Die Stille im Bunker

flughundeEs ist eine gefühlte Ewigkeit her, dass ich Marcel Beyers Flughunde gelesen habe. Das muss gleich nach dem Erscheinen im Jahr 1995 gewesen sein. Jetzt habe ich die Geschichte vom seltsamen Stimmen- und Geräuschesammler Hermann Karnau in der Graphic-Novel-Version von Ulli Lust noch einmal gelesen.

Es ist keine leichte Lektüre, aber das war es bei der Romanversion auch schon nicht. In zumeist monochromen, sehr düsteren Panels, die nur hin und wieder von lichten Szenen unterbrochen werden, entwickelt Ulli Lust den Horror, der sich mit und um Hermann Karnau und die Familie Goebbels abspielt.
Als Tontechniker ist Karnau mit dafür verantwortlich, dass die Reden von Propagandaminister Goebbels glasklar und überzeugend bei den Zuhörern ankommen. Daneben sammelt er alle möglichen Geräusche, Töne und Laute, auf der Suche nach dem perfekten Urlaut des Menschen. Dafür schreckt er auch vor grausamen Menschenversuchen und Folter nicht zurück. Durch seine Tätigkeit für das NS-Regime gerät Karnau in den inneren Kreis der Familie Goebbels und lernt in deren Sommerhaus am Bogensee auch die sechs Kinder kennen. Zur Erzählperspektive von Karnau fügt sich die von Helga, der ältesten Tochter. Immer tiefer wird der Leser und Betrachter in die Parallelwelt der Goebbelskinder gezogen. Draußen herrscht Krieg, doch davon bekommen die Kinder scheinbar nicht viel mit. Nur in ihren grausamen Spielen zeigt sich, dass die Atmosphäre von Gewalt und Menschenverachtung auch in das Kinderzimmer vordringt. Und Helga ist groß genug, den Reden des Vaters folgen zu können. Sie beginnt die Bedrohnung für das eigene Leben zu erahnen.

Im Laufe der Zeit rücken die Bomben und das Grauen immer näher. Die Familie zieht in den Führerbunker. Karnau ist dort ebenfalls untergebracht, um die letzten Äußerungen Hitlers aufzuzeichnen. Jahre später wird er als alter Mann die Schellackplatten wieder anhören und die Stimmen der Kinder neu entdecken. Dass die Kinder den Führerbunker nicht mehr verlassen haben, ist hinlänglich bekannt. Doch aus Karnaus Perspektive entspinnt sich ein Rätsel darum, wie die Kinder tatsächlich zu Tode gekommen sind.

Die Visualisierung durch Ulli Lust führt dem Betrachter den skrupellos-verschrobenen Wahnsinn Karnaus sowie das Grauen der letzten Tagen des Nazi-Regimes überaus plastisch vor Augen. Der Krach des Kriegs rückt einem durch die Soundwords genauso auf die Pelle, wie die schlechte Luft bei einer elendig langen Goebbels Rede, die bei Helga Atemnot und Beklemmung auslöst. Die Bilder machen das Leid von Helga fast physisch erlebbar.
Im Bunker schließlich, wo ständig die Lüftungsanlage rattert, bannt Karnau auch die letzten Minuten der Kinder auf Schellack. Als ihr Atem verklingt, breitet sich eine fast greifbare Stille aus: „Es herrscht absolute Stille, obwohl die Nadel noch immer auf der Rille liegt.“ Das ist wahrscheinlich der ergreifendste letzte Satz eines Romans, der mir je untergekommen ist. Und in Kombination mit der schwarzen, leeren Sprechblase einfach atemberaubend.

Ulli Lusts Flughunde ist so vielschichtig und vielgestaltig, dass einmaliges Lesen nicht reicht, um dieses Meisterwerk in seiner gesamten Dimension zu erfassen. Das mag eine Freude sein, weil man länger etwas von dem Buch hat. Doch muss man sich auch dem Schrecken noch ein weiteres Mal stellen.
Mich jedenfalls machte die Lektüre neugierig, wie der Transfer von Roman zu Graphic Novel vor sich gegangen ist. Freundlicherweise hat mir Ulli Lust einen kleinen Einblick in ihre Arbeit an Flughunde gewährt, indem sie mir ein paar Fragen dazu beantwortet hat. Dafür bedanke ich mich ganz herzlich bei ihr.

