Über Ulrike Schimming

Ulrike Schimming übersetzt Literatur – von Kinder- und Jugendbüchern bis zu Graphic Novels und Comics – aus dem Italienischen und Englischen und arbeitet als freie Lektorin. Dieses E-Magazin entstand aus ihrer Arbeit für die Jugendzeitschrift stern Yuno. Hier stellt sie Neuerscheinungen oder Klassiker der Kinder- und Jugendbuchliteratur vor, Graphic Novels oder Buch-Perlen, denen sie ein paar mehr Leser wünscht. Weitere Infos zu Ulrike Schimming finden Sie unter www.letterata.de

Mehr als Wiedervereinigung

geschichteDie Sonne strahlte heute über Deutschland, das ein Vierteljahrhundert Wiedervereinigung feierte. Ein merkwürdiges Datum, von dem ich nicht mehr weiß, warum es genau auf diesen Tag gelegt wurde. Das verrät auch Peter Zolling in seinem seinem Werk Deutsche Geschichte von 1848 bis zur Gegenwart nicht. Zwar erfahre ich, dass am 3. Oktober 1990 „das Grundgesetz in ganz Deutschland in Kraft trat und die Einheit verwirklicht war“, aber wieso gerade dieser Tag dafür ausgewählt worden war, bleibt im Dunkeln. Wahrscheinlich hat man damals gewürfelt, oder einfach nach einem passenden Termin für einen weiteren Feiertag zwischen Ostern, Pfingsten, Sommerferien und Weihnachten gesucht. Mir soll es recht sein. Vor 25 Jahren jedenfalls stand ich in Florenz auf dem Ponte Vecchio und wurde gefragt, ob die Deutschen denn nun glücklich seien, so wiedervereint. Ich hatte damals keine Antwort darauf, zu sehr ging mir die großdeutsche Euphorie auf den Senkel. Die Beurteilung der aktuellen Ereignissen hat mich in jener Zeit ziemlich überfordert. Heute ist es manchmal auch nicht viel einfacher. Zu komplex scheint die Welt zu sein, zu undurchsichtig die Machenschaften der Politik und der Wirtschaft.

Für die Einordnung von Vergangenem und Tagesgeschäft durch Historiker bin ich daher immer dankbar. Zollings Werk, das jetzt in aktualisiert Form vorliegt, liefert einen grundlegenden Überblick über fast 170 Jahre deutsche Geschichte. Dabei reiht er nicht nur die Fakten aneinander, sondern bringt dem Leser auch die Akteure aus Politik und Gesellschaft mit ihren menschlichen Abgründen näher. Neben den klassischen Stationen – Reichsgründung, Kaiserreich, Weltkriege und Weimarer Republik, Nazi-Diktatur, Teilung, RAF-Terror, Bonner Republik und Wiedervereinigung – reicht Zollings Abriss nun bis zum Sommer diesen Jahres heran.
Die deutsche Politik der ersten anderthalb Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts ist dabei in verstärktem Maße von den globalen Einflüssen und Katastrophen geprägt. Dies wird gerade in der komprimierten Darstellung offensichtlich und eindrucksvoll. Es wird deutlich, wie wenig wir uns hier nur um unseren Kram kümmern können, sondern immer weiter über den Tellerrand hinausblicken müssen, sei es in Sachen Umwelt- oder aktuell in der Flüchtlingspolitik.

Zollings Buch kann eine gute Ergänzung zu den Geschichtsbüchern der Schule sein, jugendliche Leser müssen sich jedoch auf eine journalistisch geprägte Sprache einstellen, die manchmal nicht ganz einfach zu verstehen ist.

Peter Zolling: Deutsche Geschichte von 1848 bis zur Gegenwart. Macht in der Mitte Europas, Hanser, 2015, 448 Seiten,  ab 12, 21,90 Euro

Die Blutprinzessin und die Vogelpracht

cneutHerbst gleich Erntezeit. Irgendwie ist es auch in der Buchbranche so. Jedenfalls bei mir … ist doch grad ganz frisch eine meiner Übersetzungen eingetroffen, die ich in diesem Frühjahr angefertigt habe: Das Märchen Der goldene Käfig von Anna Castagnoli, prächtig illustriert vom Flamen Carll Cneut.

Erzählt wird die Geschichte der verwöhnten und widerspenstigen Prinzessin Valentina und ihrem Tick, Vögel zu sammeln. Wie in Märchen üblich geht es nicht zimperlich zur Sache, denn sobald das gute Kind nicht das bekommt, was es möchte, rollen Köpfe. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Die Interpretation dieser Vorgänge überlasse ich anderen Lesern, meine Vermutung, dass die Autorin sich unter anderem auch von Lewis Carrolls Alice im Wunderland hat inspirieren lassen, habe ich hier schon mal geäußert.

Was ich jetzt aber viel besser einschätzen kann, sind die Illustrationen, besser gesagt, die Gemälde von Carll Cneut. Für die Übersetzung hatte ich vor Monaten nur ein kümmerliches PDF auf dem Bildschirm und war mit dem Kopf eh viel mehr bei den einzelnen Worten und Begriffen als bei den Bildern. Doch nun, im fertigen Zustand, überwältigt mich die Vogelpracht, die Cneut hier geschaffen hat. Jeder Vogel ist eine Persönlichkeit. Jede Seite bietet Schauriges und Schönes. Mal meint man in einem japanischen Holzschnitt gelandet zu sein, dann wieder in der Sesamstraße. Groben Pinselstrich kombiniert er mit feinst ausgearbeiteten Federn, die die Tiere plastisch hervortreten lassen. Valentinas Hutschmuck ist so vielfältig wie ihre Vögel. Den Dienern ist die Überforderung und der Schrecken im Gesicht abzulesen. Die zarten Gewächse des Gartens verwandeln alles in einen Urwald, man hört das Gekreische der Papageien.
Und wenn man dann die Bilder immer wieder betrachtet, so wandelt sich das Gefühl, das man gegenüber der verzogenen, grausamen Blutprinzessin am Anfang hegt, in Mitleid. Denn das arme reiche Kind ist ziemlich einsam …

Ich kann mir zwar kaum vorstellen, dass Vierjährige mit dieser Geschichte viel anfangen können. Aber dafür ist nach oben hin keine Grenze für die Altersempfehlung gesetzt, denn über Valentinas Verhalten und das Ende der Geschichte kann man lange nachdenken und vorzüglich diskutieren.

Für mich ist es heute erneut ein hinreißendes Erlebnis, dass sich die Sätze aus meinem schlichten Word-Dokument nun in einem so wunderschönen Kleid wiederfinden.

Anna Castagnoli/Carll Cneut: Der goldene KäfigÜbersetzung: Ulrike Schimming, Bohem Press, 2015, 48 Seiten,  ab 4, 28,95 Euro

Kinderarmut existiert … nicht?

ajumVergangene Woche war ich als Referentin auf die Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft Jugendliteratur und Medien der GEW (AJuM) eingeladen. Hinter dem etwas sperrigen Namen stehen 500 Lehrer_innen und Pädagog_innen, die als Ehrenamtliche die Kinder- und Jugendbuchliteratur des Landes lesen und rezensieren. Dies macht die AJuM bereits seit über 100 Jahren, doch seit 2003 gibt es die Rezensionen auch im Internet auf der Seite ajum.de zu lesen. Hier prüfen die Rezensent_innen die Publikationen vor allem auf den pädagogischen Nutzen und die Einsatzmöglichkeiten im Unterricht. Im Archiv der AJuM kann man auf mehr als sagenhafte 50.000 Rezensionen zugreifen, mit ganz differenzierten Meinungen.

Ich war gebeten worden, in der evangelischen Akademie in Loccum über meine Arbeit als Buchbloggerin zu erzählen. So traf ich mit zwei Dutzend überaus interessierten Pädagog_innen, aktiven und bereits pensionierten, zusammen und diskutierte zwei Tage lang mit ihnen über Bücher, missratene Klappentexte, Kinderarmut als literarisches Thema, die Verlagswelt im Allgmeinen und wie gute Rezensionen auszusehen haben.
Da ich das Rezensieren auch nur durch learning-by-doing und journalistisches Ausprobieren gelernt habe, war ich dankbar, einmal über die Kategorien eines solchen Textes nachdenken zu können. Hier auf dem Blog unterliege ich zwar nicht den Vorgaben und Zwängen, an die sich die AJuM-Rezensenten halten müssen, doch gibt es Punkte, die auch für mich gelten: Eine Rezension ist mehr als eine Inhaltsangabe, sollte gut lesbar und nicht zu lang sein, das Ende der rezensierten Geschichte darf natürlich nicht gespoilert werden, Erzählperspektive, Sprache, Stil sollten erläutert, die Besonderheiten daran aufgezeigt und eventuell mit einem aussagekräftigen Zitat belegt werden, Worthülsen sollte man vermeiden und sie stattdessen mit Inhalt füllen (beispielsweise sagt das Wort „emotional“ nicht besonders viel, fragt sich der Leser einer Rezension dann vermutlich, ob man denn nun weint oder lacht …). Die Buchausstattung, die Illustrationen oder die Recherche-Arbeit der/s Autor_in sollten ebenfalls gewürdigt werden.
Das hört sich für Viel-Rezensenten möglicherweise völlig selbstverständlich ist, doch alle in der Runde waren dankbar für solche Handreichungen, da das tägliche Schreiben oftmals so automatisiert – oder unter Stress – abläuft, dass wichtige Aspekte manchmal einfach untergehen. Das passiert jedem.

