Auf dem eigenen Weg

herrick_cover_jubu_thienemann-2016Krimi oder Liebesgeschichte? Der Titel, ein Zitat aus diesem in ungereimten Versen geschriebenen Roman, lässt an beides denken. Die Liebe kommt nicht zu kurz, und spannend und überraschend liest sich das Ganze auch. Und doch ist es etwas Drittes. Eine Einladung, sich einzulassen auf das Leben, Abschiede zu wagen, Vertrautes hinter sich zu lassen, Ungewöhnliches auszuprobieren, sich gegen die Macht von Geld, Einfluss und Gewalt zu stemmen. Kurz, den eigenen Weg zu suchen und zu gehen.

Steven Herrick erzählt aus der Ich-Perspektive seiner drei Protagonisten: Billy Luckett, 16, hält den brutalen Vater zu Hause nicht mehr aus und haut ab. Mit wenig Geld, ohne konkretes Ziel. Mit einem Güterzug landet er im Nirgendwo und trifft auf Old Bill, obdachlos, verwahrlost, unzugänglich. Billy zieht in einen ausrangierten Eisenbahnwaggon in Old Bills Nähe, lässt sich nicht von Griesgram und Lebensverdrossenheit abschrecken. In diesem Nirgendwo wohnt auch Caitlin, 17. Wohl behütet und aus reichem Haus, stemmt sie sich gegen Daddys Kontrollzwang. Ihre Verbündete ist ihre Mutter, die deckt, dass Caitlin jobbt. Bei McDonald´s.

Ist es Zufall, dass sich diese drei Menschen begegnen? Das Schicksal? Ein innerer Kompass? Klar ist: Billy wird zum Auslöser für ein Aufeinandertreffen, das ihrer aller Leben verändert. Seine behutsam-beharrliche Art schließt Old Bill auf. Sie beginnen, gemeinsam zu frühstücken, arbeiten als Tagelöhner, Old Bill erzählt von seinem tiefen Schmerz und warum er die Einsamkeit gewählt hat. Billys Belesenheit (Bibliotheken sind seine Lieblingsorte), seine Feinfühligkeit, seine Ehrlichkeit erobern Caitlins Herz. Sie lernen sich kennen, weil Billy Essensreste in dem Schnellimbiss schnorrt, wo sie die Böden schrubbt. Und plötzlich ist sie da, die Liebe zwischen Caitlin und Billy, und die väterliche, dankbare Zuneigung Old Bills.

Doch dann wird Billy auf der Straße von Polizisten angesprochen. Wie alt er sei? Woher er komme? Wovon er lebe? Billy, der es hasst zu lügen, eiert herum, versucht sich rauszureden … Und kriegt die Adresse des Sozialamts in die Hand gedrückt. Eine unmissverständliche Aufforderung.

In dieser Situation erweist sich Old Bill als Retter in der Not. Früher war er Anwalt, lebte mit Frau und Kind in einem weißen Holzhaus, das ihm immer noch gehört. Er begleitet Billy aufs Amt, spricht von seinem gewalttätigen Zuhause, dass er Arbeit sucht und daran denkt, wieder zur Schule zu gehen … Und Old Bill überzeugt.

Herricks Geschichte ist durchwebt von Optimismus, Disparates fügt sich, das Leben ist wunderbar. Ist das weit weg von der Realität? Oberflächlich gesehen vielleicht, und doch: Es ist das eigene Handeln, das zu Veränderung führt. Auf andere zugehen schafft Vertrauen, lässt Vorurteile hinterfragen, sprengt soziale Grenzen. Und drei Menschen wachsen zu einer Gemeinschaft zusammen.

Das Buch, bereits 2000 in Australien erschienen, ist zeitlos. Sein knapper Text liest sich vermeintlich schnell, doch bietet sich auf jeder Seite Anlass, darüber nachzudenken, was wichtig ist und was verzichtbar, und die eigene Freiheit der Entscheidung zu feiern.

Uwe-Michael Gutzschhahn verantwortet eine Übersetzung, die sich rhythmisch liest und dazu einlädt, sich unbefangen auf diese ungewöhnlichere Textform einzulassen, für die der Autor in seiner Heimat bereits mehrfach prämiert wurde. Bei uns steht Wir beide wussten, es war was passiert auf der Empfehlungsliste „Die 7 besten Bücher für junge Leser“ (August 2016) und wurde zum „Jugendbuch des Monats“ gekürt.

Steven Herrick ist eine Entdeckung!

Heike Brillmann-Ede

Steven Herrick: Wir beide wussten, es war was passiert, Übersetzung: Uwe-Michael Gutzschhahn, Thienemann Verlag, 2016, 208 Seiten, ab 13, 14,99 Euro

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Deutsche Fluchttraumata

fluchtGeschichten aus Büchern triggern mich aus den unteschiedlichsten Gründen an, das können spannende Figuren sein, fremde Welten, ferne historische Ereignisse oder politische Aufarbeitung. Bei dem Buch Salz für die See von Ruta Septeys nun wird ein Teil meiner Familiengeschichte thematisiert, nämlich die Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen am Ende des zweiten Weltkrieges. Die literarische Umsetzung dieser traumatischen Erlebnisse ist somit für mich quasi ein Muss, da meine Mutter genau das durchgemacht hat. Anfang der 2000er-Jahre war es die Lektüre von Günter Grass‘ Im Krebsgang. Dieses Mal jedoch ist es ein Jugendbuch, das sich mit diesem düsteren Kapitel beschäftigt. Zunächst einmal habe ich recherchiert, ob es das erste ist, das über die Ereignisse im Januar 1945 für junge Leser berichtet. Ist es nicht. Bereits 1962 veröffentlichte Willi Fuhrmann seinen Roman Das Jahr der Wölfe, in dem er genau davon berichtet. So habe ich also beide Bücher gelesen.

Die Lektüre solch trauriger Bücher mag auf den ersten Blick nicht besonders anregend  sein, und doch ist es hier und jetzt quasi ein Muss, sich mit diesem düsteren Kapitel deutscher Geschichte auseinanderzusetzen. Denn der Blick zurück erinnert uns dran, was unsere Eltern und Großeltern erfahren haben und was uns in den Genen steckt. Gleichzeitig mahnen diese Geschichten, dass wir gegenüber den Geflüchteten, die in den vergangenen Jahren und Monaten zu uns gekommen sind und weiterhin kommen, noch mitfühlender sein sollten. Damit meine ich nicht die vielen tollen Helfer und Unterstützer, sondern diejenigen, die Obergrenzen diskutieren, den Familiennachzug begrenzen wollen und nur eingeschränkte Aufenthaltsgenehmigungen für Menschen aus Kriegsgebieten erteilen wollen.

fluchtSowohl Sepetys als auch Fährmann thematisieren nun also die Flucht der deutschen Bevölkerung aus Ostpreußen im bitterkalten Januar 1945, als die Rote Armee vorrückt. Viel zu spät ehaben die Menschen die Erlaubnis erhalten, die Heimat verlassen und sich in Sicherheit bringen zu dürfen.
Fährmann schildert die Erlebnisse der Familie Bienmann, detailliert und mit allem Vor und Zurück, das es im Laufe der Wochen und Monate gab: Ein Dorf nach dem anderen wird von den Russen eingenommen, rasch werden Fuhrwagen gepackt, das Nötigste mitgenommen, dann schließt sich die Familie dem Treck an, der sich durch Schnee und Matsch schließlich über das Haff auf die Frische Nehrung zubewegt. Die Kälte setzt den Menschen zu, ein Dach für die Nacht zu finden wird von Tag zu Tag schwieriger. Hinzu kommt, dass Mutter Bienmann schwanger ist und schließlich eine Tochter zur Welt bringt. In Gotenhafen weigert sich die Mutter, das Schiff „Wilhelm Gustolff“ zu besteigen, das die Flüchtenden nach Westdeutschland bringen soll. Ein Glück, wie sich für die Familie später herausstellen soll.
Die Begegnungen mit den Russen verlaufen für die Bienmanns relativ glimpflich, sie verlieren ihre Wertsachen und Pferde, aber nicht ihr Leben. Sie schlagen sich weiter nach Westen durch, erleben das Ende des Krieges, brauchen aber auch dann noch ein weiteres halbes Jahr, um endgültig in einer neuen Heimat anzukommen.

Im aktuellen Roman Salz für die See, souverän übersetzt von Henning Ahrens, treffen auf der Flucht aus Ostpreußen drei Jugendliche im Treck aufeinander: der Deutsche Florian, die Polin Emilia und die Litauerin Joana. Wider Willen werden sie zu einer Schicksalsgemeinschaft, die zusammen mit drei weiteren Menschen über das Haff zieht und es in Gotenhafen auf die „Gustloff“ schafft. Dort bringt Emilia, die von einem russischen Soldaten vergewaltigt wurde, eine Tochter zur Welt. Das Baby überlebt in den Armen von Florian den Untergang des Schiffes. Zusammen mit Joana, in die sich Florian im Laufe der Flucht verliebt, gründen die drei später eine Familie.

Ebenso wie Fährmann, der als Vertreter des engagierten Realismus gilt, hat die US-Amerikanerin Sepetys, die litauische Vorfahren hat, für ihren Roman ziemlich akkurat recherchiert und eine aktuelle Variante dieses Flucht- und Vertreibungsthemas geliefert. Die Komponenten wie Kälte, russische Tiefflieger und Panzer, ins Eis einbrechende Fuhrwerke, die Verzweiflung der Menschen finden sich in beiden Romanen. Ohne sie wäre ein Flucht-aus-Ostpreußen-Roman auch nicht denkbar. Interessant bei Sepetys ist, dass auch Litauer und Polen im Treck nach Westen flüchteten. Den jungen Lesern wird somit gleich klar gemacht, dass die Vertreibung also mehr war, als ein rein deutsches Schicksal.
Bleibt Fährmann, der seinen Roman vor über 50 Jahren verfasst hat, bei einer klassisch auktorialen Erzählweise, so hat sich Sepetys für wechselnde Ich-Perspektiven entschieden. Neben den drei Flüchtenden Figuren erzählt zudem noch der junge Nazi Alfred von seinen Erlebnissen als Matrose auf der „Gustloff“. Alle vier Erzähler tragen zusätzlich zu den entsetzlichen Kriegserlebnissen ihr ganz persönliches Päckchen, von denen sie dem Leser zwar erzählen, ihren Gefährten jedoch erst nach und nach. Die Figur des verbohrten Alfred ist von allen vieren dabei am schwersten zu ertragen, da hier ein uneinsichtiger Jungnazi gezeigt wird, der wegen seiner Überheblichkeit gepaart mit Trotteligkeit nicht ganz überzeugend wirkt.
Joana, Florian und Emilia jedoch wachsen einem ans Herz. Man wünscht ihnen, dass die Geschichte gut für sie ausgeht – was bei diesem tragischen Thema natürlich nur bedingt der Fall sein kann. Sepetys Romankonstruktion aus Perspektivwechseln und Cliffhangern hat mich dann doch ziemlich in den Bann gezogen. Der einzige Wermutstropfen an der Erzählart ist, dass durch den Perspektivwechsel manches redundant wird.
Doch obwohl man als Erwachsener das Ende der „Gustloff“ kennt – deren Untergang hier etwas zu sehr der Titanic-Verfilmung von James Cameron erinnert (hier scheint die Recherche versagt zu haben…) –, will man wissen, wie es mit den Figuren weitergeht. Für junge Lesende ist Salz für die See somit auf jeden Fall eine spannende Aufbereitung dieses wichtigen Themas.

