Archiv der Kategorie: Belletristik

Poesie gegen Prostitution

angelLange hatte ich My Book of Life by Angel von Martine Leavitt gar nicht beachtet. Zu blass und süßlich kam mir das Cover vor. Den Klappentext und U4 hatte ich nicht gelesen. Das passiert. Bei mir stapelt sich so einiges an Lektüre, da brauche ich manchmal „aggressivere“ Reize. Oder ich brauche Nachhilfe durch andere Rezensionen oder Gespräche mit Menschen aus dem Verlag. Wie in diesem Fall.

Was sich hinter diesem Cover versteckt, hat mich dann ziemlich erstaunt: In einem inneren Monolog berichtet die 16-jährige Angel von ihrem Leben – in freier Gedichtform. Angel hat einen Faible für Schuhe und klaut in den Geschäften allerdings immer nur den einen, der im Regal steht. Eines Tages erwischt Call sie dabei und nutzt dieses Wissen aus. Er gibt Angel „Zückerchen“, eine nicht genauer benannte Droge, und schickt sie auf den Strich. Anfangs schafft es Angel nicht, sich von ihm zu lösen, Call ist der perfekte Loverboy und verspricht ihr ein bürgerliches Leben – später.
Dann verschwindet Angels Freundin Serena, die ebenfalls anschaffen muss. Unter den Sexarbeiterin geht das Gerücht um, dass ein Serienmörder es auf sie abgesehen hat. Die Polizei kümmert sich nicht.
Angel erwacht aus ihrer Lethargie erst, als Call die 10-jährige Melli mitbringt, die in Zukunft auch für ihn arbeiten soll. Trotz Calls Drohungen, Angels Bruder etwas anzutun, stellt sich Angel vor das kleinere Mädchen.

Das, was das Buch zu etwas Besonderem und gleichzeitig Bitterem macht, ist die Diskrepanz zwischen Inhalt und Form. In relativ kurzen Gedichten, ohne Reimform, verpackt Martine Leavitt entsetzlichen Inhalt. Der Missbrauch von Mädchen, das Geschäft der Zuhälter mit den Frauen, die Verachtung der Freier, die Gleichgültigkeit der Polizei, die Angst der Frauen, ihr Ekel und ihre Stärke offenbart sich zwischen diesen Zeilen, die so leicht und fluffig erscheinen. Die Gedichtform ist Angels Art, den Horror zu verarbeiten. Als Leser muss man manchmal ziemlich schlucken. Leichte Kost ist das auf jeden Fall nicht. Doch sie beeindruckt und bleibt im Gedächtnis und macht nachdenklich.

Leavitt, die hier ein lange nicht aufgeklärte Mordserie an Prostituierten aus Vancouver einarbeitet und so an die getöteten Frauen erinnert, gibt den ausgebeuteten und missbrauchten Frauen und Mädchen hier eine ganz feine, wichtige Stimme, die hoffentlich auch gehört wird.

Martine Leavitt: My Book of Life by AngelÜbersetzung: Clara Drechsler/Harald Hellmann, Thienemann Verlag, 2014, 256 Seiten, ab 14, 14,99 Euro

  

Durch Neapel mit Patrizia Rinaldi

rinaldiDieses hier ist keine Rezension im üblichen Sinne, denn das könnte ich bei Die blinde Kommissarin von Patrizia Rinaldi gar nicht leisten. Dies hier ist viel mehr ein Werkstattbericht und ein Dank an die Autorin – denn sie hat mir bei der Übersetzung dieser Geschichte auf eine ganz entzückende Art geholfen.

Der Fall, den Patrizia Rinaldi erzählt, spielt in Neapel. Der Schlagersänger Jerry Vialdi ist ermordet worden. Drei Ermittler – ein Kommissar, ein Inspektor und die erblindete Blanca – treffen auf eine ganze Reihe von Frauen, die alle dem Charme des Sängers erlegen waren und die alle durchaus ein Motiv haben. Blanca, die zwar seit einem Feuer in ihrer Kindheit nicht mehr sehen kann, zeichnet sich durch ihr feinfühliges Gespür für Stimmungen und Tonlagen aus. Doch hinter dem Tod Vialdis steckt mehr als pure Eifersucht …

rinaldi2Eine weitere Hauptrolle in Rinaldis Geschichte übernimmt die Stadt Neapel. Die Autorin ist dort geboren, lebt dort mit ihrer Familie und liebt diese Stadt über alles. Diese Liebe ist in all den Beschreibungen der Örtlichkeiten, an denen sich ihre Figuren bewegen, ganz deutlich zu spüren. Und diese Liebe machte mich neugierig auf eine Stadt, die ich noch nicht kannte. So bin ich im Zuge der Übersetzung nach Neapel gereist, um mir so viele der Lokalitäten wie möglich persönlich anzuschauen, die in dem Krimi wichtig sind. Da ich zudem einige Fragen an die Autorin zu ihrem Text hatte, der im Italienischen sehr schön klingt und funktioniert, im Deutschen jedoch manchmal unklar blieb, habe ich Patrizia Rinaldi kontaktiert. Und sie schließlich im vergangenen September getroffen.

rinaldi3Begegnungen mit Autoren sind ja grundsätzlich schon interessant, aber die zwei Tage, die ich mit Patrizia Rinaldi verbracht habe, waren extrem schön und aufschlussreich.
Mit dem Auto holte sie mich aus der Innenstadt ab und zeigte mir dann ihre Ecken Neapels, die man als Tourist nicht sofort aufsuchen würde: das Gelände der alten Stahlfabrik ILVA, die Ruine des Palazzo Donn’Anna, den Parco di Villa Avelino in Pozzuoli, Nisida aus der Ferne, den Coroglio. Wir spazierten über den Ponte Nord und genossen den Blick auf Meer und Inseln, wir erkundeten den noch blubbernden Vulkan La Solfatara – zusammen mit einem etwa 90-jährigen Führer, der zwar kaum noch stehen konnte, fast nichts mehr hörte, aber für „seinen“ Vulkan brannte und uns eindrucksvoll mit einer glimmenden Zeitung die Rauchentwicklung im Gestein vorführte. Es folgten ein Besuch beim Sibyllinischen Orakel und in der alten römischen Therme von Baiae mit dem unglaublichen Merkur-Tempel. Bei all dem erzählte Patrizia Rinaldi eine Geschichte, eine Anekdote nach der anderen – ich gebe zu, mir schwirrte der Kopf nach diesen Treffen –  die ich gar nicht alle auf einmal behalten konnten. Daneben haben wir dann beim Essen und manchmal direkt vor Ort meine Fragen zu ihrem Text geklärt, so dass ich jetzt hoffe, dass Die blinde Kommissarin genau die Liebe zu Neapel transportiert, die auch im Original vorhanden ist und mit der mich die Autorin so angesteckt hat, dass ich sicherlich in die Stadt am Golf zurückkehren werde.

Vorauf ich bei der Produktion der deutschen Ausgabe keinen Einfluss hatte, waren der Titel und das Cover des Buches. Mit beidem bin ich ein wenig unglücklich, denn manchmal kommt meine Pingeligkeit durch und dann muss ich einfach sagen, dass Blanca zwar blind, aber keine Kommissarin ist. So wird sie im ganzen Text nicht einmal genannt. Im Original ist sie „sovrintendente“, also Polizeihauptmeisterin, was unschreibbar für den italienischen Kontext ist. Also ist es bei Sovrintendente geblieben. Ein kurzes Glossar am Ende des Buches erklärt einige italienische Begriffe.
Das Bild auf dem Cover hat leider so absolut gar nichts mit Neapel zu tun. Mag der Titel den Verkauf vielleicht fördern, weil er knackig ist und mit Blancas Handikap „spielt“, kann ich die Motivwahl nicht recht verstehen. Dieser Krimi spielt in einer sehr faszinierenden Großstadt, von der es ebensolch faszinierenden Fotos gibt. Das Cover jedoch, das zwar ein eindrucksvolles Foto und sehr italienisch ist, hat damit jedoch so viel zu tun wie Brandenburg mit Hamburg. Nun ja, ich bin gespannt, ob sich das irgendwie niederschlagen wird.

In jedem Fall war für mich die Arbeit an diesem Buch etwas Besonderes und Unvergessliches, und dafür sage ich: Grazie mille, Patrizia!

Nachtrag am 10.5.14: Wie mir heute morgen über Facebook zugetragen wurde, gibt es für die italienische Originalausgabe des Buches – „Tre, numero imperfetto“ – auch einen Buchtrailer von Ciro Orlandini:

 

Patrizia Rinaldi: Die blinde Kommissarin, Übersetzung: Ulrike Schimming, Ullstein TB, 2014, 224 Seiten, 8,99 Euro

Ein Kleinod

PoesieSprache kann bekanntermaßen Bilder erzeugen. Dies natürlich nur im Kopf von Lesern und Zuhörern. Jeder  macht sich so seine ganz eigenen Bilder zu Worten und Texten. Illustratoren bringen diese inneren Bilder dann aufs Papier und oftmals kommen bei ihrer Arbeit mit Sprache ganz besondere Bilder dabei heraus und werden zu einem eigenen Kunstwerk. Wie in Regina Kehns Buch Das literarische Kaleidoskop.

Siebzehn Gedichte und kurze Texte von bekannten Autoren wie James Krüss, Joachim Ringelnatz, Theodor Storm, Rose Ausländer oder Friederike Mayröcker hat Kehn ausgesucht und in Bilder(-Geschichten) verwandelt. Mit dickem Pinselstrich schreibt sie die Texte direkt in ihre aquarellierten Illustrationen hinein oder stempelt sie auf Packpapier. Mit zarten Bleistiftstrichen zaubert sie die graue Stadt am Meer aufs Papier. Die Worte geraten aus den Fugen und vermitteln dem Betrachter und Leser eine Ahnung davon, was Poesie alles kann. Der arme Sauerampfer leidet zwischen den Bahngleisen, die Krähe verschüttet vor Ärger den Kaffee, das Hühnerding im Garten von Herrn Ming offenbart die Absurdität der Liebe.
Alltägliches und Kurioses wechseln sich hier ab und lassen das Herz aufgehen.
Manche Gedichte sind düster – sowohl in Wort, als auch im Bild. Doch genau das macht die Stärke dieser Anthologie aus. Gerade mit diesen nicht immer lieblichen Kunstwerken macht Regina Kehn auch junge Leser und Betrachter neugierig auf Kunst, Poesie und Literatur. Und die Verbindung, die sie eingehen können.

Wer mag, kann die Originaltexte im Anhang in der konservativen Druckversion und vollständig (Paul Zechs „Traum vom Balkon“) noch einmal lesen. Dann kann man versuchen, sich eigene Bilder zu schaffen, doch die faszinierenden Illustrationen von Regina Kehn tauchen wahrscheinlich vielen beständig vor dem inneren Auge auf. Denn ihre Bilder wird man so schnell nicht wieder los – was durchaus kein Nachteil ist.
Vor allem aber begreift der Betrachter und Leser, wie eng Schrift und Bild zusammengehören können. In solchen Glücksfällen gehen sie eine untrennbare Verbindung ein und schaffen etwas Neues, ganz Kostbares. Genau das ist es, was dieses Buch zu einem Kleinod macht, nicht nur für Kinder.

