Archiv der Kategorie: Belletristik

Bücher, die die Welt reparieren

„Es gibt eine größere Offenheit, die Literatur ist vorwitziger und frecher, weil man die Kinder ernst nimmt, sie auch zum Nachdenken bringen will, denn das gehört zum Aufwachsen.“ So beschreibt der Autor Bart Moeyart das Besondere der niederländischen und flämischen Kinder- und Jugendliteratur. Der Flame ist künstlerischer Leiter der Ehrengast-Präsentation bei der Frankfurter Buchmesse. Und das, obwohl er „nur“ Kinder- und Jugendbuchautor ist. Dass Literatur für junge Leser bei unseren Nachbarn einen besonderen Stellenwert genießt und im flämischen Sprachraum brillante Bücher für Kinder und Jugendliche geschrieben werden, zeigt auch diese Auswahl.

 

51efazxaazlJede dritte Ehe scheitert, das ist bedauerlich, aber alltäglich und banal, Menschen verlieben und entlieben sich. Schlimm wird es nur, wenn Kinder involviert sind: Denen fehlen ein paar Jahrzehnte ernüchternde Erfahrungen, es kann ihnen den Boden unter den Füßen wegziehen und fortan müssen sie sich nicht nur mit „Hin- und Her-Taschen“ abschleppen zwischen getrennten Wohnungen und Leben. Da helfen auch oberschlaue Ratgeber wie „Glücklich verheiratet, glücklich getrennt“ nichts, die nur das schlechte Gewissen der Eltern beruhigen.

Die zwölfjährige Felicia, die fortan Fitz genannt werden will, ist vor allem wahnsinnig wütend. Auch noch, als ihr Vater und ihre jüngere Schwester Bente einen Unfall haben und die ganze Familie in der Notaufnahme zusammentrifft. Fitz ist aber auch eine scharfsinnige Beobachterin, ein ungeheuer waches, kluges und einfühlsames Mädchen, das man sofort ins Herz schließt. Kein Wunder, dass in den Weiten des großen Krankenhauses der höchst attraktive, lakonische Adam und die schräg-witzige Primula sofort auf sie anspringen und die drei im Laufe des Tages gleich mehrere Herzen entflammen, nicht nur die eigenen.

Anna Woltz hat bereits mit ihrer sehr modernen Familiengeschichte „Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess“ zwei liebenswerte Charaktere geschaffen, die draufgängerische Tess und den sensiblen Samuel. Ihre Heldin Fitz ist einfach grandios: Sie rettet vielleicht nicht die ganze Welt, auch die Ehe ihrer Eltern nicht, die kann man halt nicht wieder zusammennähen wie Bentes verletzen Finger. Aber mit ihrem Charme, ihrer Direktheit und ihren klugen Erkenntnissen kann sie die Welt auf jeden Fall lebenswerter machen. Weil dieses Mädchen abgeklärte Leser wieder an so etwas wie Liebe glauben lässt. Das liegt auch an den erwachsenen, ebenso lebendig wie vielschichtig beschriebenen Nebenfiguren. Spätestens wenn Fitz, nach ihrer Tour de Force über mehrere Stockwerke und Stationen der Klinik, nicht länger „lieber in einen Vulkan springen will, als jemals zu heiraten“. Man will dieses absolut hinreißende Mädchen am Ende der Geschichte und des Tages nie mehr loslassen. Aber mit etwas Glück hat Adam ja recht: „Vielleicht ist morgen dann wieder heute“ – in neuer Tag voller verrückter Emotionen, Begegnungen und Erfahrungen.

Nur schade, dass der Carlsen Verlag diese unter die Haut gehende Geschichte hinter einem nichtssagenden Einband versteckt. So don’t judge a book by looking at it’s cover.

Anna Woltz: Gips oder wie ich an einem einzigen Tag die Welt reparierte; Übersetzung: Andrea Kluitmann, Carlsen 2016, 176 Seiten, ab 10 Jahren, 10,99 Euro

 

51n5-hss4cl-_sx355_bo1204203200_ Kalle ist ein Macher, der lieber einen Gedanken zu wenig denkt, als sich von seinem Vorhaben abbringen zu lassen. Bei Helicoptereltern hätte solch ein tatendurstiger kleiner Kerl keine Chance (übrigens spielt ein Hubschrauber später auch noch eine Rolle, aber mehr wird hier nicht verraten!). Selbst für weniger behütende und gerade auch sehr müde Erziehungsberechtige ist es ganz gut, wenn sie nicht so genau wissen, was Kalle vorhat, wenn er sagt, er geht weg: Der Achtjährige springt mit Nachbarhund Max und Meerschweinchen Hektor in sein kleines Motorboot und nimmt Kurs Richtung großen Fluss – eine ebenso spannende und witzige wie haarsträubend gewagte Bootstour. Anke Kranendonks Geschichte ist pädagogisch völlig wertlos – im besten Sinn. So wie vor wartenden Kindern bei Rot über die Ampel zu gehen. Weil es Kinder zu selbstständigem Denken und Eigenverantwortung motiviert.

Charmant zitiert die niederländische Kinder- und Jugendbuchautorin Tomi Ungerers „Kein Kuss für Mutter“ und beerbt anarchistisch-autarke Helden wie Pippi Langstrumpf oder Michel. Sympathisch persifliert sie in den etwas einseitigen Dialogen Kalles mit Vierbeiner Max wie Eltern mit ihrem Nachwuchs reden: ein wenig herablassend ob des vermeintlich geringeren Verstands, auch mal ganz schön genervt, doch letztlich immer voller Zuneigung, gelegentlich zerknirscht.

Noch schöner wird die von Sylke Hachmeister erfrischend übersetzte Geschichte durch Annemarie van Haeringens in kräftigen Farben colorierte und an Quentin Blake (bekannt aus Roald Dahls Büchern) erinnernde Illustrationen. Kalles Selbstbewusstsein und Abenteuerlust sind umwerfend, niemand sollte solch tollkühne Kinder stoppen dürfen!

Anke Kranendonk: Käpt’n Kalle; Illustrationen: Annemarie van Haeringen, Übersetzung: Sylke Hachmeister, Carlsen 2016, 152 Seiten, ab 8 Jahren, 9,99 Euro

 

51gzheiofl-_sx258_bo1204203200_„One ist the loneliest number“ wissen wir aus der Popmusik. Jetzt erweitert die niederländische Illustratorin Henriette Boerendans unser Zahlenwissen mit „Die Null ist eine seltsame Zahl“. Mit kunstvollen Holzschnitten verknüpft sie die Ziffern eins bis zehn sowie fünfzig und hundert mit spannenden Informationen für kleine Kinder: Ein kleiner Elefant braucht zwei Jahre, bis er geboren wird. Tiger haben an den Vorderpfoten fünf Zehen und an den Hinterpfoten vier. Wie viele hat das Kind? Eine Schildkröte legt zehn Eier. Sie selbst kann bis zu 188 Jahre alt werden. Aber Muscheln werden noch viel älter. Und kleine Kaninchen sehen ihre Mutter nur fünf Minuten täglich.

In der Farbgebung erinnern die Drucke an Andy Warhols Siebdruckserien. Von der Anmutung haben sie etwas klassisch Asiatisches. Boerendans entwickelt eine ganz eigene Bildsprache und macht so abstrakte Größen lebendig und begreifbar. Für Vorleser ist dieses Buch auf jeden Fall ein optischer Genuss. Und warum ist die Null seltsam? Weil sie das Nichts beschreibt, eine Lücke – so wie die Dodos, die es nicht mehr gibt, die ausgestorben sind, weil ihre Eier aufgefressen wurden.

Henriette Boerendans: Die Null ist eine seltsame Zahl, Übersetzung: Martin Rometsch, aracari Verlag 2016, 32 Seiten, ab 3 Jahren, 14,90 Euro

Elke von Berkholz

[Gastrezension] Die pubertäre Vorhölle

fuckfischErinnert sich noch jemand an Helene Hegemann? Die Kernzielgruppe des sogleich vorgestellten Romans Fuckfisch von Juliette Favre ist noch nicht gemeint, die war damals noch in der Grundschule.

Im Januar 2010 veröffentlichte die damals 17-jährige Helene Hegemann ihr Romandebüt Axolotl Roadkill. Die Medien überschlugen sich geradezu und feierten die furiose Tour de Force einer knapp 15-jährigen, wohlstandsverwahrlosten Heldin zwischen Berliner Boheme, Patchworkfamilienbande und Technoclubs hymnisch. Nur um die Autorin bereits einen Monat später, als bekannt wurde, dass es sich bei einigen nächtlichen Szenen um Plagiate handelte, abgeschrieben aus einem Blog, um so vehementer zu verreißen; oder fast noch schlimmer, altväterlich wohlwollend und moralinsauer zu tadeln, ihr aber jedes Talent umgehend wieder abzusprechen. Was schreiend ungerecht war!

Die Erinnerung an Hegemann liegt nahe, veröffentlicht Juliette Favre nun ebenfalls als 17-Jährige ihr Debüt Fuckfisch im noch jungen Verlag Punktum. Darin erzählt sie tagebuchartig von der 14-jährigen Viktoria, die in den Sommerferien von ihrem Freund abserviert und in der Klasse zunächst ziemlich gemobbt wird. Dabei umgeht Favre, die das Buch mit 14 geschrieben hat, geschickt die Berghain-Falle. Sie beschreibt einfach nichts, was eine 14-Jährige unmöglich selbst erlebt haben kann, schon allein, weil sie nicht am Türsteher vorbei gekommen wäre.

Das macht ihr Debüt unspektakulärer als das von Hegemann, dafür aber umso authentischer: Absolut unverstellt, gnadenlos ehrlich und peinlich präzise beschreibt Favre das pubertäre Gefühlschaos zwischen Liebeskummer, Schulstress, Partys und Besäufnissen mit derben Wahrheit-oder-Pflicht-Spielen, testosteronstrotzenden Jungs und mal mehr, mal weniger ziemlich besten Freundinnen.