Die Beschäftigung mit Willi Fährmann in diesem Zusammenhang war für mich zudem noch eine echte Entdeckung. Irgendwie ist dieser stille Autor, der seit über 50 Jahren Kinder- und Jugendbücher schreibt, völlig an mir vorbeigegangen. Eine unverzeihliche Lücke, die ich schleunigst schließen muss. Mag Das Jahr der Wölfe mittlerweile durch Erzählart und Sprache etwas altmodisch und betulich wirken, so ist es für mich doch eine vertraute Stimme, die dort spricht. Denn Ähnliches höre ich von meiner nun über 80-jährigen Mutter immer wieder, die als Neunjährige aus Königsberg fliehen musste und sich selbst heute noch als „Flüchtling“ bezeichnet. So schrecklich das alles damals war, und so glücklich ich mich schätzen kann, es nicht erlebt zu haben, umso mehr begreife ich nun, dass ich ein Kind von Geflüchteten bin. Hätte meine Oma mit ihren vier Kindern es nicht bis nach Schleswig-Holstein geschafft und hier keine Aufnahme gefunden, es wäre alles anders gekommen.

Womit wir zurück in die Gegenwart gelangen, in der immer noch viele Menschen in diesem Land Geflüchteten mit Abneigung und Hass begegnen. Zur Erinnerung: Fast zwölf Millionen Menschen flüchteten nach dem zweiten Weltkrieg aus ihrer Heimat in ein zerstörtes Deutschland (über die komplexen Ursachen und Gründe von Flucht und Vertreibung kann ich hier nicht ausführlich diskutieren), wo die Menschen noch weniger hatten als wir jetzt. Und heute regen sich manche über nicht mal eine Millionen Menschen auf, die aus Not ihre Heimat verlassen und zu uns kommen, um zu überleben. Hier sind Mitgefühl und Herz gefragt, nicht Missgunst und Hass.

Sepetys und Fährmann jedenfalls halten die Erinnerung an unsere eigene Geschichte wach und mahnen uns damit auch, ganz nach dem Kategorischen Imperativ Kants, uns anderen gegenüber so zu verhalten, wie wir selbst behandelt werden wollen: Niemand von uns will je flüchten müssen, und niemand von uns möchte mit solcher Missachtung behandelt werden, wie es momentan noch viel zu oft vorkommt.
Wer kann, befrage zu den Fluchterfahrungen der Deutschen seine Großeltern.
Ansonsten lest diese Bücher.

Ruta Sepetys: Salz für die See, Übersetzung: Henning Ahrens, Königskinder, 2016, 406 Seiten, 19,99 Euro

Willi Fährmann: Das Jahr der Wölfe, Arena, 1962 (31. Auflage 2015), 219 Seiten, 5,99 Euro

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Die Tragik der Außenseiter

LaBan_25082_MR1.indd„So wüst und schön sah ich keinen Tag“
Ein Shakespeare-Zitat als Buchtitel? Und dann ausgerechnet Macbeth? Diese blutige Tragödie? Ist das eine Einladung zum Lesen?

Ja!

Das Debüt der US-amerikanischen Autorin Elizabeth LaBan — ein komplexes Unterfangen und vorzüglich übersetzt von Birgitt Kollmann! — ist gelungen. In Anspruch, Stil, Botschaft, mit jeder Menge Einladung zur Identifikation und zum Fragenstellen. Auch an uns selbst, das eigene Verhalten, die eigene Schulzeit, Werte und Moral, Mut und Angst … Und nicht zuletzt besticht Mr Simon, der Törtchen backende Englischlehrer mit einem Faible für Shakespeare, der jedes Jahr neu seinen SchülerInnen eine Tragödie als Abschlussarbeit aufbrummt. Wunderbar und gar nicht kitschig sein Ausspruch am Ende jeder Englischstunde: „Und nun geht und verbreitet Schönheit und Licht!“

Doch worum geht es in LaBans Roman?

Aus zwei Perspektiven wird erzählt: Von der Gegenwart berichtet Duncan, ein junger Mann, der ziemlich entspannt das letzte Highschooljahr angeht (wäre da nicht der Tragödienaufsatz!) und seine immer intensiver werdende Freundschaft mit Daisy genießt. Von der Vergangenheit berichtet Tim. Die Verknüpfung ergibt sich dadurch, dass die Schüler des Abschlussjahres in ihrem Zimmer jeweils ein Geschenk des Vorbewohners finden. Duncan, der zunächst komplett unglücklich reagiert, weil ihm das kleinste Zimmer zugewiesen wird, bekommt von seinem Vorgänger Tim Macbeth ein außergewöhnliches Geschenk: Auf mehreren CDs hat Tim seine und damit ein Stück Schulgeschichte hinterlassen. Eine fesselnde Erzählung, der sich Duncan kaum entziehen kann. Denn das, was Tim erlebt hat, steuert nicht auf ein Happy End zu, das ahnt der Leser von Anfang an. Zur Erzählkunst der Autorin gehört, den Spannungsbogen bis zum Schluss aufrechtzuerhalten.

Es ist eine Dreiecksgeschichte, von der Tim spricht: Zufällig lernt er Vanessa kennen, weil wüstes Schneetreiben den rechtzeitigen Abflug verhindert; beide sind auf dem Weg zur Highschool, um ihr Abschlussjahr anzutreten, wissen aber nicht, dass sie dieselbe besuchen werden. Tim erlebt eine junge Frau ohne Vorurteil. Er ist Albino, hält den Kopf oft gesenkt, um nicht aufzufallen oder die Ablehnung in den Augen der anderen lesen zu müssen; sein Aussehen beeinflusst sein Leben. Vanessa dagegen begegnet ihm ungezwungen. Sie, die schön ist und sich auffallend bunt kleidet, akzeptiert seine Farblosigkeit. 18 Stunden lang, bis die Weiterreise möglich ist.

Der Dritte im Bunde ist Patrick, Vanessas Freund. Ein Beau, der sich die Mädchen aussuchen kann, oberflächlich, manipulativ und feige. Dass seine Wahl auf Vanessa fiel, hat diese überraschenderweise erstaunt; die Beziehung hält aber schon eine Weile.

Tim wird zum Gegenspieler Patricks und zum Katalysator. Auf seine leise, verlässliche Art besticht er nicht nur im Unterricht. Er hat etwas zu sagen, ist charakterstark, setzt sich für Mitschüler ein, handelt, wenn andere zurückschrecken, entlarvt Patrick. Gleichzeitig bleibt er verletzlich und glaubt eigentlich nie daran, dass ihn jemand anderes als seine Eltern vorurteilsfrei lieben wird. In Vanessa löst er zunehmend Fragen an ihre Beziehung mit Patrick aus. Sie geht mit Tim joggen, allerdings heimlich, lässt sich von ihm küssen, macht Nähe möglich. Letztendlich fehlen ihr jedoch Entschlusskraft und Mut, vielleicht empfindet sie auch nicht so tief wie Tim.

Das Ende der Geschichte ist tragisch. Bei einem nächtlichen Schlittenrennen rammen Tim und Vanessa einen Baum. Vanessa landet schwer verletzt im Krankenhaus (sie wird überleben), Tim erblindet. Seine Augenprobleme haben sich lange zuvor angekündigt, denn eigentlich müsste er draußen immer eine dunkle Brille tragen, doch die Eitelkeit ließ ihn das „vergessen“.

Tims Geschichte hat Auswirkungen auf Duncan. Dieser reflektiert intensiver sein eigenes Verhalten, Tim stärkt ihm den Rücken, macht ihn sensibel gegenüber seiner Freundin Daisy, lässt ihn Verantwortung übernehmen und eigene Fehler bekennen, auch gegenüber Mr Simon und dem Schuldirektor. Wir erleben mit, wie aus Unsicherheit Festigkeit wird, wie Duncan erwachsen wird.

LaBans Roman stimmt hoffnungsvoll und traurig. Im Gegensatz zu Shakespeares Macbeth, der aus Machtgier und angetrieben von der eigenen Ehefrau seinen Vetter Duncan tötet, um König von Schottland zu werden, hilft Tim dem jungen Duncan in vielfacher Hinsicht. Doch was wird aus ihm selbst? Werden er und Vanessa sich noch einmal begegnen? Wie wird Tims Zukunft  ohne Augenlicht aussehen? Wird er zurückgeworfen auf sein Zuhause bei liebenden Eltern oder wird ihm ein selbstbestimmtes Leben gelingen? Und wohin mit all seinen tiefen Gefühlen, seiner Liebenswürdigkeit, seiner Sensibilität? Zudem: Wird jemand wie Patrick bestraft, der sich nach Vanessas Unglück schnell mit einer Neuen tröstet?

Und wir, wie gehen wir selbst mit Außenseitern um?

PS: Neben dem empfehlenswerten Inhalt und allen Tipps zum Thema Tragödie (auch im Anhang!) sei noch auf den außergewöhnlich schönen Umschlag des Romans verwiesen. Ein unbedingter Hingucker und ein Hoch auf die Haptik von Büchern!

Heike Brillmann-Ede

Elizabeth LaBan: So wüst und schön sah ich noch keinen Tag, Übersetzung: Birgitt Kollmann, Hanser Verlag, 2016, 288 Seiten, ab 13, 16,90 Euro

Bücher, die die Welt reparieren

„Es gibt eine größere Offenheit, die Literatur ist vorwitziger und frecher, weil man die Kinder ernst nimmt, sie auch zum Nachdenken bringen will, denn das gehört zum Aufwachsen.“ So beschreibt der Autor Bart Moeyart das Besondere der niederländischen und flämischen Kinder- und Jugendliteratur. Der Flame ist künstlerischer Leiter der Ehrengast-Präsentation bei der Frankfurter Buchmesse. Und das, obwohl er „nur“ Kinder- und Jugendbuchautor ist. Dass Literatur für junge Leser bei unseren Nachbarn einen besonderen Stellenwert genießt und im flämischen Sprachraum brillante Bücher für Kinder und Jugendliche geschrieben werden, zeigt auch diese Auswahl.

 

51efazxaazlJede dritte Ehe scheitert, das ist bedauerlich, aber alltäglich und banal, Menschen verlieben und entlieben sich. Schlimm wird es nur, wenn Kinder involviert sind: Denen fehlen ein paar Jahrzehnte ernüchternde Erfahrungen, es kann ihnen den Boden unter den Füßen wegziehen und fortan müssen sie sich nicht nur mit „Hin- und Her-Taschen“ abschleppen zwischen getrennten Wohnungen und Leben. Da helfen auch oberschlaue Ratgeber wie „Glücklich verheiratet, glücklich getrennt“ nichts, die nur das schlechte Gewissen der Eltern beruhigen.

Die zwölfjährige Felicia, die fortan Fitz genannt werden will, ist vor allem wahnsinnig wütend. Auch noch, als ihr Vater und ihre jüngere Schwester Bente einen Unfall haben und die ganze Familie in der Notaufnahme zusammentrifft. Fitz ist aber auch eine scharfsinnige Beobachterin, ein ungeheuer waches, kluges und einfühlsames Mädchen, das man sofort ins Herz schließt. Kein Wunder, dass in den Weiten des großen Krankenhauses der höchst attraktive, lakonische Adam und die schräg-witzige Primula sofort auf sie anspringen und die drei im Laufe des Tages gleich mehrere Herzen entflammen, nicht nur die eigenen.