ajumPraktische Anwendung fand dieser Kriterien-Katalog dann an zwei Büchern, die im Vorfeld als Lektüre aufgegeben worden waren. Thema dieser Tagung war die Kinderarmut in Deutschland, flankiert wurde dies durch einem umfang- und aufschlussreichen Vortrag von Michael Klundt, Professor für Kinderpolitik an der Uni Stendal, und einer Lesung von Dirk Reinhardt aus seinem aktuellen Roman Train Kids.
Bei den beiden Büchern für den Rezensions-Workshop handelte es sich um Dave Cousins 15 kopflose Tage, in der Übersetzung von Anne Brauner, und Donna Gepharts Tod durch Klopapier, ins Deutsche gebracht von Sabine Hübner. Letzteres stammt aus den USA, ersteres aus Großbritannien. Die Wahl fiel auf diese beiden Titel auch aus dem Grund, dass es keine deutschen Produktionen zum Thema Kinderarmut gibt. So wie – laut Professor Klundt – für die Politik momentan Kinderarmut in Deutschland nicht existiert, so ist für die Verlage dieses Thema eben nicht lukrativ genug. An diesen zwei Tagen in Loccum haben wir ziemlich häufig die Köpfe geschüttelt.

In Bezug auf die beiden vorzustellenden Bücher war ich anfangs etwas unentschlossen, wie ich sie finden sollte, denn das gesellschaftliche amerikanische und britische Umfeld sticht in beiden Geschichten nämlich ziemlich hervor. Doch im Gespräch in der Runde taten sich dann die Vorzüge dieser Lektüren auf.

Sowohl Cousins als auch Gephart verstehen es vorzüglich, schwierige Familiensituationen, bedrückende Ereignisse und bedrohliche Zukunftsaussichten durch eine liebevolle Darstellung und eine humorvolle Einbettung erträglich zu machen.
In 15 kopflose Tage ist es der 15-jährige Ich-Erzähler Laurence, der mit seinem 6-jährigen Bruder Jay und der alkoholkranken, depressiven Mutter, in einem Brennpunktviertel in einer nicht genannten britischen Großstadt lebt. Eines Tages verschwindet die Mutter und die Jungs sind auf sich allein gestellt. Aus Angst vor dem Jugendamt spielt Laurence gegenüber den Nachbarn vor, dass die Mutter immer gerade bei einem von ihren zwei Jobs ist. Trotz all der Probleme – das Geld geht ihnen aus, Jay wird krank – lieben die Brüder ihre Mutter über alles. Laurence versucht, ihr einen dringend nötigen Urlaub zu verschaffen, den er bei einem Radio-Quiz gewinnen will. Dafür gibt er sich als sein eigenen Vater aus, der die Familie vor Jahren verlassen hat.

Auf der anderen Seite des Atlantiks ist es der 10-jährige Ben, der ebenfalls als Ich-Erzähler in Tod durch Klopapier, seiner Mutter helfen will, nicht aus der Wohnung zu fliegen. Bens Vater ist an Krebs gestorben, die Mutter kann die Miete nicht mehr bezahlen, der Vermieter kündigt ihnen die Wohnung. Ben macht daher bei allen möglichen Gewinnspielen mit, in der Hoffnung, eines Tages den Jackpot zu knacken. Nebenher zieht er an der Schule einen illegalen Handel mit Schokoriegeln auf. Als der demente Großvater bei Ben und seiner Mutter einzieht spitzt sich die Situation zu.

Erstaunlich ist, dass es bei beiden Geschichten gewisse Parallelen gibt: Die Protagonisten können auf gute Freunde zählen, die ihnen ungeachtet ihrer Probleme, für die sie sich schämen, helfen und ihnen den Rücken stärken. Radio-Quiz und Preisausschreiben sind quasi die Ticks der Jungs, die, wenn man die Bücher hintereinander liest, fast wie ein nerviger Erzähl-Trick wirken, aber dennoch eigenständige Funktionen haben. Sie zeigen die Kreativität, Hilfsbereitschaft und Verzweiflung der jungen Helden.
In beiden Fällen handelte es sich vor den dramatischen Entwicklungen bei den Figuren um ganz normale Familien, die durch Schicksalsschläge wie Tod oder Scheidung zu Außenseitern der Gesellschaft werden. Für Kinder und Jugendliche, die in ähnlichen Situationen stecken, mag das vielleicht keine verlockende Lektüre sein, sie könnten dort jedoch das Gefühl finden, dass sie mit ihren Problemen nicht allein sind und Hilfe – trotz aller Scham – möglich ist.
Für alle anderen, die nicht von Armut bedroht sind, bieten die Bücher die Möglichkeit, eine Sensibilität für Freunde, Mitschüler und  Nachbarn mit diesen Problemen zu entwickeln.

Die schwierigen Lebenssituationen der Jungs wird von humoristischen Szenen in den Plots erträglich gemacht: Bens Freund Zahnstocher ist ein Meister in Sachen Horror-Maskenbild, was sich später als überaus hilfreich erweist; Jay hält sich für Scooby-Doo, beißt gern mal zu und bringt den großen Bruder in peinliche Situationen. Zudem ist jedes Buch mit Details ausgestattet, die ein weiteres Aufatmen erlauben: 15 kopflose Tage eröffnet jedes Kapitel mit einer Comic-Seite, die Autor Cousins selbst gezeichnet hat. Tod durch Klopapier liefert an jedem Kapitelanfang hintersinnig-witzige Informationen rund um die Geschichte des Klopapiers.

Die Diskussionsrunde in Loccum war sich bei der Beurteilung dieser Bücher jedoch auch einig, dass die Kinder und Jugendlichen bei dieser Lektüre begleitet werden sollten. Denn im humoristischen Kleid stecken bittere Schicksale, die man nicht so locker wegsteckt.

Zu wünschen bliebe, dass es auch deutsche Geschichten ähnlicher Couleur zu diesem Thema gäbe. Die Politik mag uns ja so Einiges vormachen und Kinderarmut geflissentlich übergehen, doch Bücher sollten die Realität in unserem Land spiegeln, egal wie trist sie ist oder wie wenig lukrativ. Sie könnten als Helfer und Mutmacher eine wichtige Rolle spielen.

Donna Gephart: Tod durch KlopapierÜbersetzung: Sabine Hübner, cbt, 2015, 288 Seiten, ab 10-99, 12,99 Euro

Dave Cousins: 15 kopflose TageÜbersetzung: Anne Brauner, Freies Geistesleben, 2015, 288 Seiten, ab 13, 17,90 Euro

Leise Laute laut lesen lernen

lesenIm vergangenen Jahr habe ich ein paar Stunden Sprechunterricht bei einer Schauspielerin genommen. Ich wollte präpariert sein, um aus einer meiner Übersetzungen vor Publikum zu lesen. Bis dato hatte ich nicht viel vorgelesen, hielt mich auch nicht gerade für talentiert, weil ich mich ständig verhaspelte und Fehler machte und irgendwann keine Luft mehr bekam. Nicht schön, weder für mich, noch für mögliche Zuhörer. Aber wie so vieles ist auch das Vorlesen eine Kunst, die man lernen und trainieren kann. Das haben mir die Stunden gezeigt und mir die Angst vor dem Vortragen genommen. Es macht mir mittlerweile richtig Spaß und so manches Mal lese ich mir selbst laut vor.

Während des Sprechunterrichtes bekam ich irgendwann Texte, mit denen Schauspieler die einzelnen Laute verstärkt üben. Der Inhalt der Texte war eher absurd widersinnig und für mich nicht so anregend. Ganz anders nun die Sammlung von 50 kurzen Vorlesegeschichten von Daniel Napp, die er für das Buch Löwen mögen schöne Zöpfe geschrieben und illustriert hat. Für jeden Laut gibt es eine eigene Geschichte, dazu kommen Texte, in denen lange und kurze Vokale betont und im Wechsel geübt werden können. In „Kampf gegen die Kilos“ wechseln sich beispielsweise G und K ab, in „Hundedelikatesse“ werden P und B sowie T und D variiert. Man erliest den Unterschied von stimmhaftem und stimmlosen S, erkundet das vordere und das hintere CH und dringt so in die schier unendlichen Weiten des eigenen Rachen- und Klangraumes vor.