Favre und ihre Heldin Vicky bewegen sich im selben Milieu wie Hegemann, Tochter des Dramaturgen Carl Hegemann: zwischen Theaterwelt, Premierenparties und Patchworkfamilie. Ihre Stiefschwester ist gleichzeitig ihre beste Freundin. Erwachsene sind bestenfalls gute Kumpel, ansonsten ein bisschen albern und häufig angeschickert.

Vicky pendelt zwischen emotionalen Extremen – es gibt tieftraurige und ganz kurz auch euphorische Momente. Vor allem aber wird sie getrieben von einer ungeheuren Wut auf ihren Ex, auf ätzende Mitschüler, falsche Freunde, auf sich und auf die ganze Welt .

Vicky ist nicht zuletzt eine gute Beobachterin, auch sich selbst nimmt sie gelegentlich erfrischend selbstironisch unter die Lupe. Manchmal merkt man ihre Unreife und Unsicherheit, etwa wenn sie von ihrer „Mumu“ spricht. Solche albernen Verballhornungen wurden schon zu recht sogar in „Fack Ju Göhte 2“ veräppelt. Andererseits gibt es Witze, die echt knallen, scharfzüngige Blitzabrechnungen mit unrealistischen Mädchenbüchern und wirklich kluge Tipps: „Verliebt euch nie in einen Jungen aus eurer Klasse. Ich wurde dadurch zu Hackfleisch verarbeitet.“ Lässt sich nahtlos aufs Arbeitsleben übertragen: keine Affären im Job – sonst Hackfleisch.

Für jüngere Leser oder eher Leserinnen wird dieses Buch lustig und tröstlich sein, beruhigend, dass sich andere genauso peinlich benehmen und Liebeskummer immer völlig ätzend ist, aber hey, man überlebt es. Fuckfisch ist übrigens eine witzige Neuinterpretation des altmodischen Ausdrucks Backfisch, eine Bezeichnung für unreife Mädchen.

Für Erwachsene ist Favres schnodderig-ehrliches Debüt ein prima Schauerroman, eine gruselige Zeitreise: Man erinnert sich mit Grausen an die eigene Jugend, als man sich permanent selbst im Weg stand. Eigentlich war man damals extrem klarsichtig, voller Wut und Energie, die man hätte nutzen können, um wirklich etwas zu verändern. Stattdessen hat man sich mit nichtsnutzigem Liebeskummer, Haut- und Gewichtsproblemen rumgeschlagen. Die Aufforderung „Verschwende deine Jugend!“ ist überflüssig, weil leider ärgerliche Normalität.

Das klingt furchtbar altersarrogant, herablassend und desillusioniert. Aber es ist leider so, jetzt wieder mit den eigenen pubertären Kindern neu zu durchleiden. Oder um es mit der 17-jährigen Hegemann ganz abgeklärt zu sagen: „Vierzehn sein ist ja ganz schrecklich.“

Nicht zuletzt ist dieses Buch hübsch anzusehen und angenehm zu lesen: Handlich, in kräftigem Türkisgrün, mit aufgedrucktem, kleinem Mittelfinger-Ikon und stilvollem Lesebändchen in Pink. Die monochromen Einbände mit stilisierten, thematisch passenden Vignetten sind das Markenzeichen des Punktum Verlags, der Juliette Favre entdeckt hat. Fuckfisch ist kleiner Roman mit großer Wirkung, zum Glück ohne Skandal und Knalleffekt. Nicht so brillant wie Axolotl Roadkill, aber sehr vielversprechend. Für Helene Hegemanns weitere Werke hat sich kaum jemand interessiert. Juliette Favre jedoch steht die Welt noch offen.

Elke von Berkholz

Juliette Favre: Fuckfisch, Punktum Verlag, 2015, 204 Seiten, ab 14, 14,90 Euro

Kopfüber

aliceBis zum heutigen Tag hatte ich nie Gelegenheit – und es hat mich auch nie jemand dazu gedrängt – den Kinderbuchklassiker Alice im Wunderland von Lewis Carroll zu lesen. Die Filme, selbst wenn ein Johnny Depp darin mitspielte, haben mich irgendwie nicht gereizt. Nun hat es allerdings die raffinierte Neuauflage aus dem Gerstenberg Verlag geschafft, die zum 150-jährigen Jubiläum des Werks erschienen ist, das Versäumte nachzuholen.

Zum Nonsens-Inhalt von Alice möchte ich hier gar nicht viel ausführen. Figuren wie das weiße Kaninchen, die Grinsekatze, die blaue Raupe, der verrückte Hutmacher, die Herzkönigin sind hinlänglich bekannt. Wissenschaftliche Werke über Carrolls Werk gibt es zu Hauf, ich würde ein eigenes Studium benötigen, um mich dort auf den aktuellen Stand zu bringen. Das kann jedoch in diesem Moment nicht meine Aufgabe sein.

Hier möchte ich viel lieber auf zwei Dinge aufmerksam machen, die mich erfreut haben. Da ist zunächst die Ausstattung dieser Neuausgabe: Illustriert von der Niederländerin Floor Rieder, die für Gerstenberg bereits das Buch Evolution von Jan Paul Schutten bebildert hat und zudem für die Zeitschrift flow arbeitet, kommt Alice in einem liebevoll aufgemachten Design und Outfit daher, dass man ihr die 150 Jahre nicht mehr anmerkt. Rieders Drucke (ich bin mir nicht sicher, ob Holz- oder Linoldrucke) kommen mit fünf kräftigen Farben aus, die dennoch ein ganzes Universum erschaffen. Alice mit rundem Hut, Brille, kurzem Kleid und Sneakern erscheint mir wie eines der pfiffigen Schulmädchen, die vor wenigen Tagen eingeschult wurden und nun eine neue Welt entdecken. Die Unsinnigkeiten und Unerklärlichkeiten des Leben bekommen so ein frisches Gesicht, was zwar nicht hilft, die Rätsel zu lösen oder die Strategien eines Schachspiels zu durchschauen. Aber sie machen Laune. Man liest sich von einem Bild zum nächsten.

Und auf der Mitte des dicken Buches, wenn das Wunderland durchschritten ist, wird man als Leser gezwungen, das Werk zu drehen, quasi von hinten neu anzufangen. Das spiegelverkehrte Cover von Alice hinter den Spiegeln irritiert zunächst. Alice klettert nun mit Hoody und Schachbrettrock durch die wundersame Welt. Ein Stück erwachsener nun schon, doch immer noch neugierig auf die Gesellen, die ihr weiterhin begegnen.
Dass sich Alice hinter den Spiegeln befindet, also quasi alles verkehrt herum ist, merkt man als Leser jedes Mal, wenn man das Lesebändchen von unten nach oben in den Text legt. Mich hat das bis zum Schluss verwirrt, erstaunt und mir immer wieder ein Lächeln entlockt.

Die andere Sache, die mich erfreut hat, war, dass mir die Lektüre von Alice endlich einen Schlüssel zu einem Märchen geliefert hat, das im Oktober in meiner Übersetzung bei Bohem erscheint. In Der goldene Käfig von Anna Castagnoli, üppig illustriert von Carll Cneut, lässt eine Prinzessin ihre Diener enthaupten, wenn diese ihr nicht die paradiesischen Vögel bringen, die sie sich so dringend wünscht. Es war mir ein Rätsel, wie man auf so eine doch ziemlich grausame Geschichte kommen kann. Doch nun ahne ich, dass hier die Kopf-ab-Manie der Herzkönigin aus Alice im Wunderland Pate gestanden haben könnte. Vielleicht werden mir andere diese Ahnung bestätigen, vielleicht werden sie mich auf wieder andere Quellen hinweisen.
Schön für mich war jedoch, dass bei der völlig zweckfreien, aber so unterhaltsamen Lektüre von Alice auch noch diese Verbindung zu Tage trat, und mir wieder einmal bewusst wurde, dass Literatur nicht im leeren Raum entsteht, sondern die Klassiker immer wieder und auf vielfältige Art und Weise wichtig sind. Und daher in ihren neuen schönen Gewändern es allemal wert sind, gelesen zu werden.

Lewis Carroll: Alice im Wunderland & Alice hinter den SpiegelnÜbersetzung: Christian Enzensberger, Illustration: Floor Rieder, Gerstenberg Verlag, 2015, 384 Seiten, 25 Euro

Nachtrag am 15.09.2015:

In Bezug auf die Illustrationstechnik hat mir der Gerstenberg Verlag gerade folgende Info zur Verfügung gestellt:

„[…] durch ihre Illustrationstechnik verbindet Rieder bewusst Tradition und Moderne: Sie bestreicht Glasplatten mit schwarzer Farbe, kratzt die Motive mit der Feder ein, scannt die Bilder und koloriert diese am Rechner. Die Motivwahl fand Rieder nicht schwierig:
„Die Geschichte gibt die Zeichnungen zum Teil vor. Danach ging ich auf Suche nach einer tieferen Ebene. Ich entdeckte, dass Lewis Carroll Mathematik mochte. Deswegen habe ich viel Symmetrie verwendet.“
Die Ausstattung war für Rieder ebenfalls wichtig: „Dass die zwei Bücher die Form einer altenglischen Bibel haben mussten (klein und ganz dick), war schnell entschieden.““
Copyright © Floor Rieder

 

 

Einer von tausend Toden

1000TodeZur Frankfurter Buchmesse im Oktober wird die finale Fassung von Christiane Frohmanns Mega-E-Book-Projekt Tausend Tode schreiben erscheinen. In der Version, die im März erschienen ist, ist auch ein Text von mir zu finden. Für mich ist das jetzt Anlass genug, meinen Text hier noch einmal lesbar zu machen.

