Friedliche Koexistenz mit dem Wollnashorn

Ratgeber

Prinzipiell kann jeder Blödi, der es sonst zu nichts bringt, ganz einfach zwei bis drei Ratschläge zusammenschustern, schreibt die schwedische Autorin Liv Strömquist in ihrem neuen Buch Das Orakel spricht. Und trotzdem oder gerade deshalb werden diese selbsternannten Expertinnen und Experten im Internet und den sozialen Medien gefeiert. Aber warum? Warum vertrauen viele Menschen sich selbst, ihren Gefühlen und Instinkten überhaupt nicht mehr? Und suchen stattdessen zu wirklich jeder Frage, sei es Ernährung, Gesundheit, Karriere oder Kinder Rat bei ihnen völlig unbekannten Leuten, nur weil diese so überzeugend und allwissend auftreten. »Man verliert den Glauben, dass man selbst weiß, wie frühstücken geht«, bringt Strömquist die Absurdität dieses Trends auf den Punkt.

Gedankengänge als mäandernde Sprechblasenschlangen

Mit ihrem brillanten Debüt Der Ursprung der Welt hat Strömquist ein eigenes Genre erschaffen, man kann es Graphic Essay nennen. In Comicform beleuchtet sie ein Gegenwartsthema gründlich und aus verschiedenen Blickwinkeln, sei es der weibliche Körper, Schönheitsideale, die Rolle von Frauen in der Gesellschaft oder eben aktuell der Ratgeberkult zur Selbstoptimierung. Sie zitiert Philosophinnen und Soziologen, Mediziner, Biologinnen, Anthropologen und zahlreiche Studien. Und gestaltet das Ganze eingängig in ihrem einzigartigen Stil, mit schrägen Schaubildern, pointiert positionierten Protagonisten und Stichwortgebern, darunter auch immer mal wieder ihr Alter Ego. Gedankengänge oder Rede- und Widerrede mäandern als Sprechblasenschlangen über ganze Seiten. Ihr besonderer Bildwitz visualisiert und unterstreicht die intelligenten Gedankengänge und Analysen.

Leben verlängern, aber nicht genießen

Im Orakel kommen unter anderem kluge Köpfe wie die Philosophen und Theoretiker Byung Chul Han, Theodor Adorno und Slavoj Žižek und die Schriftstellerin Doris Lessing zu Wort. Und versuchen zu ergründen, warum man mit sich immer unzufrieden ist, den eigenen Gesundheitsstatus an Messwerten festmacht und das eigenen Leben zwar meint verlängern zu müssen, aber nicht genießen kann. Auch mit deren Hilfe demontiert Strömquist in sieben Kapiteln minuziös diverse erfolgreiche und obskure Influencer, über die Jahrhunderte hinweg.
Dabei verliert sie sich teils zu sehr in Details und nicht immer ist schlüssig, warum sich manche Leute angebliche, in der Kindheit erlittene Traumata (die bei näherer Betrachtung eher narzistische Kränkungen sind) ein- und dafür ihre freundschaftliche Hilfsbereitschaft ausreden lassen.

Der Motor des Lebensberatungskults

Der interessanteste Teil findet sich in der Mitte des Buches im vierten Kapitel, wenn das Orakel schließlich tatsächlich spricht. Es fängt an mit Meghan ehemals Markle, heute Frau von Prince Harry, die bei einer Wohltätigkeitsaktion für Sexarbeiterinnen, anstatt Tüten mit Lebensmitteln zu füllen, Bananen beschriftete: »Smile«, »Dream Big«, »Work hard«, »Inspire yourself and others«, »Show and share your worth«. »Für die Empfänger:innen sind diese Ratschläge überhaupt nicht hilfreich, deprimierend und sie schwächen ihr Selbstbewusstsein«, fasst Strömquist den Effekt einer Banane mit »Live, laugh, love« für eine misshandelte Prostituierte in einem treffenden Bild zusammen, bei dem einem das Lachen im Halse stecken bleibt. Warum tut jemand etwas bestenfalls Gedankenloses, eigentlich ziemlich Gemeines?
Tatsächlich geht es Markle und allen anderen ungefragt Ratschläge gebenden Leuten nur um sich selbst. Es macht ihnen nicht nur Spaß, es bestärkt sie. »Sie fühlen sich wichtig, wenn sie uns vorschreiben, wie wir zu leben haben. Das ist der eigentliche Motor der ganzen Lebensberatungs/Expertinnenkultur.«