Warum wollten Sie gerade diesen Roman als Graphic Novel umsetzen?
Die Geschichte der Goebbelskinder aus der Innenperspektive hat mein Interesse geweckt, und die düstere atmosphärische Sprache des Textes war äusserst reizvoll.

Wie sind Sie an den Stoff herangegangen?
Zuerst habe ich mich gefragt, was kann ich diesem fertigen Werk hinzufügen. Ist es möglich, eine eigene Interpretation zu bieten? Dann habe ich den Text in seine Einzelteile zerlegt und wieder neu zusammengesetzt. In der Struktur folge ich dem Roman, auch weil die chronologische Abfolge wichtig ist, aber ich musste sehr viel streichen. Was kann ich weglassen, war also eine der wichtigsten Fragen am Beginn der Arbeit.

Wie haben Sie die Textauswahl getroffen?
Ich habe zuerst die Stellen markiert, die unerlässlich sind.

Haben Sie sich mit Marcel Beyer beraten?
Nein. Er hat mir freie Hand gelassen. Er kannte meinen vorigen Comic und hat mir vertraut.

Gab es Vorgaben von Verlagsseite?
Nein.

Wie konzipieren Sie eine Szene bzw. eine Seite mit den Panels?
Schwer zu beantworten. Nach den Erfordernissen der Szene. Jede Seite ist ein kleiner dramaturgischer Bogen innerhalb der Gesamtchoreographie, idealerweise mit einem kleinen Abschluss am Ende der Seite.

Arbeiten Sie am Computer oder mit Stift und Papier?
Die Linienzeichnung zeichne ich mit Bleistift, also analog, ebenso die Farben mit Aquarell auf einem Extrablatt. Beides wird am Computer zusammengefügt.

Wie würden Sie Ihren Stil beschreiben?
Unaufgeregt.

Wie ist das Farbkonzept für Ihre Graphic Novel entstanden?
Die Farbigkeit spiegelt die Stimmung der jeweiligen Szenen. Es sind keine naturalistischen Farben.

Mit welchem Bildmaterial als Vorlagen haben Sie gearbeitet?
Alles, was ich an Foto- und Filmmaterial aus den Jahren 1938 bis 45 finden konnte. Die Goebbelskinder wurden häufig gefilmt und fotografiert – für damalige Verhältnisse.

Was hat Ihnen bei der Visualisierung des Romans die größten Schwierigkeiten bereitet?
Die Massenszenen im Stadion hat der Romantext sehr detailversessen beschrieben, im Comic musste ich mich auf wenige Szenen beschränken.

Auf was mussten Sie verzichten?
Auf den grössten Teil des inneren Monologs des erwachsenen Protagonisten.

Wie lange haben Sie an Flughunde gearbeitet?
Zwei Jahre.

Haben Sie schon ein neues Projekt?
Ja, aber dafür nehme ich mir mehr Zeit. Reden wir darüber in 3 Jahren.

Gerne. Ich bin jetzt schon gespannt…

Ulli Lust: Flughunde, Graphic Novel nach dem Roman von Marcel Beyer, Suhrkamp, 2013, 364 Seiten, 24,99 Euro

[Jugendrezension] Schatzsuche im Waisenhaus

nicholas benedictHeute freue ich mich, die erste Gastrezension auf diesem Blog posten zu können. Sie stammt von Leon aus Hamburg und ist der Startschuss für den Aufbau einer Kinder- und Jugendredaktion für letteraturen in den nächsten Monaten. Los geht es:

Dieses Buch gehört zu der Buchreihe „Die geheimnisvolle Benedict-Gesellschaft“. Es ist der vierte Band, doch man muss keines der anderen Bücher lesen, um das Buch zu verstehen. Im Zusammenhang kann es aber trotzdem besser sein, wenn man schon ein Buch der Benedict-Gesellschaft gelesen hat.