Sind bei den Sprechübungstexten für Erwachsene, wie in Der kleine Hey, die Inhalte meist ziemlich gaga, so schafft es Napp immer, eine kleine, runde, wenn auch oftmals bizarre Geschichte zu erzählen. Dabei hält er sich nicht sklavisch daran, immer nur den einen entsprechenden Laut zu benutzen – à la Ottos Mops von Ernst Jandl –, sondern erlaubt sich durchaus Abweichungen. Die aber sind von entzückender Manier, wie Beispielsweise beim kurzen U: „Kurz vor Fulda verguckte sich Muldenkipper Ulf in den Bus Uschi.“
Man verguckt sich in laut lesender Weise Seite um Seite in dieses Buch, ins Vorlesen, in die Laute, die Buchstaben und die Bilder noch dazu.

So verbinden sich hier aufs Schönste unterhaltsame Kurzgeschichten mit nützlichem Wissen um den akkuraten Gebrauch von Lippen, Zunge und Luftstrom beim Sprechen. Nach meinen wenigen Stunden Sprechunterricht bin ich natürlich keine professionelle Sprecherin geworden, doch die Freude an der korrekten Aussprache und dem Lesen hat dazu geführt, dass dieses Buch nicht so schnell im Regal verstauben wird, sondern mich immer wieder dazu verführt, einen neuen Laut anhand einer anderen Geschichte zu üben und zu vertiefen. In diesem Sinne ist Napps Buch nicht nur etwas für die Lütten, sondern für alle, die an ihrer Aussprache feilen möchten.

Daniel Napp: Löwen mögen schöne Zöpfe. Das LAUT Lesebuch, Carlsen, 2015, 176 Seiten, ab 4-99, 18,99 Euro

Kopfüber

aliceBis zum heutigen Tag hatte ich nie Gelegenheit – und es hat mich auch nie jemand dazu gedrängt – den Kinderbuchklassiker Alice im Wunderland von Lewis Carroll zu lesen. Die Filme, selbst wenn ein Johnny Depp darin mitspielte, haben mich irgendwie nicht gereizt. Nun hat es allerdings die raffinierte Neuauflage aus dem Gerstenberg Verlag geschafft, die zum 150-jährigen Jubiläum des Werks erschienen ist, das Versäumte nachzuholen.

Zum Nonsens-Inhalt von Alice möchte ich hier gar nicht viel ausführen. Figuren wie das weiße Kaninchen, die Grinsekatze, die blaue Raupe, der verrückte Hutmacher, die Herzkönigin sind hinlänglich bekannt. Wissenschaftliche Werke über Carrolls Werk gibt es zu Hauf, ich würde ein eigenes Studium benötigen, um mich dort auf den aktuellen Stand zu bringen. Das kann jedoch in diesem Moment nicht meine Aufgabe sein.

Hier möchte ich viel lieber auf zwei Dinge aufmerksam machen, die mich erfreut haben. Da ist zunächst die Ausstattung dieser Neuausgabe: Illustriert von der Niederländerin Floor Rieder, die für Gerstenberg bereits das Buch Evolution von Jan Paul Schutten bebildert hat und zudem für die Zeitschrift flow arbeitet, kommt Alice in einem liebevoll aufgemachten Design und Outfit daher, dass man ihr die 150 Jahre nicht mehr anmerkt. Rieders Drucke (ich bin mir nicht sicher, ob Holz- oder Linoldrucke) kommen mit fünf kräftigen Farben aus, die dennoch ein ganzes Universum erschaffen. Alice mit rundem Hut, Brille, kurzem Kleid und Sneakern erscheint mir wie eines der pfiffigen Schulmädchen, die vor wenigen Tagen eingeschult wurden und nun eine neue Welt entdecken. Die Unsinnigkeiten und Unerklärlichkeiten des Leben bekommen so ein frisches Gesicht, was zwar nicht hilft, die Rätsel zu lösen oder die Strategien eines Schachspiels zu durchschauen. Aber sie machen Laune. Man liest sich von einem Bild zum nächsten.

Und auf der Mitte des dicken Buches, wenn das Wunderland durchschritten ist, wird man als Leser gezwungen, das Werk zu drehen, quasi von hinten neu anzufangen. Das spiegelverkehrte Cover von Alice hinter den Spiegeln irritiert zunächst. Alice klettert nun mit Hoody und Schachbrettrock durch die wundersame Welt. Ein Stück erwachsener nun schon, doch immer noch neugierig auf die Gesellen, die ihr weiterhin begegnen.
Dass sich Alice hinter den Spiegeln befindet, also quasi alles verkehrt herum ist, merkt man als Leser jedes Mal, wenn man das Lesebändchen von unten nach oben in den Text legt. Mich hat das bis zum Schluss verwirrt, erstaunt und mir immer wieder ein Lächeln entlockt.

Die andere Sache, die mich erfreut hat, war, dass mir die Lektüre von Alice endlich einen Schlüssel zu einem Märchen geliefert hat, das im Oktober in meiner Übersetzung bei Bohem erscheint. In Der goldene Käfig von Anna Castagnoli, üppig illustriert von Carll Cneut, lässt eine Prinzessin ihre Diener enthaupten, wenn diese ihr nicht die paradiesischen Vögel bringen, die sie sich so dringend wünscht. Es war mir ein Rätsel, wie man auf so eine doch ziemlich grausame Geschichte kommen kann. Doch nun ahne ich, dass hier die Kopf-ab-Manie der Herzkönigin aus Alice im Wunderland Pate gestanden haben könnte. Vielleicht werden mir andere diese Ahnung bestätigen, vielleicht werden sie mich auf wieder andere Quellen hinweisen.
Schön für mich war jedoch, dass bei der völlig zweckfreien, aber so unterhaltsamen Lektüre von Alice auch noch diese Verbindung zu Tage trat, und mir wieder einmal bewusst wurde, dass Literatur nicht im leeren Raum entsteht, sondern die Klassiker immer wieder und auf vielfältige Art und Weise wichtig sind. Und daher in ihren neuen schönen Gewändern es allemal wert sind, gelesen zu werden.

Lewis Carroll: Alice im Wunderland & Alice hinter den SpiegelnÜbersetzung: Christian Enzensberger, Illustration: Floor Rieder, Gerstenberg Verlag, 2015, 384 Seiten, 25 Euro

Nachtrag am 15.09.2015:

In Bezug auf die Illustrationstechnik hat mir der Gerstenberg Verlag gerade folgende Info zur Verfügung gestellt:

„[…] durch ihre Illustrationstechnik verbindet Rieder bewusst Tradition und Moderne: Sie bestreicht Glasplatten mit schwarzer Farbe, kratzt die Motive mit der Feder ein, scannt die Bilder und koloriert diese am Rechner. Die Motivwahl fand Rieder nicht schwierig:
„Die Geschichte gibt die Zeichnungen zum Teil vor. Danach ging ich auf Suche nach einer tieferen Ebene. Ich entdeckte, dass Lewis Carroll Mathematik mochte. Deswegen habe ich viel Symmetrie verwendet.“
Die Ausstattung war für Rieder ebenfalls wichtig: „Dass die zwei Bücher die Form einer altenglischen Bibel haben mussten (klein und ganz dick), war schnell entschieden.““
Copyright © Floor Rieder

 

 

Es lebe die sexuelle Vielfalt!

gayDas Leben auf dieser Erde ist alles andere als einfach, und der Mensch und seine vermeintlichen Regeln tragen nicht gerade dazu bei, dass es leichter wird. Vor allem, wenn es um Sexualität geht und wie die angeblich zu sein hat. Für Jugendliche, die sich ihrer sexuellen Identität noch nicht ganz klar sind, macht die Hetero-Normierung unserer Gesellschaft es auch nicht besser.

Gegen diese Normierung und eine angeblich normale Sexualität stellt der britische Autor James Dawson sein Handbuch How to be gay. Er richtet sich an die Jugendlichen, die vor allem eins sind: neugierig. Auf sich, auf das Leben, auf andere Arten der Sexualität, die ihnen nicht in der Schule erklärt und in den Medien oftmals als Stereotypen präsentiert werden. Dawson hingegen lädt die jungen Leser mit klaren, oft witzigen und ironischen Worten – von Volker Oldenburg in charmant-coole deutsche Varianten übersetzt, die eine unterhaltsame Lektüre garantieren – in den Club der LGBT*-Leute ein, d.h. in die Welt der LesbischGayBiTrans*-Menschen (wobei das * für die Gesamtheit aller sexuellen Orientierungen, sozialen Geschlechter und Geschlechtsidentitäten steht). Das mag sich, so referiert, vielleicht etwas sperrig lesen, doch geht es Dawson darum, sich unbefangen seinen sexuellen Phantasien zu stellen und herauszufinden, was Mädchen/Junge eigentlich mag. Der Respekt vor sich selbst und den anderen steht dabei im Mittelpunkt – ist der gegeben, ist es egal, wen und wie man liebt und mit wem oder wie man Sex hat.

