Poesie gegen Prostitution

angelLange hatte ich My Book of Life by Angel von Martine Leavitt gar nicht beachtet. Zu blass und süßlich kam mir das Cover vor. Den Klappentext und U4 hatte ich nicht gelesen. Das passiert. Bei mir stapelt sich so einiges an Lektüre, da brauche ich manchmal „aggressivere“ Reize. Oder ich brauche Nachhilfe durch andere Rezensionen oder Gespräche mit Menschen aus dem Verlag. Wie in diesem Fall.

Was sich hinter diesem Cover versteckt, hat mich dann ziemlich erstaunt: In einem inneren Monolog berichtet die 16-jährige Angel von ihrem Leben – in freier Gedichtform. Angel hat einen Faible für Schuhe und klaut in den Geschäften allerdings immer nur den einen, der im Regal steht. Eines Tages erwischt Call sie dabei und nutzt dieses Wissen aus. Er gibt Angel „Zückerchen“, eine nicht genauer benannte Droge, und schickt sie auf den Strich. Anfangs schafft es Angel nicht, sich von ihm zu lösen, Call ist der perfekte Loverboy und verspricht ihr ein bürgerliches Leben – später.
Dann verschwindet Angels Freundin Serena, die ebenfalls anschaffen muss. Unter den Sexarbeiterin geht das Gerücht um, dass ein Serienmörder es auf sie abgesehen hat. Die Polizei kümmert sich nicht.
Angel erwacht aus ihrer Lethargie erst, als Call die 10-jährige Melli mitbringt, die in Zukunft auch für ihn arbeiten soll. Trotz Calls Drohungen, Angels Bruder etwas anzutun, stellt sich Angel vor das kleinere Mädchen.

Das, was das Buch zu etwas Besonderem und gleichzeitig Bitterem macht, ist die Diskrepanz zwischen Inhalt und Form. In relativ kurzen Gedichten, ohne Reimform, verpackt Martine Leavitt entsetzlichen Inhalt. Der Missbrauch von Mädchen, das Geschäft der Zuhälter mit den Frauen, die Verachtung der Freier, die Gleichgültigkeit der Polizei, die Angst der Frauen, ihr Ekel und ihre Stärke offenbart sich zwischen diesen Zeilen, die so leicht und fluffig erscheinen. Die Gedichtform ist Angels Art, den Horror zu verarbeiten. Als Leser muss man manchmal ziemlich schlucken. Leichte Kost ist das auf jeden Fall nicht. Doch sie beeindruckt und bleibt im Gedächtnis und macht nachdenklich.

Leavitt, die hier ein lange nicht aufgeklärte Mordserie an Prostituierten aus Vancouver einarbeitet und so an die getöteten Frauen erinnert, gibt den ausgebeuteten und missbrauchten Frauen und Mädchen hier eine ganz feine, wichtige Stimme, die hoffentlich auch gehört wird.

Martine Leavitt: My Book of Life by AngelÜbersetzung: Clara Drechsler/Harald Hellmann, Thienemann Verlag, 2014, 256 Seiten, ab 14, 14,99 Euro

  

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