Es geht um eine Person, Nicholas Benedict, die in der Buchreihe ein Erwachsener ist. In dem Buch Das geheimnisvolle Leben des Nicolas Benedict wird die Kindheit dieser Person erzählt.

In diesem Buch ist Nicholas ein neunjähriger Waisenjunge. Er kommt zum wiederholten Mal in ein neues Waisenhaus und hat es dort nicht leicht, weil er eine Krankheit hat (Narkolepsie) und deshalb manchmal in den dümmsten Situationen einschläft. Da er ein Genie ist und sogar Dinge im Voraus erahnen kann, merkt er schnell, dass im Waisenhaus merkwürdige Dinge geschehen. Schließlich findet er einen Freund im Waisenhaus und eine gehörlose Freundin außerhalb. Schnell lernt Benedict die Gebärdensprache und kann sich gut mit ihr unterhalten. Mit den beiden kommt er einem Schatz auf die Spur, und letztendlich muss er sich beeilen das Geheimnis des Schatzes zu lösen, denn auch Mr Collum, ein strenger Aufsichtsbeamter aus dem Waisenhaus, ist dem Geheimnis auf der Spur.

Ich kann dieses Buch empfehlen, weil Trenton Lee Stewart ein sehr schönes Licht auf das eigentlich traurige Leben im Waisenhaus wirft. Dies macht er mit viel Spannung und Humor, weshalb man den Roman gern schnell durchliest.

Wenn man dieses Buch gelesen hat, macht es einem Lust auch die anderen Romane von Stewart zu lesen.

Leon (13)

Trenton Lee Stewart: Das Geheimnisvolle Leben des Nicholas Benedict, Übersetzung: Werner Löcher-Lawrence, Bloomsbury Verlag, 2012, ab 12, 16,99 Euro

Den Aufstand wagen

aufstandKaum eine Woche ohne Jahrestage. Heute jährt sich der Aufstand des 17. Juni zum 60. Mal. Jetzt könnte man sich fragen, was die aufwühlenden Tage im Sommer 1953 in der DDR mit Kinder- und Jugendbüchern zu tun hat. Eigentlich nicht viel, denn in diesem Bereich gibt es scheinbar keine aktuellen Publikationen zu diesem Thema. Zwei Bücher sind mir dennoch in die Hände gefallen: Tage wie Jahre von Klaus Kordon aus dem Jahr 1986 und die Graphic Novel für Erwachsene 17. Juni – Die Geschichte von Armin & Eva von Kitty Kahane, der in diesem Frühjahr erschienen ist.

In Tage wie Jahre befasst sich Klaus Kordon sich mit den Zuständen in der DDR von 1953. Es ist der zweiten Teil seiner Trilogie über den Jungen Frank.
Frank, der mit seiner Mutter und seinem Stiefvater „Onkel Willi“ im Prenzlauer Berg lebt, ist das, was man früher als „Lausbube“ bezeichnet hat. Er ist zwar schlau, aber faul in der Schule und wird daher sitzen bleiben. Mit seinem Freund Kalle heckt er zunächst jedoch aus, dass sich die Jungs alle einen „Igel“ schneiden lassen, damit der verhasste Klassenlehrer sie nicht mehr an den Haaren ziehen kann. Während dieses schulischen Mini-Aufstandes braut sich in der Stadt, in der Stalin-Allee, der richtige Aufstand zusammen. Die Bauarbeiter protestieren gegen die erhöhten Arbeitsnormen, gegen die Fehler der SED und die DDR-Regierung. Was zunächst nur ein Protest gegen überzogene sozialistische Ansprüche war, wandelt sich in den Tagen im Juni zu einer politischen Revolte gegen das System.

Frank erfährt davon zunächst nur über einen Bekannten, der in Friedrichshain auf dem Bau arbeitet. Als jedoch der Ausnahmezustand verhängt wird, abends die Sperrstunde erlassen wird und das Gerücht von einem neuen Krieg die Runde macht, hält es den Jungen nicht mehr in seinem Kiez. Zusammen mit Kalle macht er sich auf nach Mitte, zum Alexanderplatz, von dort laufen sie zum Potsdamer Platz – und erleben, wie sowjetische Panzer aufziehen und schließlich tatsächlich Schüsse fallen.