Der ICE fuhr pünktlich in München ab. Ich wollte nach Hause, nach Berlin, in die Stadt des Bling-Bling. So schnell wie möglich. Keine Zeit für Zwischenstationen. Nach Seminar-Besuch, viel Input, viel Wein, viel von allem, wollte ich wieder Alltag. Berlin war nur ein paar Zugstunden entfernt. Ich hatte zwei Sitze für mich allein. Alles gut.

Hinter Nürnberg nahm der ICE Fahrt auf, Franken sauste vorbei, als es plötzlich rumpelte, schepperte, ein Ruck durch den Zug ging. Vollbremsung. Halt auf freier Strecke. Fahrgäste stöhnten, tuschelten, Zugbegleiter zogen sich grellorange Warnwesten an. Noch bevor die Durchsage kam, war klar, dass es nicht schnell nach Berlin gehen würde.

Unfall mit Personenschaden, so die Umschreibung für das, was den Zug zum Halten gebracht hatte. Ein Mensch war zu Tode gekommen, ob freiwillig oder unfreiwillig wusste in diesem Moment niemand. Die Fahrgäste im Großraumabteil bedauerten den Zugführer, nicht schön so was, der Arme.

Ich schaute aus dem Fenster. Felder, am Horizont sanfte Hügel, ein Kirchturm, ein Dorf. Der Anblick kam mir bekannt vor. Mein langjähriger Freund T. wohnte mit Frau und zwei kleinen Kindern im schicken, neugebauten Haus hier. In diesem Dorf. Wäre ich in Nürnberg ausgestiegen, hätte ich noch einen Abstecher zu ihnen machen können. Jetzt saß ich in diesem Zug, auf freiem Feld, konnte nicht aussteigen. Ein Notfallseelsorger, in grellorangener Weste, ging durch den Zug, bot an zu reden, wenn Redebedarf bestünde. Ich schüttelte den Kopf, schaute aus dem Fenster. T. litt an Depressionen. Ich hatte ihn ewig nicht gesehen. Hätte mich mal melden sollen.

Das Zugpersonal informierte über Lautsprecher, man erwäge eine Evakuierung in Busse. Auf der Landstraße reihten sich Polizei- an Krankenwagen. Es blieb ruhig im Abteil. In meinem Kopf schossen die Gedanken quer. Depression und Suizid lagen dicht beieinander. T.’s Haus lag gleich hinter dem Feld. Nein. Das konnte nicht sein. Er würde seine beiden Kinder nicht im Stich lassen. Nie. Er war bei der Arbeit, ganz sicher. Seine Frau auch. Da war bestimmt alles in bester Ordnung.

Die nächste Durchsage verkündete, die Staatsanwaltschaft habe den Zug freigegeben, der Ersatz-Zugführer sei eingetroffen, man würde nicht evakuieren, nur noch säubern und dann die Fahrt fortsetzen. Zu viel der Information, danke. Nach anderthalb Stunden fuhr der ICE weiter. Neunzig Minuten für einen toten Menschen.

Ich weiß nicht mehr, wie ich die restliche Fahrtzeit überstanden habe. In Berlin am Hauptbahnhof, zwischen all dem Bling-Bling, war mir schlecht. Der Zug, in dem ich gesessen hatte, hatte einen Menschen getötet. Zum ersten Mal im Leben kaufte ich einen Flachmann, leerte ihn, schwankte nach Hause. Hatte ich den Menschen also mitgetötet? War ich schuldig? Wieso fielen mir solche Fragen immer erst so spät ein. Ich hätte sie gern dem Notfallseelsorger gestellt. Hätte, hätte.

Ich traute mich nicht bei T. anzurufen. Suchte stattdessen im Netz nach Zeitungsnachrichten über den Vorfall. Ich fand nichts. Es gibt ein Schweigeabkommen zwischen Bahn und Presse, um Nachahmungstaten zu verhindern.

Zwei Tage später klingelte mein Handy, T.’s Name auf dem Display. Ich antwortete fröhlich, erleichtert, und hörte von einer unbekannten, schluchzenden Stimme, dass T. sich zwei Tage zuvor das Leben genommen hätte. Depressiver Schub. ICE aus Nürnberg. T. hatte sich mit ausgebreiteten Armen und einem Lächeln auf dem Gesicht auf die Gleise gestellt.

Die genauen Infos zu dem Projekt und die Downloadmöglichkeiten gibt es hier:

Christiane Frohmann (Hg.): Tausend Tode schreiben, EUR 4,99; FR 6,00

Schrift stellen

wörterKonstantin – bei diesem Namen denke ich unwillkürlich an den römischen Kaiser und seinen imposanten Kopf, der in den Kapitolinischen Museen in Rom steht. Jeder hat diesen Kopf schon mal gesehen. Ganz sicher.
Doch mit dieser Assoziation liege ich bei diesem Buch von Martin Heckmanns völlig falsch.

Heckmanns Konstantin ist schmächtig, hat abstehende Ohren und stottert. Außer, wenn er liest. Oder schreibt. Denn „wer in einem Buch lebt, der hat ein Leben mehr“, denkt sich der Junge und schreibt eine Geschichte, die ihn aus seinem normalen Alltag entführt.
Als er eines Tages einen mädchenhaften Gesang hört, macht er sich auf den Weg. Er durchquert einen Bach, gelangt in einen Wald, begegnet einer sprechenden Eintagsfliege, einer Blindschleiche, die nur so lala sehen kann, und befreit ein schönes Mädchen aus den Fängen eines Untiers.

Konstantins Geschichte möchte ich hier nicht genauer ausführen, denn den Reiz, den dieser Text beim Lesen entfaltet, den kann ich hier auch nicht ansatzweise nachbilden. So bedauernswert Konstantin einem zunächst vorkommt, so sehr bewundert man ihn am Ende und möchte selbst mehr Konstantin sein.
Denn so viel sei darüber gesagt: Wie in einem szenisch inszenierten Märchen übersteht Konstantin sein in Zügen kafkaeskes Abenteuer, wächst daran und lernt das stotterfreie Reden. Verpackt hat Heckmanns all dies in poetische Sprachspiele, Reime, Alliterationen, die geradezu danach schreien laut vorgelesen, vorgetragen, deklamiert zu werden. Darin erkennt man den Theaterautor – und das macht ungemeinen Spaß. (Ich werde in nächster Zeit vermehrt darauf achten, ob in Hamburg Stücke von Heckmanns gespielt werden, die mir bis jetzt immer noch entgangen sind … auch das eine Folge dieser Lektüre …) Jedenfalls sensibilisiert sein Text, sein Umgang mit Sprache und mit dem Spiel derselben genau dafür: Spielt, spielt mit der Sprache, sucht die Wörter in den Wörtern, werdet zu denen, die Schrift stellen.

Flankiert wird Konstantins Geschichte von den Illustrationen von Stefanie Harjes. Sie kommt dabei mit den schneewittchengleichen Farben schwarz, weiß und rot aus, zeigt aber durch die Collage-Kombination aus Zeichnung, Text, Zahlen, Fotos was wiederum im Bereich Bild alles möglich ist. Heckmanns‘ Spiel der Sprache setzt Harjes im Spiel der Bilder weiter fort. Sie werden zum Bühnenbild für den Text und laden zum genauen Schauen und Entdecken ein.

Auch wenn zehnjährige Leser die Anspielungen an Sirenen, Unterweltflüsse, verschlossene Eingänge, Frauen mit O-Namen nicht werden einordnen können (ich habe mit Sicherheit auch nicht alle entdeckt …), so werden sie doch in eben diese fantastische Bücher- und Theaterwelt entführt, die ihre Helden auf eine Reise schickt und sie (oftmals) zu besseren Menschen macht. Zu Menschen, die den Wert und die Kraft von Wörtern schätzen und lieben lernen.

Die Nominierung für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2015 in der Sparte Kinderbuch ist da nur folgerichtig.

Martin Heckmanns: Konstantin im WörterwaldIllustration: Stefanie Harjes,  mixtvision, 2014, 80 Seiten, ab 10, 17,90 Euro

Hinter der Fassade

prinzessinManchmal bin ich ratlos. Wie soll man ein Buch beschreiben und empfehlen, dass einen in den Bann zieht und gleichzeitig unendlich traurig ist?
Das ist der Fall bei Inken Weiands Roman Ich bin eine Prinzessin.

Darin erzählt sie die Geschichte von Mellani und ihren zwei Geschwistern. Sie leben in einer Familie, die kein Glück kennt. Der Vater trinkt, ist gewalttätig und ohne Arbeit. Die Mutter kann die Kinder nicht schützen, sie wird selbst gewalttätig. Sie kann nicht einmal sich selbst schützen, sucht Schutz und Liebe bei einem anderen Mann.
Mellani wird misshandelt. Sie kann nichts dagegen tun, sie deckt die Mutter, die sie gegen die Heizung geschlagen hat. Denn sie hat Angst in ein Kinderheim zu müssen, aus dem sie nie wieder herauskommt. Mellani übersteht den Horror nur, weil sie sich in eine Fantasiewelt flüchtet, in der sie die Prinzessin ist. In dieser Traumwelt ist alles schön, alle sind lieb und zuvorkommend zu Mellani. Dort hat sie Würde und übernimmt die Verantwortung für „ihr Volk“. Mehr und mehr kümmert sie sich um die Geschwister, versucht, ihnen wenigstens ein bisschen Essen zu besorgen, und geht mit ihnen zur Jugendstunde in der Gemeinde, weil es da Kekse gibt. Gegenüber den Damen vom Jugendamt spielt sie die häusliche Situation herunter. Erst als die Lage zu Hause zu eskalieren droht, ist Mellani bereit, Hilfe zu suchen …

Mellanis Geschichte ist keine schöne Geschichte. Keine, die man Kindern zu lesen geben möchte, und doch eine, die vermutlich viel zu oft in unseren Landen tatsächlich passiert. Weiand schreibt stringent aus der Perspektive Mellanis, erzählt von der Verwahrlosung, dem Hunger, dem Problemviertel, in dem die Familie lebt. Man ist als Leser dicht bei Mellani, erlebt ihre Ängste, Sorgen, versteht, warum sie handelt, wie sie handelt, und leidet doppelt, weil man weiß, dass es Hilfe gäbe.
Doch man verzweifelt auch fast, weil so viel schief läuft: Das Jugendamt lässt sich mit Ausreden abspeisen, ein düsteres Gespensterbild, das Mellani malt, wird zwar als ausdrucksvoll bewertet, doch nicht als Hilferuf gesehen. Da möchte man die Erwachsenen schütteln und rufen: „Macht doch mal die Augen auf.“ Es ist ehrlich frustrierend, weil man weiß, dass man manchmal nicht helfen kann.