Ist sie oder er sich seiner sexuellen Vorlieben erst einmal klar geworden, hilft How to be gay als Gebrauchsanleitung für das tägliche Leben weiter.  Dawson liefert wichtige Gedanken, wie ein Coming-out am besten gestaltet werden kann, verrät, was bei schwulem und lesbischen Sex abgeht, bietet Argumentationshilfen, wenn man als LGBT* zu einer religiösen Diskussion genötigt wird, zeigt, was bei Sex-Apps  zu beachten ist, oder wie man als homosexuelles Paar eine Familie gründet. Gleichzeitig warnt er auch vor lästigen und unnötigen Geschlechtskrankheiten und wie man sich durch respektloses Verhalten oder die gedankenlose Benutzung von Begriffen zum Vollhorst machen kann. Er nennt die Dinge dabei ungeschminkt beim Namen, und genau das tut gut, damit die Jugendlichen nicht ewig im Nebel von Unausgesprochenem, Angedeuteten, Klischees, Vorurteilen, Diskriminierung und angeblicher Unnormalität herumstochern müssen.

Angereichert hat Dawson seine Tipps mit O-Tönen von LGBT*-Menschen, die von ihren Erfahrungen und Geschichten berichten. Sie zeigen die Facetten von Leben, in denen die Menschen sich nicht nach der angeblichen Norm richten, sondern zu ihren Vorlieben und damit zu sich selbst stehen. Das sind durchweg großartige Vorbilder.

Einziger Wermutstropfen bei diesem Buch ist die fehlende Lokalisierung für die deutsche Szene. Dawson schildert vornehmlich britische Gegebenheit, also die Geschichte, Gesetzeslage und Rechte in Großbritannien. Und auch das „kleine Lexikon der großen Schwulen- und Lesbenikonen“ ist von angloamerikanischen Star beherrscht. Bei all dem hätte von Verlagsseite durchaus eine Anpassung und/oder Erweiterung für Deutschland vorgenommen werden können: Die Fragen zu Homo-Ehe und Kinder von Homosexuellen in Deutschland müssen sich die jungen Leser nun selbst recherchieren. Die Doppelseite mit nützlichen Websites am  Ende ist da nur ein schmaler Anfang. Und allein für das Ikonen-Lexikon fallen mir spontan bereits ein Dutzend deutscher LGBT*-Leute ein, die man hätte integrieren können.

Trotz dieses Mankos kann man Jugendlichen How to be gay als wegweisenden und hilfreichen Ratgeber an die Hand geben, den Eltern sei die Lektüre nicht minder empfohlen – denn man lernt auch als cisgender Hetero noch so Einiges dazu, sowohl über einen selbst, als auch über die Feinheiten, die für einen sensiblen und respektvollen Umgang in unserer Gesellschaft einfach nötig sind.

James Dawson: How to be gay. Alles über Coming-out, Sex, Gender und Liebe, Übersetzung: Volker Oldenburg, Fischer TB, 2015, 304 Seiten, ab 14, 9,99 Euro

Gezeichnete Geschichtsstunde

rocaManchmal bereue ich es fast, dass ich nicht Geschichte studiert habe. Es gibt so viele interessante Facetten der Vergangenheit, von denen ich viel zu wenig Ahnung habe. Leider war der Geschichtsunterricht zu meiner Schulzeit eine verdammt dröge Angelegenheit, so dass ich mich für Literatur entschieden habe. Umso mehr freue ich mich heute, wenn ich Bücher in die Finger bekomme, die beides vereinen. Neueste Errungenschaft: Die Heimatlosen des Spaniers Paco Roca. Dass es sich dabei auch noch um eine Graphic Novel handelt ist dabei fast das Sahnehäubchen obendrauf.

Roca erzählt die Geschichte des alten Spaniers Miguel, der zurückgezogen in einem französischen Örtchen wohnt. Er bekommt Besuch von einem jungen Spanier, der für ein Buch über die Widerstandskämpfer im 2. Weltkrieg recherchiert. Miguel jedoch hat keine besondere Lust über die Vergangenheit zu sprechen, zu wenig haben die Menschen um ihn herum und die Historiker seine Leistungen in der Vergangenheit gewürdigt. Doch dem jungen Spanier, das Alter Ego von Roca, gelingt es, Miguels Abwehr zu überwinden und ihn zum Reden zu bringen.
Und was Miguel zu erzählen hat, ist erschütternd, aufschlussreich und ein weiteres Puzzleteil in dem Bild, das ich vom 2. Weltkrieg habe. Ausgangspunkt ist das Ende des Spanischen Bürgerkriegs 1939, Miguel will mit seiner Familie von Alicante aus über das Meer aus dem faschistischen Spanien fliehen. Doch seine Frau und seine Kinder schaffen es nicht rechtzeitig zum Hafen. So rettet sich Miguel allein auf das einzige Schiff, das anlegt. Völlig überladen bringt es 3000 Flüchtlinge nach Oran, in die französische Kolonie Algerien. Dort beginnt für die Miguel eine dreijährige Leidenszeit in Gefangenen- und Arbeitslagern in der Sahara. Erst als die Alliierten Nordafrika erreichen, werden die Lager befreit, und Miguel und seine Kameraden können wieder zu den Waffen greifen. Ihr eigentliches Ziel ist immer noch die Befreiung Spaniens vom Franco-Regime. Doch bis sie Spanien wiedersehen werden, kämpfen sie an der Seite der Franzosen gegen die deutschen Nazis, und werden so für weitere Jahre zu Heimatlosen.

Manches in diesen historischen Verwicklungen ist beim ersten Lesen nicht gleich verständlich. Was jedoch mehr an meinem Unwissen der historischen Fakten über Spanien und Frankreich liegt, denn an Rocas Erzählstil. Dennoch habe ich durch die akkurat recherchierten Fakten, die Roca in Miguels fiktive Biographie eingewebt hat, einen differenzierten Blick auf die Vorgänge und Verwirrungen in Nordafrika und bei den Alliierten Truppen bekommen. Eine gezeichnete Geschichtsstunde, die noch lange nachhallt und die quasi eine Vertiefung dieses Themas einfordert.

Graphisch auffällig und eindrucksvoll ist Rocas Wechsel zwischen Gegenwart und erzählter Vergangenheit. Die Gespräche zwischen dem jungen Spanier und Miguel sind in zarten warmen Grautönen gehalten, die Panels sind nicht umrahmt. Die Erzählungen von Miguel, die historischen Fakten, hingegen sind schwarz gerahmt und in kräftigen, erdigen, fast monochromatischen Farben dargestellt. Die Historie rückt somit in den Vordergrund. Roca macht damit deutlich, wie wichtig das Erinnern ist, wie wichtig es ist, die letzten Zeitzeugen trotz möglicher Widerstände mit Verständnis, Mitgefühl und Nachdruck zu befragen.

Paco Roca: Die Heimatlosen, Übersetzung: André Höchemer, Reprodukt, 2015, 328 Seiten, 39 Euro

Hommage auf eine Stadt und einen Regisseur

BerlinEr war irgendwie immer da, in meiner persönlichen Film-Historie: Wim Wenders. Heute wird der Meister 70.  Und pünktlich zu diesem Anlass ist die Graphic-Novel-Adaption seines Films Der Himmel über Berlin erschienen.
Ich habe tatsächlich drei bis vier Anläufe gebraucht, bis ich Wenders Film  aus dem Jahr 1987 vollständig gesehen und einigermaßen verstanden habe. Warum das so war, kann ich gar nicht genau sagen. Vielleicht muss man eine gewisse Lebenserfahrung mitbringen, um alle Ebenen dieses Meisterwerkes ganz zu verstehen. Mit großer Wahrscheinlichkeit habe ich immer noch nicht alle Facetten erfasst und begriffen. Dabei kann mir nun auch diese Graphic-Novel helfen, mit der ich in meinem langsamen Tempo die Geschichte und die philosophischen Texte („Als das Kind  Kind war, wusste es nicht, dass es Kind war …“) nachlesen, nach-denken und genießen kann.

Das Autoren-Duo Sebastiano und Lorenzo Toma haben für die Comic-Adaption auf Basis des Drehbuches von Wim Wenders, Peter Handke und Richard Reitinger die Geschichte der Engel Damiel und Cassiel vor der Kulisse des heutigen Berlins neu inszeniert. Sie haben die Szenen mit Schauspielern nachgestellt, fotografiert und in Federzeichnungen verwandelt. Vor schwarzem Hintergrund, in zarten Strichen, die sich in manchen Panels Van-Gogh-mäßig am Himmel kringeln und drehen, lauschen die Engel den Gedanken der Menschen. Sie hören ihre Sorgen und Nöte, ohne selbst gesehen zu werden. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem Damiel sich in eine Akrobatin verliebt, sein ewiges Dasein aufgibt und sich ins Leben und die Liebe stürzt. Denn erst die Vergänglichkeit macht aus jedem Augenblick des Lebens etwas ganz Besonders.