Tage wie Jahre ist ein schmales Büchlein, das im Handel leider nur noch antiquarisch zu bekommen ist, aber Klaus Kordon fängt dort die Stimmung und die Lebenszustände in der DDR acht Jahre nach Ende des zweiten Weltkrieges ein. Die wirtschaftliche Lage im sowjetischen Sektor der Stadt ist prekär, Menschen verschwinden – es heißt, sie sind in den Westen geflüchtet –, andere werden verhaftet, angeblich aus politischen Gründen. Doch noch ist die Grenze in den Westen offen, und auch Frank macht sich an einem Tag auf, um von dort Schmerzmittel für die Mutter zu besorgen.

Klaus Kordons Text ist fast 30 Jahre alt, und das merkt man ihm an der langsamen, betulichen Erzählweise durchaus an. Gleichzeitig spiegelt sich in seiner Sprache das Nachkriegsdeutschland, in dem man Loser noch als „Nulpe“ bezeichnete – ich gebe es zu, ich liebe dieses Wort. Ein bisschen hat mich das an Stups und Lange Latte von Kurt Friedrich erinnert, dasmein Vater als Junge gelesen hat und das ich Jahre später selbst verschlugen habe. Moderne Literatur ist das natürlich nicht, aber das wohlige Gefühl von damals ist geblieben. Ansatzweise habe ich das bei Klaus Kordon wiedergefunden – trotz der dramatischen Ereignisse, die er schildert.

Falls doch noch junge Leser dieses Buch in die Hand nehmen – vielleicht gibt es das noch in gut bestückten Bibliotheken oder Bücherhallen –, werden sie dort auf jeden Fall einen guten Eindruck, über die Zustände in der DDR der 1950er Jahre und die Unterschiede zwischen Ost und West bekommen.
Diese spannende Episode der deutschen Geschichte könnte aber durchaus eine aktuelle Neugestaltung für Kinder und Jugendliche vertragen.

17. juniEin gelungenes Beispiel dafür – allerdings für Erwachsene – ist der Comic 17. Juni – Die Geschichte von Armin & Eva. Er wurde von Kitty Kahane gezeichnet, die Historiker Lahn, Köhler und Mönch haben die Geschichte recherchiert, konzeptioniert und die Texte geschrieben.

Sie erzählen in einem etwas verschachtelten Plot, wie Eva kurz nach der Wende ein Päckchen von Armin bekommt. Der Bote war ein Mitgefangenen von Armin im russischen Arbeitslager Workuta. Er erzählt Eva von Armins Schicksal. Dieser war kurz nach dem Aufstand des 17. Juni verschwunden – verschleppt von der ostdeutschen Polizei, die ihn dann den Russen ausgeliefert hat.

Eva hatte damals ihren Cousin Eddie, einen Reporter aus Westberlin, um Hilfe gebeten und nach Armin suchen lassen. Die beiden wollten heiraten. Eddie macht sich im Stahlwerk Hennigsdorf, im Nordwesten von Berlin im sowjetischen Sektor gelegen, auf Spurensuche. Doch im Stahlwerk trifft er auf eine Mauer des Schweigens. Erst ein Informant, der die Geschichte vom 17. Juni veröffentlicht sehen will, erzählt Eddie, was an den Tagen des Aufstandes im Stahlwerk und in Berlin passiert ist.

Die Verschachtelung der Plot-Stränge hat mich zunächst etwas verwirrt, doch sobald man in die Erzählung von den Streiks im Stahlwerk eintaucht und den Marsch der Arbeiter nach Ostberlin miterlebt, ist man gefangen von den Ereignissen und den kriegsähnlichen Zuständen in Ostberlin.
Vier längere Textpassagen klären über die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR auf – und sie erzählen, dass der Aufstand des 17. Juni bis in das russische Arbeitslager Workuta wirkte. Auch dort traten die Gefangenen in den Streik und verweigerten die Arbeit in den Kohlegruben. Doch dort schlug die Staatsmacht noch gnadenloser zu als in der DDR. Die Aufstände endeten blutig.