Und genau deshalb habe ich so lange gebraucht über diesen preisgekrönten Roman zu schreiben. Ich bin mir nicht sicher, ob es ein Buch für Kinder ist. Möglicherweise kann es betroffene Kinder trösten, andere jedoch durchaus schockieren. Erwachsenen kann es möglicherweise eine Hilfestellung sein, wie es in misshandelten und traumatisierten Kindern aussieht, wie sie sich zu schützen versuchen. Mag sein, dass es beim Umgang mit solchen Kindern weiterhilft. Ich muss sagen, ich kenne mich da zu wenig aus. Beschwingte Unterhaltung ist dieser Roman auf jeden Fall nicht. Er legt den Finger auf eine wunde Stelle in unserer Gesellschaft, erzählt von den misshandelten Kinder, die viel zu oft allein gelassen werden.
Weiands Roman ist trotz allem packend und hält einen auch nach der Lektüre noch lange im Bann. Er löst intensive Gefühle aus, macht nachdenklich und eben auch ratlos.

Sicher ist aber auch, dass dieser Roman ein großartiges Stück Literatur ist.

Inken Weiand: Ich bin eine Prinzessin, Ruhland Verlag, 2014,  94 Seiten, ausgezeichnet mit dem Kinder- und Jugendliteraturpreis des Landes Steiermark 2012, 14,80 Euro

[Gastinterview] Jeder Augenblick zählt

brownerHeute gibt es die Premiere einer quasi Gemeinschaftsrezension. Ausgangspunkt ist das Buch Alles geschieht heute des New Yorker Autors Jesse Browner, dem ich im ersten Moment mit Skepsis begegnet bin. Ohne Kapitel und dafür mit Bandwurmsätzen entfaltet sich die  Gefühlswelt von Wes, zwischen Party, der MS-kranken Mutter, dem gescheiterten Vater und einem Kalbsbries-Rezept, im Zeitraum eines Tages. Auch wenn ich Bandwurmsätze nicht besonders mag, war ich nach den ersten Seiten gefesselt von Wes‘ Welt, die kurz vor dem Kollaps zu stehen scheint, nur weil er zum ersten Mal mit einem Mädchen geschlafen hat. Dem falschen, wie er glaubt …

Nach der mitreißenden Lektüre erfuhr ich auf der Buchmesse in Frankfurt, dass die Tochter der Übersetzerin Anne Brauner den Autor in New York getroffen und interviewt hat. Großartigerweise hat Tabea Brauner sich bereit erklärt, ihr Interview auf letteraturen zu veröffentlichen. Herzlichen Dank dafür!

 

Everything Happens Today – Alles geschieht heute!
“It’s a frame that I love, because it makes every moment count!”

Wie der Titel schon sagt, porträtiert Jesse Browner einen einzigen Tag im Leben des 17- jährigen Wes, eines philosophischen, intelligenten New Yorkers, der hin und hergerissen ist zwischen der intellektuellen, unnahbaren Delia und der verführerischen, frechen Lucy, die Gerüchten zufolge eine Schlampe sein soll. Als gäbe ihm das nicht genug zu denken, muss er sich auch noch mit seiner schwer kranken Mutter und seinem wortkargen Vater herumschlagen und sich um seine jüngere, süße Schwester kümmern, die sich manchmal wohl eher um ihn zu kümmern scheint. Gleichzeitig möchte er in der Schule seinen Ruf als bester Literat aufrechterhalten und sucht sich für eine Hausarbeit ausgerechnet Krieg und Frieden von Leo Tolstoi aus.

Tabea Brauner: Jesse, für wen würden Sie sich entscheiden, Delia oder Lucy?

Jesse Browner: Die Inspiration zu Delias Charakter stammt von einem Mädchen, in das ich verliebt war, als ich so alt war wie du. Ich war total verrückt nach ihr, aber sie hat mir nicht gut getan. Mir gefällt Lucy (außer, dass sie zu jung für mich ist), und ich hätte gern so jemanden wie sie kennengelernt, der es mir gesagt hätte, wenn ich mich in Gefühlsdingen dämlich anstelle. So jemand kann sehr hilfreich sein!

Was hat Ihre Jugend mit der von Wes gemeinsam?

Meine Mutter war genau wie Wes’ Mutter sehr krank und starb, als ich 15 war. Natürlich verdrängt man diese schrecklichen Erinnerungen, und in meinem Alter ist es, als würde ich in einem Koffer wühlen und das Gesuchte wäre ganz unten vergraben.
Ich habe schon immer viel gelesen und mich in die Geschichten hinein geträumt. Meine Intellektualität ist ähnlich ausgeprägt wie bei Wes, aber auch meine bescheuerten Seiten finde ich in ihm wieder.

Welche Bedeutung haben die Flirt-SMS zwischen Lucy und Wes auf der Party?

Ich habe meine Töchter beobachtet. Wir alle haben iPhones, aber sie benutzen ihre nicht zum Telefonieren, sondern ausschließlich zum Simsen. Das Handy sollte sozusagen einen eigenen Charakter haben, mit dem ich nicht nur die natürliche Verständigung darstellen kann, sondern auf symbolische Art auch die Nicht-Kommunikation beim SMS-Schreiben.

Wes durchlebt einen ganz besonderen Tag voller verschiedener Gefühle – gab es so einen auch in Ihrem Leben?

Nein. Ich bezweifele, dass viele Menschen im wirklichen Leben einen solchen Tag erlebt haben. Es geht auch nicht darum, dass alles unbedingt an einem Tag geschehen sollte, sondern darum, dass die Dinge wahrheitsgetreuer erscheinen, wenn sie nicht der Wirklichkeit entsprechen.
Die Handlung in meinem Roman The Uncertain Hour findet ebenfalls innerhalb von zwölf Stunden statt. Ich liebe diesen Rahmen!

Jesse Browner, Schriftsteller, ausgezeichneter Übersetzer und Food-Journalist wurde in London geboren. In den vergangenen Jahren sind von ihm die Romane The Uncertain Hour (Bloomsbury 2007) und The Duchess Who Wouldn’t Sit Down: An Informal History of Hospitality (Bloomsbury 2003) erschienen. Zudem übersetzt er unter anderem Werke von Jean Cocteau, Paul Éluard und Rainer Maria Rilke. Journalistische Beiträge Browners finden sich in Magazinen wie The New York Times Book Review, New York magazine sowie in Food & Wine und Gastronomica.
Der Autor wohnt mit seiner Frau und zwei Töchtern in Lower Manhattan.

Tabea Brauner (18) führte das Interview in New York.

Jesse Browner: Alles geschieht heuteÜbersetzung: Anne Brauner,  Freies Geistesleben, 2014, 249 Seiten, 19,90 Euro, als E-Book 16,99 Euro.

Unsere Herzen brauchen Liebe

parnassMit manchen Persönlichkeiten geht es mir wie mit gewissen Sehenswürdigkeiten in meiner Heimatstadt: Sie sind da, ich kenne ihre Namen, ahne etwas über sie und habe mich aber noch nie näher mit ihnen befasst.
So ist es bei mir mit Peggy Parnass. Sie war immer irgendwie da, in Hamburg, in meinem Bewusstsein, da war diese Ahnung, dass sie etwas Linkes, Revolutionäres, Emanzipiertes gemacht hat. So in der Art.
Gestern habe ich sie auf der Buchpräsentation von Kindheit kennengelernt. Und eine weitere Bildungslücke annährungsweise geschlossen.

Kindheit ist ein Buch mit einer ganz eigenen Geschichte, neben der Geschichte, die darin erzählt wird. Zugrunde liegt allem die Freundschaft zwischen der Künstlerin Tita do Rêgo Silva und Peggy Parnass. Die beiden sind seit vielen Jahren Nachbarinnen in der Langen Reihe in Sankt Georg. Tita wurde auf Peggy aufmerksam, als diese immer splitterfasernackt ihre Blumen auf dem Balkon goss. Aus Neugierde wurde Nachbarschaftshilfe, Freundschaft, Liebe.
Tita, von Peggys Kindheit fasziniert, initiierte vor zwei Jahren dieses Buchprojekt. Der Text Kindheit aus Peggy Parnass‘ Buch Unter die Haut bildet dabei die Grundlage für Titas Illustrationen.

