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Mehr Momo sein …

momoJubiläen sind was Tolles. Ich entdecke dabei jedes Mal Dinge wieder, an die ich oftmals sehr lange nicht gedacht habe. In diesen Tagen ist es Momo von Michael Ende. Denn Momo feiert ihren 40. Geburtstag – wenn man das für eine Romanfigur so sagen kann.

Ihr zu Ehren habe ich also meine alte Ausgabe aus dem Regal gezogen und mich wieder in das antike Amphitheater versetzt – und gestaunt.
Als ich Momo das erste Mal gelesen habe, war ich bereits erwachsen und studierte gerade Philosophie. Dementsprechend philosophisch fand ich Endes Text über die Zeit und die Zeit-Diebe.
Daran hat sich nach der aktuellen Lektüre nicht viel geändert, doch habe ich jetzt noch so viele andere Dinge entdeckt, die meine Verehrung für Michael Endes visionäres Gespür und Genie noch weiter steigern. Denn Momo merkt man ihre vierzig Jahre eigentlich nicht an. Die Dinge, die Ende dort beschreibt, finden sich aktuell noch genauso: Die Städte sind voll von „Seelensilos“ und Schnellrestaurants, die „Kinder-Depots“ nennen sich heute Ganztagsschulen (die aber zum Glück nicht so düster sind wie im Buch), die „vollkommene Puppe“ kommt momentan in Form von XBox und Smartphone in fast jedem Haushalt vor. Die Buchbranche ist voll von all den „albernen und rührseligen“ Geschichten, mit denen Gigi Fremdenführer Karriere macht und sich von seiner ursprünglichen Kunst des Erzählens entfremdet. Die grauen Herren gehören momentan wohl zur Kaste der „Selbstoptimierer“, die über Apps und Computer so sehr an der eigenen „Performance“ arbeiten, bis wahrscheinlich nur noch ein Burnout sie wieder auf ein menschliches Maß zurückholen kann.
Menschen wie Momo dagegen sind heute eher selten zu finden. Zuhören, sich Zeit nehmen für die andern und achtsam mit sich selbst umgehen sind selten gewordene Tugenden. Die Logorrhö, mit der wir uns analog und virtuell immer mehr präsentieren und vermarkten, lässt kaum noch Raum für das, was Momo ihren Freunden schenkt: ungeteilte Aufmerksamkeit.

Doch die können alle gebrauchen – die Kinder genauso wie die Erwachsenen. Genau aus diesem Grund ist für mich Michael Endes Klassiker nicht nur ein Kinderbuch, sondern Belletristik für jedes Alter. Denn in jedem Alter entdeckt man in dieser Geschichte immer wieder neue, immer höchst aktuelle Aspekte, die Wegweiser und Ratgeber durch das eigene Leben sein können.
Nach dieser so bereichernden Lektüre nimmt man sich automatisch vor, ein bisschen mehr wie Momo zu werden. Denn das, was man den anderen an Aufmerksamkeit schenkt, bekommt man genauso wieder zurück. Und dieser Zugewinn an Lebensqualität und Lebenszeit ist einfach unbezahlbar.

Ich werde meine alte Retro-Taschenbuch-Ausgabe in den kommenden Jahren auf jeden Fall erneut konsultieren. Für alle, die Momo jetzt erst entdecken, gibt es eine Jubiläumsausgabe mit einem wunderschönen neuen Cover und neuen Illustrationen von Dieter Braun. Möge Momo in ihrer Zeitlosigkeit so auch noch in den nächsten Jahrzehnten unzählige Leser und Fans gewinnen, die den grausamen Zeit-Dieben – in welcher Form auch immer sie auftreten – den Garaus machen.

Michael Ende: Momo. Oder Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte.  Ausgezeichnet mit dem Deutschen Jugendbuchpreis 1974, Thienemann Verlag, 2013, 304 Seiten,  ab 12, 19,95 Euro