Regina Kehn: Das literarische Kaleidoskop, Fischer KJB, 2013, 224 Seiten, 16,99 Euro

Das überhetzte Rößlein

hesseIm vergangenen Juli verbrachte ich eine wunderschöne Urlaubswoche im Schwarzwald, inklusive Ausflüge nach Calw und Kloster Maulbronn. Da war es fast selbstverständlich, mir mal wieder Hermann Hesses Unterm Rad vorzunehmen. Jetzt bin ich endlich dazu gekommen.

Meine Erinnerung an die Schullektüre von vor ewigen Zeiten war eher düster und nicht gerade mit Wohlgefühl verbunden.  Mit der um Jahrzehnte erweiterten Leseerfahrung fand ich nun jedoch eine ganz andere Geschichte vor mir.
Sicher sie ist immer noch düster, aber meine Fähigkeit zur Empathie sind scheinbar ebenfalls angewachsen. Jedenfalls tat mir Hans Giebenrath einfach nur leid. Eingezwängt zwischen lauter alten Männern, die nur ihre eigene Eitelkeit befriedigen wollen, kann er sich nicht gegen den Druck wehren. Er lernt rund um die Uhr, selbst in den wohlverdienten Ferien büffelt er weiter, nur um im Priesterseminar eine gute Figur zu machen. Ob er da je hin wollte, hat ihn natürlich niemand gefragt. Und er hat sich natürlich nicht gewehrt. Das stand damals nicht zur Debatte.

Seine Gegenwehr ist folglich eine andere, eine passive. Heute erkennen wir darin das Burnout und den schleichenden Übergang in die Depression. Der Freund im Seminar nutzt ihn nur aus, das Mädchen im Dorf treibt ihr Spiel mit ihm, selbst in der Mechaniker-Ausbildung und beim Saufabend mit den Kollegen kann er nicht mithalten. Sein Vater ist enttäuscht von Hansens Scheitern und überfordert von der „Nervenkrankheit“ des Sohnes. Alles keine guten Voraussetzungen, um den schwierigen Übergang von Kindheit ins Erwachsenenleben zu bewältigen. Die Nöte des Jungen erkennt niemand. Sein Gang ins Wasser – freiwillig oder als Unfall – ist folglich nur konsequent.

Vor ein paar Wochen ging die Pressemeldung über die Freizeit der Deutschen durch die Medien. Eine knappe Stunde haben die Jugendlichen heute pro Tag weniger Zeit für sich. Mit Hesses Geschichte im Hinterkopf kommt einem das Schaudern, sind die Kinder und Jugendlichen heute doch schon so rundum in ihrem Alltag durchgetaktet, dass man sich wirklich fragt, wo sie die nötige Zeit zur Entspannung, zum Spielen, zum Ausprobieren finden. Krass und überzogen gesagt, könnte man den Eindruck bekommen, dass hier die nächste Generation an Burnout- und Depressionspatienten großgezogen wird. Nicht nur das Schicksal von Hans Giebenrath führt uns vor Augen, dass mangelnde Freiräume und übertriebener Ehrgeiz von Erziehungsberechtigten ein schlimmes Ende nehmen können. Falls Hesses Unterm Rad immer noch Schullektüre sein sollte, müsste man eigentlich dafür plädieren, nicht die Schüler damit zu quälen, sondern die Geschichte zur Pflichtlektüre für Eltern und Lehrer zu machen. Zum Wohl der Kinder.

Was mich neben dieser Aktualität von Hesses Text aus dem Jahr 1903 fasziniert hat, war die Sprache. Antiquiert zwar, mit altertümlichen Ausdrücken wie „Sacktuch“ und  „Putzpulverhändler“, aber so klar und auf den Punkt gebracht, dass mir ganz wohlig und heimelig dabei geworden ist. Wenn es so etwas wie eine entschleunigende Lektüre gibt, dann habe ich sie bei Hesse wiedergefunden. Was einfach sehr zu empfehlen ist.

Hermann Hesse: Unterm Rad, Suhrkamp, 2012, 260 Seiten, 9 Euro

Familiengeheimnisse

familieDie Sache mit der Familie ist schon ein Kreuz. Die Familie zieht einen groß, bringt einen ins Leben – und nervt oftmals so sehr, dass man nur noch davonlaufen möchte. Dabei sind es nicht immer nur die Eltern, die eine prägen und verletzen können, sondern auch die Geschwister. Wie tief die Familienbande das eigene Leben bestimmen, beschreibt Mirjam Pressler in ihrem neuesten Roman Wer morgens lacht.

Die 22-jährige Studentin Anne ist von ihrer Schwester Marie wie besessen, seit diese vor sieben Jahren mit fast 18 von Zuhause weggelaufen ist. Anne versucht, sich von der Schwester zu lösen, indem sie ihre Geschichte aufschreibt und später ihrer Mitbewohnerin Ricki erzählt. Heraus kommt dabei das Portrait einer deutschen Familie in einem Münchner Vorort, die von der Vertreibung der Großmutter aus dem Sudetenland geprägt ist. Die Enkelin Anne liebt ihre Omi, die in einer seltsamen Sprache redet und von der alten Heimat wie von einem Märchenland erzählt. Doch die Oma hat die jegliche Lebensfreude verloren und definiert das Leben von Frauen nur über Schmerzen. So kann sie den beiden Enkelinnen nur alte, düstere Moralsprüche wie „Wer morgens lacht und mittags singt, abends in die Hölle springt“ mit auf den Weg geben.
Anne ist fasziniert und abgestoßen zugleich. Doch lässt sie auf ihre Oma nichts kommen. Stattdessen sieht sie sich in ständiger Konkurrenz zur großen Schwester Marie, der die Eltern immer alle Wünsche erfüllen. Marie darf alles, bekommt alles, ist der Liebling des Vaters, während Anne die alten Kleider auftragen muss und nicht beachtet wird. Anne ist das Musterkind, das gute Noten bringt und keinen Ärger macht. Innerlich jedoch brodelt es in ihr.
Dann verschwindet Marie eines Tages, und die Familie schweigt. Der arbeitslose Vater sucht zwar seine Tochter in der Stadt, doch kommt es zu keiner Diskussion am heimischen Tisch, warum Marie diesen Schritt gegangen ist. Scheinbar wird nicht einmal getrauert. Anne flüchtet drei Jahre später nach Frankfurt, in ein Studium der Biologie, mit Schwerpunkt Pilze.

Mirjam Presslers Roman ist keine leichte Kost. Psychologisch fundiert und hintergründig lässt sie Anne aus der Ich-Perspektive die Familiengeschichte erzählen. Die intelligente Studentin thematisiert dabei immer wieder auch die Wahrnehmungsfilter, mit der sie als Betroffene den Verlust der Schwester Marie erlebt und erinnert. Die Erinnerung an reale Fakten verschmilzt dabei zum Teil mit den Geschichten, die sich die junge Anne ausgedacht hat, als die Schwester verschwunden war. Das Schweigen der Eltern bot ihrer Phantasie einen Nährboden, auf dem Horror- und Schundgeschichten gleichermaßen gedeihen konnten. Was Wahrheit, was Lüge, was Wunschdenken oder gar Schuld ist, verschwimmt für Anne immer mehr. Die Familie und ihre Geschichte ist wie ein Pilzgeflecht, das unterirdisch miteinander verbunden ist, selbst wenn an der Oberfläche nur Einzelpersonen wahrzunehmen sind.
Schließlich bringen das Gespräch mit ihrer Mitbewohnerin Ricki und ein Besuch bei den Eltern nach fast drei Jahren neue Erkenntnisse und die Einsicht, dass auch sie nicht alles von ihrer Schwester, ihren Eltern und ihrer Oma gewusst hat.

In Wer morgens lacht illustriert Mirjam Pressler geschickt die psychologischen Mechanismen von Familie, die sich über die Generationengrenzen hinaus auswirken.  In der Wissenschaft befasst sich die Epigenetik mit diesen Phänomen, also dass das Kriegsleid der Großeltern noch Auswirkungen auf das Leben der Enkel hat. Mirjam Pressler vermittelt genau das, ohne mit gentechnischem Fachwissen oder psychologischem Spezialvokabular zu verschrecken. Sie zeichnet ein Bild einer Familie in Deutschland, wie es viele gibt. Und sie zeigt ihnen, ohne den moralischen Zeigefinger zu erheben, dass offene Gespräche – auch Jahre später – reinigende Wirkung für alle Beteiligten haben können.

Das Einzige, was mich an diesem Text gestört hat, ist eine typographische Eigenart, die bei E-Literaten sehr beliebt ist. Die wörtliche Rede der Dialoge ist nicht durch Anführungszeichen markiert. Das mag jetzt pingelig erscheinen, doch stellt diese Art der Textgestaltung für mich ein Lesehindernis dar. Die inhaltlich schon schwierige und bedrückende Geschichte wird durch diese fehlenden Signale zu einem sperrigen Texterlebnis. Entsprechend lange habe ich für die Lektüre gebraucht.
Es mag ja sein, dass bei so einem gewichtigen Inhalt auch der Zugang gewichtig und schwierig sein sollte. Doch das hätte es meiner Ansicht nach gar nicht gebraucht. Warum ein zusätzliches Hindernis einbauen für ein so wichtiges Anliegen, das an sich doch vielen Menschen näher gebracht werden sollte? Das ist mir ein bisschen unverständlich. Und nur weil man das heute mal so macht, weil es – möglicherweise – intellektueller oder psychologischer rüberkommt, ist das für mich noch lange kein Grund, den Zugang zu einer Geschichte künstlich zu erschweren. Ich hoffe nur, dass das nicht allzu viele Leser verschreckt, denn sie würden eine ergreifende und nachdenklich machende Geschichte verpassen, die viel über den Menschen an sich, seine Ängste und seine Eigenarten erzählt.

Mirjam Pressler: Wer morgens lacht, Beltz, 2013, 264 Seiten, ab 14, 17,95 Euro

Poetik der Selbstfindung

sprache wasserManchmal spürt man bei Büchern bereits in dem Moment, in dem man sie in die Hand nimmt, dass sie etwas ganz Besonderes sind. Die Sprache des Wassers von Sarah Crossan gehört dazu: Leineneinband, Lesebändchen, poetisches Cover. Als ich es dann aufschlug, dachte ich zunächst, ich hätte mich geirrt und statt des erwarteten Romans eine Gedichtsammlung vor mir. Die Überraschung war total gelungen, denn Die Sprache des Wassers ist beides – ein Roman in Gedichtform.

