkeit die Boyne anhand von Pierrot schildert, ist ebenso wichtig, aber durch die Ausnahme-Kombination von „Junge trifft Führer und wird zum Nazi“, auch eher unrealistisch. Genau deshalb wird sein Roman schon als Parabel bezeichnet, aber Parabeln zeichnen sich auch durch den Abstand zum Leser aus. Man kann diese Geschichte dann wegschieben und sagen: „Ist ja nur Fiktion.“
Dass jeder Mensch verführbar ist, und Kinder ganz besonders, ist nicht unbedingt etwas Neues. Jedes Gespräch mit anderen, jeder Werbespot, jede Rede, jede Predigt, jedes Bild kann uns verführen. Die Frage ist, wie wir dem begegnen können. Vor allem, wenn es um die Manipulation durch Populisten geht. Die Wirkung solcher Geschichten wäre sicher nachhaltiger und fruchterregender als diese Parabel.

Zumal Boynes Geschichte im ersten Teil durch einen erzählerischen Kniff die deutsche Leserschaft etwas irritierend dürfte. Pierrot ist da bereits auf dem Berghof angekommen und für eine ganze Weile sprechen die Angestellten nur von dem „Herren“ und der „Herrin“, statt vom „Führer“ und von Eva Braun. Das ist so offensichtlich auf Spannung geschrieben, dass es mich immer wieder hat stolpern lassen und schon etwas genervt hat. In Teil 2 und 3, wo Boyne tatsächlich stattgefundene Begebenheiten auf dem Berghof verarbeitet hat (hier können sich Historiker über den Wahrheitsgehalt der Szenen auslassen), wechselt dann die Anrede, und es klingt sofort authentischer.

Sich darüber aufzuregen, dass Boyne Hitler fiktive Dialoge in den Mund legt, ist meines Erachtens unnütz. In diesem Sinne darf Fiktion einiges, was uns in genügend Filmen zu dieser Person bereits vorgeführt wurde. Das schockiert mich nicht. Pierrot sieht in Hitler zwar eine Vaterfigur, doch das macht den Diktator mitnichten sympathisch. Boyne gelingt es immer wieder, den Horror des Nazionalsozialismus‘ durchscheinen zu lassen, zudem konfrontiert er Pierrot immer wieder mit Menschen, die nicht für Hitler sind – was der Leser besser begreift als der verblendete Junge.

Man liest dieses Buch sehr schnell, durch die exzellente Erzählkunst Boynes und die geschmeidige Übersetzung von Ilse Layer, dennoch lässt es einen nicht so schnell wieder los. Auch wenn ich das eine oder andere anzumerken habe, habe ich lange gegrübelt. Anderen wird es womöglich ähnlich gehen.
Die Form der Parabel böte sich natürlich hervorragend an, diese Geschichte im Schulunterricht zu diskutieren. Allerdings nur mit der Einschränkung, dass umfassend über den Nationalsozialismus aufgeklärt wird, damit das gesamte Unrecht eingeordnet wird und die Schüler mit dem Schrecken nicht allein bleiben. So finden sie dann möglicherweise eine Haltung und einen Weg, sich gegen die allgegenwärtigen Verführer in unserer heutigen Gesellschaft zu wappnen.

John Boyne: Der Junge auf dem Berg, Übersetzung: Ilse Layer, Fischer, 2017, 304 Seiten, ab 14, 16,99 Euro

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Auswanderungskunst

MigrarWimmelbücher stehen ja hoch im Kurs. Seit vielen Jahren schon. Nun hat mich eines erreicht, das man Kindern kaum in die Hand geben möchte, so kunstvoll ist es gemacht, und so düster ist seine Botschaft. Ein Kunstbuch für Erwachsene mehr als für Kinder. Und doch geht es auch die Kinder etwas an.
Anfangs, oben auf dieser ausklappbaren meterlangen Seite, scheint die Sonne freundlich vom Himmel. Vögel schwirren zwischen den Wolken umher, links geht schon der Mond auf. Eine Idylle, möchte man meinen. Doch was der Autor José Manuel Mateo hier in einem kurzen Text, übersetzt von Ilse Layer, erzählt und was der Illustrator Javier Martínez Pedro in schwarz-weiße Bilder umgesetzt hat, ist keine Idylle.