Mögen die Darsteller anders aussehen als im Film, so hält sich diese Adaption relativ dicht an das Drehbuch. Wer Zeit und Muße hat, kann eine komparatistische Abhandlung über die Unterschiede und Gemeinsamkeiten verfassen (ja, der Film-Dreh mit Peter Falk fehlt …). Es wird sicher ein Spaß.
Doch auch ohne den genauen Vergleich ist diese Graphic Novel eine Freude, denn das wirklich Besondere ist, dass die Engel im Berlin von heute umherstreifen. Sie stehen auf dem Brandenburger Tor, belauschen die Menschen nicht in der Bibliothek, sondern am Holocaust-Mahnmal. Die Curvy-Brache – die jetzt schon wieder ganz anders aussieht – und der Molecule Man in Kreuzberg dienen als Kulisse, genauso wie die Lohmühlenbrücke. War die in Wenders Film noch durch die Mauer versperrt, so ist jetzt der Weg frei, hinüber in den Osten. Berührend ist, dass auch der Potsdamer Platz selbst heute noch nicht aufzufinden ist, trotz alter Ampel und protzigen Neubauten.
Neben den Locations sind auch manche Gedankengänge und Dialoge den gegenwärtigen Realien angepasst – da sehnt man sich nach einer SMS oder diskutiert über Cent und Euro.

Vater und Sohn Toma haben mit ihrer Version von Der Himmel über Berlin eine doppelte Hommage geschaffen: auf die große Stadt und auf den großen Regisseur. So ist diese Graphic Novel sowohl ein Muss für Hauptstadt-Liebhaber, als auch für Verehrer von Wim Wenders. Zudem beweisen sie nonchalant, wie zeitlos und allgemeingültig Wenders Geschichte weiterhin ist.

Wim Wenders sei hiermit herzlich zum Geburtstag gratuliert und gedankt für unzählige wunderbare, rätselhafte und groovende Filme. Mögen noch viele folgen. Der Himmel über Berlin werde ich mir heute Abend noch ein weiteres Mal, mit anderen Augen, anschauen.

Sebastiano & Lorenzo Toma: Der Himmel über BerlinJacoby & Stuart, 2015,  200 Seiten, 24 Euro

Bilderbuch-Perlen

bilderbuch 1Ich bin noch eine ganze Reihe von Bilderbücher-Rezensionen schuldig. Nun habe ich endlich die Zeit gefunden.

Den Auftakt macht Der Mondfisch in der Waschanlage von Andrea Schomburg und Dorothee Mahnkopf. Hier trifft man auf sehr merkwürdige, aber real existierende Tiere wie Thermometerhuhn, Nacktmull oder Pistolenkrebs. Jeweils auf einer Doppelseite gibt es eine detaillierte Illustration, auf der es jede Menge zu entdecken gibt. Flankiert werden die Getiere von zwei Texten: einem Sachtext, der über die Natur der Portraitierten – also Art, Größe, Lebensraum und Besonderheiten – aufklärt. Dazu gesellt sich dann ein extrem geistreiches, rhythmisch gereimtes Gedicht, bei dem man entweder vor Lachen nicht mehr weiterlesen kann oder sich stante pede in die seltsamen Gesellen verliebt. Der Vorlesespaß ist garantiert.

Bilderbuch 2Der Titel Noch mal! vom Bilderbuch von Emily Gravett ist Programm. Wer kennt das nicht, wenn vorgelesen wird: Ein ums andere Mal muss die Geschichte wiederholt, das Bild noch mal angesehen, die App noch mal durchgespielt werden. So auch hier: Mama-Drache liest ihrem Sprössling die Geschichte von Drache Chlodwig vor, ein gereimtes Epos. Und das Drachen-Junges bekommt natürlich nicht genug davon. Also: Noch mal!
Mama-Drache, sichtlich erschöpft mit hängenden Ohren, liest – und variiert. Aber der Lütte ist nicht zu befriedigen … bis schließlich ein Loch im Buch prangt.

Diese kleine Geschichte macht auch menschlichen Vorlesejunkies eindrücklich klar, dass irgendwann mal Schluss sein muss – vermutlich allerdings erst nach zehnmaliger Lektüre von Emily Gravetts Noch mal!

bilderbuch 3Verzweiflung ganz anderer Art kann kleine Menschen überkommen, wenn es zum ersten Mal heißt: Hilfe, der Babysitter kommt. Anke Wagner und Anee-Kathrin Behl erzählen in ihrem Bilderbuch von Olli. Dessen Mama und Papa wollen am nächsten Abend endlich mal wieder ins Kino. Beide freuen sich bannig. Olli unterhält sich mit Stubs, seinem Kuschlemuschelfreund, darüber, dass in der Zeit, in der Mama und Papa nicht da sind der Babysitter kommt. Stubs ist entsetzt und kann nicht einschlafen: Vielleicht ist der Babysitter eine „Schminkedame“ oder ein „aufgeblasener Muskelmann“ … Die Vorstellung, was der Babysitter alles sein kann, könnte als ein modernes Gruselkabinett durchgehen – wären die Illustrationen nicht so reizend und charmant bunt. Die Auflösung am nächsten Abend ist dann natürlich eine völlig andere … aber die wird hier nicht verraten.
Für alle, deren Vorstellungskraft immer schon zehn Kilometer vorneweg galoppiert und irrationale Ängste schürt, ist dieses Büchlein eine hervorragende Vorbereitung und Beruhigung für neue Situationen im Leben.

bilderbuch 4Wenn man klein ist und noch nicht so viel darf und noch weniger kann, ist das Leben manchmal echt schwierig. Das merkt der Kleine. Er möchte gern Etwas ganz Großes machen. Im Bilderbuch von Silvie Neemann und Ingrid Godon entspinnt sich ein Gespräch zwischen Groß und Klein. Gemeinsam überlegen die beiden, was man Großes machen könnte. Doch nichts scheint dem Kleinen groß genug, nicht der Leuchturm, nicht die Reise. Ein Spaziergang am Strand schließlich bringt die Lösung.

In grün-blau-roten Kohlezeichnungen zeigen die französische Autorin und die Illustratorin, dass auch kleine Dinge ganz groß sein können. Eine philosophische Erkenntnis, die man nie früh genug erfahren kann.

lebenBei all dem sollte man auch immer bedenken: Das Leben kann so schön sein! Genau das beweist der  französische Comic-Zeichners und Illustrators Floc’h in seinem Bilderbuch.

Auf schlichten weißen Seiten lädt ein elegant gekleideter, irgendwie altersloser Herr die Leser ein, in das Buch zu springen. Ein kleines Mädchen mit Pagenschnitt und Rock folgt seiner Aufforderung, und gemeinsam erkunden sie das Leben. Die schönen Seiten des Leben. Ein kleiner Hase wird Begleiter des Mädchens, Jäger mit üblen Absichten müssen draußen bleiben. Losgelöst von Zeit und Raum zeigt der Mann dem Mädchen, was die Fantasie alles vermag. Sie träumen sich in ein Baumhaus, freuen sich an schönen Kleidern und schnellen Fortbewegungsmitteln, können sogar fliegen – bis zu den Pyramiden (das Bilderbuch kommt ohne Reime aus … 😉 ).

Es spielt keine Rolle, ob das möglich ist oder nicht. Die Fantasie ist so stark, dass allein die Vorstellung von etwas glücklich machen kann. Dass es tatsächlich hauptsächlich die kleinen Dinge des Lebens sind, die das Mädchen und den Mann glücklich machen, erfährt man fast nebenbei: Schaukeln, ein Tennis-Match, ein Spaziergang, der Regentanz, einer Gute-Nacht-Geschichte lauschen.

Im Ligne-claire-Stil und in merkwürdig-schönen altmodischen Bildern entführt Floc’h nicht nur das kleine Mädchen, sondern jeden Betrachter. Man braucht keine komplizierte Geschichte, um an die einfachen Dinge des Lebens erinnert zu werden, die Frage: „Was ist das schöne Leben?“ reicht völlig. Die Fortsetzung im tatsächlichen Leben wird jede_r Vorleser_in mit den Kindern erleben, denn die Bilder regen ungemein dazu an, darüber nachzudenken, was für einen selbst schön ist. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt …

wolfFantasievoll geht es auch in DEM Bilderbuch für alle kleinen Buchliebhaber weiter, das mich ganz frisch erreicht hat. Der Held: Der Wolf, der aus dem Buch fiel. Der Ort: das Kinderzimmer, ein höchst gefährlicher Ort. Die Handlung: Aus dem übervollen Regal fällt eines Tages ein Buch, und der Wolf plumpst heraus. Sollte man nun meinen, dass der Wolf froh ist,  von den Fesseln seiner Geschichte befreit zu sein, hat man sich gründlich getäuscht. Im Kinderzimmer lauern schreckliche Gefahren: die Katze! Die Dinos! Genervte Schafe! Es ist ein Graus. Verzweifelt versucht der Wolf, in seine Geschichte zurückzufinden. Doch entweder ist er nicht richtig gekleidet oder er kommt zu früh oder zu spät … Bis er im Wald ein weinendes rotgekleidetes Mädchen trifft … und alles gut wird.