Sarah Crossan erzählt darin die Geschichte der fast 13-jährigen Kasienka, die mit ihrer Mutter aus Polen nach England auswandert, auf der Suche nach dem Vater. Dieser hat aus ungenannten Gründen die Familie verlassen, womit sich die Mutter aber nicht abfinden will.
Kasienka muss sich nun ein Zimmer mit der Mutter teilen, in der Schule eine Klasse wiederholen, weil man ihr als Polin nichts zutraut. Die Mitschüler beachten sie nicht, Claire fängt an, sie zu mobben. Kasienka fühlt sich einsam, auch die Mutter ist ihr in ihrer Verzweiflung keine Stütze. Nur William nimmt sie wirklich wahr und macht ihr Mut, in das Schwimmteam der Schule einzutreten. Denn im Wasser fühlt sich Kasienka aufgehoben und ganz bei sich, im Wasser weiß sie, wer sie ist.
Als der Nachbar Kanoro, ein Kinderarzt aus Kenia, der in einem Krankenhaus als Putzkraft arbeitet, ihr eines Tages einen Zettel mit der Adresse des Vaters in die Hand drückt, findet Kasienka heraus, dass der Vater eine neue Familie hat. Das macht das Leben für sie nicht gerade leichter.

Crossan lässt Die Sprache des Wassers von Kasienka aus der Ich-Perspektive in freien Versen erzählen. Was sich anstrengend oder sperrig anhört, fängt einen mit seinem poetischen Ton von der ersten Zeile ein. Plätschernd wie Wasser eröffnen sich die Welten von Emigranten, die mit der Ablehnung der Einheimischen kämpfen müssen, von Familienkrisen, Trennung, Schulmobbing, Identitätskrise und erster Liebe.  Die klaren Sätze, wunderschön von Cordula Setsman ins Deutsche übertragen, berühren, auch durch ihre leisen Töne. Dennoch ersparen sie einem nicht die Wucht der schrecklichen Erfahrungen, die Kasienka auf dem Weg ins Erwachsenenleben machen muss. Die Lektion, dass sie nicht für das Unglück ihrer Mutter verantwortlich ist und ihren eigenen Weg gehen muss, hätte schöner kaum verpackt werden können.

Sarah Crossan: Die Sprache des Wassers, Übersetzung: Cordula Setsman, mixtvision, 2013, 232 Seiten, ab 14 , 13,90 Euro

Mehr Momo sein …

momoJubiläen sind was Tolles. Ich entdecke dabei jedes Mal Dinge wieder, an die ich oftmals sehr lange nicht gedacht habe. In diesen Tagen ist es Momo von Michael Ende. Denn Momo feiert ihren 40. Geburtstag – wenn man das für eine Romanfigur so sagen kann.

Ihr zu Ehren habe ich also meine alte Ausgabe aus dem Regal gezogen und mich wieder in das antike Amphitheater versetzt – und gestaunt.
Als ich Momo das erste Mal gelesen habe, war ich bereits erwachsen und studierte gerade Philosophie. Dementsprechend philosophisch fand ich Endes Text über die Zeit und die Zeit-Diebe.
Daran hat sich nach der aktuellen Lektüre nicht viel geändert, doch habe ich jetzt noch so viele andere Dinge entdeckt, die meine Verehrung für Michael Endes visionäres Gespür und Genie noch weiter steigern. Denn Momo merkt man ihre vierzig Jahre eigentlich nicht an. Die Dinge, die Ende dort beschreibt, finden sich aktuell noch genauso: Die Städte sind voll von „Seelensilos“ und Schnellrestaurants, die „Kinder-Depots“ nennen sich heute Ganztagsschulen (die aber zum Glück nicht so düster sind wie im Buch), die „vollkommene Puppe“ kommt momentan in Form von XBox und Smartphone in fast jedem Haushalt vor. Die Buchbranche ist voll von all den „albernen und rührseligen“ Geschichten, mit denen Gigi Fremdenführer Karriere macht und sich von seiner ursprünglichen Kunst des Erzählens entfremdet. Die grauen Herren gehören momentan wohl zur Kaste der „Selbstoptimierer“, die über Apps und Computer so sehr an der eigenen „Performance“ arbeiten, bis wahrscheinlich nur noch ein Burnout sie wieder auf ein menschliches Maß zurückholen kann.
Menschen wie Momo dagegen sind heute eher selten zu finden. Zuhören, sich Zeit nehmen für die andern und achtsam mit sich selbst umgehen sind selten gewordene Tugenden. Die Logorrhö, mit der wir uns analog und virtuell immer mehr präsentieren und vermarkten, lässt kaum noch Raum für das, was Momo ihren Freunden schenkt: ungeteilte Aufmerksamkeit.

Doch die können alle gebrauchen – die Kinder genauso wie die Erwachsenen. Genau aus diesem Grund ist für mich Michael Endes Klassiker nicht nur ein Kinderbuch, sondern Belletristik für jedes Alter. Denn in jedem Alter entdeckt man in dieser Geschichte immer wieder neue, immer höchst aktuelle Aspekte, die Wegweiser und Ratgeber durch das eigene Leben sein können.
Nach dieser so bereichernden Lektüre nimmt man sich automatisch vor, ein bisschen mehr wie Momo zu werden. Denn das, was man den anderen an Aufmerksamkeit schenkt, bekommt man genauso wieder zurück. Und dieser Zugewinn an Lebensqualität und Lebenszeit ist einfach unbezahlbar.

Ich werde meine alte Retro-Taschenbuch-Ausgabe in den kommenden Jahren auf jeden Fall erneut konsultieren. Für alle, die Momo jetzt erst entdecken, gibt es eine Jubiläumsausgabe mit einem wunderschönen neuen Cover und neuen Illustrationen von Dieter Braun. Möge Momo in ihrer Zeitlosigkeit so auch noch in den nächsten Jahrzehnten unzählige Leser und Fans gewinnen, die den grausamen Zeit-Dieben – in welcher Form auch immer sie auftreten – den Garaus machen.

Michael Ende: Momo. Oder Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte.  Ausgezeichnet mit dem Deutschen Jugendbuchpreis 1974, Thienemann Verlag, 2013, 304 Seiten,  ab 12, 19,95 Euro

Das Leben ist (k)ein stinkender Kanal

fische fütternEine gute Geschichte legt auf den ersten Seiten einen Köder aus. Einen Köder, den der Leser schluckt und der ihn dann bei der Stange hält. Einen extrem guten Köder gibt es in der Geschichte Fische füttern von Fabio Genovesi.

Der anfangs 14-jährige Protagonist Fiorenzo geht mit seinen Freunden Stefano und Silvia in dem öden toskanischen Kaff Muglione fischen. Doch diesmal nicht wie gewöhnlich mit der Angel, sondern mit einem Megaböller. Damit wollen sie das angebliche Kanalmonster erlegen. Den Megaböller haben sie aus sechs Böllern, „Modell Magnum, Profiqualität“, zusammengebaut und gut mit Isolierband umwickelt. Fiorenzo soll den Böller werfen, vorher jedoch bis zehn zählen, damit die brennende Lunte im Wasser nicht absäuft. Bei acht explodiert der Böller.

Den Rest der Geschichte, die fünf Jahre später spielt, berichtet Fiorenzo als Ich-Erzähler folglich einhändig. Seine aussichtsreiche Radsportkarriere fand nach dem dramatischen Böller-Vorfall ein jähes Ende, sein Vater und Trainer ist am Boden zerstört, nicht so sehr wegen der fehlenden Hand des Sohnes, als wegen des verpassten Ruhms als Radsportler. Fiorenzo ist so was wie der Loser schlechthin. Nichts in seinem Leben scheint glatt und erfolgreich zu verlaufen. Seine Mutter starb unvermittelt mit 43. In der Schule versaut er sich kurz vor dem Abi sämtliche Noten, mit seiner Band „Metal Devastation“ wird er auf einem Schülerband-Konzert von der Bühne gebuht, noch bevor er einen Ton singen konnte. Als sein Vater dann den radsportbegabten Teenager Mirko aus Molise bei sich aufnimmt und trainiert, verliert Fiorenzo auch noch sein Zuhause.

Der kleine Champion, wie Mirko nur genannt wird, gewinnt jedes Radrennen. Ein Naturtalent sozusagen. Der Vater platzt vor Stolz. Und Fiorenzo zieht wütend in die Kammer des väterlichen Anglerladens und schläft zwischen nagenden Würmern, die als Fischfutter dienen. In seiner Wut trichtert er Mirko, der dem Anschein nach nicht besonders helle ist und Nachhilfe bei Fiorenzo nimmt, eine perverse Interpretation eines D’Annunzio-Gedichtes ein.
Diese wiederum ruft die 32-jährige Tiziana auf den Plan, eine Akademikerin, die im Ausland hätte Karriere machen können, doch aus Liebe zu einem Typen in ihr Heimatdorf zurückgekehrt ist. Der Typ allerdings hat mittlerweile Frau und Kind, und nun sitzt Tiziana allein im Büro der Jugendinfo des Dorfes, in das sich nie ein Jugendlicher verirrt und das stattdessen von vier alten Herren als Treffpunkt und Bar „missbraucht“ wird. Nebenbei gibt sie Mirko Englischnachhilfe, tröstet ihre Mitbewohnerin und betreibt einen Blog, der jedoch nur von drei Menschen gelesen wird.
Als Mirko ihr von der D’Annunzio-Interpretation erzählt, sucht Tiziana Fiorenzo auf, damit dieser dem Jungen nicht solche Flausen in den Kopf setzt. Zwischen Tiziana, die sich selbst für eine blöde Kuh hält, und Fiorenzo entspinnt sich eine Liebesaffäre, die ihren Höhepunkt in einer skurril-schönen Fast-Sex-Szenen hat.

Während Fiorenzo weiterhin alles versucht, um Mirko aus dem Leben des Vaters zu verjagen, landen die vier Alten der Jugendinfo in der Lokalpresse, weil sie einen Raubüberfall verhindert und daraufhin eine Bürgerwehr gegründet haben. So wollten sie sich gegen eine altenfeindliche Jugendbande schützen, behauptet einer der vier, allerdings mehr aus Jux, weil er schlecht geschlafen hat.
Diese Behauptung nehmen die Bandkollegen von Fiorenzo nun wiederum zum Anlass, Altenfeindliche Parolen an Dorfwände zu schmieren und die eine symbolische Senioren-Puppe am Friedhof aufzuhängen. Die Bürgerwehr schreitet ein und das Unheil nimmt seinen Lauf.

Nach der Lektüre des Romans Fische füttern,  den das bewährte Übersetzer-Team Rita Seuß und Walter Kögler überaus schmackhaft eingedeutscht hat, kann man nicht mehr behaupten, auf dem Land in der Toskana läge der Hund begraben. Zwar handelt es sich bei Muglione nicht um das Idyll mit Hügeln und Zypressen und Weinbergen, sondern um ein hässliches Dorf bei Pisa mit stinkenden, trüben Kanälen, einer Müllhalde und jeder Menge Langeweile, und doch tobt hier das Leben auf seine ganz besonderes skurrile und schräge Art. Das beweist Fabio Genovesi, indem er geschickt verflochten und aus verschiedenen Perspektiven vom Erwachsenwerden der drei jungen Menschen – Fiorenzo, Mirko und Tiziana – berichtet, die mit Schicksalsschlägen, falschen Entscheidungen, Talent, Unsicherheit, Blauäugigkeit, Unwissenheit, Dummheit, Mut und Eigensinn ihren Weg ins Erwachsenenleben finden. Genovesi bricht dabei mit einigen konventionellen Ansichten, lässt die 32-Jährigen durchaus mit einem 19-Jährigen zusammenkommen, macht nebenbei einen schwulen Photoshop-Experten zum Papstberater und verteufelt Italo-Rock. Diese Dinge konterkarieren das gängige klischeehafte Italienbild in unserem Land ganz wunderbar. Das ist nicht die liebliche Toskana; das ist nicht die heile Welt; das ist nicht die klassische Liebesgeschichte; das ist das ganze, dreckige, aussichtslose Elend, das die jungen Italiener gerade erleben, denen dann oftmals nur noch die Emigration bleibt. Das ist zwar alles andere als schön, aber das auf diese komisch-ironische Art zu lesen tut verdammt gut. Denn die Helden von Fische füttern zerbrechen trotz aller Rückschläge und Zweifel nicht, sondern strahlen einen Lebensmut und eine Lebenslust aus, die ansteckend wirkt und einen das schätzen lässt, was man sonst als selbstverständlich übersieht.

