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NEINhorn und KEINpferd

Spätestens seit dem wunderbarsten Weihnachtsfilm aller Zeiten, love actually, wissen wir, dass nicht nur Esel und Schaf im Stall von Bethlehem standen. Legendär der Dialog von Emma Thompson mit ihrer Tochter: »Erster Hummer? Es war also mehr als ein Hummer bei Jesus‘ Geburt dabei?« Hummer in Ehren, ruhige Charaktere mit beträchtlicher Altersweisheit, wenn sie nicht vorher im Kochtopf landen.
Wer aber definitiv dabei sein sollte, sind NEINhorn und KEINpferd.
Marc-Uwe Kling gesellt seinem anarchistischem Känguru jetzt ein sich genauso wenig um Konventionen scherendes Tier für jüngere Leser dazu. Dieses kleine Einhorn ist bestimmt nicht niedlich (eigentlich schon, wie es so wütend, mit verstrubbelter Mähne vom Cover starrt, aber sagen Sie ihm das bloß nicht!).

Gezuckerter Glücksklee und Knuddel-Engel? Nein, Nein, nochmals Nein

Auf jeden Fall fühlt es sich nicht wohl in seinem superflauschigem Fell, »es hatte oft das Gefühl, am falschen Ort zu sein.
Darum sagte es meist nichts, und wenn doch, dann sagte es NEIN.«
Waschen, Essen, Schule, Sport, und noch schlimmer, gezuckerter Glücksklee, weiche Knuddel-Engel, »im duftenden Blütenstaub der Wunderpflanzen / Ballett für die niedlichen Gnome tanzen« und was es sonst noch so an lilalaunefunkelglitzer Klischeebeschäftigungen für Einhörner gibt – Nein, Nein und nochmals Nein!
»Das geht mir total auf den Keks«, sagt der kleine Revoluzzer sehr deutlich – und immerhin ziemlich höflich.

Auf subtile Art sich dem Mainstream und Erwartungen verweigern

Also macht es sich auf den Weg, die Welt auf seine Art zu erkunden, badet im Schlamm, isst angedatschte Äpfel, bis ihm schlecht wird, jagt »irre niedliche Katzenbabies« auf Bäume. Und lernt Leute kennen, die sich ebenfalls auf subtile Art dem Mainstream und den Erwartungen verweigern: Einem Waschbär mit selektiver Schwerhörigkeit, also einem WASbär, einem durch nichts aus der Ruhe zu bringenden, »Na und?« fragenden Hund, also NahUnd, und einer trotzköpfigen KönigsDochter, die sie gemeinsam aus einem Turm befreien. »Mein Vater hat mich hier eingesperrt, weil ich immer Widerworte gegeben habe.«
Da schwant dem NEINhorn, dass es doch vergleichsweise tolerante und eigentlich ganz nette Verwandte hat. Gelegentlich besucht das bockige Quartett sogar die Einhorn-Familie und isst ein wenig Glücksklee.

Wider den Reimzwang

Diese Fabelwesengeschichte ist brillant gegen den Strich gebürstet. Astrid Henn findet  für ihre farbenfrohen Illustrationen genau die richtige Mischung aus niedlich-rundlich-bunt und kluger Karikatur, die alle Klischees in die Pfanne haut. Und fügt zum Schluss noch ein sehr witziges Bestarium aus Schmatze, Reichhörnchen, Egaal, Schnarcheoperteryx und weiteren klugen Kalauer-Kreaturen hinzu.
Nicht zuletzt räumt Marc-Uwe Kling mit dem immer noch in Kinderbüchern verbreitetem Reimzwang auf. »Und mich nervt auch, dass sich jeder Satz hier immer reimen muss«, sagt das zornige Fohlen zum Abschied. Wo schlechte Reime hinführen, weiß man auch vom Pumuckl, noch ein Punk aus dem Kinderzimmer, genauer der Werkstatt des Meister Eder: »Denn was sich reimt, ist gut«, argumentiert der Feuerkopf gern – und dann enden seine Aktionen oft richtig übel.
Dem neugeborenen Jesus hätte ich auf jeden Fall einen selbstbewussten Nein-Sager zur Seite und zum Vorbild gewünscht.