Tita, die vor vielen Jahren aus Brasilien nach Hamburg gekommen ist, stellt Holzschnitte her. Ursprünglich plante sie das Buch mit einer Auflage von 100 Exemplaren. Doch der Verleger und Drucker Klaus Raasch überzeugte sie davon, eine größere Auflage zu produzieren. Im Museum der Arbeit in Barmbek stehen nämlich noch die alten Druckmaschinen, die die Kunst des Holzschnittes perfekt umsetzen können.
Die Drucke für Kindheit entstanden mit der Technik der „verlorenen Form“, bei der Tita nach jedem Druckdurchlauf an der Holzplatte weiter schneidet, bis die nächste Farbe damit auf die zuvor gedruckten Bögen aufgebracht werden kann. Das erfordert ungemeine Präzision, Geduld und Geschick von allen Beteiligten, denn es gibt kein Zurück, kein Verbessern, kein Nochmal. So entstanden 1000 Exemplare von Kindheit, mit viel leuchtendem Gelb und Figuren mit Unmengen an Locken, was sich Peggy gewünscht hatte. Peggy durfte allerdings bis zum Schluss die Holzschnitte nicht sehen. Tita wollte sich nicht von ihr hereinreden lassen. Eine verständliche, im Nachhinein aber völlig unbegründete Sorge: Peggy war begeistert, von Titas Stil und ihren sympathischen Mensch-Tier-Figuren, die Peggys Geschichte genau entsprachen. 2013 prämierte die Stiftung Buchkunst Kindheit als eines der schönsten Bücher des Jahres.
Die 1000 Exemplare waren rasch vergriffen. Nachdruck durch die Technik der „verlorenen Form“ unmöglich. Bis die beiden Urheberinnen von Kindheit 2013 in der NDR-Talkshow saßen, ihr Buch präsentierten und meinten, sie suchten einen Verlag. Der Ausruf von Hubertus Meyer-Burckhardt noch in der Sendung: „Der ist hiermit gefunden“ sollte sich bewahrheiten.
Der Fischer Verlag sicherte sich die Rechte und hat nun Kindheit in der Reihe „Die Bücher mit dem blauen Band“ in einer Reproduktion neu herausgegeben. Es ist zwar kleiner im Format, aber dennoch strahlen die Farben, vor allem Peggys Gelb ganz warm und wohlig. Die Holzschnitte von Tita zeigen das Paradies, in dem Peggy lebte, bevor ihre Eltern in Treblinka umkamen. Aber auch die Hölle von Naziterror und Kinderverschickung. Den Anfang mach die Liebe zwischen Peggys Mutti und ihrem Vater Pudl – sie hätte nicht schöner und größer sein können. Pudl, der Filou und Zocker, stellt die Mutter zwar immer auf eine harte Probe, wenn er mal tagelang verschwindet, doch die Wiedersehen werden zu einem Fest der Liebe und einem Kussmarathon. Als Pudl deportiert wird, verschickt die Mutter Peggy und ihren kleine Bruder Bübchen nach Schweden. Sie rettet damit den Kinder zwar das Leben, doch Liebe gab es für die beiden ab dem Moment nicht mehr. Waisenhäuser, Pflegefamilien, Erziehungsdrachen wechselten sich ab. Peggy stürzte sich nach dem Krieg ins Leben und in die Liebe.

Gestern Abend zeigte sie in der Galerie Morgenland, dem Veranstaltungsraum der Geschichtswerkstatt Eimsbüttel, Fotos von ihren Lieben und ihrem Leben. Der verwegene Pudl, der „so dumm war wie die meisten Männer der Welt“ (Peggy-O-Ton), die schöne Mutter, das blondgelockte Bübchen, den die Nazijugend auf der Straße übel verprügelt haben, Peggys Sohn Kimmi, alle sind hier zu sehen. Immer wieder verharrt Peggy voll Sehnsucht vor den Fotos, um dann mit wachem Geist, die unglaublichsten Dinge zu erzählen. Wie selbstverständlich lässt sie die Namen ihrer Wegbegleiter fallen, Erich Fried, Erika Runge, Axel Eggebrecht, Georg Stefan Troller, Peter Weiss, Peter Rühmkorf, Ralph Giordano und jede Menge weitere. Viele Namen sagen mir nichts, da bin ich trotz meines Alters entweder zu jung oder zu ignorant gewesen, andere verweisen auf die kultur-politische Szene Deutschlands, die in den 60er-, 70er-, 80er-Jahren das Land geprägt haben. Und Peggy immer mittendrin.

Es sind die kurzen, fast nebenbei erzählten Anekdoten, die ihr ganzes Engagement und ihre Liebe zum Leben erkennen lassen. Da sieht man Peggy auf Demos, in Brockdorf, „der verbotenen“, oder aber auf der Demo „Frauen in die Bundeswehr? Wiederstand jetzt“ von 1982. Statt wie Alice Schwarzer die Gleichberechtigung in Form von weiblichen Soldaten zu fordern, sagte Peggy: „Nicht die Frauen sollten rein, sondern die Männer sollten raus.“ Eine Gegenposition, die man in anderen Kontexten auch heute noch ziemlich gut vertreten kann.
Peggy ließ und lässt sich nicht einschüchtern. Und sie stellt sich Diskussionen, die unsereins vermutlich von vornherein als vergebene Hassmüh bezeichnen würde. So setzte sie sich mit dem Nazi Michael Kühnen einst drei Stunden beim Chinesen am Hamburger Hauptbahnhof hin und diskutierte mit ihm. „Aber dem konnte ich nichts beibringen“, sagt sie dann. Man hätte es ihr gegönnt. Die Gründe für ihr ungebrochenes Engagement findet man in Kindheit.
Ungeschönt, direkt und streckenweise rotzig erzählt sie von ihren frühen Erlebnissen. Das wird nicht jedem gefallen. Aber man kann das nicht lesen, ohne ergriffen zu sein. Die Trauer um das verlorene Paradies ist zu groß, der Hass auf die Nazis ungebrochen. Das Werk ist, obwohl unter dem Label KJB bei Fischer erschienen, kein Kinderbuch. Dennoch ist es für Jugendliche eine Bereicherung, hört man doch die Stimme einer der letzten Zeitzeuginnen ganz unmittelbar und mit allen emotionalen Schattierungen. Die Holzschnitte von Tita do Rêgo Silva fangen mit ihrer Heiterkeit viel von dem Schrecken auf, der aus den Worten spricht. Ein gelungener Kontrast, allemal.

In Sachen Peggy Parnass habe ich nun noch eine Menge nachzuholen, an Lektüre und Film und Zeitgeschichte, aber nach diesem erhellenden Abend bleibt mir im Moment nur, mich vor dieser großen Dame des Widerstands zu verneigen.

Peggy Parnass/Tita do Rêgo Silva: Kindheit. Wie unsere Mutter uns vor den Nazis rettete, Fischer KJB, 2014, 80 Seiten, 14,99 Euro

Pädagogische Abgründe

ludwigGibt es Kinderbücher, die keine Kinderbücher sind? Im Falle von Sabine Ludwigs neuem Roman Schwarze Häuser möchte ich fast sagen, ja. Aber ganz so einfach ist es nicht.

Ludwig erzählt die Geschichte der 12-jährigen Uli, die für sechs Wochen in ein Kinderheim an die Nordsee geschickt wird, zur Erholung. Das Ganze ist Mitte der 1960er Jahre angesiedelt.
Uli kommt aus Berlin, dort wohnt sie bei ihrer Oma. Auf der Insel lernt sie die Mädchen Fritze, Freya und die kleine Anneliese kennen. Jede von ihnen hat Probleme: Fritze kommt aus einem Künstlerhaushalt und wird von den Mitschülern gemobbt, Anneliese lutscht mit acht Jahren noch am Daumen und scheint in ihrer Entwicklung etwas zurückgeblieben zu sein, Freya meint aus einer intakten Arztfamilie zu kommen, doch auch da liegt etwas im Argen. Uli selbst ist unehelich geboren, und erst vor kurzem hat die Mutter einen Mann geheiratet, der nicht Ulis Vater ist.

Doch anstatt sich von den häuslichen Dramen erholen zu können, erwartet die Kinder im Heim das strenge Regime von Schwester Hildegard und der Heimleiterin Frau Butt. Mädchen und Jungen werden getrennt und zwar nicht nur in Sachen Schlafsäle, sondern auch beim Essen und beim Spielen. Kontakt unerwünscht. Die Jungs werden durchweg „netter“ behandelt als die Mädchen: Sie bekommen Brötchen zum Frühstück, während die Mädchen mit Milchsuppe versorgt werden. Das Essen wird zu einem beherrschenden Moment für die Mädchen, denn es ist schlecht, sehr, sehr schlecht. Es ist zu wenig, eklig, alt, verschimmelt, mit Maden durchsetzt, einfach fürchterlich. Die vier Hauptfiguren leiden regelrecht Hunger. Wagen sie es, die Qualität des Essens anzumahnen, werden sie drakonisch bestraft: Fensterputzen, Essensentzug oder umgekehrt Zwangsessen mit schrecklich fetter Butterkremtorte – die ihnen natürlich auch nicht bekommt. Dazu ist es kalt, es zieht durch die Fenster, Kuscheltiere sind nicht erlaubt, die Post wird kontrolliert. Es ist ein elender Leidensweg, den Uli und ihre Zimmergenossinnen beschreiten müssen. Sie magern ab, werden krank und die Stimmung ist alles andere als rosig oder gar erholsam. Als Freya dann noch eine schlechte Nachricht von zu Hause bekommt, reißt sie aus. Ihre Freundinnen kommen ihr zu Hilfe, doch die Rettungsaktion endet im Watt …

Sabine Ludwig beschreibt die schwarze Pädagogik, die vor einem halben Jahrhundert hier an der Tagesordnung war, sehr präzise und mit all der psychologischen Perfidität, die den Kindern immer wieder das Gefühl vermittelte, sie wären selbst an ihrem Unglück Schuld. Es ist eine ergreifende Lektüre, auch in dem Sinne, dass man als Ältere das alles so verdammt gut nachvollziehen und mitleiden kann. Dabei habe ich noch Glück gehabt und so Schlimmes nicht selbst erlebt, höchsten die Ausläufer noch mitbekommen. Was mir aber schon gereicht hat.