Wer das Idealbild von Italien liebt, wird dieses Buch hassen. Wer Italien liebt, wird auch dieses Buch lieben. Ich jedenfalls liebe es.

Fabio Genovesi: Fische füttern, Übersetzung: Rita Seuß und Walter Kögler, Lübbe Verlag, 2012, 430 Seiten, 19,99 Euro (9,99 Euro als Taschenbuch demnächst)

Die Stille im Bunker

flughundeEs ist eine gefühlte Ewigkeit her, dass ich Marcel Beyers Flughunde gelesen habe. Das muss gleich nach dem Erscheinen im Jahr 1995 gewesen sein. Jetzt habe ich die Geschichte vom seltsamen Stimmen- und Geräuschesammler Hermann Karnau in der Graphic-Novel-Version von Ulli Lust noch einmal gelesen.

Es ist keine leichte Lektüre, aber das war es bei der Romanversion auch schon nicht. In zumeist monochromen, sehr düsteren Panels, die nur hin und wieder von lichten Szenen unterbrochen werden, entwickelt Ulli Lust den Horror, der sich mit und um Hermann Karnau und die Familie Goebbels abspielt.
Als Tontechniker ist Karnau mit dafür verantwortlich, dass die Reden von Propagandaminister Goebbels glasklar und überzeugend bei den Zuhörern ankommen. Daneben sammelt er alle möglichen Geräusche, Töne und Laute, auf der Suche nach dem perfekten Urlaut des Menschen. Dafür schreckt er auch vor grausamen Menschenversuchen und Folter nicht zurück. Durch seine Tätigkeit für das NS-Regime gerät Karnau in den inneren Kreis der Familie Goebbels und lernt in deren Sommerhaus am Bogensee auch die sechs Kinder kennen. Zur Erzählperspektive von Karnau fügt sich die von Helga, der ältesten Tochter. Immer tiefer wird der Leser und Betrachter in die Parallelwelt der Goebbelskinder gezogen. Draußen herrscht Krieg, doch davon bekommen die Kinder scheinbar nicht viel mit. Nur in ihren grausamen Spielen zeigt sich, dass die Atmosphäre von Gewalt und Menschenverachtung auch in das Kinderzimmer vordringt. Und Helga ist groß genug, den Reden des Vaters folgen zu können. Sie beginnt die Bedrohnung für das eigene Leben zu erahnen.

Im Laufe der Zeit rücken die Bomben und das Grauen immer näher. Die Familie zieht in den Führerbunker. Karnau ist dort ebenfalls untergebracht, um die letzten Äußerungen Hitlers aufzuzeichnen. Jahre später wird er als alter Mann die Schellackplatten wieder anhören und die Stimmen der Kinder neu entdecken. Dass die Kinder den Führerbunker nicht mehr verlassen haben, ist hinlänglich bekannt. Doch aus Karnaus Perspektive entspinnt sich ein Rätsel darum, wie die Kinder tatsächlich zu Tode gekommen sind.

Die Visualisierung durch Ulli Lust führt dem Betrachter den skrupellos-verschrobenen Wahnsinn Karnaus sowie das Grauen der letzten Tagen des Nazi-Regimes überaus plastisch vor Augen. Der Krach des Kriegs rückt einem durch die Soundwords genauso auf die Pelle, wie die schlechte Luft bei einer elendig langen Goebbels Rede, die bei Helga Atemnot und Beklemmung auslöst. Die Bilder machen das Leid von Helga fast physisch erlebbar.
Im Bunker schließlich, wo ständig die Lüftungsanlage rattert, bannt Karnau auch die letzten Minuten der Kinder auf Schellack. Als ihr Atem verklingt, breitet sich eine fast greifbare Stille aus: „Es herrscht absolute Stille, obwohl die Nadel noch immer auf der Rille liegt.“ Das ist wahrscheinlich der ergreifendste letzte Satz eines Romans, der mir je untergekommen ist. Und in Kombination mit der schwarzen, leeren Sprechblase einfach atemberaubend.

Ulli Lusts Flughunde ist so vielschichtig und vielgestaltig, dass einmaliges Lesen nicht reicht, um dieses Meisterwerk in seiner gesamten Dimension zu erfassen. Das mag eine Freude sein, weil man länger etwas von dem Buch hat. Doch muss man sich auch dem Schrecken noch ein weiteres Mal stellen.
Mich jedenfalls machte die Lektüre neugierig, wie der Transfer von Roman zu Graphic Novel vor sich gegangen ist. Freundlicherweise hat mir Ulli Lust einen kleinen Einblick in ihre Arbeit an Flughunde gewährt, indem sie mir ein paar Fragen dazu beantwortet hat. Dafür bedanke ich mich ganz herzlich bei ihr.

Warum wollten Sie gerade diesen Roman als Graphic Novel umsetzen?
Die Geschichte der Goebbelskinder aus der Innenperspektive hat mein Interesse geweckt, und die düstere atmosphärische Sprache des Textes war äusserst reizvoll.

Wie sind Sie an den Stoff herangegangen?
Zuerst habe ich mich gefragt, was kann ich diesem fertigen Werk hinzufügen. Ist es möglich, eine eigene Interpretation zu bieten? Dann habe ich den Text in seine Einzelteile zerlegt und wieder neu zusammengesetzt. In der Struktur folge ich dem Roman, auch weil die chronologische Abfolge wichtig ist, aber ich musste sehr viel streichen. Was kann ich weglassen, war also eine der wichtigsten Fragen am Beginn der Arbeit.

Wie haben Sie die Textauswahl getroffen?
Ich habe zuerst die Stellen markiert, die unerlässlich sind.

Haben Sie sich mit Marcel Beyer beraten?
Nein. Er hat mir freie Hand gelassen. Er kannte meinen vorigen Comic und hat mir vertraut.

Gab es Vorgaben von Verlagsseite?
Nein.

Wie konzipieren Sie eine Szene bzw. eine Seite mit den Panels?
Schwer zu beantworten. Nach den Erfordernissen der Szene. Jede Seite ist ein kleiner dramaturgischer Bogen innerhalb der Gesamtchoreographie, idealerweise mit einem kleinen Abschluss am Ende der Seite.

Arbeiten Sie am Computer oder mit Stift und Papier?
Die Linienzeichnung zeichne ich mit Bleistift, also analog, ebenso die Farben mit Aquarell auf einem Extrablatt. Beides wird am Computer zusammengefügt.

Wie würden Sie Ihren Stil beschreiben?
Unaufgeregt.

Wie ist das Farbkonzept für Ihre Graphic Novel entstanden?
Die Farbigkeit spiegelt die Stimmung der jeweiligen Szenen. Es sind keine naturalistischen Farben.

Mit welchem Bildmaterial als Vorlagen haben Sie gearbeitet?
Alles, was ich an Foto- und Filmmaterial aus den Jahren 1938 bis 45 finden konnte. Die Goebbelskinder wurden häufig gefilmt und fotografiert – für damalige Verhältnisse.

Was hat Ihnen bei der Visualisierung des Romans die größten Schwierigkeiten bereitet?
Die Massenszenen im Stadion hat der Romantext sehr detailversessen beschrieben, im Comic musste ich mich auf wenige Szenen beschränken.

Auf was mussten Sie verzichten?
Auf den grössten Teil des inneren Monologs des erwachsenen Protagonisten.

Wie lange haben Sie an Flughunde gearbeitet?
Zwei Jahre.

Haben Sie schon ein neues Projekt?
Ja, aber dafür nehme ich mir mehr Zeit. Reden wir darüber in 3 Jahren.

Gerne. Ich bin jetzt schon gespannt…

Ulli Lust: Flughunde, Graphic Novel nach dem Roman von Marcel Beyer, Suhrkamp, 2013, 364 Seiten, 24,99 Euro

Die Wunden der Vergangenheit

familieVor vielen Jahren war eine italienische Freundin von mir mit einem Israeli zusammen. Nichts Ungewöhnliches. Nur immer wenn ich die beiden in Italien traf, überkam mich eine seltsame Befangenheit. Der junge Mann war immer nett zu mir, aber auch merkwürdig distanziert. Es war offensichtlich, dass die deutsche Schuld an der Shoah unser Verhältnis trübte. Wir haben es bei unseren Treffen nicht geschafft, über die Geschehnisse von damals, den Wandel der jungen deutschen Generationen, diese Distanz und diese Beklemmung im gegenseitigen Umgang miteinander zu reden. Die Schatten der Vergangenheit reichten bis zu uns, ohne dass wir sie wirklich fassen konnten.

Von einer ähnlichen Sprachlosigkeit, allerdings in wesentlich dramatischer und zugespitzterer Art, erzählt der israelische Autor Avram Kantor in seiner ergreifenden Familiengeschichte Schalom.
Die greise Nechama trauert ihrem vor Jahren verstorbenen Mann Menachem nach und führt ein ziemlich einsames Leben in Haifa, denn ihre beiden Söhne wohnen nicht in der Stadt. Avri, der Älteste, ist mit seiner Frau nach Eilat gezogen, Jaki ist vor über zwanzig Jahren einer Deutschen nach München gefolgt. Seitdem hat Nechama keinen richtigen Kontakt mehr zu ihrem Jüngsten. Ihr Mann hatte einst das Gebot ausgegeben, dass kein Deutscher je ihr Haus betreten dürfe. Und daran hält sich Nechama auch nach seinem Tod. Die Schwiegertochter nennt sie nur „die da“, ohne sie überhaupt zu kennen. Der Hass auf die Deutschen hat sich tief in ihre Seele gebrannt, nachdem sie die Shoah überlebt und Menachem sie damals gerettet hat.

Doch nun kündigt sich ihr deutscher Enkel Gil an. Er will seinen Zivildienst in Israel in einem Altersheim ableisten – und auch bei der Großmutter vorbeischauen, die er nicht kennt. Nechama ist hin- und hergerissen, ob sie den jungen Mann einlassen soll oder nicht. Noch während sie hadert, steht Gil plötzlich vor der Tür – und Nechama trifft fast der Schlag, als sie meint, ihren Menachem wieder vor sich zu haben. Sie „verliebt“ sich stante pede in den Jungen, der seinem Großvater wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Nechama hofft, dass Gil sie nun öfter besuchen kommt. Ihre sicher geglaubte Überzeugung wird auf eine harte Probe gestellt.