Charmant spielen Illustrator Grégoire Mabire und Texter Thierry Robberecht mit dem Zustand eines übervollen Kinderzimmers, mit den Märchen und Geschichten, die man als junger Mensch bereits kennt. Der Wiedererkennungseffekt dürfte bei Buchliebhabern ziemlich groß sein. Und die Erkenntnis, dass auch Figuren aus Büchern eine Heimat und eine bestimmte Aufgabe haben, bietet Raum sowohl für ernsthafte Gespräche, als auch Fantastereien, wenn man den Wolf im eigenen Kinderzimmer durch seine Lieblingsbücher schickt …

Andrea: Schomburg: Der Mondfisch in der Waschanlage, Illustration: Dorothee Mahnkopf, Tulipan, 2015, 36 Seiten,  ab 4, 14,95 Euro

Emily Gravett: Noch mal! Übersetzung: Uwe-Michael Gutzschhahn, FISCHER Sauerländer, 2. Aufl.2015, 32 Seiten, ab 4, 14,99 Euro

Anke Wagner/Anne-Kathrin Behl: Hilfe, der Babysitter kommt! Inkl. HörFux MP3 Hörbuch zum Downloaden.  NordSüd Verlag, 2015, 32 Seiten, ab 4, 13,99 Euro

Sylvie Neeman/Ingrid Godon: Etwas ganz Großes, E-Book inklusive. Übersetzung: Anna Taube, mixtvision, 2015,  32 Seiten, ab 5, 14,90 Euro

Floch: Das Leben kann so schön sein! Übersetzung: Edmund Jacoby, Jacoby & Stuart, 2015,  64 Seiten, ab 4, 16,95 Euro

Gregoire Mabire/Thierry Robberecht: Der Wolf, der aus dem Buch fiel, Übersetzung: Ilse Rothfuss,  Ravensburger Buchverlag, 2015, 32 Seiten, ab 4, 12,99 Euro

Boy sucht Girl

margoSeit gestern läuft in den Kinos die zweite Verfilmung eines Romans von John Green, amerikanischer Jugendbuchautor, über den ich vor drei Jahren hier, hier und hier berichtet habe. Da war ich natürlich neugierig, ob es wieder so ein Erlebnis wird. Folglich habe ich mir Margos Spuren, der bereits 2010 auf Deutsch erschienen ist, in diesen Tagen im Doppelpack gegeben: erst die Lektüre, dann den Film.

Green erzählt, in der Übersetzung von Sophie Zeitz, – man muss schon fast sagen – gewohnt locker-flockig die Geschichte des 18-jährigen Quentin, der seit Kindertagen in seine gleichaltrige Nachbarin Margo verknallt ist. Doch Margo will eigentlich nichts von ihm wissen. Bis sie eines Nachts Quentin als Helfershelfer für eine Rachetour an ihrem Ex-Freund braucht. Gemeinsam cruisen sie durch Orlando, Florida, verteilen Frischfisch, scheuchen Margos Ex beim Sex auf, entfernen einem anderen Klassenkameraden eine Augenbraue mit Enthaarungscreme, brechen bei Seaworld ein.
Margo geht unerschrocken und cool vor, Quentin überwindet ein ums andere Mal seine Ängste – so sehr ist er von Margo fasziniert. In ihm wächst die Hoffnung, dass Margo nun endlich seine Liebe erwidert. Doch am nächsten Morgen ist Margo verschwunden.

margoEs folgt eine Spurensuche, bei der Quentin mit seinen Freunden Ben, Radar und Lacey schließlich von Florida im Auto in den Staat New York fährt, um Margo in Agloe – einer so genannten Papierstadt, weil sie nur als Kopierschutz auf Straßenkarten existiert – aufzugabeln. Green brennt während dieser Roadtour ein Feuerwerk an Witzen und Gags ab, die im Kino den Saal zum Lachen brachte. Details verrate ich hier natürlich nicht.

Bis zu diesem Punkt ist die Geschichte ein scheinbar spaßiger Highschool-Roman und leicht naive Teenie-Liebe, die mir fast ein bisschen auf die Nerven ging, weil mir die Richtung nicht klar war, in die John Green will. Im Buch haben dann jedoch die letzten 20 Seiten die entscheidende Wendung gebracht.
Green ist ein Meister für Projektionen. Denn so wie Miles in Eine wie Alaska und Hazel Grace in Das Schicksal ist ein mieser Verräter schickt er auch hier seinen Protagonisten Quentin auf die Suche. Quentin hat dabei eine ziemlich genaue, mystifizierte Vorstellung von der gesuchten Margo. Und genau das ist der Knackpunkt. Denn es ist quasi unausweichlich, dass diese Suche nicht zu dem Ergebnis führt, das der Junge sich wünscht. Denn: „Die Vorstellung ist nie vollkommen“, schreibt Green (S. 325). Darin liegt die Lektion, die für Jugendliche vermutlich sehr viel bitterer ist als für Erwachsene mit ihrer Lebenserfahrung. Doch auch als Erwachsener kann man sich immer wieder gern an diese allzu menschliche Neigung erinnern, dass man etwas in geliebte Menschen hineinprojiziert, war gar nicht da ist, dass man sich Dinge wünscht, die nicht der Wirklichkeit entsprechen, dass man sich selbst viel zu wichtig nimmt.

Der Film ist perfekt gemachtes, sehr unterhaltsames Popcorn-Kino, mit frischen Jungschauspielern – Cara Delevingne ist zweifellos ein verdammt schönes Mädchen mit einem sehr cool-ironischen Gesichtsausdruck, allerdings habe ich im Nachhinein den Eindruck, dass sie bis jetzt eben nur diesen einen drauf hat. Nun gut, es, nach ein paar Kurzauftritten in Fernsehfilmen und Serien, ist ihre zweite große Filmrolle. Das wird also noch. Eine echte Entdeckung allerdings ist Ben-Darsteller Austin Abrams, der das Green’schen Witzefeuerwerk mit jugendlichem Verve abbrennt. Ich wünsche ihm, dass er sein Talent noch in weiteren Filmen zeigen kann.

Natürlich gibt es im Film Veränderungen im Vergleich zum Buch. Doch die sind sinnvoll und dem Medium entsprechend angepasst, gedreht und verdichtet. Da könnte man kleinlich die Unterschiede aufzeigen, doch das bringt einen nicht weiter. Die Lektüre geht natürlich in die Tiefe, bieten über 300 Seiten eben mehr Platz für Details und Hintergründe, als knapp zwei Stunden Film-Spaß. Doch so ergänzen und bereichern die beiden Medien die Geschichte von Quentin und Margo: das Buch liefert die Hintergründe, der Film eine ganz spezielle Art von Happy-End.

Und den Anteil der echten John-Green-Fans im Kino erkennt man spätestens, wenn der junge Tankwart seinen Auftritt hat …

John Green: Margos Spuren, Übersetzung: Sophie Zeitz,

Ausgezeichnet mit dem Corine – Internationaler Buchpreis, Kategorie Kinder- und Jugendbuch 2010. Nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2011,
Hanser, 2015, 336 Seiten, ab 13, 16,90 Euro (Hardcover-Neuauflage)

Das Buch zum Film: Reihe Hanser dtv Taschenbücher, 2015, 336 Seiten, 9,95 Euro

Einer von tausend Toden

1000TodeZur Frankfurter Buchmesse im Oktober wird die finale Fassung von Christiane Frohmanns Mega-E-Book-Projekt Tausend Tode schreiben erscheinen. In der Version, die im März erschienen ist, ist auch ein Text von mir zu finden. Für mich ist das jetzt Anlass genug, meinen Text hier noch einmal lesbar zu machen.

Der ICE fuhr pünktlich in München ab. Ich wollte nach Hause, nach Berlin, in die Stadt des Bling-Bling. So schnell wie möglich. Keine Zeit für Zwischenstationen. Nach Seminar-Besuch, viel Input, viel Wein, viel von allem, wollte ich wieder Alltag. Berlin war nur ein paar Zugstunden entfernt. Ich hatte zwei Sitze für mich allein. Alles gut.

Hinter Nürnberg nahm der ICE Fahrt auf, Franken sauste vorbei, als es plötzlich rumpelte, schepperte, ein Ruck durch den Zug ging. Vollbremsung. Halt auf freier Strecke. Fahrgäste stöhnten, tuschelten, Zugbegleiter zogen sich grellorange Warnwesten an. Noch bevor die Durchsage kam, war klar, dass es nicht schnell nach Berlin gehen würde.

Unfall mit Personenschaden, so die Umschreibung für das, was den Zug zum Halten gebracht hatte. Ein Mensch war zu Tode gekommen, ob freiwillig oder unfreiwillig wusste in diesem Moment niemand. Die Fahrgäste im Großraumabteil bedauerten den Zugführer, nicht schön so was, der Arme.