Anna Woltz hat bereits mit ihrer sehr modernen Familiengeschichte „Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess“ zwei liebenswerte Charaktere geschaffen, die draufgängerische Tess und den sensiblen Samuel. Ihre Heldin Fitz ist einfach grandios: Sie rettet vielleicht nicht die ganze Welt, auch die Ehe ihrer Eltern nicht, die kann man halt nicht wieder zusammennähen wie Bentes verletzen Finger. Aber mit ihrem Charme, ihrer Direktheit und ihren klugen Erkenntnissen kann sie die Welt auf jeden Fall lebenswerter machen. Weil dieses Mädchen abgeklärte Leser wieder an so etwas wie Liebe glauben lässt. Das liegt auch an den erwachsenen, ebenso lebendig wie vielschichtig beschriebenen Nebenfiguren. Spätestens wenn Fitz, nach ihrer Tour de Force über mehrere Stockwerke und Stationen der Klinik, nicht länger „lieber in einen Vulkan springen will, als jemals zu heiraten“. Man will dieses absolut hinreißende Mädchen am Ende der Geschichte und des Tages nie mehr loslassen. Aber mit etwas Glück hat Adam ja recht: „Vielleicht ist morgen dann wieder heute“ – in neuer Tag voller verrückter Emotionen, Begegnungen und Erfahrungen.

Nur schade, dass der Carlsen Verlag diese unter die Haut gehende Geschichte hinter einem nichtssagenden Einband versteckt. So don’t judge a book by looking at it’s cover.

Anna Woltz: Gips oder wie ich an einem einzigen Tag die Welt reparierte; Übersetzung: Andrea Kluitmann, Carlsen 2016, 176 Seiten, ab 10 Jahren, 10,99 Euro

 

51n5-hss4cl-_sx355_bo1204203200_ Kalle ist ein Macher, der lieber einen Gedanken zu wenig denkt, als sich von seinem Vorhaben abbringen zu lassen. Bei Helicoptereltern hätte solch ein tatendurstiger kleiner Kerl keine Chance (übrigens spielt ein Hubschrauber später auch noch eine Rolle, aber mehr wird hier nicht verraten!). Selbst für weniger behütende und gerade auch sehr müde Erziehungsberechtige ist es ganz gut, wenn sie nicht so genau wissen, was Kalle vorhat, wenn er sagt, er geht weg: Der Achtjährige springt mit Nachbarhund Max und Meerschweinchen Hektor in sein kleines Motorboot und nimmt Kurs Richtung großen Fluss – eine ebenso spannende und witzige wie haarsträubend gewagte Bootstour. Anke Kranendonks Geschichte ist pädagogisch völlig wertlos – im besten Sinn. So wie vor wartenden Kindern bei Rot über die Ampel zu gehen. Weil es Kinder zu selbstständigem Denken und Eigenverantwortung motiviert.

Charmant zitiert die niederländische Kinder- und Jugendbuchautorin Tomi Ungerers „Kein Kuss für Mutter“ und beerbt anarchistisch-autarke Helden wie Pippi Langstrumpf oder Michel. Sympathisch persifliert sie in den etwas einseitigen Dialogen Kalles mit Vierbeiner Max wie Eltern mit ihrem Nachwuchs reden: ein wenig herablassend ob des vermeintlich geringeren Verstands, auch mal ganz schön genervt, doch letztlich immer voller Zuneigung, gelegentlich zerknirscht.

Noch schöner wird die von Sylke Hachmeister erfrischend übersetzte Geschichte durch Annemarie van Haeringens in kräftigen Farben colorierte und an Quentin Blake (bekannt aus Roald Dahls Büchern) erinnernde Illustrationen. Kalles Selbstbewusstsein und Abenteuerlust sind umwerfend, niemand sollte solch tollkühne Kinder stoppen dürfen!

Anke Kranendonk: Käpt’n Kalle; Illustrationen: Annemarie van Haeringen, Übersetzung: Sylke Hachmeister, Carlsen 2016, 152 Seiten, ab 8 Jahren, 9,99 Euro

 

51gzheiofl-_sx258_bo1204203200_„One ist the loneliest number“ wissen wir aus der Popmusik. Jetzt erweitert die niederländische Illustratorin Henriette Boerendans unser Zahlenwissen mit „Die Null ist eine seltsame Zahl“. Mit kunstvollen Holzschnitten verknüpft sie die Ziffern eins bis zehn sowie fünfzig und hundert mit spannenden Informationen für kleine Kinder: Ein kleiner Elefant braucht zwei Jahre, bis er geboren wird. Tiger haben an den Vorderpfoten fünf Zehen und an den Hinterpfoten vier. Wie viele hat das Kind? Eine Schildkröte legt zehn Eier. Sie selbst kann bis zu 188 Jahre alt werden. Aber Muscheln werden noch viel älter. Und kleine Kaninchen sehen ihre Mutter nur fünf Minuten täglich.

In der Farbgebung erinnern die Drucke an Andy Warhols Siebdruckserien. Von der Anmutung haben sie etwas klassisch Asiatisches. Boerendans entwickelt eine ganz eigene Bildsprache und macht so abstrakte Größen lebendig und begreifbar. Für Vorleser ist dieses Buch auf jeden Fall ein optischer Genuss. Und warum ist die Null seltsam? Weil sie das Nichts beschreibt, eine Lücke – so wie die Dodos, die es nicht mehr gibt, die ausgestorben sind, weil ihre Eier aufgefressen wurden.

Henriette Boerendans: Die Null ist eine seltsame Zahl, Übersetzung: Martin Rometsch, aracari Verlag 2016, 32 Seiten, ab 3 Jahren, 14,90 Euro

Elke von Berkholz

5 Jahre! Danke!

dankeHeute gibt es mal keine Buchvorstellung, sondern ein großes Dankeschön an alle, die diesem Blog die Treue halten. Denn LETTERATUREN wird heute 5 Jahre alt!

2011 saß ich, damals noch in meinem Büro in Berlin, zwischen einem riesigen Stapel an Kinder- und Jugendbüchern und sollte für eine Jugendzeitschrift die coolsten fünf aussuchen. Das ging durchaus, nur blieben gefühlt 500 andere Bücher auf der Strecke.

Im Gespräch mit meiner Kollegin Lisa (Danke!) entstand dann die Idee, diesen Blog aufzumachen und einfach selbst die Regie zu übernehmen. Hier war und ist Platz genug, die Neuerscheinungen und Lieblingsbücher gebührend zu würdigen, ohne dass wichtige Informationen wie Übersetzer_innen-Namen oder Illustrator_innen hinten runter fallen, was in Redaktionen immer gern als erstes gestrichen wird. Hier muss ich mich nicht beschränken, weil auf irgendeiner Heftseite kein Raum mehr ist. Hier muss ich mich nicht rechtfertigen oder absprechen, was ich vorstellen möchte. Hier kann ich das präsentieren, was mich wirklich überzeugt, mich fesselt, mich rührt, von dem ich denke, dass auch andere Lesende Gefallen, Erbauung oder Mehrwert daran finden. Voller Elan ging ich ans Werk, ein Buch pro Woche wollte ich vorstellen. Das habe ich mehr oder minder auch geschafft – und bin tatsächlich immer noch dabei.
Mit den Jahren habe ich mein Profil bzw. das von LETTERATUREN geschärft und weiß jetzt ziemlich genau, welche Bücher mir liegen, welche Themen mich langweilen, welche Autoren ich schätze und bei welchen Verlagen ich am ehesten fündig werde. Das sind meistens nicht die Bestseller oder der neueste Fanstasy-Dystopien-Vampir-Romance-Trend. Möglicherweise hat LETTERATUREN dadurch nicht immer sehr viele Leser, aber mir sind die Inhalte und die eher stiefmütterlich behandelten Bücher eben wichtiger als so mancher Hype. Und gerade in den eher schwierigen, problembelasteten Gefilden gibt es jede Menge Überraschungen, die auf einen warten.

Die Bücherstapel sind in all den Jahren natürlich nicht kleiner geworden. Und immer noch tut es mir um viele Bücher leid, die ich nicht rezensiere. Aber dieser Blog ist weiterhin eine zusätzliche Aufgabe zu meinen normalen Brotjobs, und die Zeit, das wissen wir alle, ist auch nicht unbegrenzt vorhanden.
Doch mittlerweile haben sich mir zwei engagierte Kolleginnen angeschlossen: Elke von Berkholz und Heike Brillmann-Ede tragen ihren Blick auf die aktuelle Kinder- und Jugendbücher bei und bereichern den Blog ungemein. Beiden bin ich für ihre Unterstützung sehr dankbar!

Auch den Jugendlichen, die eine Zeitlang hier sehr fleißig und mit wunderbaren Texten mitgeschrieben haben, gilt mein Dank und mein Respekt! Es ist immer toll, die Stimmen der Zielgruppe unverfälscht zu hören. Und das haben die Mädchen und Jungen einfach so aus Lust und Engagement neben ihren schulischen Pflichten erledigt. Was wirklich großartig war!
Mittlerweile hab ich diesen Versuch auslaufen lassen, denn es ist mir nicht möglich ständig Bücher zu verschicken. Aber ich möchte diese Erfahrung nicht missen.

Natürlich möchte ich auch allen Verlagen danken, die LETTERATUREN über diese fünf Jahre mit Rezensionsexemplaren versorgt haben. Ohne sie würde es diesen Blog wahrscheinlich nicht geben, jedenfalls nicht mit all diesen aktuellen Publikationen.
Ich hoffe sehr, dass diese Zusammenarbeit auch in den kommenden Jahren weiterbesteht und das wir als Team „unsere“ Perlen der Kinder- und Jugendbücher hier auch weiterhin vorstellen können.

Allen Lesern, die diesem Blog die Treue halten, die ihn über die sozialen Netzwerke finden und verfolgen, die lesen, liken oder auch mal kommentieren, danke ich ebenfalls. Es freut mich immer, wenn ich merke, dass unsere Texte bei euch ankommen und etwas bei euch bewirken.

In diesem Sinne bin ich stolz, fünf Jahre über so viele schöne, unglaubliche, interessante, berührende, fesselnde, lustige wie traurige, herzerwärmende und bereichernde Bücher geschrieben zu haben. Dank somit auch an alle Autor_innen, die ihre Kreativität, ihre Mühe und ihr Herzblut in diese Geschichten gesteckt haben und sie mit uns teilen.
Mittlerweile haben wir über 400 Rezensionen auf LETTERATUREN veröffentlicht und die nächsten sind bereits in Arbeit.

Also, auf die nächsten fünf Jahre! Und denkt dran: Lest mehr Kinderbücher!

Herzlich
Eure

Ulrike

 

Gewebte Kindheitserinnerungen

bourgeoisJedes Kind ist zweifellos ein Künstler. Man muss es nur machen lassen. Finde ich. Darüber hinaus kann man ihm zeigen, wie andere Menschen dazu gekommen sind, Künstler zu werden, und was für Ideen und Einflüsse sich hinter ihren Werken verbergen.

