Pfotenspuren im Schnee

unsichtbar

Ich weiß, wie es ist, klein zu sein in der großen Stadt. Keiner sieht dich und überall ist es furchtbar laut.« Und trotzdem begibt sich das Kind in Sydney Smiths Bilderbuch Unsichtbar in der großen Stadt mitten hinein. Über mehrere Seiten nähern sich die Bilder, gerahmt vom Fenster der Straßenbahn, diesem einschüchternden Ort aus Hochhäusern, Laternenmasten, Oberleitungen, Schienen, Schildern, Ampeln, Kränen, hupenden Autos, schrillenden Sirenen, dröhnenden Baustellen.
Der kanadische Autor hat nicht vergessen, wie es sich anfühlt, klein zu sein. Mit kontrastierendem, schwarzen Tuschestrich und leuchtenden Farbakzenten, die Flächen vereinzelt winterlich zart koloriert, lässt er Taxis, Busse, Radfahrer und Fußgänger durcheinanderwuseln.

Sehen, was das Kind sieht

Aber die vielen großen Menschen sehen das Kind nicht, haben ihr Telefon direkt vor und ihr Ziel in der Ferne vor Augen. Sie sehen nicht, was das Kind sieht: Kahle Bäume, die ihre Äste wie Finger in den Himmel strecken. Rücklichter, die wie Augen aus der Dunkelheit leuchten. Die Reklame eines Optikers. Das Muster, das die Streben der Brücke auf den Weg malen. Radfahrer, die im Gegenlicht der tiefstehenden Wintersonne nur noch schwarze Schatten sind. Alles noch mal vervielfacht in der spiegelnden Fassade eines Wolkenkratzers.

Tipps für den unsichtbaren Gesprächspartner

Das Kind beginnt mit jemand Unsichtbaren zu sprechen.
»Es ist immer die Hölle los.
Aber ich kenne dich. Du findest dich schon zurecht. Wenn du willst, gebe ich dir ein paar Tipps.«
Den wütenden Hunden hinter dem Zaun sollte der unsichtbare Gesprächspartner ausweichen. Der Walnussbaum eignet sich als Ruheplatz. Vor dem Lüftungsrohr der Reinigung kann man sich aufwärmen. Der nette Fischhändler spendiert Fisch und die Freundin auf der Parkbank Streicheleinheiten.

Jedes Bild eine ganze Filmszene

Es wird oft von Kopfkino gesprochen, angesichts lebendiger Bildsprache. Smiths neues Kinderbuch, nach Überall Blumen und Stadt am Meer erstmals auch selbst getextetes Werk, ist tatsächlich ein Film – ein Film aus lauter Filmstills, jedes eine ganze Szene beinhaltend. Es sind Bilder wie Fotografien, die mit Licht und Schatten, mit Stimmungen und Perspektiven spielen. Fast schon ikonografische Bilder dominanter Architektur, Motorisierung, Massenbewegung, die viel mehr als bloße Momentaufnahmen sind.

Verloren im undurchdringlichen Gestöber

Es ist ein Film aus der Sicht eines Kindes, das wiederum die Stadt aus der Perspektive eines anderen kleinen Wesens erlebt: einer vermissten Katze. Es ist herzzerreißend zu sehen, wie verloren das Kind in dem immer undurchdringlicher werdenden Schneegestöber wirkt. Wie es sich selbst Mut macht, indem es sichere Plätze für das geliebte Tier ausmacht. Allein angesichts des Verkehrs wird einem als Erwachsenem schon ganz mulmig. Kälte und Ignoranz der vorbeilaufenden Großen tun ein Übriges.
Und doch bleibt das Kind zuversichtlich, spricht mit seiner Katze auf Augenhöhe. Es respektiert, dass sie ein eigenes Leben hat. »Zuhause ist es friedlich und kuschelig. Da warten eine Schale Milch und eine warme Decke auf dich.« Und noch einmal vergewissert es sich: »Aber ich weiß, du findest dich schon zu recht.«

Überall Blumen

Unsichtbar in der großen Stadt ist zeitlos schön und wahr, weil es in bezaubernden, hinreißenden Bildern von Verlust erzählt, von Verantwortung für andere Lebewesen und von Vertrauen.
Es passt aber auch perfekt ins Jetzt, in unsere Gegenwart. Nicht nur, weil zum Beginn des neuen Jahres der Winter Einzug hält. Weil derzeit vieles, das wir lieben, verschwindet. Weil wir es vermissen.
Verhalten macht Sydney Smith sogar Mut, mit einem charmanten Selbstzitat. »Wenn du magst, komm doch zurück«, bittet das Kind. Und tatsächlich, an der Mauer des Hauses, in dem es wohnt, ragen in lebendigem Rot, überall Blumen aus der dichten Schneedecke. Und davor sieht man Pfotenspuren im Schnee.

Sydney Smith: Unsichtbar in der großen Stadt, Übersetzung: Bernadette Ott, Aladin, 40 Seiten, ab 4, 18 Euro

Wetterkunst

wetterÜbers Wetter reden geht ja immer. Nicht nur bei so einem Sturm wie dieser Tage. Ach, diese Kälte. Der Regen macht mich fertig. Es soll endlich Sommer werden. Herrlich, diese Sonne. Jetzt haben mir die Wolken die Sonnenfinsternis verdorben. Wetter geht immer.

Ab jetzt kann man sogar noch sagen:
Ich hab gerade ein irre tolles Buch über das Wetter gelesen.
Ach wirklich?
Ja, echt. Heißt Alle Wetter und ist von Britta Teckentrup.
Kenn ich nicht.
Musst du dir ansehen. So schöne Bilder, übers Wetter.
Ach, echt?

Ja, echt! In vier Kapiteln erzählt Teckentrup in kurzen, fast poetischen Texten von den unterschiedlichsten Wetterphänomenen – Sonnenschein, Regen, Eis und Schnee, Unwetter. Dazu gibt es phänomenale Bilder, die den Betrachter gefühlsmäßig komplett einfangen. Man spürt förmlich die sommerliche Hitze auf dem gelben Getreideacker, atmet die frische Luft im zartgrünen Frühlingswald, fröstelt bei Nebel, Regen, Schnee und ist doch gleichzeitig fasziniert von den dünnen, dichten Strichen, der Dynamik von Wind und Wolken, träumt sich bei den fallenden Schneeflocken in eine stille Winterlandschaft und möchte dem Fuchs durch den unberührten Schnee folgen.
Die oftmals dunklen Bilder wirken in ihren monochromen Farbgebungen zudem beruhigend, fast meditativ. Man möchte sich darin versenken .
In den Texten erfährt man dann  Dinge über Graupelkörner, Sprühregen, Inversionslage, Kristallisationskerne und Mittelgebirgsstau. Aber all diese Infos treten hinter den eindrucksvollen Bildern ganz schnell zurück. Man schaut und staunt.

Einen Vorgeschmack gibt es hier:

Nach diesem Buch wird man sich wahrscheinlich nie mehr so über das Wetter beschweren, wir wir es sonst in unserer Gleichgültigkeit gerne tun. Man wird viel mehr den Himmel, die Landschaft, die Stadt, die Wolken, den Regen, die unzähligen Schattierungen von Grau-Weiß-Blau-Rosa-Violett, einfach alles genauer beobachten und sich womöglich überlegen, was für ein Kunstwerk man da gerade vor sich hat.

Britta Teckentrup: Alle Wetter! Jacoby & Stuart, 2015, 168 Seiten, ab 6, 24,95 Euro