Vielleicht hadere ich deshalb damit, dieses Buch als Kinderbuch zu bezeichnen. Keinem Kind wünscht man solche Erlebnisse. Nie. Und schon die Lektüre kommt mir fast zu grausam vor. Dann jedoch denke ich, vielleicht sollten sie es gerade deshalb auf jeden Fall lesen, auch um zu erfahren, dass es andere Zustände gab (obwohl sich in manchen Heimen heute noch Ähnliches, wenn nicht gar Schlimmeres abspielt …). Denn auch diese Art des Umgangs mit Kindern ist ein Teil unserer Vergangenheit. Daran zu erinnern, damit es nicht wieder passiert, ist wichtig. Daran zu erinnern, was Eltern und Großeltern in der Kindheit durchgemacht haben könnten, ist ebenso wichtig, kann es doch eine mögliche Ursache für ihr heutiges Verhalten sein. Das sollten Kinder durchaus wissen. Nur sollte man sie bei der Lektüre von Schwarze Häuser nicht allein lassen, sondern ihre Fragen, die mit Sicherheit kommen werden, in aller Offenheit beantworten und ihnen so den Grusel nehmen.

Sabine Ludwig: Schwarze Häuser, Dressler, 2014, 352 Seiten,  ab 10, 14,99 Euro

 

[Jugendrezension] Die Unvernunft der Menschen

outlawsSpanien, 1978. Franco ist seit drei Jahren tot, und das Land ist auf dem Weg in die Demokratie.
Dieser Sommer wird für Ignacio Cañas in Javier Cercas‘ Roman Outlaws der Sommer seines Lebens. Er lernt die schöne Tere kennen, und Zarco, der später zur Legende wird.

Doch zuerst sehen Ignacios Aussichten für diesen Sommer nicht so rosig aus, wegen Bastia, einem Jungen, der ihm das Leben zur Hölle macht. Seine Schulfreunde wenden sich von Ignacio ab. Er geht ihnen deshalb aus dem Weg. Eines Tages trifft er eine Gruppe Jugendlicher aus den Behelfsunterkünften. Ihr Anführer, der 17-jährige Quinqui Zarco, zeigt Interesse an Ignacio, dem schüchternen Jungen aus der Mittelschicht. Auch das Mädchen Tere hat es Ignacio angetan. Ignacio treibt sich immer öfter mit ihnen herum. Als Erstes begehen die Jugendlichen nur kleinere Diebstähle, aber als Ignacio dazustößt, werden aus ihnen bewaffnete Verbrecher. Sie nehmen Drogen, überfallen Banken und stehlen Autos.
Als sie eines Tages geschnappt werden, kann Ignacio entkommen. Mit Hilfe seiner Familie kommt er wieder auf den richtigen Weg. Doch dieser Sommer hat ihn verändert: Er ist erwachsen geworden. Von Bastia lässt er sich nichts mehr gefallen und findet neue Freunde. Von seiner Vergangenheit mit Zarcos Bande erzählt er niemanden. Das Mädchen Tere hakt er als Sommerromanze ab.

Spanien, 1999. Fast alle Mitglieder aus Zarcos Bande sind gestorben, an Drogen oder Ähnlichem. Zarco hat sein Leben hinter Gittern zugebracht. Er ist zu einem Mythos geworden und steht für die Jugendkriminalität in Spanien in den 70er und 80er Jahren. Zahlreiche Bücher wurden über ihn geschrieben und sein Leben wurde mehrmals verfilmt.
Ignacio Cañas dagegen ist nun Anwalt. Er hat seine eigene Kanzlei und genießt großes Ansehen. Dass er zu Zarcos Bande gehörte, ist nicht bekannt. Plötzlich taucht die schöne Tere wieder auf. Sie bittet Ignacio, Zarco vor Gericht zu vertreten. Ignacio zögert erst. Dann merkt er, dass er Tere immer noch liebt. Also übernimmt er Zarcos Verteidigung. Alte Erinnerungen kommen hoch, und keiner weiß, was die Zukunft bringen wird …

Der Roman Outlaws besteht aus zahlreichen Gesprächen. Ein Autor will ein Buch über Zarco schreiben. Deshalb trifft er sich mit einem ehemaligen Polizisten, einem Gefängnisdirektor und Ignacio. Sie alle erzählen ihm ihre Erlebnisse. Anfangs fand ich das gewöhnungsbedürftig, aber je mehr ich las, desto spannender wurde es. Der Autor stellt geschickte Fragen und lenkt die Gespräche in bestimmte Richtungen. Es ist fesselnd, wie sich die Geschichte entwickelt, und wie die verschiedenen Personen sie erlebten. Am meisten wird von Ignacio erzählt, aber es ist gut, dass auch andere Zeitzeugen zu Wort kommen. So baut sich eine komplexe Geschichte auf. Sie ist oft traurig und wirft an vielen Stellen philosophische Fragen auf: Ist die Gesellschaft schuld? Kann Zarco in der Freiheit zurechtkommen, obwohl er sein halbes Leben in Gefängnissen verbracht hat? Können Menschen sich ändern? Ist die Wahrheit das Einzige, für das es sich zu leben lohnt?

Nach Anatomie eines Augenblicks hat Javier Cercas mit Outlaws wieder einen Roman zur Aufarbeitung Spaniens jüngster Geschichte geschrieben. Es ist aber kein Sachbuch, sondern eine spannende Erzählung. Man lernt, ohne es zu merken, eine Menge über Menschen. Zarco zerbricht schließlich am Widerspruch zwischen seiner realen Person und seinem Mythos. Tere bleibt undurchschaubar. Liegt ihr wirklich etwas an Ignacio? Wie ist ihre wahre Beziehung zu Zarco?

Durch die stilistische Grundidee mit dem Autor, der mit anderen Leuten über Zarco redet, wirkt die Geschichte besonders glaubhaft. Eine originelle Idee, die mir immer besser gefallen hat. Man erfährt, wie die Personen heute über alles denken. Der Autor stellt viele intelligente Fragen, aber das Buch ist so geschrieben, dass man die Antworten nicht direkt geliefert bekommt. Man muss selbst mitdenken. Auf viele dieser Fragen gibt es verschiedene Antworten – oder keine. Menschen handeln eben oft unvernünftig.

„Javier Cercas schreibt fesselnd und aufwühlend über eine verlorene Jugend voller Wünsche und Sehnsüchte und zerrissener Freundschaften“, steht in der Kurzbeschreibung. Ich würde eher von einem ganzen Leben sprechen, denn die Geschichte geht bis heute. Und wie Ignacio am Ende sagt: Vielleicht ist dies noch nicht das Ende. Vielleicht ist ihm noch nicht alles passiert, was ihm passieren soll.

Ein Roman, der mir lange im Kopf blieb!

Juliane (15)

Javier Cercas: Outlaws, Übersetzung: Susanne Lange, Fischer, 2014,  512 Seiten, 24,99 Euro

Agnese, die Lagune und die Deutschen

agneseEndlich, endlich halte ich mein frisch gedrucktes, neu aufgelegtes, neu bearbeitetes italienisches Herzensbuch in Händen: Renata Viganòs Roman Agnese geht in den Tod.
Lange Jahre war dieses Buch auf Deutsch nur als antiquarische Version von 1951 oder 1959 erhältlich. Damals hatte der Ostberliner Verlag Volk und Welt den Partisanen-Roman veröffentlicht, der heute in Italien zum Schulkanon gehört. Jetzt hat editionfünf diesen Text wieder aus der Versenkung geholt. Passend zum 75. Jahrestag des Beginns des zweiten Weltkriegs.

Renata Viganò erzählt die Geschichte der einfachen Bäuerin und Wäscherin Agnese in den Jahren 1943 bis 1945. Agnese kümmert sich rührend um ihren kranken Mann Palita, bis im Spätsommer 1943, nachdem Mussolini gestürzt wurde und die deutsch-italienische Achse gefallen ist, die Deutschen durch ihr Dorf ziehen. Sie verhaften Verräter und Kommunisten und deportieren in die KZs. Palita überlebt den Transport nach Deutschland nicht. Agnese, eine äußerlich barsche, innerlich jedoch loyale und aufrichtige Frau, erschlägt einen deutschen Soldaten, nachdem dieser Palitas Katze erschossen hat. Nichts hält sie mehr auf ihrem Hof. Sie flüchtet und schließt sich den Partisanen der Gegend an.
Die Widerstandskämpfer verstecken sich zu der Zeit in der riesigen Lagune von Comacchio, die in dem Roman eine zweite Hauptrolle spielt. Von dort aus planen sie ihre Aktionen und brechen meist nachts auf, um ihre Vorräte aufzustocken, Waffen zu besorgen oder den deutschen Soldaten Fallen zu stellen. Agnese schlüpft auf der Flucht vor den deutschen Vergeltungsmaßnahmen bei ihnen unter und wandelt sich dort zur „Mutter der Kompanie“ und zu einer überzeugten Widerstandskämpferin.
Sehnsüchtig erwartet sie zusammen mit den Partisanen die Alliierten, die von Süden aus Italien befreien. Doch die Front rückt nur langsam nach Norden, zu sehr wehren sich die Deutschen und ihre letzten Verbündeten, die italienischen Faschisten. Der strenge Winter 1944/45 verzögert die Befreiung von Norditalien zusätzlich. Die Partisanen in ihren notdürftigen Unterkünften im Schilf leiden unter Regen, Schnee, Frost. Das Wasser der Lagune gefriert, einige der Genossen werden in einem überschwemmten Haus eingeschlossen.
Agnese, die mit der Organisation der „Staffette“, den Botengängerinnen, beauftragt ist, versucht alles, um den Nachschub an Lebensmittel für die Jungs zu gewährleisten. Die alte Frau wächst dabei über sich hinaus, sie wird zur „la Responsabile“, zur Verantwortlichen. Kilometer um Kilometer radelt sie über die Deiche, schleppt Körbe mit Brot, Wein und Käse, aber auch mit Sprengstoff und Flugblättern. Begegnet sie deutschen Patrouillen macht sie aus ihrer Verachtung den Besatzern gegenüber keinen Hehl. Immer wieder ist sie der Gefahr ausgesetzt, als Mörderin eines deutschen Soldaten erkannt zu werden.