Ein Beispiel dafür ist das biografische Bilderbuch Lied für Louise von Amy Novesky und der Illustratorin Isabelle Arsenault. Die beiden erzählen darin die Lebensgeschichte der Louise Bourgeois, die der Welt vor allem durch ihre riesigen Spinnen-Skulpturen bekannt ist.

Krabbeltiere sind ja bekanntlich nicht gerade beliebte Hausgenossen. So mancher von uns ekelt sich vor diesen hilfreichen Insekten. Wieso also hat sich Bourgeois ausgerechnet die Spinne als ein Hauptmotiv für ihre Arbeiten auserkoren? Als großer und kleiner Kunstlaie wundert man sich da schon ein bisschen.
Novesky und Arsenault erzählen in poetisch-grafischen Bildern die Kindheit von Louise. Sie wächst an einem Fluss auf, zelte in ihrem wunderschön bunten Garten und träumt. Doch Louise kann natürlich nicht nur träumen, sondern muss ihren Eltern in der Werkstatt helfen, wo diese alte Wandteppiche reparierten und restaurierten. Louise erlernt von der geduldigen Mutter das Handwerk, sie arbeitet mit Farben, Fäden, Stoffen, schneidet Dinge auseinander, setzt sie wieder neu zusammen.

Schließlich geht sie nach Paris, studiert Mathematik, auf der Suche nach Sicherheit und Wahrheit. Doch im Leben gibt es keine absoluten Sicherheiten. Die geliebte Mutter stirbt. Louise stürzt sich in die Kunst, webt, malt, fertigt riesige Spinnen aus Metall. Die Spinnen, die Meisterinnen des Webens, fügen nämlich Zerrissenes wieder zusammen, so wie ihre Mutter es im Leben mit den Stoffen getan hat. Louise nennt ihre Spinnen „Maman“.

Durch die scharlachroten und ultramarinblauen Tuschebildern von Isabelle Arsenault tauchen die Betrachtenden tief in die Welt von Louise ein. Man ahnt, wie sehr die Stoffe, die Arbeit mit Geweben Louise Halt gibt, die Erinnerung an die Kindheit bewahrt und zu einem Rettungsanker wird.  Sie zeigt dabei – fast nebenbei –, dass auch aus den alltäglichsten Dingen Kunst gemacht werden kann.

Sowohl die Biografie von Louise  Bourgeoise, als auch ihre Kunst wirken in diesem Bildberbuch-Schmuckstück anregend und inspirierend. Der Respekt vor dieser großen Künstlerin steigt, und zugleich bekommt man Lust, selbst Kunstwerke aus Alltäglichem zum erschaffen und sich seinen eigenen Weg im Leben zu suchen. Ganz nebenbei werden einem selbst die Spinnentiere, die ja immer wieder durch unsere Wohnungen krabbeln, sympathisch. Und auf einmal betrachtet man so manches in seiner Umgebung mit etwas anderen Augen, nicht nur die Kunstwerke von Bourgeois.
Wenn ein Bilderbuch all so etwas schafft, ist das einfach großartig!

Amy Novesky: Lied für Louise. Das bunte Leben von Louise Bourgeois, Illustration: Isabelle Arsenault, Übersetzung: Katharina Bendixen/David Blum, E.A. Seemann, 2016, 40 Seiten, ab 8, 16,95 Euro

Der Freiheitsdrang

wadjdaNeulich haben wir uns im Freundeskreis darüber unterhalten, wie viel Freiheit Frauen hierzulande haben. Die Meinungen gingen auseinander. Manch eine bemängelte, dass auch wir hier nicht viel Freiheit haben. Nun, das mag in manchen Bereichen vielleicht zutreffen, und es gibt natürlich immer noch viel zu erkämpfen, wenn es um Gleichberechtigung und Gleichstellung von Frauen in unserem Land geht. Das ist unbenommen.
Doch was es heißt, als Frau und Mädchen in der persönlichen Freiheit extrem eingeschränkt zu sein, dass können junge Lesende im Roman Das Mädchen Wadjda von Hayfa Al Mansour erleben. Dieses Buch, in der gelungenen Übersetzung von Catrin Frischer, ist für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2016, Sparte Kinderbuch, nominiert. In zwei Wochen findet die Verleihung statt, ein guter Anlass also, diesen Roman hier vorzustellen.

Die 10-jährige Protagonisten Wadjda wächst im saudi-arabischen Riad auf – und träumt von einem grünen Fahrrad. Sie tut einiges dafür, um das nötige Geld dafür zusammenzubekommen. Sie verkauft selbst gemachte Armbänder und meldet sich im Religionsclub an, an dessen Ende ein Koran-Rezitationswettbewerb steht. Mit dem Preisgeld könnte sie sich das Fahrrad leisten, falls sie gewinnen würde. Fast täglich schleicht Wadjda um das grüne Schmuckstück herum. Doch was für uns ein fast alltägliches Konsumgut ist, ist für Wadjda ein fast unerreichbarer Traum.
Denn in Saudi-Arabien dürfen Mädchen und Frauen – aus unserer Sicht – so gut wie gar nichts. Sie dürfen nicht allein auf die Straße, dürfen sich nur züchtig verhüllt unter dem Schleier „zeigen“, dürfen nicht alleine Auto fahren – vom Fahrrad fahren mal ganz zu schweigen. Es ist unzüchtig. Die Jungfräulichkeit ist in Gefahr.

Doch Wadjda lässt sich nicht einschüchtern. Nicht von der Mutter, die selbst mit all diesen Einschränkungen kämpft – sie muss täglich einen Fahrer mieten, um zur Arbeit zu kommen – und gerade vom Ehemann verlassen wird, weil dieser eine Zweitfrau heiraten will. Auch die Lehrerinnen, die Wadjda die bunten Sneakers verbieten und sie zwingen, die Abaya, ein langes schwarze Übergewand, zu tragen, können die Heldin nicht von ihrem Weg zu einem Hauch Freiheit abbringen.
Einen Verbündeten findet Wadjda in ihrem Freund Abdullah. Er bringt ihr das Radfahren bei, begleitet sie in ein Viertel, in dem nur Männer leben, weil sie dort dem Fahrer ihrer Mutter die Leviten lesen will.
Wadjda investiert sogar ihr bereits gespartes Geld, in eine Koran-Rezitier-DVD, die ihr das rechte Vortragen der heiligen Verse beibringt. Ein Risiko, aber möglicherweise ein schlaue Investition in eine Zukunft mit dem grünen Fahrrad. Als Wadjda den Koran-Wettbewerb dann tatsächlich gewinnt, glaubt sie sich ihrem Traum ganz nah.

Der Roman von Hayfa Al Mansour beruht auf dem gleichnamigen Film, den die saudi-arabische Regisseurin 2012 herausgebracht hat. Normalerweise läuft das Spiel bekanntermaßen umgekehrt, ein veröffentlichtes Buch wird später verfilmt – und hinterher beschweren sich meistens ziemlich viele Menschen, dass der Film nicht ihren Vorstellungen entspricht, die sie sich von der Lektüre gemacht haben. Hier ist die Reihenfolge nun also anders herum, und das ist eine überaus große Bereicherung!
Denn bei Wadjdas Geschichte tauchen Lesende tief in eine ganz andere Kultur ein. Der Film zeigt sie, erklärt sie jedoch nicht. Dafür fehlt die Zeit. Das Buch hingegen bietet den Platz, mit einigen zusätzlichen Sätzen die vielen Details aus dieser fremden Kultur ausführlicher zu erklären. Die jungen Lesenden erfahren hier mehr von den Hintergründen des arabischen Alltags. Natürlich bleibt immer noch vieles fremd, doch man bekommt ein Gefühl, wie ein Leben im heutigen Saudi-Arabien aussieht.
Wadjdas unangepasster Charakter, ihr Freiheitsdrang sind dabei eine Wonne und machen Hoffnung, das sich die Frauen in den arabischen Gesellschaften in ein paar Jahren mehr Freiheiten für sich und ihre Töchter erkämpfen. Freiheiten, die für uns schon so selbstverständlich sind, dass wir sie manchmal gar nicht mehr als solche empfinden.

Wadjdas Geschichte vom Alltag arabischer Mädchen und Frauen macht den westlichen Lesenden sehr bewusst, in was für einer privilegierten Gesellschaft wir, trotz aller Mängel, leben. Sie zeigt aber auch, dass wir Frauen immer noch weiter kämpfen müssen, denn die Freiheit des Fahrradfahrens sollten alle Frauen der Welt genießen dürfen, wenn sie darauf Lust haben. Wir brauchen auf unserer Welt mehr solcher unerschrockenen Wadjdas, die unbeirrt ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und für ihre Rechte kämpfen. Solche Heldinnen bedürfen unserer aller Unterstützung.

Hayfa Al Mansour: Das Mädchen Wadjda, Übersetzung: Catrin Frischer, cbt, 2015, 304 Seiten, ab 10, 12,99 Euro

Harry Potter – die nächste Generation

potterVergangene Woche hat der Carlsen Verlag mit der Harry-Potter-Lesenacht das Erscheinen der deutsche Ausgabe von Harry Potter und das verwunschene Kind, übersetzt von Klaus Fritz und Anja Hansen-Schmidt, opulent und gebührend gefeiert. Im „Drei Besen“ konnte man Vielsafttrank genießen, es gab ein Trimagisches Turnier, der sprechende Hut sortierte die Gäste in die vier Häuser Hogwarts ein und die Hauselfen von Carlsen sorgten liebevoll für das Wohl der Fans.
Gelesen wurde auch: der Epilog von Band 7, womit man sofort wieder im Geschehen rund um Harry, seine Familie und die nächste Generation der magischen Welt war und sich nun auf die achte Geschichte stürzen konnte.

Meine persönliche Harry-Potter-Leseerfahrung liegt mittlerweile lange zurück. Kurz vor der Jahrtausendwende packte es mich, und ich las mich pünktlich zum Erscheinungstermin durch die jeweiligen Bände. Ich entdeckte die Kinder- und Jugendbuchliteratur neu, ohne allerdings die HP-Geschichten bis ins kleinste zu analysieren.
Mit der Zeit kamen dann die HP-Filme hinzu, sodass aktuell die Bilder aus den Filmen meine eigenen Fantasien überlagern. Harrys Welt ist zu einem sehr speziellen Kosmos geworden. Doch in diesen bin ich mit dem neuen Buch von J.K. Rowling gleich wieder eingestiegen.

Mittlerweile dürfte allen bekannt sein, dass es sich bei Harry Potter und das verwunschene Kind nicht um einen auserzählten Roman, sondern um ein Theaterstück handelt. Dies hat bereits nach Erscheinen des englischen Originals Diskussionen in den Netzwerken und unter den Harry Potter-Fans hervorgerufen, Erwartungen geschürt und auch Enttäuschung bereitet.
Und so habe ich mich an die Lektüre gemacht, neugierig, aber doch mit einer gewissen Skepsis, ob es mich wieder so packen würde wie vor etwa 15 Jahren.

Das Stück war rasch gelesen, und ja, es hat mich gepackt. Ich sah sie wieder vor mir: Harry, Ron, Hermine, Draco und Dumbledore. Es glich einem Treffen mit lieben alten Bekannten. Dennoch hat mich die Geschichte nicht vollständig befriedigt.