Dann macht Gil mit einem deutschen Freund einen Ausflug, sagt aber niemandem, wohin er fährt. Als ein Bus verunglückt und ein toter Tourist nicht identifiziert werden kann, breitet sich Sorge in Nechamas Familie aus. Avri telefoniert seinem Neffen hinterher, redet mit dem Altersheim und der Polizei, Jaki reist mit seiner Frau aus Deutschland an, um der Polizei Genmaterial von Gil zu bringen. Nechama, die in ihrem greisen Alter nicht alle Zusammenhänge versteht, stürzt sie in die nächste Unsicherheit, denn „die da“ ist dabei, und Nechama wird sie treffen. Die Sorge um Gil führt die Familie in Eilat zusammen.

Avram Kantor erzählt diese Geschichte aus vier verschiedenen Perspektiven (von Nechama, Avri, Jaki und einem alten Nachbarn Nechamas). Er bleibt dabei sehr eng bei der jeweiligen Figur, so dass man als Leser immer nur das Wissen und die Gefühlslage der gerade erzählenden Person erfährt. Großartig schildert er Nechamas Denken als greise Frau, die in ihrer eigenen Welt lebt, wo Fantasie und Realität schon mal verschwimmen, mit Menachem Gespräche führt und der modernen Welt nicht mehr ganz folgen kann (dass beispielsweise die Telefonverbindung zwischen Israel und Deutschland glasklar ist, verwundert sie sehr).
Kantor fügt die verschiedenen Stimmen nach und nach zu einem Plot zusammen, der nicht alles verrät und durchaus Leerstellen zulässt. Das Trauma, das Nechama und Menachem während der Shoah erlebt haben, wird nur angedeutet und nicht auserzählt. Denn die beiden hatten beschlossen, nie über ihre Erlebnisse zu sprechen. Und ihre Söhne hatten nie das Bedürfnis, danach zu fragen – wie das eben so ist zwischen den Generationen, wo sich die Jungen nicht zwangsläufig für das Schicksal der Eltern interessieren. So erfährt der Leser nicht, was sich damals konkret zugetragen hat.
Zu drängend sind aber auch die aktuellen Probleme in Israel, die durch Avris Sorgen um den eigenen Sohn Guy thematisiert werden. Guy dient in der israelischen Armee und ist in den besetzten Palestinänser-Gebieten ständiger Gefahr ausgesetzt. So trägt jede Generation der Familie ihr Paket an Angst mit sich und ist nicht in der Lage, offen darüber zu sprechen. Die Beklemmung, die sich über Nechamas Familie legt, erzählt Kantor meisterhaft. In Kombination mit der feinfühligen Übersetzung der Grand Dame der Hebräisch-Übersetzungen, Mirjam Pressler, überträgt sich diese unmittelbar auf den Leser, der mit Gils Großmutter, Eltern und Verwandten mitleidet. Die Sorgen um Kind, Enkel, Neffe werden real.

Neben diesem Familiendrama wird zudem deutlich, wie die deutsche Geschichte und die Shoah immer noch nachwirken und sich wie ein Riss durch die Familie ziehen. Der Schrecken von damals war so immens, dass es keine Wort dafür zu geben und der Hass unüberwindlich scheint. Dennoch fordert Kantor zum Dialog auf. Vor allem zum Dialog zwischen den Generationen: Die Opfer sollen erzählen, denn diese Generation stirbt nun immer schneller aus; die Kinder sollen fragen, was passiert ist, damit sie auch ihren Kindern bzw. den Enkeln berichten können. Denn so ein Dialog erklärt mit unter Familienkonstellationen und -konflikte, bewahrt die Erinnerung und trägt zum Verständnis bei, nicht nur der Generationen, sondern auch der Nationen. Womit einer Wiederholung der Geschichte ein Riegel vorgeschoben werden könnte.

Avram Kantors Schalom erzählt den jungen Lesern nicht, was in der Shoah passiert ist, er zeigt jedoch eindringlich, wie sich die Schrecken von vor über 70 Jahren bis in die heutige Zeit fortsetzen. Gerade auch durch diesen Bezug zur Gegenwart lässt sich über dieses herausragende Buch intensiv diskutieren und den nachkommenden Generationen die aktuelle deutsch-israelische Beziehung erklären.

Avram Kantor: Schalom, Übersetzung: Mirjam Pressler, Hanser, 2012, 237 Seiten, ab 12, 15,90 Euro

Der Verlust der Unschuld

militärdiktaturDieses Jahr ist es 30 Jahre her, dass in Argentinien die Militärdiktatur endete. Ich muss zugeben, dass ich von den Vorgängen dort nicht sehr viel weiß, aber ein Buch hat es geschafft, mein Interesse für dieses Thema zu wecken. Und das auf eine ganz behutsame und fast leise Art.

Der Jugendroman Wie ein unsichtbares Band von Inés Garland, hervorragend übersetzt von Ilse Layer, erzählt die Geschichte der jungen Alma in den 1970er Jahren. Das Mädchen wächst in Buenos Aires in einer behüteten Familie der Mittelschicht auf. An den Wochenenden fährt sie mit ihren Eltern zu einem kleinen Häuschen auf einer Insel im Delta des Rio de la Plata. Hier geht es entspannt und idyllisch zu, und Alma freundet sich mit den Nachbarskindern Carmen und Marito an, die bei ihrer Großmutter leben. Carmen wird zu ihrer Vertrauten, in Marito verliebt sie sich auf den ersten Blick. Doch es soll Jahre dauern, bis die beiden für kurze Zeit zusammenfinden. Denn Alma kommt immer nur am Wochenende und versucht, während der Woche Anschluss an ihre Mitschüler in der Stadt zu finden. Das gelingt ihr nicht. Und spätestens nach der ersten Party merkt sie, dass sie die Außenseiterin ist und mit den wirklich reichen Jugendlichen nicht mithalten kann.
Umso mehr zieht es sie zu Carmen und Marito. Aber der Junge, der ein paar Jahre älter ist als sie, bewegt sich in ganz anderen Kreisen, liest andere Literatur, hat andere Ansichten über die Gesellschaft. Sein Zimmer ist vollgestopft mit Büchern.Ohne dass er wirklich sagt, dass er zum linken Lager gehört, beeinflusst er immer mehr Almas Denken. Sie lehnt sich gegen die Vorstellungen ihrer Eltern und der katholischen Schule auf. Als Marito auf die Uni gehen will, verlässt er die Insel. Alma ist in Gedanken immer bei ihm. Während dieser Zeit kommt es nach einer Party, die Alma für ihre Mitschüler aus der Stadt auf der Insel gibt, zum Bruch mit Carmen. Denn Alma ist so zwischen den Welten hin und her gerissen, dass sie es nicht schafft, vor den anderen zu Carmen zu stehen.  Auch Carmen verlässt schließlich die Insel und heiratet ihren Freund Emil.

1976 putscht sich das Militär an die Macht, doch in Almas Alltag ändert sich zunächst nicht viel. Das Mädchen ist bis dahin völlig unpolitisch. Aber dann verschwindet die Sozialkundelehrerin, und der Vater rät Alma, vorsichtig zu sein und sich aus der Politik herauszuhalten. Mit der Zeit merkt sie immer mehr, wie sich die Gesellschaft verändert. Angst breitet sich aus. Nach einer Party wird sie mit einem Klassenkameraden auf dem Nachhauseweg von der Polizei angehalten. Der Polizist, der sie abtastet, belästigt sie sexuell und demütigt sie. Alma erzählt niemandem von diesem Erlebnis. Doch nun fallen ihr immer öfter seltsame Männer in großen Wagen auf, die scheinbar ziellos durch die Straßen fahren.
Marito kehrt auf die Insel zurück. Die beiden finden zusammen, treffen sich fortan auch in Buenos Aires, ohne das Wissen von Almas Eltern, die den Umgang mit dem Jungen nicht passend finden. Als die Eltern für ein paar Tage nach Miami fahren, lädt Alma Marito endlich zu sich nach Hause ein. Sie genießen die Zweisamkeit, schlafen zum ersten Mal miteinander. Dann geht Marito telefonieren – aus einer Telefonzelle, denn er will nicht von Almas Apparat anrufen. Warum sagt er ihr nicht. Marito kehrt nicht zurück. Alma schwankt zwischen Hoffnung, dumpfer Angst, dem Glauben, dass es eine logische Erklärung für sein Fortbleiben gibt. Doch Marito bleibt verschwunden. Auch als Alma zum ersten Mal zu Maritos Vater fährt, um sich dort nach dem Geliebten zu erkunden, erhält sie keine Antwort.
Stattdessen taucht Carmen bei ihr in Buenos Aires auf. Sie hat Angst und ist schwanger. Sie will ein paar Tage bei Alma untertauchen, verschweigt aber die Gründe. Kurz darauf wird ein Onkel von Carmen und Marito auf offener Straße erschossen. Carmen taucht unter, Alma wird sie nie wiedersehen. Auch Marito kehrt nicht zurück. Bei einem zweiten Besuch bei Maritos Vater erfährt Alma, dass Männer Marito geschnappt und noch im Haus vor den Augen des Vaters zusammengeschlagen und gefoltert haben. Und auf der Insel brennen Maritos Bücher.

Inés Garland hat mit Wie ein unsichtbares Band einen eindrucksvollen und feinfühligen Roman über die Jugend und das Erwachsenwerden in einer Militärdiktatur vorgelegt. Von der idyllischen Kindheit auf der Insel im Delta, wo das Leben scheinbar genauso gemächlich dahinfließt wie der Fluss, entwickelt sich das Buch zu einer beklemmenden Coming-of-Age-Geschichte, in deren Verlauf die Protagonistin von dem unpolitischen Mädchen zu einer Beobachterin der gesellschaftlichen Veränderungen wird. Die historischen und politischen Fakten der Militärdiktatur in Argentinien spricht die Ich-Erzählerin Alma, die in einem Rückblick von ihrer Jugend erzählt, nur ein einziges Mal konkret an. Sie schildert in erster Linie die Stimmung und die Wahrnehmungen, die sie in den 70er Jahren als Tochter der Mittelschicht von ihrer direkten Umwelt hatte. Die Arbeiter- und Studentenwelt, in der sich Marito bewegt, bleibt ihr verschlossen. Marito erzählt ihr nicht, was er macht. Beim Leser entsteht so ein vages Unbehagen und die Vermutung, dass der Junge zu den verfolgten Oppositionellen gehört.

Das politische Erwachen Almas geht mit ihrem sexuellen einher und ist eng mit Marito verbunden. Doch zwischen den gesellschaftlichen Schichten, die hier aufeinandertreffen, herrscht im Grunde eine große Sprachlosigkeit. Das liegt zum einen daran, dass Marito Alma in Gefahr bringen würde, wenn er ihr von seinen Aktivitäten erzählen würden. Zum anderen können sie die Kluft zwischen ihren beiden Welten, symbolisiert durch den Kanal zwischen ihren Häusern auf der Insel, nicht überwinden.
Auch mit Carmen kann Alma nicht mehr sprechen, als diese unvermittelt bei ihr auftaucht. Sie haben keine gemeinsame Sprache, keine gemeinsame Geschichte und auch keine Erfahrung darin, sich mitzuteilen. Die Autorin bleibt meisterhaft in der Perspektive von Alma, der viele Vorgänge in ihrer Umgebung einfach verborgen bleiben, weil sie sich in einer anderen Welt bewegt. Für den Leser bedeutet diese strenge Perspektive, dass viele, sehr viele Fragen auftauchen und offen bleiben. In einem Crescendo aus subtiler Verfolgung und gewalttätiger Todesschwadrone gewinnt die Geschichte auf den letzten dreißig Seiten so sehr an Dramatik, dass es kaum zu ertragen ist. Doch gerade die vielen offenen Fragen machen neugierig, sich auf die Suche nach Erklärungen für diese düsteren Ereignisse zu machen.