Kitty Kahanes stahlblaue Panels mit dem fast krickeligen Strich zeigen wenig bekannte Facetten vom 17. Juni und erweitern so den Horizont in Bezug auf dieses Geschichtskapitel auf eine schön gemachte Art.

Klaus Kordon: Tage wie Jahre, Beltz & Gelberg, 2001/1986, 123 Seiten, ab 10, nicht mehr lieferbar

Kitty Kahane/Alexander Lahl/Max Mönch/Tim Köhler: 17. Juni – Die Geschichte von Armin & Eva, Metrolit Verlag, 2013, 112 Seiten, 15,99 Euro

Flucht in eine neue Heimat

kerrManchmal stelle ich fest, dass ich Bücher gar nicht gelesen habe, obwohl ich der Überzeugung bin, das schon längst getan zu haben. Judith Kerrs Als Hitler das rosa Kaninchen stahl ist so ein Fall. Bis vor kurzem war ich felsenfest davon überzeugt, es zu kennen. So genau erinnere ich mich an die Zeit in den 70er Jahren, als alle von diesem Buch gesprochen haben und ich ganz seltsame Gefühle dabei hatte, die ich gar nicht einordnen konnte.

Jetzt, aus Anlass von Judith Kerrs 90. Geburtstag, habe ich die Lektüre nachgeholt – und dafür auch gleich noch die beiden Nachfolgeromane Warten bis der Frieden kommt und Eine Art Familientreffen drangehängt. Es war schon bewegend, endlich die Flucht der Familie Kerr ganz bewusst miterleben zu dürfen.

Annas Sicht der Dinge bringt auch heute noch die Zeit von 1933 und die Schrecken, die schon kurz nach der Machtergreifung der Nazis einsetzten, dem Leser eindringlich nah. Man ist unmittelbar dabei, wie die anfangs 9-Jährige die Flucht in die Schweiz und nach Frankreich erlebt, bis die Familie schließlich eine neue Heimat in London findet. Zu all den Neuanfängen kommt die Sorge, wie die Familie überleben soll. Denn Annas Vater, der berühmte Schriftsteller und Theaterkritiker Alfred Kerr, findet im Ausland kaum Möglichkeiten zu veröffentlichen. So muss sich vornehmlich die Mutter um den Unterhalt für die Familie kümmern.
In Warten bis der Frieden kommt schildert Anna die Kriegsjahre in London. Die Familie lebt immer noch in beengten Verhältnissen in einem kleinen Hotel. Anna ist zeitweise bei Bekannten untergebracht, ihr Bruder Michael studiert in Cambridge Jura und möchte zur Royal Air Force. Mittlerweile ist Anna alt genug, um ebenfalls eine Arbeit anzunehmen. Zwischen Bombenangriffen und ihrer Arbeit für einen Wohltätigkeitsverein lernt sie zudem das Zeichnen. Und verliebt sich in ihren Zeichenlehrer.
Eine Art Familientreffen schildert eine Woche im Jahr 1953. Annas Vater ist vor vier Jahren gestorben (auch hier folgt Judith Kerr ihrer eigenen Familiengeschichte), die Mutter lebt wieder in Berlin. Anna selbst ist mit einem TV-Redakteur verheiratet. Da erreicht sie ein Anruf, dass die Mutter in Berlin mit einer Lungenentzündung im Krankenhaus liegt. Anna reist nach Berlin, trifft dort ihren Bruder und erfährt, dass die Lungenentzündung nur ein Vorwand war und die Mutter eigentlich einen Selbstmordversuch unternommen hat.

kerrVon den drei Bänden ist Eine Art Familientreffen sicherlich der schwächste Teil. Doch rundet er Annas Leben in dem Sinne ab, dass sie mit den Ereignissen der Nazizeit und des Zweiten Weltkrieges abschließen und eine eigene Familie gründen kann.
Als Hitler das rosa Kaninchen stahl ist zweifellos immer noch eine wichtige Lektüre, um die Flucht vor den Nazis aus der Sicht eines Kindes mitzuerleben. Allerdings liest sich die Übersetzung von Annemarie Böll aus den 1970er Jahren heute an manchen Stellen etwas betulich. Hier könnte man durchaus mal über eine Neuübersetzung nachdenken.
Warten bis der Frieden kommt besticht durch die authentische Schilderung der Bombardierung Londons. Sie macht deutlich, wie sehr die britische Metropole unter den Angriffen der Deutschen gelitten hat.