Mateo erzählt in Migrar.Weggehen von dem Wandel, der in einem mexikanischen Dorf vonstatten geht. Die Männer verlassen das Dorf, die Felder bleiben unbestellt, die Frauen und Kindern haben nicht mehr genug Geld. So auch die Familie des namenlosen Erzählers. Als sein Vater kein Geld mehr schickt, machen sich der Junge, seine Mutter und seine Schwester auf in die USA.
Mit dem Bus geht es zu den Bahngleisen, dort springen sie illegal auf einen Güterzug. Auf Zwischenhalts müssen sie sich vor uniformierten Männern verstecken. Die drei laufen zu Fuß weiter und überwinden den Zaun, schaffen es bis nach Los Angeles.

MIGRAR 2Das Thema der Auswanderung aus Mexiko bzw. der illegalen Einwanderung in die USA habe ich hier im Sommer schon einmal anhand von Dirk Reinhardts Buch Train Kids vorgestellt. Das Werk von Mateo und Martínez Pedro passt genau dazu. Hier werden zwar die Qualen der Reise nicht ausführlich beschrieben, der Text ist kurz und deutet die ganzen Gefahren und Hindernisse eher an, doch dafür klappt man hier ein dichtbemaltes schwarz-weißes Leporello auf.

Auf neun querformatigen Seiten hat Martínez Pedro in der Tradition des alten aztekischen Kodex‘ ein Wimmelbild gemalt, das die Stationen der Reise illustriert. Im anfänglichen Idyll sind die Häuser bewohnt, die Felder bestellt. Die vielen Menschen haben die Arme vor Freude erhoben, sie scheinen zu tanzen. Die Frauen holen Wasser vom Brunnen, die Kinder baden. Doch dann packen die Männer Taschen und Rucksäcke, verlassen das Dorf, die Fenster der Häuser werden vernagelt. Ein Leben ist dort nicht mehr möglich.
An dem Zug, den auch die Mutter mit ihren beiden Kindern nimmt, hängen viele Menschen oder sitzen auf dem Dach. Mit der Zugfahrt wandelt sich auch die Landschaft, Felder und Palmen verschwinden, Kakteen wachsen stattdessen in der Wüste.
In den USA schließlich beherrschen Autobahnen und Hochhäuser alles. Die Plattenbauten am unteren Ende des Leporello sind nicht schön, erinnern mich fast an Osterberlin, aber sie beherbergen die Hoffnung, den Vater wiederzufinden und endlich ein besseres Leben zu führen.

Dieser Leporello bietet sehr viel zum Schauen und Entdecken. In der verwobenen Gesamtkomposition macht man den Schrecken der Geschichte nicht gleich aus. Mit kleineren Kindern kann man auf visuelle Schatzsuche gehen, sollte und muss aber auch einiges erklären, damit keine Angst aufkommt, wenn die Einwanderer von den Zügen geholt werden.

Diese illustratorische Perle, edel in schwarzes Leinen gebunden, mit Satinband zum Verschließen versehen, kann man wenden und dann die Geschichte auch im spanischen Original lesen. Sie wurde mit dem Preis der Kinderbuchmesse Bologna ausgezeichnet und erinnert uns daran, dass kein Mensch seine Heimat freiwillig verlässt, dass so eine Flucht oder Reise kein Zuckerschlecken und keine Vergnügungstour ist, und dass am Ende nicht immer das Paradies steht, sondern immer noch sehr viel Kummer und Heimweh. Das sehen wir momentan täglich in den Flüchtlingsunterkünften in unserem Land … und es sollte uns immer wieder zu denken geben.

José Manuel Mateo: Migrar. Weggehen, Illustration: Javier Martínez Pedro, Übersetzung: Ilse Layer, Edition Orient, 2015, 20 Seiten, 28,90 Euro