Viganòs Roman ist harter Stoff. Der Tod ist ein beständiger Begleiter bei der Lektüre. Dazu kommen das Leiden der italienischen Partisanen, die Übergriffe und Greultaten der Deutschen, die Verschlagenheit der italienischen Faschisten, die Passivität der Alliierten. Der Krieg an und für sich ist hautnah zu spüren. Viganò schrieb in der Tradition des Neorealismus. Ihr Roman kam in Italien 1949 heraus und wurde noch im selben Jahr mit dem Premio Viareggio ausgezeichnet. Die Autorin, die selbst bei den Partisanen gekämpft hat, vermischt darin eigene Erfahrungen mit fiktiven Gestalten. Und illustriert so auf eindrucksvolle Weise, wie sich die Wehrmacht und die SS in den letzten Kriegsjahren in Italien verhalten haben.

Deutschlands Beziehung zu Italien scheint eine ewige Liebesbeziehung, seit Goethes Zeiten und den Filmschmonzetten aus den 50er Jahren (die in neuem Gewand heute immer noch produziert werden). Italien steht oftmals für Amore, Gelato, Kunst und Leichtigkeit. Die bittere Realität des Landes liefern uns Geschichten über Mafia und Korruption, manchmal spannend verpackt als Krimis, wie bei Carlo Lucarelli oder Patrizia Rinaldi, neuerdings mischen sich darunter auch vermehrt die Berichte über die Flüchtlinge aus Afrika. Gern hört man das hierzulande jedoch nicht. Dass Deutschlands Beziehung zu Italien jedoch selbst auch eine ganz düstere Seite hat, ist vielen nicht bekannt oder schon wieder vergessen. Renata Viganòs Roman erinnert nun ganz plastisch wieder daran, dass die Verbrechen der Wehrmacht nicht nur in Osteuropa stattfanden, sondern auch dort. Mit der gleichen Härte, der gleichen Unbarmherzigkeit. Aufgearbeitet sind diese Verbrechen noch viel zu wenig, wie eine deutsch-italienische Historikerkommission in ihrem Abschlussbericht im Juli 2012 festgestellt hat, und zwar auf beiden Seiten.

Mir ist Viganòs Roman zum ersten Mal 1992 während meines Studienjahres in Florenz untergekommen, und schon damals war ich fasziniert. Aus meinem Vorhaben, über den Roman meine Magisterarbeit zu schreiben, ist damals leider nichts geworden. Dann stand der Roman bei mir im Regal und lauerte in meinem Hinterkopf – bis sich editionfünf bereit erklärte, ihn in neuem Gewand herauszubringen.
Ich hätte gern eine richtige Neuübersetzung gemacht, doch wie immer ist das auch eine Frage der Finanzen. So konnte ich aber immerhin die alte Übersetzung von Ina Jun-Broda, die 1959 schon einmal von Ernst-August Nicklas redigiert worden war, gründlich überarbeiten. Es war nicht weniger Arbeit, vielmehr eine Gratwanderung zwischen drei verschiedenen Versionen (dem italienischen Original und den beiden DDR-Ausgaben). Ich glaube jedoch, dass nun Viganòs Text auch auf deutsch so frisch und hoffentlich zeitlos wirkt wie das italienische Original. Agnese geht in den Tod ist ein Puzzlestück, das eine weitere Nuance des zweiten Weltkrieges beleuchtet und damit zur Aufarbeitung beiträgt, die die Historiker einfordern.

Es bleibt die Hoffnung, dass sich das romantische Italienbild vielleicht ein winziges Bisschen zum Realistischen hin verschiebt und der nächste Italienurlaub möglicherweise mit anderen Augen genossen wird.

Renata Viganò: Agnese geht in den Tod, Übersetzung: Ina Jun-Broda, Neubearbeitung und Nachwort: Ulrike Schimming, editionfünf, 2014, 316 Seiten, 21,90 Euro

[Jugendrezension] Transpazifisches Rätsel

ruthNaoko, Nao genannt, (gesprochen „now“) ist ein 16-jähriges Mädchen, das mit ihren Eltern von Sunnyvale (in den USA) nach Tokio umziehen muss. Jedoch beherrscht sie kaum die japanische Sprache und fühlt sich dort auch nicht wohl. Von ihren Mitschülern wird sie brutal gequält und schließlich ignoriert, so als wäre sie nicht da.
Auch zu Hause gibt es bei ihr nur Probleme: Ihr Vater ist arbeitslos und geht nur noch nachts aus dem Haus. Er hat schon mehrmals versucht, sich das Leben zu nehmen,  hat es aber noch nicht geschafft. Naos Mutter arbeitet und hat deshalb keine Zeit für sie. Der einzige Mensch, der wirklich für sie da ist, ist ihre 104 Jahre alte Urgroßmutter, Jiko Yasutani, die Zen-Buddhistische Nonne ist. Sie fängt Nao auf und kümmert sich um sie.

Nao und ihre Geschichte sind nur ein Teil des Buches. In dem anderen Teil lernt man Ruth kennen. Ruth lebt mit ihrem Mann Oliver auf einer kanadischen Pazifikinsel und findet Naos Tagebuch mit mehreren Briefen und einer alten Uhr in einer Hello-Kitty-Lunchbox, die in einem Gefrierbeutel verpackt ist. Ruth fängt an, das Tagebuch von Nao zu lesen. Sie interessiert sich für das Mädchen, deshalb recherchiert sie, wo sie nur kann. Immer wieder denkt sie darüber nach, ob Nao noch lebt und wie diese Hello-Kitty-Lunchbox an den Strand gekommen ist.

Ruth Ozeki, die Autorin von Geschichte für einen Augenblick, schreibt über mehrere Themen, wie zum Beispiel über Kamikaze-Piloten im Zweiten Weltkrieg, Quantenphysik und Mobbing.

Geschichte für einen Augenblick hat 559 Seiten, und Ruth Ozeki schreibt abwechselnd von Nao und Ruth. Am Schluss befinden sich noch fünf Anhänge. Trotz der vielen Seiten sollte man sich nicht abschrecken lassen und dieses Buch auf jeden Fall lesen, denn es lohnt sich.

Besonders die letzten 200 Seiten haben mir sehr gut gefallen und insgesamt regt das Buch auch zum Nachdenken an. Wird Ruth Nao finden? Lebt Nao überhaupt noch? Wie fühlt sich Nao?

Mir hat das Buch sehr gut gefallen, und ich kann es nur weiterempfehlen. 

Laura (14)

Ruth Ozeki: Geschichte für einen Augenblick, Übersetzung: Tobias Schnettler, S. FISCHER, 2014, 560 Seiten, 19,99 Euro

Der Spiegel der Gefühle

Manchmal spielt einem das Leseleben merkwürdige Streiche. Diesmal aus der Abteilung: ein Thema, zwei Varianten. Automatisch fängt man zu vergleichen und kommt auf die unterschiedlichsten Gedanken.

schwarzweißGerade habe ich zwei Bücher gelesen, in denen das Asperger Syndrom eine ausschlaggebende Rolle spielt. In de
m Kinderbuch Schwarz-weiß hat viele Farben von Kathryn Erskine, übersetzt von Ingrid Ickler, lebt die 10-jährige Caitlin mit Asperger. Sie muss den Tod ihres älteren Bruders Devon verarbeiten, der bei einem Amok-Lauf an der Highschool erschossen wurde. Trauer ist ihr fremd, Gesichtsausdrücke ihrer Mitmenschen kann sie nicht deuten, Worte und Sätze nimmt sie wörtlich. Im Laufe des Buches lernt sie ganz langsam, was es heißt, emphatisch zu sein. Sie lernt, um ihren toten Bruder zu trauern.

Bei Das Rosie-Projekt von Graeme Simsion, übersetzt von Annette Hahn, hingegen sucht Professor Don Tillman eine Frau. Das fällt dem Akademiker nicht leicht, denn er hält sich für anders konfiguriert und bringt das überhaupt nicht mit dem Asperger Syndrom in Verbindung. Um das Verehelichungsprojekt effektiv voranzutreiben, entwickelt er einen Fragebogen für die potentielle Gattin, der jedoch nicht mit menschlich-chaotischem Verhalten kompatibel ist.
Sein Freund Gene schickt daraufhin Rosie zu Don, die so überhaupt nicht den Fragebogen-Parametern entspricht. Sie ist unpünktlich, Vegetarierin, raucht. Und sie sucht nach ihrem leiblichen Vater. Gen-Forscher Don ist abgestoßen und fasziniert zugleich und will ihr helfen, was jedoch durch sein mangelndes Einfühlungsvermögen und sein durchstrukturiertes Leben nicht ganz einfach wird.

rosieDas Rosie-Projekt ist eine charmant-chaotische Lovestory, deren Witz sich aus dem Kontrast nährt, dass unser menschlicher Umgang, selbst im alltäglichen Leben von Empathie und Gefühlen geprägt ist, die Asperger-Menschen nicht lesen und entschlüsseln können. Asperger-Menschen können in Gesichtern und dem Mienenspiel ihrer Gesprächspartner keine Emotionen erkennen. Ebenso können sie mit Doppeldeutigkeiten von Sprache nichts anfangen. Im Rosie-Projekt hält der Australier Simsion diesen Kontrast perfekt bis zum Ende durch, mit jeder Menge Wendungen und Gimmicks. Das ist richtig gute Unterhaltungsliteratur, die man wie im Rausch verschlingt und auf deren Verfilmung man sich bereits freut. Gleichzeitig schließt man Don Tillman mit seiner Asperger-Art so ins Herz, dass man diese „andere Konfiguration“ vorbehaltlos akzeptiert.