Folge keinem Rat

Das bringt Strömquist zu einer ganz anderen Beratungsinstanz, nämlich dem bereits im Titel angedeuteten Orakel von Delphi. Hier gab es keinen Personenkult. Zu den besten Zeiten der 1200 Jahre betriebenen Kultstätte verrichteten drei berufene Priesterinnen, meist Frauen über 50, Dienst. Ihre Ratschläge waren mehr Hilfestellungen für die Fragenden, selbst nachzudenken und das Problem zu verstehen. Und der beste Rat, den eine Phytia je gegeben hat, lautete: »Folge keinem Rat.«
Zu dieser klugen Erkenntnis gelangt Strömquist auf teils etwas langatmigen, kryptischen  und detailverlorenen Umwegen. Wahrscheinlich, weil sie versucht zu ergründen, warum selbst sie als selbstbewusste, rationale und gebildete Frau nicht davor gefeit ist, bei vermeintlichen Expert:innen und deren Selbstoptimierungstricks hängen zu bleiben, Zeit zu verplempern und sich verunsichern zu lassen. In der zweiten Hälfte verliert sie  sich zudem in etwas plumper Konsumkritik und den Gefahren von un-sozialen Medien.
»Folge keinem Rat« sagt das Orakel und allein das macht Strömquists Buch lesenswert. Und das ist jetzt kein Rat, sondern eine Empfehlung, selbst nachzudenken.

Ratgeber

Sehr und ohne Einschränkungen empfehlenswert ist auch das neue Sachbuchcomic von Lucia Zamolo. In Und dann noch … zeigt sie witzig, schlau und sehr persönlich, wie man den allgegenwärtigen Selbstoptimierungszwang bezwingt.
Obwohl schon ihr Debüt als Illustratorin und Autorin, ihre Bachelorarbeit Rot ist doch schön über Menstruation, ausgezeichnet wurde und seitdem jedes ihrer Bücher hochkarätige Preise gewonnen hat, kennt sie das Gefühl, sich immer wieder beweisen zu müssen.
Denn »Leistungsgesellschaft bedeutet, Du musst etwas leisten, um Teil der Gesellschaft zu sein«, wie Zamolo ausführt. Die Gleichung lautet »du bist = du machst«, also »du machst nichts = du bist nichts«. Also muss man immer machen, immer was leisten. Das stresst. Anschaulich und eindringlich illustriert Zanolo, was Stress in Körper und Geist auslöst, wenn man permanent bereit ist, zu kämpfen oder zu fliehen, obwohl weit und breit weder Säbelzahntiger noch Wollnashorn in Sicht sind.

Nicht toxisch und sehr persönlich

Eine Pause ist nur nach einem Burnout erlaubt, man muss also erst so viel geleistet haben, dass man sehr krank wird. Anstatt zu pausieren, bevor man krank wird. Eigentlich dachte Zanolo, nachdem sie alles reflektiert und rational erfasst hat, »als super ungestresstes Beispiel vorangehen zu können und sogar noch kluge Tipps geben, wie das so geht.« Tja, denkste. Nur weil man die Zusammenhänge von Stressauslösern und Symptomen verstanden hat, lässt sich das Wollnashorn nicht einfach abschütteln.
Geradezu kontraproduktiv sind solche Ratschläge, vorzugsweise von selbsternannten Experten ungefragt erteilt, die immer nur auf das Positive abzielen. Jeder kann alles erreichen, und wenn nicht, dann hat man sich halt nicht genügend angestrengt, sprich, sich nicht ausreichend optimiert. Toxic Positivity nennt man das, was Menschen, die nicht permanent auf der Sonnenseite stehen, endgültig ins Unglück treiben kann.

… und ohne To-Do-Listen

Wie sie versucht, mit dem Wollnashorn in friedlicher, nicht krankmachender Koexistenz zu leben, zeigt Lucia Zamolo auf ihre mitreißende und besondere Art. Und mit To-do-Listen sollte man nur eins tun: alle wegwerfen. Stattdessen Lucia Zanolos liebenswertes Buch beherzigen. Auch das ist kein Rat. Und bestimmt kein toxischer Tipp.