Inés Garland ist ein tiefgründiges und sehr poetisches Buch über eine Jugend in einem Terrorregime gelungen. Der Kontrast von Idylle und Schrecken könnte nicht größer sein. Und der regt ungemein an, sich mit diesem Kapitel der Argentinischen Geschichte zu befassen – denn die wirklich große Frage bleibt, wie man sich selbst an Alma Stelle verhalten hätte.

Um wenigsten noch ein bisschen mehr über Argentinien und seine Geschichte zu erfahren, habe ich Inés Garland zu ihrem Buch befragt und wie die Argentinier mit ihrer belastenden Vergangenheit umgehen. Sie hat sehr offen und ausführlich geantwortet.

Inés Garland, wie viel Autobiografisches steckt in Ihrem Roman?
In den meisten meiner Geschichten verwebe ich Autobiographisches und Fiktion zu einem verschlungenen Bild: Wenn ich mir überlege, mit einer fremden Erfahrung zu beginnen, machen meine eigenen Gefühle sie persönlicher; und wenn ich mit etwas Persönlichem beginne, verfremde ich im Schreibprozess meine Erfahrungen durch Elemente, die für meine Fiktion wichtig sind.
Die Geographie ist mir immer sehr vertraut, und Wie ein unsichtbares Band spielt in der Landschaft meiner Kindheit und Jugend. Als ich jung war, bin ich sehr oft auf die Inseln in der Nähe von Buenos Aires gefahren.
Der historische Hintergrund ist ebenfalls autobiographisch: Ich war sechzehn, als der Militärputsch stattfand und meine Eltern und mein soziales Umfeld auf die gleiche Art reagierten wie Almas Eltern. Ich bin die älteste von vier Schwestern, und wir hatten Nachbarn, die ihr ganzes Leben auf den Inseln verbracht haben, aber das waren alles Erwachsene und keine Kinder in meinem Alter, also hatte ich dort keine Freunde oder Freundinnen.
Die Figuren im Roman sind meiner Fantasie entsprungen, obwohl ich die meisten Gefühle, die ich beschreibe, sehr gut kenne. Ich könnte auf diese Frage sehr ausführlich antworten, wenn ich alles aufzeigen sollte, was autobiographisch ist. Generell kann man sagen, dass die Landschaft und die meisten Gefühle, die diese Geschichte beherrschen, autobiographisch sind, während die Charakter und das Meiste, was ihnen zustößt, Fiktion ist. 

Wie lange haben Sie an diesem Buch gearbeitet?
Das weiß ich nicht genau. Die ersten Ideen habe ich fünf Jahre vor dem Abschluss des Buches notiert, vielleicht sogar noch früher. Das reine Schreiben hat vier Jahre gedauert. Ich arbeite langsam.
Anfangs dachte ich, es würde eine Kurzgeschichte über die Freundschaft von Alma und Carmen werden, doch als Marito im zweiten Kapitel auftauchte, wuchs die Story zu einem Roman heran. Nach Abschluss des ersten Teils habe ich monatelang nichts geschrieben. Ich wollte mich mit meinem Geschriebenen nicht auseinandersetzen.

Wie haben Sie die Militärdiktatur (Proceso de Reorganización Nacional), die von 1976 bis 1983 dauerte, erlebt?
Zuerst muss ich darauf hinweisen, dass die Militärs den Begriff „Proceso de Reorganización Nacional“ („Prozess der Nationalen Reorganisation“) eingeführt haben. Das war kein „Prozess“, und es hat auch nichts „reorganisiert“. Das ist ein Beispiel dafür, wie die Sprache in solchen Zeiten euphemistisch wird und die Wahrheit verschleiert.
Ich war, so wie Alma, ein Teenager der gehobenen Mittelklasse und ging auf eine katholische Schule. Meine Eltern glaubten, dass die Militärs das Land retten und in Ordnung bringen wollten. Sie bezeichneten die Mütter der Verschwundenen als „locas de Plaza de Mayo“ – als „die Verrückten von der Plaza de Mayo“. Ich habe sie oft gefragt, wie sie die Mütter „verrückt“ nennen konnten, wenn diese doch einzig und allein wissen wollten, wo ihre Söhne und Töchter waren. Sie hatten keine richtige Antwort darauf.
Es gibt eine Szene im Roman, in der die Polizei Alma auf dem Rückweg von einer Party anhält. Die Polizisten sind sexuell übergriffig. Das mussten Teenager in jener Zeit sehr oft ertragen. Jeder konnte Opfer des Machtmissbrauchs durch Polizisten und Beamte der Regierungsorganisationen werden. Mir war damals nicht bewusst, was da vor sich ging. Ich fand es erst heraus, als ich 1982 nach Europa reiste.

Wie beeinflusst die Vergangenheit heute noch Ihr Leben?
Ich glaube, das Schuldgefühl war einer der Gründe, dieses Buch zu schreiben. Ich habe lange gebraucht, um mich mit der Geschichte meines Landes auseinanderzusetzen und für das einzustehen, an das ich glaube.
Viele Leute sagen, wir sollten aufhören, über dieses dunkle Kapitel Geschichte zu reden. Ich finde nicht, dass das richtig ist. Diese schrecklichen Jahre sind eine Wunde, die nicht verheilt ist. Erinnerung ist unser Leitstern, der einzige Weg, mit dem wir verhindern können, dass so etwas wieder geschieht. Missbrauch gedeiht durch Verleugnen und Verschweigen.

War es schmerzhaft, sich zu erinnern? Wie sind Sie mit dem Schmerz umgegangen?
Während des Schreibens habe ich Bücher zum Thema gelesen, darunter auch „Nunca más“ („Nie wieder“), der Bericht der Argentinischen Nationalkommission über Verschwundene Menschen. Die Kommission hatte eine Untersuchung über das Schicksal von Tausenden von Argentiniern geleitet, die während der Militärdiktatur verschwunden waren. Ich wollte genau wissen, was mit Marito passiert war, auch wenn ich das am Ende nicht im Roman erzähle. Diese Lektüre war entsetzlich schmerzhaft. Ich habe den Schmerz durch das Schreiben vertrieben, so wie ich es in meinem Leben immer schon gemacht habe. Worte für den Schmerz finden und ihn dadurch mitzuteilen ist bereits ein Heilungsprozess.

Zwischen Alma und Marito, Alma und Carmen, Alma und ihren Eltern herrscht eine große Sprachlosigkeit – haben Sie so etwas in Ihrer Jugend auch erlebt?
Ja, sehr viel sogar. Das ist vermutlich einer der Gründe, warum ich schreibe.

Wie sollte dieses Problem des Schweigens, das immer noch viele Bereiche unserer Gesellschaft und auch die Familien dominiert, gelöst werden?
Wir sollten reden. Lehrer sollten ihre Schüler zum Reden ermutigen, und Eltern sollten ihren Kindern zuhören. Wir sollten den Mut haben, schmerzvolle Erfahrungen anzusprechen und zu teilen. Gruppen können dabei eine große Unterstützung sein. Wir sollten lernen zuzuhören.
Natürlich ist auch das Lesen ein wunderbarer Weg, die Worte für das zu finden, was uns wehtut. Kinder haben eine natürliche Art, das mitzuteilen, was sie bewegt. Es sind die Erwachsenen, die sie zum Schweigen zwingen. Wir benutzen Euphemismen, wir verstecken die Wahrheit, wir verschließen unseren Augen und unsere Herzen. Die heutige Gesellschaft ist sehr gewalttätig, und wir sehen weg. Wir müssen uns engagieren und eine liebevolle Umgebung schaffen, in denen Kinder und Jugendliche sich trauen offen zu reden.

Wie wird in Argentinien die Vergangenheit aufgearbeitet?
Das ist ein sehr schwieriges Thema. Wie schon gesagt, meinen viele Leute, dass wir „das Thema fallen lassen“ sollten, und es gibt Leute, die immer noch das unterstützen, was die Militärs getan haben. Manche Leute glauben, dass die Regierung und die Terroristen die gleiche Verantwortung tragen, für das was geschehen ist. Sie halten den Machtmissbrauch durch den Staat für eine unvermeidbare Nebenwirkung.
Aber es wurde auch Vieles getan, um den Familien der Verschwundenen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und die vermissten Kinder zu finden, die heimlich an andere Familien weggeben wurden. Die verschwundenen Kinder zu finden und sie zu ihren Familien zurückzubringen ist eine der Hauptaufgaben.

Kann offen über die Militärdiktatur gesprochen werden?
Man kann offen über diese Zeit sprechen, aber es kann durchaus sein, dass dabei eine leidenschaftliche Diskussion entbrennt. Wir sind eine gespaltenen Gesellschaft, und der Graben scheint nicht kleiner zu werden.

Was lernen Kinder in der Schule über diese Zeit?
Das hängt sehr von der Bereitschaft des Lehrers ab, darüber zu diskutieren. Viele staatliche Schulen haben Wie ein unsichtbares Band in den Lehrplan der Abschlussklassen aufgenommen. Auf den Privatschulen entscheiden die Lehrer selbst darüber. Ich werde regelmäßig eingeladen, mit Schülern über mein Buch zu sprechen, und alle sind ausnahmslos an der historischen Epoche interessiert und wie ich sie erlebt habe. Die Geschichte stachelt ihre Neugierde an. Denn sie leiden mit Marito, Carmen und Alma mit, sie möchten dann mehr darüber wissen, was in diesen Jahren passiert ist. Literatur ist ein wundervoller Weg zum menschlichen Herzen.

Wie können sich deutsche Jugendliche dem Thema Militärdiktatur nähern?
Die Geschichte in meinem Roman ist ein Weg dahin. Ich hoffe, dass sich auch deutsche Jugendliche für die Figuren in dem Roman interessieren werden und durch sie erfahren, was geschehen ist. Alma, Marito und Carmen sind nicht sehr anders als junge Leute heute, egal, woher sie kommen. Der Roman handelt von universellen Gefühlen wie Liebe, Verlust und Schmerz. Wenn die Geschichte die Leser fesselt, dann findet auch dieses Thema den Weg in ihre Herzen.