Da ich mich in den vergangenen Jahren nicht ständig mit dem Harry-Potter-Universum und seinen diversen Fortentwicklungen beschäftigt habe, war ich unsicher, ob ich diese neue Werk auch richtig einschätzen kann.
Daher habe ich der Harry-Potter-Expertin Lisa Kuppler in Berlin ein paar Fragen gestellt, die bei der Einordnung dieses Werkes vielleicht weiterhelfen können. Lisa beschäftigt sich seit Jahren intensiv mit Harry Potter und seiner magischen Welt, sie schreibt Fanfiction und ist in diversen Fan-Communities aktiv.

Zunächst habe ich Lisa gefragt, ob es sich beim „Verwunschenen Kind“ nicht um eine Mogelpackung handelt, da der Text nicht allein von J.K. Rowling stammt, sondern auch der Drehbuchautor Jack Thorne und der Theaterregisseur John Tiffany daran mitgewirkt haben.

Lisa Kuppler: Ich finde nicht. Zumindest noch nicht bei dieser Ausgabe, die ja erst das „Special Rehearsal Edition Script“, also der Proben-Text, ist. Es soll auch noch die endgültige Skript-Fassung kommen, und das ist dann echt nur noch Geldmacherei.

Ulrike Schimming: Welchen Anteil hat Rowling an dem Stück gehabt?

LK: Nach allem, was ich gehört habe, hat Rowling mehr als nur die Grundidee geliefert. Ich denke, sie hat zumindest den Plot verfasst und Thorne hat es dann als Theaterstück ausgeschrieben. Und sie hat die endgültige Theaterfassung gelesen und abgesegnet. Deshalb ist muss man „Das verwunschene Kind“ schon als ihre Vision sehen (als Rowling-Kanon).

US: Hat dich an der Form der neuen Geschichte etwas gestört? Man ist ja relativ schnell durch damit und taucht nicht so tief in das Geschehen ein.

LK: Es ist ein Theaterstück und kein Roman, und ja, man kann es schnell weglesen und es berührt einen kaum, weil alle erzählenden Passagen und die Innensicht der Figuren fehlen. Die Regieanweisung sind ja rein behauptet, ganz im Sinne einer Regieanweisung: Schauspieler, mach das. Und der Schauspieler macht es, aber im Text steht das nicht, was der Schauspieler macht. Und auch die Welt muss man sich selbst vorstellen, weil man ja keine Bühne und Bühnenbild sieht, wie die Zuschauer und Zuschauerinnen im Theater.

US: Mir kamen die vielen Zeitreisen in dem Stück fast wie ein etwas hilfloser Trick vor, den Zuschauern die Vorgeschichte wieder näher zu bringen und sie wie in einer Rückblicksparade an die verschiedenen Figuren und Umstände zu erinnern.

LK: Ich finde es legitim, dass die Zeitreisen-Struktur verwendet wird, um bekannte und geliebte Figuren und Orte und Szenarien wieder auftauchen zu lassen. Es ist auch eine Chance, um ein „Voldemort-hat-gewonnen“-Szenario auszuprobieren bzw. uns ein Hogwarts zu zeigen, wie es im 7. Buch unter den Todessern mit Headmaster Severus Snape war, was wir im Buch ja kaum sehen.
Die Geschichte von Harry Potter wird dadurch allerdings nicht wirklich weiterentwickelt. Es gibt keine neue Geschichte. Das verwunschene Kind ist eher eine Art verlängerter und ausgeschriebener Epilog, würde ich sagen.

US: Albus und Scorpius reisen in die Vergangenheit und kämpfen letztendlich wieder einen ähnlichen Kampf wie ihre Eltern. Zwischendrin kam bei mir das Gefühl auf, als hätten die Jungs und Mädchen dieser Zauberergeneration keine eigenen Probleme, wenn man mal von dem durchgängigen Vater-Sohn-Konflikt zwischen Harry und Albus absieht.

LK: Dass die Kinder keine Probleme haben, das finde ich nicht. Ja, es gibt keinen Krieg mehr, und keinen offensichtlichen Bösen wie Voldemort, aber Scorpius und Albus haben schon echte Probleme. Vor allem Probleme, wie sie oft in Jugendbüchern verhandelt werden: wie die soziale Stellung und die Geschichte der Elterngeneration die neue Generation beeinflusst, Probleme für sie schafft und ihre Beziehungen zueinander prägt. Der einsame, schüchterne, weltfremde Scorpius; Albus, der sich an der Vaterfigur Harry Potter abkämpft; die Feindseligkeit von Rose gegenüber Scorpius, die nur in der Vergangenheit begründet ist und nichts mit Scorpius zu tun hat. Die Generation von Albus und Scorpius hat durchaus eigene Probleme, nur sind es eben ganz andere als die der Generation von Harry, Hermine und Ron.

US: Die Freundschaft von Albus und Scorpius ist einer der emotionalen Hauptpunkte im Stück, quasi ein versöhnliches Gegenstück zur Feindschaft zwischen Harry und Draco. Man entdeckt dabei natürlich sehr schnell den queeren Subtext, der am Ende jedoch wieder hetero-normativ überformt und somit negiert wird. Ist das ein halbherziger Kompromiss, die Figuren von HP vielfältiger zu machen?

LK: Der homosexuelle Subtext ist in der Freundschaft zwischen Albus und Scorpius ganz klar da. Teile des Harry Potter-Fandoms sind frustriert, dass Rowling-Thorne aus Albus und Scorpius kein offen schwules Paar gemacht haben. Im Fandom wird Rowling deshalb auch Queerbaiting vorgeworfen, also, dass sie absichtlich Figuren queer anlegt, damit die queeren Leser_innen sich identifizieren, um sie am Ende doch wieder eindeutig hetero zu machen. Ich persönlich bin ich nicht enttäuscht, obwohl ich Slash (queere Fanfiction) schreibe und lese. Ich finde es vermessen, von Rowling zu erwarten, sie solle zu einer Sprecherin für LGTB*-Rechten werden. Und das würde sie, wenn sie Das verwunschene Kind als schwule Jugend- und Liebesgeschichte geplottet hätte. Rowling hat sich immer positiv für queere Menschen und Belange eingesetzt, es ist klar, wo sie in der Frage steht. Doch ihr politisches Engagement gilt Kindern in staatlichen und anderen Betreuungs-Einrichtungen (dies macht sie über ihre Stiftung „Lumos“). Aus meiner Sicht braucht sie queere Belange nicht dadurch zu unterstützen, indem sie die beiden Hauptfiguren des Theaterstücks offen schwul macht.
Ich würde mir wünschen, Rowling würde z. B in den „Fantastic Beasts“-Filme („Phantastische Tierwesen und wo sie zu finden sind“) eine queere Nebenfigur einführen, bzw. falls Albus Dumbledore tatsächlich in den Filmen auftaucht, wie gerüchteweise vermutet wird, dass er deutlich und explizit schwul ist. Rowling hat in Interviews gesagt, Dumbledore sei schwul, doch in den HP-Büchern steht es explizit nirgends. Es wäre schön, wenn Rowlings Interviewaussage wenigstens in den Filmen zu sehen wäre.
Beim Verwunschenen Kind bin ich sehr froh und erleichtert, dass Rowling-Thorne sich nicht gescheut haben, eine enge Jungenfreundschaft liebevoll und auch körperlich mit Umarmungen darzustellen, selbst wenn das Publikum dann vielleicht einen queeren Subtext in der Beziehung sehen kann. Die enge Freundschaft zwischen Albus und Scorpius ist deshalb für mich kein halbherziger Kompromiss, um queere Themen zu repräsentieren. Rowling-Thorne wollten eine „ganz normale“ Jungenfreundschaft darstellen und haben nicht aus lauter Angst, man könnte Albus und Scorpius, OMG, als *queer* lesen, alle körperlichen Aspekte von Freundschaft gestrichen und eine sterile Beziehung zwischen den beiden geschrieben.

US: Anders sieht es bei den Frauenfiguren aus, die ich allesamt als ziemlich schwach und blass empfunden habe. Überspitzt gesagt, die Frauen sind entweder tot (Astoria, Scorpius Mutter), böse (Delphi) oder verschwinden als Folge der Zeitreise (Rose). Auch gibt es keine Szene, in der Ginny mit ihrem Sohn Albus redet. Wie kann das sein? Mag Rowling keine Frauenfiguren? Oder ist hier die Handschrift von Thorne und Tiffany deutlicher zu spüren?

LK: Da sehe ich gerechtfertigte Kritik am Verwunschenen Kind und stimme ich dir voll zu: Die Frauenfiguren sind blass bzw. so unsympathisch, dass man sie einfach nicht leiden mag. Ich kann mich ebenfalls an keine Szene zwischen Ginny und Albus erinnern, nur an die Szenen zwischen Ginny und Harry, wenn sie über Albus sprechen.
Aber das ist ganz klar Rowlings Handschrift. Wie weit Tiffany und Thorne Rowlings Schwäche, was Frauenfiguren betrifft, verstärkt haben, kann ich nicht sagen. Aber Rowling versagt immer dann, wenn es um Liebesbeziehungen zwischen Teenagern geht, sie macht sich dann immer über die romantisch verliebten Mädchen lustig (Lavender Brown, Cho Chang oder Ginny als ganz junges Mädchen). Deshalb gibt es weder in den Harry Potter-Büchern noch jetzt im Verwunschenen Kind eine ernst zu nehmende Hetero-Romanze, worüber ich, ehrlich gesagt, froh bin.

US: An eine Episode erinnere ich mich in den Büchern überhaupt nicht: Deutet sich da bereits an, dass Bellatrix und Voldemort ein Kind zeugen? Es kommt mir im Verwunschenen Kind ein bisschen unvermittelt vor, fast schon zu gewollt, als wäre das die einzige Lösung gewesen, um Scorpius einen Hauch von Bosheit anzuhängen. Oder übertreibe ich jetzt?

LK: In der HP-Serie war Bellatrix Lestrange Voldemort schon sehr verfallen, aber in den Büchern (im Gegensatz zu den Filmen) hatte das meines Erachtens nie eine erotische Komponente. Bellatrix zeichnete sich ja anders als die „guten“ Frauenfigur (Molly, Andromeda, Tonks) genau dadurch aus, dass sie nie Kinder wollte. Bei Rowling sind gute Frauen immer gute Mütter. Selbst Narcissa Malfoy wird im Buch dadurch zur positiven Figur, dass sie sich für Draco einsetzt und ihn retten will. So eine Motivation gibt es für Bellatrix, die ja Narcissa Schwester ist, nicht. Dass Voldemort und Bellatrix eine Tochter haben, ist für mich ziemlich absurd. Voldemorts Ziel war es ja immer, selbstsüchtig sein eigenes Leben zu verlängern, nicht, sich über Kinder fortzupflanzen.

US: Hat sich Rowling beim Verwunschenen Kind eigentlich irgendwie vom Fandom beeinflussen lassen?