Ich schaute aus dem Fenster. Felder, am Horizont sanfte Hügel, ein Kirchturm, ein Dorf. Der Anblick kam mir bekannt vor. Mein langjähriger Freund T. wohnte mit Frau und zwei kleinen Kindern im schicken, neugebauten Haus hier. In diesem Dorf. Wäre ich in Nürnberg ausgestiegen, hätte ich noch einen Abstecher zu ihnen machen können. Jetzt saß ich in diesem Zug, auf freiem Feld, konnte nicht aussteigen. Ein Notfallseelsorger, in grellorangener Weste, ging durch den Zug, bot an zu reden, wenn Redebedarf bestünde. Ich schüttelte den Kopf, schaute aus dem Fenster. T. litt an Depressionen. Ich hatte ihn ewig nicht gesehen. Hätte mich mal melden sollen.

Das Zugpersonal informierte über Lautsprecher, man erwäge eine Evakuierung in Busse. Auf der Landstraße reihten sich Polizei- an Krankenwagen. Es blieb ruhig im Abteil. In meinem Kopf schossen die Gedanken quer. Depression und Suizid lagen dicht beieinander. T.’s Haus lag gleich hinter dem Feld. Nein. Das konnte nicht sein. Er würde seine beiden Kinder nicht im Stich lassen. Nie. Er war bei der Arbeit, ganz sicher. Seine Frau auch. Da war bestimmt alles in bester Ordnung.

Die nächste Durchsage verkündete, die Staatsanwaltschaft habe den Zug freigegeben, der Ersatz-Zugführer sei eingetroffen, man würde nicht evakuieren, nur noch säubern und dann die Fahrt fortsetzen. Zu viel der Information, danke. Nach anderthalb Stunden fuhr der ICE weiter. Neunzig Minuten für einen toten Menschen.

Ich weiß nicht mehr, wie ich die restliche Fahrtzeit überstanden habe. In Berlin am Hauptbahnhof, zwischen all dem Bling-Bling, war mir schlecht. Der Zug, in dem ich gesessen hatte, hatte einen Menschen getötet. Zum ersten Mal im Leben kaufte ich einen Flachmann, leerte ihn, schwankte nach Hause. Hatte ich den Menschen also mitgetötet? War ich schuldig? Wieso fielen mir solche Fragen immer erst so spät ein. Ich hätte sie gern dem Notfallseelsorger gestellt. Hätte, hätte.

Ich traute mich nicht bei T. anzurufen. Suchte stattdessen im Netz nach Zeitungsnachrichten über den Vorfall. Ich fand nichts. Es gibt ein Schweigeabkommen zwischen Bahn und Presse, um Nachahmungstaten zu verhindern.

Zwei Tage später klingelte mein Handy, T.’s Name auf dem Display. Ich antwortete fröhlich, erleichtert, und hörte von einer unbekannten, schluchzenden Stimme, dass T. sich zwei Tage zuvor das Leben genommen hätte. Depressiver Schub. ICE aus Nürnberg. T. hatte sich mit ausgebreiteten Armen und einem Lächeln auf dem Gesicht auf die Gleise gestellt.

Die genauen Infos zu dem Projekt und die Downloadmöglichkeiten gibt es hier:

Christiane Frohmann (Hg.): Tausend Tode schreiben, EUR 4,99; FR 6,00

Ansteckend

fieberVor ein paar Monaten gingen die Berichte über die Ebola-Epidemie in Westafrika fast täglich durch die Presse. Nun scheint das Übel bekämpft und Normalität – soweit man das von hier aus beurteilen kann – wieder eingezogen. Wir in Nordeuropa haben das Glück, dass hier schon lange keine wirklich verheerende Krankheit mehr ausgebrochen ist, die unzählige Tote gefordert hätte. Ich weiß, es ist ein heikles Terrain, denn auch hier gibt es Opfer von Masern oder Grippe, und jedes ist eines zuviel. Doch ich möchte den Blick auf richtige Epidemien richten, die es auch in unseren Breiten gegeben hat und die sich junge Menschen wahrscheinlich nur schwer vorstellen können.

Eine Ahnung, wie es gewesen sein könnte, als vor fast 100 Jahren die Spanische Grippe ausbrach, liefert der Roman Das Fieber von Makiia Lucier, feinfühlig ins Deutsche gebracht von Katharina Diestelmeier. Erzählt werden knapp zwei Monate im Leben der fast 17-jährigen Cleo. Sie lebt in einem Internat in Portland, Oregon, hat Vater und Mutter vor Jahren bei einem Kutschenunfall verloren und nur noch ihren Bruder Jack und dessen Frau Lucy. Es ist Herbst 1918, in Europa tobt noch der große Krieg und an der Ostküste breitet sich gerade die Spanische Grippe aus. In Portland, an der Westküste, glauben sich Cleo und ihre Familie in Sicherheit. So brechen Jack und Lucy in ihre Flitterwochen auf, Cleo soll die Herbstferien im Internat verbringen.

Die Grippe schert sich natürlich nicht um irgendwelche Küstenverläufe, und wenige Tage später werden die ersten Krankheitsfälle in der Stadt gemeldet. Das Internat muss schließen. Cleo macht sich allein zum Haus des Bruders auf, obwohl dort niemand ist. Als sie in der Zeitung einen Aufruf vom Roten Kreuz liest, das Freiwillige sucht, meldet sie sich, um zu helfen.
Der Kontrast könnte nicht größer sein. Aus dem behüteten, gut bürgerlichen Zuhause erlebt Cleo auf einmal die Welt von Krankheit, Siechtum und Tod. Sie holt erkrankte Kinder und Frauen aus ihren Wohnungen, hilft im Notkrankenhaus aus, das im örtlichen Theater eingerichtet wurde – und würde nach einem Tag am liebsten weglaufen. Doch die Krankenschwestern Kate und Hannah und der junge Medizinstudent Edmund, der schwer verwundet aus Europa zurückgekehrt ist, machen ihr Mut.

Lucier versteht es meisterhaft, den Leser in die Zeit vor 100 Jahren zurückzuversetzen, wo es nicht selbstverständlich war, dass Mädchen Auto fahren oder gar allein in einem Haus wohnen, wo es noch keine Impfung gegen die Grippe gab und die Waschmaschinen noch nicht selbsterklärend waren. Und mittendrin Cleo, die ihren eigenen Kopf hat und täglich neu ihre Ängste überwindet. Das ist für eine Coming-of-Age-Geschichte sicherlich ein ungewöhnliches Setting, mit dem man sich heute vielleicht nicht besonders gut identifizieren kann. Doch es ist ein faszinierendes Beispiel dafür, wie man in nicht alltäglichen Situationen über sich hinauswachsen kann, wie in schwierigen Zeiten Freundschaft und Liebe entstehen können, wie man auf eigenen Beinen stehen kann. Eingebettet in die historische Tatsache der Spanischen Grippe und kombiniert mit einer sich zart andeutenden Liebesgeschichte ist Makiia Lucier eine sehr fesselnde Geschichte gelungen.

Makiia Lucier: Das Fieber, Übersetzung: Katharina Diestelmeier, Carlsen/Königskinder, 2015, 368 Seiten,  ab 14, 17,99 Euro

Die Qualen einer Flucht

train kidsNeulich läuteten in Köln und Umgebung die Glocken im Gedenken an die Flüchtlinge, die seit dem Jahr 2000 im Mittelmeer, vor den Grenzen Europas, umgekommen sind. 23000 Mal erklangen die Glocken, für jeden Toten ein Glockenschlag. Eine schöne Geste, aber längst wieder verhallt.
Dass es nicht nur im Mittelmeer Flüchtlinge gibt, die ihr Leben riskieren, weil sie sich in der Ferne ein menschenwürdigeres Leben erhoffen, ist bekannt. Eine Art der Flucht holt uns Dirk Reinhardt mit seinem Roman Train Kids eindrücklich ins Bewusstsein.

Die Jugendlichen Miguel, Fernando, Emilio, Angel und das Mädchen Jaz machen sich von der Südgrenze Mexikos auf nach Norden. Auf Güterzügen wollen sie bis nach Nuevo Laredo an der Grenze zu den USA gelangen, um von dort illegal in das anscheinend gelobte Land einzuwandern. Jeder von ihnen hat gute Gründe, die Heimat in Guatemala, El Salvador oder Honduras zu verlassen. In den USA hoffen sie, Verwandte wiederzufinden, Mütter oder Brüder, und endlich ein besseres Leben ohne Elend und Hunger führen zu können. Doch der Weg dorthin ist lang, beschwerlich und gespickt mit Gefahren.