Wie ist das politische Leben heute?
Die Gesellschaft ist ziemlich gespalten. Diese Regierung hat viele Schritte zur Wiedergutmachung unternommen. Sie hat Massenmörder inhaftiert, die noch frei herumliefen. Das hat diese dunklen Jahre wieder in den Fokus der Öffentlichkeit gebracht. Was dann vor allem die Leute verstimmt hat, die „das Thema fallenlassen“ und die Vergangenheit begraben wollen.
Auf der anderen Seite glaubt diese Regierung an die Gleichberechtigung aller Menschen in der Gesellschaft und hat sehr konkrete Schritte in diese Richtung unternommen. Dafür wurde ihr Populismus vorgeworfen. Politik ist sehr kompliziert, und die Welt ist so scharf auf Geld und Konsum, dass scheinbar alle Bemühungen, die in Richtung Gleichberechtigung gehen, verdammt werden. Meine persönliche Ansicht ist da vielleicht naiv.

Welche Ängste beherrschen die Argentinier heute?
Man kann schwer über die Argentinier als Ganzes reden. Die Ängste der Menschen hängen von ihren Lebensumständen ab. Viele fürchten sich vor Armut; sie haben Angst, dass ihnen Dinge genommen werden; sie fürchten, dass das Land verarmt; sie fürchten, dass die staatliche Arbeitslosenunterstützung die Leute dazu bringt, sich vor der Arbeit zu drücken; sie fürchten, dass das Kindergeld, dass die Regierung armen Familien für jedes Kind zahlt, die Familien unkontrollierbar anwachsen lässt. Ich fürchte, Ungerechtigkeit wird nie enden. Ich fürchte, wir werden die Menschen nie als gleichwertig ansehen. Ich fürchte die Entfremdung von anderen Menschen. Ich fürchte Gewalt in all ihren Formen. Angst ist das Gegenteil von Liebe.

Inés Garland: Wie ein unsichtbares Band, Übersetzung: Ilse Layer, Fischer KJB, 2013, 256 Seiten, ab 14, 14,99 Euro

Leben, Leiden, Lieben

gleitflug Wie viel Leid passt in einen Roman, ohne dass man sich als Leser völlig niedergeschmettert und deprimiert fühlt? Ziemlich viel, wie ich gerade nach der Lektüre von Anne-Gine Goemans Gleitflug feststellen konnte, den Andreas Ecke mit perfekter Leichtigkeit aus dem Niederländischen übersetzt hat.

Der 14-jährige Gieles leidet an der Abwesenheit seiner Mutter, die lieber in Afrika als Entwicklungshelferin unterwegs ist, als bei Mann und Sohn in Holland zu bleiben. Mehr und mehr bekommt der Junge über die lautstarken Telefonate von Vater und Mutter mit, dass es zwischen seinen Eltern nicht mehr so gut läuft. Daher ersinnt er das Geheimprojekt „Geniale Rettungsaktion 3032“. Die Nummer steht für den Flug mit dem die Mutter wieder nach Hause zurückkommen will. Gieles, der mit Vater und Onkel Fred gleich neben der Startbahn des Flughafens wohnt, will mit seinen zahmen Gänsen ein Manöver durchführen, mit dem er die Aufmerksamkeit der Mutter zurückerobert und schließlich als glänzender Held dasteht. Danach, so sein Wunschtraum, wird die Mutter ihn nie wieder verlassen.

Doch bis es soweit ist, muss der Junge die beiden Gänse noch ordentlich trainieren, damit sie auf der Piste genau seinen Anweisungen folgen und im rechten Augenblick vor dem landenden Flugzeug davonfliegen. Gieles schreibt daher einem französischen Gänseforscher, um dessen Expertenmeinung einzuholen. Nebenher surft er im Internet, chattet und verliebt sich dabei in ein gepierctes Mädchen, das sich im Netz „Gravitation“ nennt. Gieles ist dort als „Captain Sully“ unterwegs, nach seinem bewunderten Held, dem Piloten Sullenberger, der 2009 seine Maschine auf dem Hudson-River in New York notgelandet hatte.

Damit nicht genug, passt er auf die Kinder der griesgrämigen Nachbarin Dolly auf, bekommt zwei weitere Gänse, von der die größere verfressen und aggressiv, die kleinere jedoch ein Talent zum Tischtennisspielen hat, und lernt eines Tages den megadicken Lokalreporter Super Waling kennen. Der ist mit seinem Elektromobil in einem Feld steckengeblieben, und der Junge hilft ihm aus der Patsche. Zunächst ist es Gieles peinlich mit dem fetten Mann gesehen zu werden. Doch der ehemalige Geschichtslehrer kann zuhören, interessiert sich für Gieles‘ Gänse und versorgt den Jungen mit der spannenden Geschichte, der Trockenlegung des Polders auf dem sich jetzt der Flughafen erstreckt. Zwischen den beiden so ungleichen Menschen entsteht eine tiefe Freundschaft.

Eines Tages steht Gravitation, die eigentlich Meike heißt, vor der Tür. Sie ist von Zuhause abgehauen – und überhaupt nicht so alt, wie sie sich im Netz ausgegeben hat. Sie bleibt die Sommerferien über in dem Männerhaushalt. Gieles ist von der 14-Jährigen mit den Dreadlocks, der tätowierten Träne am Auge und ihrer Wut auf die Eltern total fasziniert. Egal, was Meike macht, sagt oder anhat, er kann kaum seine Erregung verbergen und träumt immer mehr davon, das Mädchen zu küssen und mit ihr zu schlafen. So gerät er mit seinem Geheimprojekt in Verzug. Und eines Tages verkündet seine Mutter auch noch, drei Wochen früher als geplant nach Hause zu kommen. Gieles Plan droht zu scheitern.

Eigentlich wäre die Geschichte um Gieles und seinen fast verzweifelten Versuch, die Familie wieder zu vereinen, schon Stoff genug für einen Coming-of-age-Roman, doch Anne-Gine Goemans versammelt hier eine ganze Reihe skurriler und liebenswerter Figuren, die alle ihr Päckchen zu tragen haben: Onkel Fred leidet an Kinderlähmung und kümmert sich rührend um den Haushalt; Dolly ist Witwe und mit ihren drei Kindern und dem Friseursalon völlig überfordert; Gieles Freund Toon spielt sich grad als Sexmacker auf, während dessen Mutter eine Brustkrebsbehandlung über sich ergehen lassen muss; Ellen, Gieles Mutter, berichtet ihm in Mails und am Telefon ständig vom Leid in Afrika; und Super Waling ist mit seinem extremen Übergewicht eine Figur zwischen Lächerlichkeit und Mitleid, die jedoch eine ungemeine Faszination ausübt. Diese Anhäufung von Leid auf engstem Raum, das zudem vom Fluglärm quasi übertönt wird, versprüht einen ganz speziellen Reiz. „Unter jedem Dach ein Ach“, könnte man sagen und es in diesem Fall alles als völlig übertrieben und zu dick aufgetragen empfinden. Doch dem ist nicht so. Mit ihren Sorgen und Wünschen spiegeln diese Figuren das pralle Leben in all seinen Facetten. Darin als pubertierender Jugendlicher seinen eigenen Weg zu finden, ist alles anderes als leicht, wie man an Gieles und auch an Meike ganz wunderbar miterleben kann. So entwickelt der Roman trotz – oder vielleicht gerade wegen – all diesem Leid eine Leichtigkeit, die den Leser quasi im Gleitflug durch diese liebenswerte Geschichte segeln lässt.

Anne-Gine Goemans: Gleitflug, Übersetzung: Andreas Ecke, Insel Verlag, 2012, 448 Seiten, 21,95 Euro

John Green in Berlin

Eigentlich habe ich es ja nicht mit Autogrammen und dem Promi-Hinterherrennen, doch dieses Mal konnte ich einfach nicht anders. Und jetzt ist meine Presseausgabe von John Greens Roman Das Schicksal ist ein mieser Verräter mit der Unterschrift des Autors versehen. Irgendwie schön. Das Ganze passierte heute Abend auf dem 12. Internationalen Literaturfestival in Berlin, wo John Green seine Deutschland-Lesereise begann.

Ich war etwas zu früh im Haus der Berliner Festspiele, der Abend war noch lau und trocken. Als ich in den Garten schlenderte, saß er dort. In hellem Hemd, Jeans und Adidas-Turnschuhen. John Green himself. Ganz entspannt gab er ein Interview. Und anstatt die ersten Autogrammjäger fortzujagen, fing er an zu signieren und meinte: „Lieber jetzt schon, als später, wenn alle kommen.“ Ich nahm allen Mut zusammen, zumal ich mich für die Beantwortung meiner Fragen vor ein paar Wochen persönlich bedanken wollte. Er war so nett und erfreut, dass es mir regelrecht die Sprache verschlug, und ich irgendwas von „confused“ stotterte. Tzz. Er nahm es mit Humor und erzählte, dass er so jelaged sei und auch ganz confused … Nun, man sah es ihm nicht an. Auch nicht das Mammutprogramm, dass er einen Tag nach seiner Ankunft in Deutschland schon hinter sich hatte: Zwei Lesungen, Interview-Marathon, Aufnahmen mit einem Fernsehteam im Plänterwald. Das quietschende Riesenrad, das sich dort langsam gedreht hätte, würde so wunderbar zu der Vergänglichkeit in seinem Roman passen, wurde mir zugetragen.

Wenig später füllte sich der große Saal im Festspielhaus langsam. Etwa 250 Menschen drängten hinein, hauptsächlich junge Mädchen. Und als um 19.38 Uhr John Green auf die Bühne trat, brandete Jubel auf, als würde ein Popstar erscheinen. Doch er gebärdete sich ganz und gar nicht so, sondern setzte sich fast bescheiden auf seinen Stuhl. Einer launigen Vorstellung folgte die erste Lesung, zunächst John Green selbst auf Englisch, dann rezitierte Regina Gisbertz so mitreißend die deutsche Übersetzung von Sophie Zeitz, dass der Autor ganz fasziniert an ihren Lippen hing und bekannte, dass er sich durch ihren Vortrag wieder genauso fühlte, wie in dem Moment als er das Buch geschrieben hatte.

Im Anschluss erzählte er von Empathie, die beim Schreiben wichtiger ist, als den richtigen Slang der Jugend zu treffen. Den hätte er selbst in jungen Jahren überhaupt nicht gesprochen und nie gewusst, worüber sich seine Altersgenossen so unterhielten. Doch das Mitgefühl für die Menschen, die an einer lebensbedrohlichen Krankheit leiden, für die sie nichts können, war ihm während des Schreibens wichtiger. Für ihn müssen die Emotionen der Figuren aus dem Bauch herauskommen, dann gelänge es auch, die Leser zu fesseln. So findet er es denn auch heroisch, wenn sich die Helden von der Stärke zur hin Schwäche entwickeln und nicht anders herum. In einer Welt, in der Stärke oder zumindest der Anschein von Stärke extrem weit oben rangiert, ist das eine ganz wunderbare Haltung, die er in seinem sechsten Roman perfekt umgesetzt hat.

Ansonsten hält er es mit dem ur-amerikanischen Konzept der Reise: Wenn etwas nicht richtig läuft, verreise. Die Reise als Problemlöser ist ihm wichtig. Nicht nur, weil er selbst gern verreist, sondern weil jede physische Reise auch immer eine emotionale Veränderung nach sich zieht, und so zumeist eine Reise zu sich selbst wird. Auch das spiegelt sich in Das Schicksal ist ein mieser Verräter ganz eindrücklich.