LK: Ich glaube nicht, und wenn, dann nur ironisch – wie beispielsweise durch das Gerücht, Scorpius sei das Kind einer Vergewaltigung Astorias durch Voldemort. Solche Fanfiction gibt es bestimmt, und hier kann ich mir vorstellen, Rowling-Thorne haben dieses Gerücht so überspitzt und sexualisiert formuliert, um sich über die Auswüchse von Fanfiction lustig zu machen.
Aus der Sicht eines Fans und als Teil des HP-Fandoms bin ich amüsiert darüber, dass Rowling-Thorne genau über die Figuren schreiben, die auch in der Fanfic sehr populär sind: Harry und Draco, und Albus und Scorpius. Das hat aber nichts damit zu tun, dass Rowling-Thorne Fanfic lesen, sondern es ergibt sich aus den HP-Büchern: Draco ist die interessanteste Figur auf der Seite der Todesser, er ist eine Art Spiegelfigur für Harry. Und Albus und Scorpius sind ja schon im Epilog als Gleichaltrige angelegt, die sich direkt mit der Vergangenheit der Eltern-Generation auseinandersetzen müssen.
Dass sich sowohl die Fanfic wie Rowling-Thorne auf Draco und seine Beziehung zum erwachsenen Harry konzentrieren, finde ich nur logisch. Und die Scorpius-Szenen am Anfang des Theaterstücks, im Hogwarts-Express, sind ja quasi Spiegelszenen der Hogwarts Express-Szenen in Harry Potter und der Stein der Weisen. Mir hat sehr gut gefallen, dass es für Draco eine Wiedergutmachung gibt: Er hat aus seinen Fehlern gelernt und geht mit den aktuellen Ereignissen sogar abgeklärter um als Harry.

US: Ja, Harry kommt im Stück manchmal doch etwas ratlos daher oder wird gar zu einem Helikopter-Vater, der Albus mit der Karte der Rumtreiber kontrollieren will. Das macht ihn nicht gerade sympathisch und kam mir fast wie ein Verrat an dem ehemaligen Helden vor.

LK: Du hast Recht, ein bisschen haben Rowling-Thorne Harry im Stich gelassen. Er kommt hier nicht gut weg, ich mochte die Figur auch nicht besonders. Und die Szenen mit Porträt-Dumbledore, in denen Rowling-Thorne sicher das schwierige Verhältnis zwischen Harry und seinem Mentor hatten klären wollen, gehören für mich zu den schwächsten des Theaterstücks. Sie sind kompletter Kitsch, finde ich, ohne wirklich eine inhaltliche Aufarbeitung.
Man hätte sich ja eine ganz andere Geschichte für das Theaterstück ausdenken können, in dem Harry vor neuen Herausforderungen als Leiter der Aurorenzentrale steht. Persönlich hätte ich die viel lieber gelesen, aber dafür gibt es ja Fanfic und wenn die Trailer von „Fantastic-Beasts“ halten, was sie versprechen, bekommen wir da die magischen Abenteuer, die ich mir für „Das Verwunschene Kind“ gewünscht hätte.

US: Hätte Rowling besser daran getan, wieder einen richtigen Roman zu schreiben? Oder hat sich die HP-Welt durch die Filme, Pottermore, die Wizarding World-Themenparks, das riesige Fandom und nun auch durch ein Theaterstück mittlerweile so von ihrer Schöpferin emanzipiert, dass sie sie gar nicht mehr beeinflussen kann (oder will)?

LK: Rowling möchte keinen neuen HP-Roman schreiben, das stand nie zur Debatte. In Interviews hat sie erklärt, sie bekomme pro Woche Hunderte von Anfragen, was sie mit Harry Potter machen könne, und als John Thorne, den sie persönlich kennt, mit der Idee eines Theaterstücks auf sie zukam, hat sie Ja gesagt. Ich bin überzeugt, dass es genau so war. Und immerhin liest jetzt eine ganze Generation mal ein Theaterstück und Leute gehen ins Theater, die noch nie ein Schauspielhaus betreten haben. Das waren die ideelen Beweggründe, glaube ich.
Dass Rowling weiterhin ihr Harry Potter-Universum ausweiten möchte, zeigen die „Fantastic-Beasts“-Filme. Rowling hat das Drehbuch zu allen drei Filmen geschrieben. Hier bin ich wirklich gespannt auf die Geschichten, die sie und das Filmteam uns erzählen werden.

US: Das sollten wir uns also im November im Kino anschauen. Liebe Lisa, ganz herzlichen Dank für diese aufschlussreichen Erläuterungen. Jetzt würde ich die Harry-Potter-Saga doch fast noch einmal von vorn lesen …

J.K. Rowling/John Tiffany/Jack Thorne: Harry Potter und das verwunschene Kind, Teil eins und zwei, Übersetzung: Klaus Fritz und Anja Hansen-Schmidt, Carlsen, 2016, 334 Seiten, 19,99 Euro

[Jugendrezension] Der dunkle Fluch

twigTwig aus Nachtvogel oder Die Geheimnisse von Sidwell von Alice Hoffman ist zwölf Jahre alt. Sie wohnt in Sidwell und klettert gern auf Bäume. Soweit hört sich das ja eigentlich alles ganz normal an.

Weniger normal hört sich aber an, wenn ich jetzt schreibe, dass der Bruder von Twig, James, Flügel hat. James ist deshalb in Gefahr und darf auch aus diesem Grund nicht gesehen werden. Er versteckt sich im Haus, doch abends fliegt er meistens noch ein Stück.
Ein paar Leute haben ihn hierbei gesehen. Sie halten ihn für ein Monster oder für einen Riesenvogel. Weil James im Haus ist, darf kein anderer das Haus betreten, damit das Geheimnis nicht entdeckt wird.

img-20160912-wa0001Doch das neue Nachbarmädchen bringt vieles durcheinander und das Schlimmste ist, dass sie sich von nichts aufhalten lässt, Twigs beste Freundin zu werden. Irgendwann findet sie heraus, dass es James gibt. Gemeinsam wollen sie und Twig nun „den Fluch“ brechen, der über James schwebt.
Ob sie das schaffen oder ob alles schief läuft, dass müsst ihr selbst herausfinden…

Ich empfehle dieses Buch Jungen und Mädchen, eher aber Mädchen, ab 9 Jahren.

Lese-Lotta, 9 Jahre

Alice Hoffman: Nachtvogel oder Die Geheimnisse von Sidwell, Übersetzung: Sibylle Schmidt, Sauerländer, 2016, 208 Seiten, ab 10, 12,99 Euro

Einladung zum Gespräch

mohrZwei Menschen begegnen sich. Im Zug. Die eine mit gültiger Fahrkarte, der andere offensichtlich nicht. Die eine nimmt ihn auf ihrem Ticket mit, der Fahrkartenkontrolleur gibt Ruhe. Und dann? Trennen sich ihre Wege? Nein, für die beiden beginnen 48 funkelnde, anstrengende, lebensentscheidende Stunden. Und wir fuchsen uns lesend rein in dieses Abenteuer, bis wir mitfiebern und die Daumen drücken.

Wer sind die beiden?

Da ist Aino, 18, schweigsam. Sie berührt sofort, etwas Geheimnisvolles umgibt sie, an sie heranzukommen, ist Arbeit.
Da ist Nik, 16, ein Draufgänger, der stets in Schwierigkeiten steckt, vor allem mit seinem älteren Bruder, und die nächsten Tage erst mal ungern daheim gesehen wird.

Nik ist sofort fasziniert, überrumpelt Aino geradezu durch seine Unmittelbarkeit, Neugier, Naivität, seine Jungenhaftigkeit; manchmal redet er wie ein Wasserfall. Als ihm Aino erklärt, sie gehe in ein Schweigekloster und werde Nonne, schlägt er ihr einen Deal vor: Wenn er ihr innerhalb von zwei Tagen und zwei Nächten beweist, was sie auf dieser Welt verpasst, wird sie ihm erzählen, warum sie für immer schweigen will. Aino willigt ein.

Sie haben kein Geld, keinen fahrbaren Untersatz, kein Dach über dem Kopf. Beste Voraussetzungen für ungewöhnliche Entscheidungen, die Nik leichter fallen als Aino. Trotzdem ist sie dabei, um sich auf nicht ganz legalen Wegen das Portemonnaie und den Magen zu füllen. Sie landen in einem Sexshop, treffen eine Wahrsagerin, fahren Riesenrad, übernachten in einer Hütte im Wald und unter klarem Himmel, hören Musik und singen gemeinsam. Sie tun Dinge, die sich für beide fremd anfühlen — und doch so richtig. Vertrauen baut sich auf, Nähe. Berührung überwindet das Schweigen und die Trauer. Denn Aino trauert um ihren kleinen Bruder, während Nik auf der Suche nach den Wurzeln seiner Familie, nach Heimat und Geborgenheit ist.

Angela Mohr erzählt in alternierenden Kapiteln, jeweils aus der Ich-Perspektive ihrer Protagonisten, davon, was sie bewegt. Was sie denken, fühlen, wovon sie träumen, was sie bedrückt, woher sie kommen — und warum sie beide auf der Flucht sind.
Da Aino zunächst beharrlich schweigt, ist die Kommunikation ein Balanceakt, verlangsamt das Tempo, denn sie schreibt ihre Fragen und Antworten in Kurzform auf kleine Zettel. Nik, der die Geschwindigkeit liebt, muss geduldig sein, kann manchmal nur intuitiv erfassen, was nicht formuliert ist, ist darauf angewiesen, aufmerksam zu sein und zu beobachten. Schließlich traut sich Aino doch zu sprechen. Noch ein Kraftakt, denn sie stottert, je aufgeregter sie ist, umso mehr.

»Aino sagt Worte.
Jede Menge Worte. Schöne Worte und hässliche Worte und seltsame Worte.
Sie hetzt ihnen nach. Sie reitet auf ihnen. Sie fliegt mit ihnen davon.
Ihre Stimme ist wie eine Landschaft, sie hat Täler und Höhen, Felsen und Geröllhalden, schneebedeckte Gipfel, leere Wüsten. Sie hat Dunkelheit und Sonne, Bäche und Flüsse und Gämsen, die von Fels zu Fels springen.
Ihre Stimme ist die ganze Welt.« (S. 301)

Dieser Roman schwingt, hat einen eigenen Ton und Rhythmus. Es gibt zahlreiche Textstellen, die man sich notieren möchte, weil die Autorin es schafft, dass wir mitfühlen, mitdenken, mithoffen. Uns mit Aino und Nik identifizieren. Ein authentisches Buch, vielschichtig, voller Humor — und eine Einladung zum Gespräch!

Angela Mohr: Zwei Tage, zwei Nächte und die Wahrheit über Seifenblasen, Arena Verlag, 2016, 310 Seiten, ab 14, 12,99 Euro

Das x-te Geschlecht

georgeHeute Morgen hat im Rahmen des Harbourfront Literaturfestivals in Hamburg Alex Gino in der Zentralbibliothek Hamburg aus dem Roman „George“ gelesen. Etwa 100 Kinder zwischen zehn und 12 Jahren lauschten und stellten Fragen. Die deutsche Übersetzung von Alexandra Ernst hat die Schauspielerin Jodie Ahlborn einfühlsam vorgetragen. Perfekt moderiert wurde die Veranstaltung von Stefanie Ericke-Keidtel.

In „George“ geht es um ein Transgendermädchen, die irgendwann den Mut aufbringt, sich ihrer Familie anzuvertrauen. Berichtet habe ich von dem wichtigen Buch bereits hier. Nun Alex Gino live zu sehen, war ein wunderbares und aufschlussreiches Erlebnis, denn die Geschichte von George ist in gewissen Zügen Alex Ginos eigene Geschichte.
Vor 38 Jahren in Staten Island/New York geboren war Alex schon recht früh bewusst, anders zu sein. Nur gab es damals in den 80er Jahren keine Worte für dieses Anderssein. Im Gegensatz zu heute, wo auf die Frage, ob denn die Zuschauer schon mal von Transgender gehört hätte, fast alle Kinder die Finger hoben und wissend nickten, als ob das ein alter Hut wäre.