Fernando, der die Tour bereits einmal gemacht hat und von den mexikanischen Behörden erwischt und zurückgeschickt wurde, wird zum Leitwolf der Gruppe. Gemeinsam haben die Kids bessere Chancen durchzukommen, denn Fernando weiß, wo die Gefahren lauern und wie man sie am besten umgehen kann. Die Jugendlichen lernen das Aufspringen auf die Züge, wie man sich vor Ästen und Hochspannungsmasten schützt, wie man Tunnel übersteht, im Fahren Orangen pflückt. Doch trotz aller Vorsicht und aller Warnungen von Fernando bleibt es nicht aus, dass sie Banditen, Drogenhändlern und Polizisten in die Hände fallen. Sie müssen Schutzgelder zahlen, werden erpresst und ausgeraubt. Sie leiden Hunger und Durst, frieren nachts in der Wüste und in den Bergen, aber sie erleben auch die Hilfsbereitschaft eines Pastors und seiner Gemeinde und von der einfachen Landbevölkerung. Und die Freundschaft in der Gruppe. Dennoch schaffen es nicht alle der fünf es bis an die Grenze …

Reinhardts Buch fesselt und macht gleichzeitig betroffen, denn das, was er erzählt entspricht den Tatsachen. Reinhardt hat vor Ort in Mexiko recherchiert, mit realen Train Kids gesprochen und ihren Leidensweg hautnah nachvollzogen. Etwa 50 000 von diesen Kindern sind ständig in Mexiko unterwegs, schreibt Reinhardt in seinem Nachwort. Laut Amnesty International gehört die Flucht auf den Güterzügen durch das Land zu den gefährlichsten Fluchten der Welt. Nur ein Bruchteil der Flüchtlinge erreicht das Ziel. Warum das so ist, weiß man nach der Lektüre von Train Kids ziemlich genau.

Reinhardts Quintessenz aus seinem Nachwort, gilt jedoch nicht nur für Mittelamerika: „Will man wirklich etwas tun, um dieses Problem anzugehen, so kann die Lösung nicht darin bestehen, die Grenzen abzuriegeln und Migranten zu jagen, als wären sie Kriminelle. Langfristig ist es sinnvoller die Wirtschaft in den [jeweiligen] Ländern zu stärken und die Armut zu bekämpfen.“ Ist das wirklich so schwierig?

Dirk Reinhardt: Train Kids, Gerstenberg Verlag, 2015, 320 Seiten, ab 13, 14,95 Euro

Wer hat an der Uhr gedreht …

antonEin Leben ohne Uhr – wäre eigentlich überaus erstrebenswert, aber leider nicht sehr hilfreich. Das weiß man als Erwachsener, nur zu gut. Für Kinder ist die Zeit bis zu einem gewissen Alter ein Mysterium, zwischen Unendlichkeit und rum in null Komma nix. Davon erzählt das schnuckelige Buch Anton hat Zeit von Meike Haberstock.

Anton versteht sich normalerweise ziemlich gut mit seiner Mama. Nur an manchen Tagen läuft alles schief, wenn er wieder einmal etwas sehr gründlich gemacht hat, weil Mama das so wollte. Aber dann hat Mama auf einmal keine Zeit mehr und die beiden müssen die Treppen hinunterrennen, um pünktlich zu sein.
Dann fühlt sich Anton schrecklich, hat einen blöden Kugelfisch im Bauch und versteht die Welt nicht mehr. Mama kann zwar erstaunlich viele Dinge gleichzeitig machen und fragt sich doch ständig, wo die Zeit nur geblieben ist.
Aber Anton erkennt auch, dass nicht nur Mama ein Problem mit der Zeit hat, sondern scheinbar alle Erwachsenen, der Schulbusfahrer, die Betreuerin aus dem Hort, die schreckliche Mutter von Antons Freundin Marie. Nicht mal für ein Spontanbegräbnis eines Eichhörnchens bleibt ausreichend Zeit. Das ist alles überaus merkwürdig.
Hilfe liefert schließlich Antons Opa, der sich Zeit nimmt.

Liebevoll und voller Witz führt Meike Haberstock junge Leser an das Thema Zeit heran. Es geht nicht darum, die Uhr lesen zu lernen, sondern um das Bewusstsein, dass es so etwas wie Zeit gibt. Mit einem großen Augenzwinkern hält sie dabei den Erwachsenen den Spiegel vor, die aus welchen Gründen auch immer nie Zeit haben. Hier lernen folglich Groß und Klein etwas.
Damit bei der Lektüre keinem die Zeit zu lang wird, hat die Autorin die Geschichte gleich auch noch mit entzückenden Illustrationen und frechen Sprechblasen angereichert. Vor jedem Kapitel steht zudem, wie lange man für das Lesen brauchen wird, jedoch nicht in minütlichen Einheiten, sondern in Tätigkeiten, wie Rechenaufgaben lösen, Schokotorte in sich reinstopfen oder auf einen Apfelbaum klettern. Schon da fängt man an zu grübeln, warum man als Erwachsener alles in Stunden und Minuten abmessen und einteilen muss, anstatt der eigentlichen Tätigkeit den Zeitraum zu geben, den sie eben braucht. Könnte man mal drüber nachdenken …

Meike Haberstock: Anton hat Zeit – Aber keine Ahnung warum, Oetinger, 2015, 112 Seiten, ab 6, 12,99 Euro

Liebenswert-hinreißend-absurder Fantasy-Quark

ffordeAuf Wikipedia werden die Romane von Jasper Fforde mit dem schnöden Label „Alternativweltgeschichten“ versehen. Kann man machen, trifft es aber nur rudimentär. Ich wäre geneigt, eher von literarisch-absurd-intertextuellem-urkomisch-ironischem-Größenwahn zu sprechen.
Jetzt ist endlich Ffordes Jugendroman Die letzte Drachentöterin auf deutsch erschienen, übersetzt von Isabel Bogdan. Und auch der haut genau in diese Kerbe.

Wie in Ffordes Thursday-Next-Reihe spielt die Drachentöterin in einem zerfallenen Ununited Kingdom, von dem man noch Reste des britischen Empires zu erkennen meint, dann aber doch wieder durch die wahnwitzigen Absurditäten auf völlig andere Fährten gesetzt wird. Lässt man sich darauf ein, erlebt man das Abenteuer von Jennifer Strange, fast 16. Sie leitet Kazam, die Vermittlungsagentur für Magier, und betüddelt alternde Zauberer, die sich gegen das Abklingen der Magie und billigere Konkurrenten wehren müssen.
Als die Präkogniker eines Tages den Tod des letzten Drachen voraussagen, ändert sich Stranges beschauliches Leben schlagartig, denn sie ist ausersehen, das Schuppentier ins Jenseits zu befördern. Der Drache Maltcassion selbst lebt in einem abgegrenzten Reich, dessen magisch abgesicherte Hochspannungsgrenze jeden Eindringling, außer der Drachentöterin, sofort verpuffen lässt.  Nach seinem Tod jedoch würde diese Grenze fallen und das weite, unberührte Land könnte von Siedlern besetzt werden.
Da sich die Nachricht von Maltcassions bevorstehenden Tod natürlich in Windeseile herumspricht, sammeln sich die Menschen an der Grenze zum Drachenland, die Könige verschiedener Länder versuchen bei Strange, der auf einmal wichtigsten Person in Ununited Kingdom, Strippen zu ziehen und ihre Macht spielen zu lassen, Medien und Sponsoren stürzen sich auf sie … nur hat Jennifer Strange ganz andere Dinge im Sinn.

Plotmäßig kann ich hier natürlich nicht mehr erzählen, das wäre doch zu fies. Allerdings sei gesagt, dass es Fforde mit einer faszinierenden Leichtigkeit, die auch der frech-forsch-flappsigen Übersetzung von Isabel Bogdan geschuldet ist, sprechende Fantasy-Drachen-Smaug-Reminiszensen so mit Medien- und Gesellschaftskritik zu verheiraten, dass es eine Wonne ist. Die Gier von Regierenden, Medienschaffenden und normalem Volk trifft auf ein kämpferisches Mädchen, das sich von nichts und niemandem einschüchtern lässt und auch auf scheinbar unabänderliche Voraussagen pfeift. Man kann nicht anders, man schließt Jennifer Strange ins Herz – zusammen mit ihrem merkwürdigen tierischem Begleiter, dem furchterregend aussehenden, aber zutiefst sanftmütigen Quarktier.

Die Absurditäten in Ffordes Geschichten (Marzipan als Droge, Bananen zum Schwerterschleifen, Magier, die Leitungen verlegen und anderes mehr) und der Ideenreichtum des Autors suchen meines Erachtens seines Gleichen. Und unterhalten ganz vorzüglich. So finde ich es sehr bedauerlich, dass längst nicht alles von Jasper Fforde auf deutsch erschienen ist. Ich kenne eigentlich keine andere Fantasy-Literatur, die so grandios mit Verweisen auf andere literarische Werke (die ich hier beileibe nicht alle erkannt habe, was aber dem Vergnügen überhaupt keinen Abbruch tut) spielt und gleichzeitig die absurden Auswüchse unserer Gesellschaft aufdeckt. Davon will ich mehr. Möge also „The Song of the Quarkbeast“, der Nachfolge-Band der Drachentöterin, nicht erst in drei Jahren hier zu lesen sein …

Jasper Fforde: Die letzte Drachentöterin, Übersetzung: Isabel Bogdan,  Lübbe ONE, 2. Aufl. 2015, 252 Seiten, ab 14, 14,99 Euro