Die einzige Frage aus dem Publikum, die er mit einem kategorischen Nein beantwortete, war die, ob er je unter dem Pseudonym Peter Van Houten den Roman Ein herrschaftliches Leiden schreiben wird. Für diese große, intellektuelle Herausforderung sei er nicht gut genug, denn die Vorstellung von diesem Buch sei einfach unerreichbar. Das glaube ich ihm zwar nicht, aber auch er hat natürlich ein Recht, Fragen unbeantwortet zu lassen. Was ihn auf jeden Fall noch interessanter macht.

Fast ging es ein bisschen unter, dass es in seinem Buch auch um die Beziehung zwischen Autoren und Lesern geht. Und um die Dankbarkeit der Autoren gegenüber ihren Lesern. Diese Dankbarkeit könnten die Autoren nur sehr schwer äußern, behauptete er – doch John Green ist dies an diesem kurzweiligen Abend auf seine reizende, unaufgeregte, fast bescheidene Art perfekt gelungen!

John Green: Das Schicksal ist ein mieser Verräter, Übersetzung: Sophie Zeitz, Hanser Verlag, 2012, 287 Seiten, 16,90 Euro

Göttlich

oh mein Gott Meg RosoffSeit vergangenem Wochenende habe ich eine neue Lieblingsromanfigur: der Eck. Der Eck, das letzte Exemplar seiner Rasse, ist eine merkwürdige, nicht eindeutig zuordbare Mischung aus Pinguin „mit der langen Nase eines Ameisenbärs, Knopfaugen und weichem grauen Fell“. Eck ist ein Fass ohne Boden, was das Essen angeht, den einzigen Laut, den er von sich gibt ist „Eck“. Eck ist liebenswürdig, hilfsbereit – und das Haustier von Gott.

Gott hingegen heißt in dem neuen Roman von Meg Rosoff Bob. Und dieser Bob ist ein fauler, egoistischer, sexsüchtiger Nichtskönner. Er bekommt den Job als Gott nur, weil die Kommission der Stellenbesetzung, sich auf keinen Kandidaten einigen kann und die Stelle bei einem Pokerspiel als Gewinn aussetzt. Bobs spielsüchtige Mutter Mona gewinnt und gibt den Job umgehend an ihren 19-jährigen Sohn weiter.

So nimmt das Unheil seinen Lauf. An gerade mal sechs Tagen hudelt der junge Schnösel die Erde hin. Ab und zu gelingt im ein genialer Streich (Eck, manche Naturphänomene), doch im Ganzen ist alles eher Flickwerk und extrem katastrophenanfällig. Vor allem die Menschen, die Bob in seiner Eitelkeit nach seinem eigenen Bild geschaffen hat, stellen sich als ziemlich unvollkommen heraus. Sie werden krank, bekriegen sich ständig, zerstören die Umwelt und schicken ständig Gebete an Gott. Um diese kümmert sich jedoch nicht Bob, sondern Mr. B., der sich eigentlich auf die Stelle beworben hatte, allerdings zu langweilig und spießig war und nun quasi die Drecksarbeit erledigen muss. Diese endet nie, die Gebete stapeln sich in Massen auf Mr. Bs. Schreibtisch, und die nächste Katastrophe bahnt sich bereits an.

Denn ausnahmsweise hat Bob ein Gebet gelesen. Darin bittet die 21-jährige Tierpflegerin Lucy, sich endlich mal zu verlieben. Doch zunächst ist es Bob, der sich verliebt. Hals über Kopf und rettungslos, in Lucy. Denn die ist seine absolute Traumfrau. Mit ihr will er den Rest seines Lebens verbringen. Nur dass Bobs Leben ewig dauern, während Lucy bereits in wenigen Jahren Falten bekommen und nach alter Frau riechen wird. Aber Bob will sie. Unbedingt. Und so taucht Gott unvermittelt bei seiner Angebeteten auf, verdreht ihr den Kopf, weckt ihre Leidenschaft – kann aber leider ihre Fragen nach Herkunft, Beruf und Wohnsitz nicht sehr überzeugend beantworten. Auch dass er kein Telefon hat, macht Lucy trotz all der erotischen Spannung und Begierden doch stutzig. Sie hält Bob auf Abstand. Das wiederum passt ihm gar nicht. Und wenn er nicht bekommt, was er will, wird er sauer, und wenn er sauer wird, schlägt sich das im irdischen Wetter nieder. So überziehen unvorhersehbare Wetterkapriolen die Erde und Lucys Stadt versinkt im Wasser. Und natürlich kann sich niemand den Schnee im Sommer, die Eiseskälte im Wechsel mit aller kitschigstem Traumwetter erklären. Mr. B. versucht sein Bestes, Bob von Lucy fortzulocken und beauftragt ihn mit der Rettung der Wale.

Derweil bangt Eck um sein Leben, denn Mona hat mal wieder gepokert und Eck musste als Einsatz herhalten. Nur hat sie dieses Mal kein Glück, verliert Eck, und sein neuer Besitzer will ihn unbedingt verspeisen, da er als Delikatesse in allen 9000 Galaxien gilt …

Meg Rosoffs neuer Roman Oh. Mein. Gott. ist an Absurdität, Schrägheit und Skurrilität eigentlich nicht zu überbieten. Hemmungslos demontiert sie die Gottesfigur und hinterfragt Glaubenskonzepte. Manchen mag das vielleicht gotteslästerlich erscheinen, doch Rosoff tut das mit so viel Witz und Charme, dass man ihr auf keiner Seite böse sein kann, sondern sich an ihren gleichermaßen durchgeknallten wie genialen Ideen, Abstrusitäten und Wundern immer mehr erfreut. Und man einfach nicht umhin kommt, Lucy, Mr. B. und vor allem Eck zu lieben. Ergo: ein göttlicher Lesespaß, ganz wunderbar übersetzt von Brigitte Jakobeit.

Meg Rosoff: Oh. Mein. Gott. Übersetzung: Brigitte Jakobeit, Fischer Verlag, 2012, 236 Seiten, 14,99 Euro

Das Schicksal ist ein mieser Verräter

Vor ein paar Tagen habe ich schon einmal über John Green und sein fulminantes Buch Das Schicksal ist ein mieser Verräter geschrieben. Jetzt hat mir John Green ein bisschen seiner wertvollen Zeit geschenkt und ein paar Fragen beantwortet.

Mr Green, woher stammen die Ideen für Ihre Geschichten?
Von Fragen. Im Fall von Das Schicksal ist ein mieser Verräter habe ich mich gefragt, wie man gleichzeitig optimistisch und intellektuell interessiert in einer Welt leben kann, die oftmals so grausam und launisch ist.

Warum sind Themen wie Krankheit und Tod für Sie so wichtig?
Bücher sind am interessantesten und nützlichsten, wenn sie unmittelbar von den Dingen erzählen, die wir fürchten und vor denen wir weglaufen. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum ich ein Buch über Verlust, Trauer und Krankheit schreiben wollte. Gleichzeitig sollte es aber auch eine sehr lustige und sehr hoffnungsvolle Geschichte sein, denn das menschliche Leben ist im Grunde genommen lustig und verheißungsvoll.

Wie entwickeln Sie einen Plot?
An diesem Buch habe ich über zehn Jahre gearbeitet, also hatte ich viel Zeit, um über den Plot und die Struktur nachzudenken. Die Geschichte sollte eigentlich wie eine epische Liebesgeschichte angelegt sein – aber ich wollte, dass es – wenn so etwas überhaupt möglich ist – ein kleines und zärtliches Epos wird.

Haben Sie reguläre Arbeitszeiten, während Sie schreiben?
Ja, ich schreibe morgens von 8 Uhr bis mittags 12 oder 13 Uhr. An den Nachmittagen arbeite ich an meinen Videos und anderen Dingen.

Wie haben Sie das Roman-Schreiben gelernt? Oder war das ein Talent, das Sie schon in jungen Jahren besaßen?
Als ich jung war, habe ich mich fürs Schreiben interessiert, aber ich glaube nicht, dass ich besonders talentiert war. Das Schreiben habe ich hauptsächlich vom Lesen gelernt. Ich hatte viele hilfreiche und wichtige Lehrer, die mir das Schreiben beibrachten. Aber ich glaube, die beste Art, das Roman-Schreiben zu lernen, ist zu lesen.

Das Schicksal ist ein mieser Verräter spielt zum Teil in Amsterdam: Haben Sie diese Stadt zufällig ausgewählt? Oder hat Ihr Stipendium dort dazu beigetragen?
Schon Jahre bevor ich das Stipendium für Amsterdam bekam, hatte ich die Geschichte dort angesiedelt. Ich habe Amsterdam genommen, weil die Erzählerin meiner Geschichte mit einer Krebsart lebt, bei der sich ihre Lungen immer wieder mit Wasser füllen. Sie ertrinkt sozusagen innerlich. Amsterdam ergeht es ähnlich: Die Stadt versinkt im Wasser, sie ist von Kanälen durchzogen, ist aber dennoch eine lebendige und blühende Stadt. Ich wollte eine Verbindung zwischen Hazel und dem Ort herstellen, den sie sich so liebevoll ausmalt.

Hatten Sie vorher auch über andere europäische Städte nachgedacht wie Paris, Rom oder Berlin?
Ich hatte kurz Venedig in Erwägung gezogen, auch das ist ja eine untergehende Stadt. Aber Venedig ist nicht so pulsierend und modern wie Amsterdam. Außerdem ist es viel kleiner.

Haben Sie mit dem Erfolg der amerikanischen Ausgabe von Das Schicksal ist ein mieser Verräter (im Original: The Fault in Our Stars) bei Amazon und Barnes & Nobels gerechnet?
Nein, ich hätte nie gedacht, dass das Buch so viele Leser ansprechen könnte und sie es so begeistert aufnehmen würden. Realistische Literatur für junge Erwachsene schafft es fast nie auf die Bestsellerlisten in den USA, aber 26 Wochen nach Erscheinen ist es immer noch auf Platz 3 der New York Times Bestsellerliste. Ich bin total überrascht.

Wie war es, 150 000 Exemplare des Buches zu signieren?
Das war anstrengend. Es hat fast drei Monate gedauert, und ich habe pro Tag zehn bis zwölf Stunden signiert. Aber gleichzeitig war ich so glücklich, dass so viele Menschen mein Buch vorbestellt hatten. Es war eine körperliche Herausforderung, aber ehrlich gesagt, habe ich das auch genossen. Romane zu schreiben ist sehr schwierig, es ist eine langsame Arbeit, für die man sehr viel Ausdauer und Konzentration braucht. Da ist es schon fast entspannend, seinen Namen immer und immer wieder zu schreiben.

Was hielt Ihre Frau von all den Kartons in Ihrem Haus?
Sie war nicht gerade sehr begeistert davon. Aber sie freut sich natürlich, dass so viele Leute das Buch lesen.

Haben Sie schon eine neue Idee für Ihr nächstes Buch?
Nein, ich habe keine Ahnung, was ich als nächstes schreiben werde.

John Green: Das Schicksal ist ein mieser Verräter, Übersetzung: Sophie Zeitz, Hanser Verlag, 2012, 287 Seiten, 16,90 Euro