Und ein so überirdisch schönes Fantasiewiesen, wie aus Marcy Campbells und Corinna Luykens Adrian hat KEIN Pferd. Die Erzählerin in diesem Buch regt sich auch ganz schön auf. Weil sie glaubt, dass der Junge aus ihrer Klasse lügt. Und das sagt sie auch allen so. »Adrian wohnt in einem Haus, das sehr klein ist. Er bringt immer ein Butterbrot mit in die Schule, weil er kein Geld hat, um sich was zu kaufen. Und seine Schuhe haben Löcher«, stellt sie fest. Sie versteht, Adrian ist arm. Und weiß, dass ein Pferd ein teures Vergnügen ist.

Adrian scheint arm und ist doch sehr reich

Was sie aber nicht begreift, ist dass Adrian gleichzeitig sehr reich ist – an Fantasie. Für ihn gibt es dieses Pferd mit der goldenen Mähne und den braunsten Augen der Welt wirklich. Und schließlich gelingt es ihr doch, auch durch ihre sehr bodenständige Mutter, die Welt mit Adrians Augen zu sehen.
Corinna Luyken hat zu Marcy Campbells erfrischend klar und stringent erzählter Geschichte fantastische Bilder mit Buntstift und Aquarell gemalt, die immer farbenreicher, vielschichtiger, verschlungener werden. Das KEINpferd erscheint mal wie ein Fata Morgana, ein Wunschwesen, und wird mit dem wachsenden Verständnis der Erzählerin wahrhaftiger.

Tierische Begleiter, die man sich an jede Krippe wünscht

Auch die zahlreichen anderen Charaktere, liebevoll gezeichnete Nebendarsteller, wie die Mutter, die konzentriert während der empörten Tirade ihrer Tochter im Garten ein Fahrrad repariert, das großzügige, geschmackvoll eingerichtete Wohnzimmer, die direkte Konfrontation der Kinder im Profil mit ebenso minimalistischer wie ausdrucksstarker Mimik – Corinna Luykens Illustrationen sind absolute Hingucker, die einen von der Kraft der Fantasie überzeugen.
Also, Ja zum furiosen NEINhorn und zum fabelhaften KEINpferd, tierische Begleiter, die man sich an jede Krippe wünscht.

Marc-Uwe Kling (Text), Astrid Henn (Illustration): Das NEINhorn, Carlsen 2019, 48 Seiten, ab 3, 13 Euro

Marcy Campell (Text), Corinna Luyken (Illustration): Adrian hat gar KEIN Pferd, Übersetzung: Uwe-Michael Gutzschhahn, cbj Verlag 2019, 40 Seiten, ab 5, 15 Euro

Boy sucht Girl

margoSeit gestern läuft in den Kinos die zweite Verfilmung eines Romans von John Green, amerikanischer Jugendbuchautor, über den ich vor drei Jahren hier, hier und hier berichtet habe. Da war ich natürlich neugierig, ob es wieder so ein Erlebnis wird. Folglich habe ich mir Margos Spuren, der bereits 2010 auf Deutsch erschienen ist, in diesen Tagen im Doppelpack gegeben: erst die Lektüre, dann den Film.

Green erzählt, in der Übersetzung von Sophie Zeitz, – man muss schon fast sagen – gewohnt locker-flockig die Geschichte des 18-jährigen Quentin, der seit Kindertagen in seine gleichaltrige Nachbarin Margo verknallt ist. Doch Margo will eigentlich nichts von ihm wissen. Bis sie eines Nachts Quentin als Helfershelfer für eine Rachetour an ihrem Ex-Freund braucht. Gemeinsam cruisen sie durch Orlando, Florida, verteilen Frischfisch, scheuchen Margos Ex beim Sex auf, entfernen einem anderen Klassenkameraden eine Augenbraue mit Enthaarungscreme, brechen bei Seaworld ein.
Margo geht unerschrocken und cool vor, Quentin überwindet ein ums andere Mal seine Ängste – so sehr ist er von Margo fasziniert. In ihm wächst die Hoffnung, dass Margo nun endlich seine Liebe erwidert. Doch am nächsten Morgen ist Margo verschwunden.