Alex jedoch kämpfte sich durch Kindheit und Pubertät und eröffnet mit 17 den Eltern, queer zu sein. Mit 20 sagte Alex ihnen dann, transgender queer zu sein. Ein doppeltes Coming-out quasi. Die Qualen, Unsicherheiten und Zweifel ahnt man. Alex hatte Glück, dass die Eltern rückhaltlos zu ihrem Kind standen, Alex auf dem schwierigen Weg also Beistand und Hilfe bekam und sich nicht verstecken musste – etwas, was die Romanfigur George als genauso schwierig bezeichnet.

Alex jedoch ist etwas anders als die Romanfigur George, die genau weiß, dass sie ein Mädchens ist. Alex bezeichnet sich als „gender queer“, was für Alex bedeutet, mal Mann, mal Frau sein zu wollen. Alex  legt sich nicht fest, will einfach Alex sein. Ein sehr nachvollziehbarer Wunsch, der jedoch auch Probleme mit sich bringt.
So stellte ein Mädchen aus dem Publikum umgehend eine der drängendsten Fragen: Wie soll man über Alex reden – als sie oder als er? Das Deutsche kennt ja wie das Englische kein x-tes Geschlecht. Und schon betritt man ein sprachliches Minenfeld, wenn man queeren Transmenschen gegenüber nicht unhöflich und unsensibel auftreten möchte.

alexAlex berichtete dann von der langen Suche nach dem richtigen Pronomen für sich – und der Entscheidung für das englischen Singular they, das auch schon Shakespeare benutzt hat, wie Alex mit einem Augenzwinkern hinzufügt.
Dafür eine Entsprechung im Deutschen zu finden ist nicht einfach. Seit Jahren wird über gender-neutrale Sprache gestritten. Einzelne Worte, wie „Studierende“ statt „Studenten“ und gewissen Neutralisierungen setzen sich langsam durch, haben diese aber auch den Vorteil, eine Gruppe von Menschen zu bezeichnen, bei der wir den Plural ganz entspannt benutzen können.
Beim Reden über Einzelpersonen jedoch wird es kompliziert, wenn diese sich keinem der beiden grammatikalischen Geschlechter zuordnen lassen wollen. Doch es gibt Versuche gender-neutrale zu Pronomen zu finden, z.B. hier und hier. Das Feld ist weit, ich kann es hier und jetzt nicht in aller Ausführlichkeit diskutieren (bin auch nicht die Expertin dafür, auch wenn ich mich mehr und mehr bemühe, darauf zu achten). Es wird auf jeden Fall spannend, was sich in den nächsten Jahren in unserem Sprachgebrauch durchsetzen wird. Im Englischen hat das gender-neutrale Mx. (statt Mr. oder Mrs.) bereits den Einzug ins Oxford Dictionary gehalten.
Im Deutschen wird es nicht bei den Pronomen bleiben: Alex hat zwei Nichten und prompt fragte ein Junge, wie diese denn Alex nennen würden, Onkel oder Tante? Etwas zögernd erzählte Alex, dass sie in „uncle Alex“ nennen, einfach weil es besser klingen würde … Fast sah es so aus, als hätte Alex diese Frage noch nie beantworten müssen.
Natürlich grübelt mensch dann automatisch über eine deutsche Alternative zu Onkel und Tante nach: Tankel? Onte? Glücklicherweise ist Sprache immer etwas, das sich entwickelt, Neues schöpfen kann und dieses auch in den Alltag integriert. Irgendwann wird es also einen solchen Begriff im Duden geben, da bin ich mir sicher.

Erfreulich an diesem heiteren Vormittag in der Zentralbibliothek waren – neben einex umwerfend charmanten und überzeugenden Alex Gino – die Offenheit und Neugierde der Kinder. Natürlich fanden es ein paar viel spannender, dass Alex das Computerspiel Mario Kart und die Figur Toad liebt, doch mir war, dass die meisten zumindest ein Gefühl für die Ängste und Nöte von Transmenschen mitbekommen haben. Für einen respektvollen Umgang in unserer Gesellschaft ist damit wieder jede Menge Saat ausgebracht, die hoffentlich reichlich Frucht tragen wird.
Gleichzeitig haben die Kids hautnah erlebt, wie mitreißend fröhlich mensch sein kann, wenn er/sie einfach zu sich steht und sein/ihr Ding macht. Und genau dafür ist das Buch von Alex Gino einfach enorm wichtig!

Alex Gino: George, Übersetzung: Alexandra Ernst, Fischer Verlag, 2016, 208 Seiten, ab 10, 14,99 Euro

Unbändiger Forscherdrang

reiseBücher, die das Wort „Reise“ im Titel tragen, üben auf mich eine seltsame Anziehung aus. Vielleicht, weil ich selbst gern reise. Denn jede Reise ist Aufbruch, Entdeckung von Neuem, Erweiterung des eigenen Horizonts, Abenteuer. Wer wünscht sich das nicht?

Der 11-jährige Archer in Nicholas Gannons Debüt-Roman Die höchst wundersame Reise zum Ende der Welt kann genau das eigentlich gar nicht erwarten. Er will endlich aufbrechen, hinaus aus seinem Haus, in dem ihn die Mutter fast wie einen Gefangenen hält. Dies tut sie allerdings nicht aus Bosheit, sondern aus Angst. Denn Archer hat eine Neigung. Die Neigung, alles zu erforschen und zu ergründen. Diese Neigung hat er von seinen Großeltern, den bekannten Naturforschern Ralph und Rachel Helmsley. Das Haus, in dem Archer mit seinen Eltern lebt, gehört den Großeltern und ist dem entsprechend ausgestattet mit ausgestopften Tieren aus aller Welt und anderen Objekten, die die Großeltern von ihren Forschungsreisen mitgebracht haben.
Doch seit zwei Jahren sind die Großeltern verschollen. Angeblich sind sie auf einem Eisberg festgefroren. Archer glaubt jedoch nicht daran. Er will Oma und Opa, die er noch nie im Leben gesehen hat, in der Antarktis suchen.

Auf seiner Reise sollen ihn die Nachbarkinder Oliver Glub und Adelaide Belmont begleiten. Zu dritt machen sie sich heimlich an die Vorbereitungen. Nur ist Oliver etwas ängstlich, was sich immer darin äußert, dass er die Augen zumacht, wenn es gefährlich wird.
Adelaide hingegen, die eine talentierte Ballerina war, hat durch einen Unfall ein Bein verloren, kann jedoch niemandem die Wahrheit sagen, sondern erfindet lieber abenteuerliche Geschichten, die ihre Freunde auf eine falsche Fährte locken, was ihre Reise-Erfahrung angeht.
Gemeinsam jedoch nehmen die drei Freunde es mit all den Erwachsenen auf, die ihnen Hindernisse in den Weg legen wollen …

Nun ja, dass die drei es nicht ganz bis zum Südpol schaffen, darf ich wohl verraten. Doch wie es dazu kommt, ist ein ganz großes Lesevergnügen, nicht zuletzt durch die frech frische Übersetzung von Harriet Fricke. Die drei Helden erleben schon vor Abreise jede Menge Abenteuer, die sie als Freunde immer enger zusammenschweißen. Sie beweisen dabei ganz nonchalant, dass der Weg das Ziel sein kann. Und dass man sich von den Meinungen der Erwachsenen nicht gleich von seinen Überzeugungen abbringen lassen sollte.

Die Geschichte von Archer, Oliver und Adelaide ist mit Illustrationen vom Autor selbst ausgestattet. Und diese Illustrationen sind so wundersam wie die Geschichte selbst. In zarten Sepia- und Rottönen entführt Gannon die Lesenden in das Haus der Helmsleys, zeigt die vielen Tiere, Globen und geheimnisvollen Schränke, Schubladen und Koffer. Er liefert architektonische Zeichnungen vom Haus und der Schule der Kinder. Es ist eine verwunschene Welt, der jegliche heutige Technik fehlt, in der es noch genügend Raum für Fantasie und Träumereien gibt. Ein echter Kindheitskokon.

Man ahnt, dass die drei Helden, sobald sie diesen Kokon wirklich verlassen und es in die harte Welt hinausschaffen, sie sich irgendwann genau danach wieder zurücksehen. Die Fortsetzung des Romans wird zeigen, wie es mit ihnen weitergeht. Bis dahin kann man schon mal seine eigenen wundersamen Reisen sonst wohin planen …

Nicholas Gannon: Die höchst wundersame Reise zum Ende der Welt, Übersetzung: Harriet Fricke, Coppenrath Verlag, 2016, 368 Seiten, ab 10, 14,95 Euro

Abenteuer in Boschs Bestiarium

51hv2orrirl-_sx375_bo1204203200_Ich war zehn, als ich ihm das erste Mal begegnete. Es war in Madrid im Prado, und ich war sofort fasziniert von seiner Welt. Mit dem kindlichen Hang zum Makabren, der in Spanien reichlich mit den skurrilen Umzügen in der Karwoche und den Hunderten Darstellungen von Jesus am Kreuz allerorten bedient wird, entflammte ich sofort für die fantastischen und unheimlichen Bilder von Hieronymus Bosch. So sehr, dass ich mir den ersten Kunstbildband meines Lebens gekauft habe, im taschengeldkompatiblen Postkartenformat.

Jetzt kann jedes Kind in Boschs Welt verloren gehen – in den großformatigen, farbenprächtigen und schlicht überwältigenden Bildern des aus Indonesien stammenden Illustrators Thé Tjong-Khing in seinem Bilderbuch (komplett ohne Worte) Hieronymus.
Wie Alice ins Kaninchenloch so stürzt ein Junge beim Spiel mit seinem Hund von einer Klippe und landet in einem von merkwürdigen Fabelwesen bevölkerten Land. Beim Sturz verliert er seine Kappe, seinen Rucksack und den roten Ball samt Ballnetz. Sofort beginnen die drachenartigen, stacheligen, riesenohrigen oder vielbeinigen Schnabelmonster sich um die Sachen zu kloppen. Der Junge jagt ihnen hinterher und erobert nach und nach mit viel Mut und Raffinesse seine Dinge zurück. Dabei begegnet er mehreren menschlichen Wesen in mittelalterlicher Kleidung, die entsetzt vor einem leeren Bettchen stehen, über einem Kinderbild weinen oder mit zwei Kleinen in einer Trage auf dem Rücken vor Flugechsen fliehen. Sogar ein Engel kniet verzweifelt vor einer ärmlichen Bruchbude und vergießt bittere Tränen über drei ausgerupften Federn.

Was ist hier los? Was macht den Erwachsenen Angst? Wer terrorisiert sie? Und wo sind ihre Kinder? Unerschrocken nimmt der Junge den Kampf auf und hilft den Großen. Immer wieder taucht ein Wesen im gepunkteten Kleid auf. Hat es etwas mit den verschwundenen Kindern zu tun? Man blättert vor und zurück, entdeckt die Kappe, den Ball, den Rucksack im Wasser, in der Luft, im Maul eines Monsters. Man sieht Bestien wieder und entdeckt neue.