Liv Strömquist: Das Orakel spricht, Übersetzung: Katharina Erben, avant, 2024, 248 Seiten, 25 Euro, ab 15
Lucia Zamolo: Und dann noch … Wie Stress weniger stresst – fast ohne Toxic Tipps!, Bohem, 2024, 108 Seiten, 18 Euro, ab 14

Gefühl Nummer Drei

zangeIn Plüschgewittern ließen sich nicht mehr ganz junge Menschen Anfang der 90er Jahre noch treiben. So nannte Wolfgang Herrndorff sein Romandebüt, das gleichzeitig diese freudig entspannte Stimmung im Berlin wenige Jahre nach dem Mauerfall beschrieb, mit Parties in halb zerfallenen Häusern, Leben in billigen Altbauwohnungen, alles wunderbar unhip und weit entfernt von Gentrifizierung, Start-ups und Selbstverwirklichungswahn.

25 Jahre später bewegt man sich in wesentlich widrigeren Elementen: Realitätsgewitter machen die Endzwanziger in Julia Zanges Roman zu Getriebenen. Diese Realitäten sind überwiegend virtuelle, die aber für die Protagonisten der Gegenwart die einzig realen und der tatsächliche Lebensraum zu sein scheinen. Mit dem Smartphone verwachsen fühlen sie sich nur unter dem Dauerbombardement von Nachrichten und Tweets lebendig. Ohne zig Friends und Followern auf Facebook und Twitter existiert man nicht, ein permanenter Zwang mehr zu scheinen als zu sein. Julia Zanges Heldin aber kann sich nicht länger erfolgreich mit permanenten Parties, pseudophilosophischem Geplauder, oberflächlichen Beziehungen und tristem Sex betäuben und über das Gefühl der hohlen Sinnlosigkeit hinwegtäuschen. „In den letzten Monaten ist etwas passiert. Etwas ist verschwunden und etwas anderes ist aufgetaucht“, stellt Marla auf den ersten Seiten fest. „Das ganz große Versprechen, das immer in mir schlummerte, etwas, das auf Erlösung hoffte, ein Wunder, ein unsinniger und irrsinniger Antrieb, eine naive Hoffnung, eine Frage – das gibt es nicht mehr. Es wurde ersetzt durch eine blanke, tiefe Traurigkeit, ein seltsames Wohlgefühl und eine Art Langeweile.“

So auf den Punkt beschreibt Julia Zange das Gefühl der Ernüchterung und Enttäuschung, das viele auf dem Weg zum Erwachsenwerden empfinden. „Denn auch wenn bei Gefühl 1 der Boden immerzu schwankte, gab es eine Intensität der Dinge, einen Zauber. Gefühl 2 brachte die Gewissheit, dass sich das Versprechen niemals einlösen wird, dass es keine andere Welt gibt als diese eine.“

Vermeintlich verliebt in einen neurotisch unverbindlichen Amerikaner und Kokskopf mit Hygienefimmel, angeödet vom Praktikum bei einem hippen Modemagazin, von Papa aus emotionaler Erpressung der Geldhahn zugedreht und komplett ideenlos versucht Marla der Leere ihres Lebens zu entkommen. Dazu reist sie zurück ins wohlstandsverwahrloste Elternhaus in die nordrhein-westfälischen Provinz und nach Sylt, um schließlich doch wieder nach Berlin und schließlich auch zu sich selbst zurückzufinden.

Mit sehr viel, gänzlich unkitschigem Lokalkolorit und schlaglichtartig aufblitzenden, politischen Ereignissen des Jahres 2015 (Flüchtlinge, Merkels „wir schaffen das“, Attentat in Nizza) haut die knapp 30-jährige Julia Zange eine höchst moderne Coming-of-Age-Geschichte raus. Weil das alles sehr klug beobachtet ist, darf es gelegentlich etwas altklug klingen, Marla nennt es „kitschigen Facebook-Eintrag“, Altklugheit ist schließlich ein Privileg der Jugend. „Wir haben eine Entscheidungsfreiheit, jede Sekunde. Aber das Seltsamste, was jetzt passiert, ist, dass auf einmal Gefühl 3 auftaucht“, erkennt Marla. „Und das hat etwas mit den anderen Menschen zu tun. Vielleicht kann man erst mit jemandem befreundet sein, wenn man den Falter von seinem Herzen entfernt hat.“

Junge Frauen auf der Suche nach sich und dem Sinn des Lebens in Berlin – das ist als Thema nicht neu. Noch nie hat man es aber so gegenwärtig und nicht zuletzt so elegant formuliert gelesen wie in Realitätsgewitter.

Elke von Berkholz

Julia Zange: Realitätsgewitter, Aufbau Verlag 2016, 157 Seiten, junge Erwachsene, 17,95 Euro