margoEs folgt eine Spurensuche, bei der Quentin mit seinen Freunden Ben, Radar und Lacey schließlich von Florida im Auto in den Staat New York fährt, um Margo in Agloe – einer so genannten Papierstadt, weil sie nur als Kopierschutz auf Straßenkarten existiert – aufzugabeln. Green brennt während dieser Roadtour ein Feuerwerk an Witzen und Gags ab, die im Kino den Saal zum Lachen brachte. Details verrate ich hier natürlich nicht.

Bis zu diesem Punkt ist die Geschichte ein scheinbar spaßiger Highschool-Roman und leicht naive Teenie-Liebe, die mir fast ein bisschen auf die Nerven ging, weil mir die Richtung nicht klar war, in die John Green will. Im Buch haben dann jedoch die letzten 20 Seiten die entscheidende Wendung gebracht.
Green ist ein Meister für Projektionen. Denn so wie Miles in Eine wie Alaska und Hazel Grace in Das Schicksal ist ein mieser Verräter schickt er auch hier seinen Protagonisten Quentin auf die Suche. Quentin hat dabei eine ziemlich genaue, mystifizierte Vorstellung von der gesuchten Margo. Und genau das ist der Knackpunkt. Denn es ist quasi unausweichlich, dass diese Suche nicht zu dem Ergebnis führt, das der Junge sich wünscht. Denn: „Die Vorstellung ist nie vollkommen“, schreibt Green (S. 325). Darin liegt die Lektion, die für Jugendliche vermutlich sehr viel bitterer ist als für Erwachsene mit ihrer Lebenserfahrung. Doch auch als Erwachsener kann man sich immer wieder gern an diese allzu menschliche Neigung erinnern, dass man etwas in geliebte Menschen hineinprojiziert, war gar nicht da ist, dass man sich Dinge wünscht, die nicht der Wirklichkeit entsprechen, dass man sich selbst viel zu wichtig nimmt.

Der Film ist perfekt gemachtes, sehr unterhaltsames Popcorn-Kino, mit frischen Jungschauspielern – Cara Delevingne ist zweifellos ein verdammt schönes Mädchen mit einem sehr cool-ironischen Gesichtsausdruck, allerdings habe ich im Nachhinein den Eindruck, dass sie bis jetzt eben nur diesen einen drauf hat. Nun gut, es, nach ein paar Kurzauftritten in Fernsehfilmen und Serien, ist ihre zweite große Filmrolle. Das wird also noch. Eine echte Entdeckung allerdings ist Ben-Darsteller Austin Abrams, der das Green’schen Witzefeuerwerk mit jugendlichem Verve abbrennt. Ich wünsche ihm, dass er sein Talent noch in weiteren Filmen zeigen kann.

Natürlich gibt es im Film Veränderungen im Vergleich zum Buch. Doch die sind sinnvoll und dem Medium entsprechend angepasst, gedreht und verdichtet. Da könnte man kleinlich die Unterschiede aufzeigen, doch das bringt einen nicht weiter. Die Lektüre geht natürlich in die Tiefe, bieten über 300 Seiten eben mehr Platz für Details und Hintergründe, als knapp zwei Stunden Film-Spaß. Doch so ergänzen und bereichern die beiden Medien die Geschichte von Quentin und Margo: das Buch liefert die Hintergründe, der Film eine ganz spezielle Art von Happy-End.

Und den Anteil der echten John-Green-Fans im Kino erkennt man spätestens, wenn der junge Tankwart seinen Auftritt hat …

John Green: Margos Spuren, Übersetzung: Sophie Zeitz,

Ausgezeichnet mit dem Corine – Internationaler Buchpreis, Kategorie Kinder- und Jugendbuch 2010. Nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2011,
Hanser, 2015, 336 Seiten, ab 13, 16,90 Euro (Hardcover-Neuauflage)

Das Buch zum Film: Reihe Hanser dtv Taschenbücher, 2015, 336 Seiten, 9,95 Euro