Caitlin in Schwarz-weiß hat viele Farben der Amerikanerin Erskine hat es da schon schwerer. Sie weiß ganz genau, dass sie das Asperger-Syndrom hat. Und ihre Umwelt, vor allem die Mitschüler, lässt es sie immer wieder wissen. Da wird sie als „verrückt“ und „bekloppt“ bezeichnet. Niemand möchte mit ihr wirklich befreundet sein. Nur der jüngere Michael findet Caitlin ganz normal. Aber die beiden Kinder teilen das gleiche Schicksal: Sie haben ein Familienmitglied bei einem Amok-Lauf verloren. Das schweißt zusammen. Caitlin hat zudem noch Mrs. Brook, die Schulpsychologin. In Gesprächen versucht sie, Caitlin zu helfen und das Erlebte zu verarbeiten.

Die Parallelen dieser beiden Romane sind unübersehbar: Don und Caitlin leben beide mit dem Asperger-Syndrom, beide haben Ausnahmefähigkeiten (Don als Genetiker, Caitlin kann extrem gut zeichnen), beide haben Schwierigkeiten mit Gefühlen. Aber beide entwickeln sich in den Geschichten weiter. Beide bringen dem Leser Menschen mit Asperger näher. Und das ist toll. Sie zeigen, dass man auch ohne Asperger-Syndrom seine Mitmenschen genauer betrachten sollte, als man das gemeinhin so tut. Caitlin nennt das „dem-Menschen-ins-Gesicht-schauen“. Davon kann sich jeder Leser, egal wie alt er ist, eine Scheibe abschneiden.

Was bei diesen beiden Büchern natürlich sofort auffällt, ist, dass den jungen Lesern vom Schwarz-weiß hat viele Farben eine hammerharte Geschichte zugemutet wird. Zwar wird das Drama um den Amok-Lauf an einer Schule ein kleines bisschen abgemildert, da die Story aus Caitlins Perspektive erzählt wird. Dennoch ist es kein einfaches Kinderbuch, sondern eher ein All-Age-Titel mit Anspruch.
Weitere Schlussfolgerungen über die Themenbearbeitung muss jeder Leser selbst ziehen …

Graeme Simsion: Das RosieProjekt, Übersetzung: Annette Hahn,  Fischer/Krüger, 7. Aufl. 2014, 352 Seiten, 18,99 Euro
Kathryn Erskine: Schwarz-Weiß hat viele Farben, Übersetzung: Ingrid Ickler, Knesebeck, 2014, 224 Seiten, ab 10, 14,95 Euro

[Jugendrezension] Der Tunnel lässt uns nicht fort

klammrothIn dem Roman Klammroth von Isa Grimm sterben durch ein tragisches Unglück viele Kinder. Busse sind in einem Tunnel ineinander gefahren, ein Feuer lodert auf. Die Überlebenden tragen schwere Brandnarben davon, die nie wirklich aufhören zu schmerzen.
Anais ist eine der Überlebenden, und zwar diejenige, die am wenigsten abbekommen hat. Deswegen schauen sie viele Leute, die schwer verletzt wurden, argwöhnisch an. Sofort nach dem Unfall verlässt sie den Ort Klammroth, wo das Unglück passiert ist, und geht in ein Internat.
17 Jahre später kommt sie nach Klammroth zurück, weil ihre Stiefmutter Theodora bei einem Brand ums Leben kam.
Theodora hatte nach dem Unfall eine Klinik für die Brandopfer eingerichtet. Fast alle wurden dort behandelt, doch irgendetwas stimmt mit der Klinik nicht.
Genauso auch mit dem Tunnel, der nach dem Unglück verbarrikadiert wurde. Anais‘ Vater, der pflegebedürftig in einem Heim lebt, ruft Anais nachts an und erzählt ihr von schwarzen Gestalten vor seinem Fenster, die bei Licht wieder verschwinden. Merkwürdig ist nur, dass er nie spricht, wenn Anais ihn besucht. In der kurzen Zeit, in der Anais in Klammroth ist, geschehen viele seltsame Sachen. Nach und nach kommt sie hinter die Geheimnisse der Klinik.

Der Einstieg in das Buch ist fantastisch. Danach passiert erst nicht so viel, doch auf einmal steigt die Spannung immer mehr an und hält sich bis zum Schluss. Isa Grimm schreibt sehr detailliert, so dass alles noch viel gruseliger und spannender wirkt.

Das Buch hat viele Wendungen, und es gibt Sachen, die man sich nicht vorstellen kann. Auch das Ende des Buches ist seltsam, doch wenn  man darüber nachdenkt, eigentlich passend. Insgesamt finde ich das Buch sehr gut und würde es auf jeden Fall weiterempfehlen.

Laura (14)

Isa Grimm: Klammroth, Lübbe, 2014, 335 Seiten, 14,99 Euro

 

Kampf um Emanzipation und Liebe

robin jenniferKonventionen sind eine zweischneidige Angelegenheit. Wir brauchen sie, damit die Gesellschaft und das alltägliche Miteinander funktioniert. Gleichzeitig können Konventionen zu einer Qual werden, wenn sie uns vorschreiben wollen, wie wir zu leben und zu lieben haben. Dass die gesellschaftlichen Konventionen sich wandeln, ist in so einem Fall ein Glück – nur geht das nicht von heute auf morgen. Gegen die Konvention, die vor hundert Jahren in Deutschland geherrscht haben, kämpfen die Mädchen Robin und Jennifer in dem gleichnamigen Roman von Elke Weigel.

Robin wächst als Halbwaise in Cannstadt auf, Jennifer lebt mit Mutter und Stiefvater in Paris. Beide Mädchen fühlen sich zu ihren jeweiligen Freundinnen hingezogen. Robin leidet dabei in dem eher kleinbürgerlichen Umfeld der väterlichen Apotheke mehr als Jennifer, da in dem reichen Haus ihrer Mutter Künstler und Andersdenkende der Pariser Bohéme ein und aus gehen.
Aus den beiden Perspektiven der Mädchen erzählt Weigel die jeweilige Emanzipation. Robin weigert sich schrittweise, die herrschenden Konventionen zu akzeptieren. So lehnt sie das Korsett ab, das ihr die Tante aufdrängen will, stattdessen entscheidet sie sich für Reformkleider und probiert die Herrenklamotten ihrer Brüder. Zudem setzt sie sich durch, dass sie zunächst auf ein Gymnasium, dann auf die Universität gehen kann. Mit Hauswirtschaft und Heiratsplänen hat Robin, im Gegensatz zu ihrer Freundin Paula, nichts am Hut. Als Robins Vater stirbt, zieht Robin zu einem Bruder auf den Monte Verità im Schweizer Tessin.
Jennifer hingegen muss miterleben, wie ihr Stiefvater die Mutter verprügelt und sich, als Jennifer älter wird, an sie heranmacht. Befreiung findet Jennifer im Tanz. Unterstützt von der Mutter lernt sie den so genannten Neuen Tanz. Auf der Flucht vor dem gewalttätigen Ehemann zieht es auch Jennifer und ihre Mutter in die Alternativkolonie.
Dort begegnen sich die nun schon erwachsenen Mädchen  …

Elke Weigel hat mit Robin & Jennifer einen Coming-of-age-Roman der besonderen Art vorgelegt. Eingebettet in die Zeit von 1900 bis 1913 zeigt sie sehr anschaulich, wie schwer es die Mädchen damals hatten, sich in einer patriarchalischen Gesellschaft zu behaupten, wenn sie zum einen mehr wollten als nur einen Ehemann und Kinder und zum anderen gleichgeschlechtlich liebten. Sowohl den Kampf gegen äußere Hindernisse – die lesbische Liebe wurde als krankhaft angesehen – als auch gegen die inneren Ängste – Robin ist hin- und hergerissen zwischen ihrer Liebe zu Jennifer und der Gefahr, die durch den Paragrafen 175 damals Homosexuellen drohte – schildert Weigel fesselnd und mitfühlend.
Die Kulisse des Monte Verità und der alternativen Lebenswelt, die sich die Bewohner dort erschaffen hatten, illustriert zudem den historischen Hintergrund der Entstehung des Ausdruckstanzes, der auf seine Art zur Befreiung eines Menschen von quälenden Konventionen beitragen kann.

Das Besondere an diesem Buch ist, dass Elke Weigel von den Anfängen der Frauenbewegung und der Emanzipation erzählt und das, ohne die Umstände zu verklären oder zu mystifizieren. Die Leserinnen bekommen einen hervorragenden Eindruck, wie mühsam es war, für das zu kämpfen, was uns heute selbstverständlich erscheint (von momentanen Gegenbewegungen möchte ich hier grad nicht reden…). Der Blick in die Vergangenheit weist dabei in mehrfacher Hinsicht in unsere Gegenwart, denn das Erkämpfte sollten wir uns um nichts in der Welt wieder nehmen lassen. Gleichzeitig macht die Geschichte von Robin & Jennifer deutlich, dass es nie einfach war, für sein persönliches Glück, seine Überzeugungen und seine Liebe zu kämpfen. Dabei befruchten sich persönlicher und öffentlicher Kampf immer auch gegenseitig und sind vermutlich ohne einander nicht denkbar. In diesem Sinne macht Weigels Roman Mut, sich in den Kampf zu stürzen.

Elke Weigel: Robin & Jennifer, Konkursbuchverlag, 2014, 347 Seiten, 10,90 Euro