Dabei zitiert Thé Tjong-Khing den vor 500 Jahren gestorbenen Maler Hieronymus Bosch elegant und baut dessen Bestiarium klug in seine eigene Geschichte ein. So taucht mehrfach eines von Boschs berühmtesten Monstern auf: der buckelige Typ im roten Cape, mit langem, gekreuztem Schnabel, gepunkteten Schlappohren, auf Schlittschuhen und dem charakteristischem Trichter auf dem Kopf, aus dem auch noch so etwas wie ein verkrüppelter Weihnachtszweig mit einer Kugel ragt. Eine äußerst zwielichtige Figur, nicht nur, weil der umgedreht auf den Kopf gestülpte Trichter in der Bildsprache des Mittelalters für ein böses, weil sich gegen Gott abschirmendes Wesen steht. Modern gesagt, jemand der sich gegen intelligenten Input und Wissen verschließt. Es scheint eine der Schlüsselfiguren bei den schauerlichen Verbrechen in dieser Welt zu sein. Am Rand trinken und grasen Einhörner, ebenfalls von Bosch vertraut, eine Eule trägt das Ballnetz durch die Luft. Wir sehen Boschs bäuerliche Landschaften und seine fantastischen Behausungen, wie riesige Muscheln auf Stelzen, sehr organisch und extrem modern.

Auf jeder Seite gibt es Neues zu entdecken, Zusammenhänge werden klar, und es entspinnen sich mehrere Handlungen. Auch in Hieronymus Boschs Bildern gibt es zahlreiche, kleine Szenen, mal eine Rangelei, mal etwas Irritierendes am Rand. Es waren die ersten Wimmelbilder, wie 500 Jahre später die von Ali Mitgutsch, der so seine besonderen Sachbücher für Kinder gestaltete.

Warum allerdings der Moritz Verlag darauf besteht, dass der Junge gestelzt altmodisch Hieronymus heißen soll, bleibt sein Geheimnis. Im niederländischen Original heißt Thé Tjong-Khings Buch Bosch – het vreemde verhaal van Jeroen, zijn pet, zijn rugsak en de bal, also Bosch – die unheimliche Geschichte von Jeroen, seinem Hund, seinem Rucksack und dem Ball. Wobei Jeroen tatsächlich die moderne Namensadaption von Jheronimus ist, wie Hieronymus in den Niederlanden genannt und geschrieben wurde.

Thé Tjong-Khings brillantes Bilderbuch ist zwar auch eine Hommage an den fantastischen Maler. Vor allem ist es aber eine ganz eigene, schaurig-schöne Geschichte, erzählt in faszinierenden Bildern, die noch lang nachhallen und dazu einladen, immer wieder in diese Welt einzutauchen.

Elke von Berkholz

Thé Tjong-Khing: Hieronymus, Moritz Verlag, 2016, 48 Seiten, ab 6, 14,95 Euro

[Jugendrezension] Berliner Machenschaften

51zirbsinml-_sx350_bo1204203200_Die Geschwister Johanna und Finn aus City Crime – Blutspur in Berlin von Andreas Schlüter nehmen am ersten Kinderparlament im Bundestag teil.
Dort dürfen die Kinder entscheiden, ob neben dem Reichstag ein Abenteuerspielplatz oder ein Gamehouse gebaut wird. Aber schnell merken die Geschwister, dass hier nicht alles mit rechten Dingen zugeht.

Erst wird Johanna fast „über den Haufen“ gefahren, dann taucht der Mann, der Johanna beinahe umgefahren hätte, auf dem Klo im Bundestag auf und droht Finn. Viele der jungen „Parlamentarier“ besitzen plötzlich die neuesten Smartphones. Werden sie etwa bestochen?

Spätestens als eine von denen, die vorher für den Abenteuerspielplatz war, plötzlich gegen ihn ist, wird auch Johanna klar, dass es um mehr als nur um das Gamehouse geht. Mit Hilfe von ihren Freunden versuchen Johanna und Finn Vieles aufzudecken. Doch nun wird es auch noch gefährlich, zum Beispiel als die Kinder in ein Büro einbrechen…

BerlinWenn ich euch jetzt neugierig gemacht habe, dann lest das Buch City Crime – Blutspur in Berlin doch auch einmal!

Ich empfehle dieses spannende Buch Jungen und Mädchen ab 10 Jahren.

Lese-Lotta, 9 Jahre

Andreas Schlüter: City Crime – Blutspur in Berlin, Tulipan, 2016, 192 Seiten, ab 10, 11,95 Euro

 

 

Die Psyche der Täter

attentäterSeit dem Anschlag im Zug bei Würzburg im Juli diesen Jahres dürfte auch der Letzte in unserem Land wissen, dass wir 15 Jahre nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in Zeiten beständiger Bedrohung leben. Nun kann man vor lauter Angst absurde Maßnahmen ergreifen, wie Burkinis und Burkas verbieten lassen – oder man versucht zu ergründen, wie junge Menschen dazu kommen, zu Attentäter zu werden.

Für letztere Variante hat sich die Autorin Antonia Michaelis entschieden und hat ein Szenario erdacht, in dem Berlin zur Zielscheibe von islamistischen Attentäter wird. Dabei liefert sie jedoch keine reine Terror-Story, sondern baut eine komplexe psychologische Dreiecksgeschichte auf.
Ihre Helden sind der Halbfranzose Alain, der Halbtürke Cliff und das Mädchen Margarete. Gemeinsam wachsen sie in einem Wohnhaus im Prenzlauer Berg auf, sind Freunde von klein auf.
Alain und Cliff verbindet, dass beide begnadete Zeichner sind und gute Chancen hätten, auf der Kunsthochschule angenommen zu werden. Die Jungs fühlen sich aber auch emotional voneinander angezogen, ohne dass sie lange Zeit über ihre Liebe sprechen.
In dem Trio ist es Cliff, der mit den größten familiären Problemen zu kämpfen hat: Seine Mutter Cemre hat die Familie früh verlassen. Cliff glaubt lange, dass er die Schuld daran trägt. Er schwankt zwischen der Liebe zur Mutter und der Abgrenzung von ihr; er lehnt sich als keines Kind so sehr gegen seinen Vater auf, dass dieser ihn im Schuppen im Hinterhof in einer kalten Weihnachtsnacht einsperrt und vergisst. Alain und Margaret retten den Freund aus diesem eiskalten Gefängnis. Doch sie können Cliff nicht vor den Irrungen und Wirrungen des Heranwachsens bewahren. Cliff rebelliert, wo es nur geht. Er schließt sich rechten Schlägertrupps an, er will dazugehören – egal wo. Bis er bei einer Demo Alain, dem links Orientierten, direkt gegenübersteht.
Cliff lässt nach einer Weile die rechte Szene hinter sich. Sucht weiter, nach seinen Wurzeln, nach seinem Platz in der Gesellschaft und konvertiert zum Islam. Er geht in die Moschee und gerät mit der Zeit in den Einflussbereich der Islamisten. Trotz der Regeln und der vermeintlichen Klarheit des Islam kann Cliff jedoch nicht von Alain und Margarete lassen. Er ist zerrissen zwischen den verschiedenen Welten. Bis die dunkle Seite in ihm die Überhand gewinnt und er mit einem Kumpel nach Syrien ins Kalifat geht. Ein Jahr später kehrt er mit einem Auftrag nach Berlin zurück.

Der Roman von Antonia Michaelis ist auf mehreren Ebenen harte Kost. Sie erzählt die Geschichte der drei Helden nicht als chronologisches Kontinuum, sondern sie springt sowohl in den Zeitebenen, als auch in den Perspektiven ihrer Hauptfiguren. Alle drei lässt sie aus der Ich-Perspektive berichten, was sehr viel Aufmerksamkeit vom Leser erfordert, da nicht immer sofort erkennbar ist, wer spricht. Das ist zwar anstrengend, aber auch ziemlich genial, denn die drei Protagonisten bilden so eine Einheit, bei der es fast egal ist, wer erzählt.
Nach und nach setzt sich schließlich das Puzzle einer möglichen Attentäter-Psyche zusammen. Lange Zeit hält Michaelis den Leser im Unklaren, ob Cliff tatsächlich im Kalifat war – so wie er seine Freunde und seine Familie in Berlin im Unklaren lässt. Das ist extrem spannend und erzeugt im Laufe der Lektüre einen immer größeren Sog.

Gegen Ende war ich hin- und hergerissen. Man fiebert tatsächlich daraufhin, ob der „Tag des Blutes“, wie die Attentäter ihren Plan nennen, wirklich stattfindet, gleichzeitig will man das natürlich nicht. Stattdessen wünscht man sich für Alain und Cliff und auch Margarete endlich ein versöhnliches Ende. Das, was dann passiert, ist schockierend – aber gleichzeitig sind alle Figuren so tief gezeichnet, dass man sie ins Herz schließt. Selbst den Attentäter Cliff.
Natürlich wäre es einfach, ihn zu hassen. Er will Menschen und sich selbst töten. Das ist etwas zutiefst Unmenschliches und Abscheuliches. Doch das Wissen um seine vermurkste Kindheit und seine familiären Abgründe haben bei mir so viel Mitleid mit ihm aufgebaut, dass man ihm den Wunsch nach Erlösung wirklich abnimmt.

Darin liegt nun aber auch die Krux. Ich kann ja nicht mit jedem Attentäter Mitleid haben und alles mit einem verständnisvollen „Er-hatte-eine-schwere-Kindheit“ entschuldigen. Nein. Attentäter sind – entschuldigt den Ausdruck – Arschlöcher. Punkt.
Und nun tun sich jede Menge Fragen auf: Wie wird ein Mensch zum Attentäter? Sind also alle ausländischen Dschihadisten psychisch angeschlagen, zerrissen, nicht gut integriert? Könnte man Anschläge verhindern, wenn nur alle Menschen aus heilen Familien stammen? Oder die nötige Hilfe bekommen, wenn die familiären Verhältnisse nicht mehr zu retten sind?
Michaelis gibt darauf keine Antworten. Allgemein gültige Antworten kann es aber auch nicht geben. Wir sind alle gefordert, jungen Menschenkindern Halt, Wurzeln und Werte zu vermitteln, von Bildung mal ganz abgesehen, damit sie später Chancen auf gute Jobs und Anerkennung haben. Vielleicht könnte man dadurch eine offnere und tolerantere Gesellschaft schaffen und Anschläge verhindern.
Klar ist allerdings auch, dass das nicht immer klappen kann und wird. Zu tief sitzt die Verunsicherung des Menschen am Leben, zu stark sind die Einflüsse von Demagogen, zu tief sitzen bei vielen Menschen die Kränkungen und die Enttäuschung. Man kann beileibe nicht alle Menschen retten. Es ist schier zum Verzweifeln.

In dieser Hinsicht gibt einem der Roman von Antonia Michaelis jedenfalls sehr zu denken, wie man, jenseits des Kampfes gegen die Indoktrination durch Islamisten, jugendliche Seelen so stärken kann, dass sie diesen falschen Versprechungen nicht verfallen. Und das macht sie nebenbei auf äußerst fesselnde Art.

Antonia Michaelis: Die Attentäter, Oetinger Verlag, 2016, 432 Seiten, ab 16, 19,99 Euro