Judith Kerr, die immer noch in London lebt, als Illustratorin arbeitet und sich mittlerweile als vollkommen britisch empfindet, verdanken wir eine der sensibelsten Darstellungen von Flucht. Sie zeigt, dass Kinder sehr viel vom Leid der Erwachsenen mitbekommen, aber auch durchaus in der Lage sind, sich in neue Situationen einfinden und ein glückliches Leben führen zu können. Davor verneige ich mich und gratuliere zum 90. Geburtstag.

Judith Kerr: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl. Eine jüdische Familie auf der Flucht, Übersetzung: Annemarie Böll, Ravensburger Buchverlag, 2013, 576 Seiten, ab 14, 9,99 Euro

Blind für die anderen

gehörlosDa es diesen Blog erst seit gut eineinhalb Jahren gibt, sind die Hardcover, die vor Herbst 2011 erschienen sind, an mir vorbeigegangen. Gut, dass manche Bücher später noch einmal als Taschenbuch erscheinen. Daher bin ich jetzt wirklich froh, dass ich so doch noch auf Freak City von Kathrin Schrocke gestoßen bin.

Der 15-jährige Ich-Erzähler Mika hat Liebeskummer. Sandra hat ihm nach gerade einmal einem Jahr den Laufpass gegeben, im Schwimmbad. Mitten im Wasser und eigentlich ohne richtige Begründung. Mika hadert fürchterlich und möchte Sandra zurück haben. In diesem Drama läuft ihm Lea über den Weg. Mit ihren wilden Locken, dem Tattoo am Hals und dem Minirock macht sie ihn auf den ersten Blick schon ganz wuschig. So wuschig, dass er überhaupt nicht mitbekommt, dass Lea gehörlos ist. Erst, als er sie im Jugendtreff Freak City wiedersieht, realisiert er ihre Einschränkung. Mika, der nicht gerade zu der Kategorie der Blitzmerker gehört und sich eigentlich für gar nichts richtig interessiert – außer für Sandra – rutscht eher ungewollt und ziemlich spontan in einen Gebärdensprachkurs.

Mehr und mehr lernt er die Welt der Gehörlosen kennen und entwickelt ein Bewusstsein für Menschen mit Behinderungen. Die oberflächliche, rotzige Art seines Kumpels Calimero geht ihm dabei mehr und mehr auf den Keks. Statt mit ihm abzuhängen oder mit dem Vater in die Kletterhalle zu gehen, verabredet Mika sich lieber mit Lea und erkundet die und das Unbekannte, zu dem auch ein Konzert eines gehörlosen Rappers gehört. Als er Lea eines Tages Zuhause überrascht, erlebt er allerdings auch, dass ihre Familie das Mädchen ganz anders wahrnimmt als er.

Als Sandra mitbekommt, dass Mika sich für eine andere interessiert, startet sie einen Wiederversöhnungsversuch …

Mit lockerer, aber nicht anbiedernder Sprache führt Kathrin Schrocke junge Leser in die Welt von Gehörlosen. In Zeiten, in den um Inklusionsschulen gestritten wird, Behinderte aber in einer „normalen“ Gesellschaft kaum sichtbar sind, weil sie auf die eine oder andere Art doch irgendwie „wegorganisiert“ sind, ist die Geschichte von Mika und Lea ein wichtiger Beitrag für Verständnis und Miteinander von Menschen jeglicher Art. Schrocke hat genau recherchiert und bietet einen Einblick in die Welt ohne Geräusche. Und die ist vielfältiger, aber auch tückischer, als ein Hörender oftmals denkt. Auch die verschiedenen Ansätze, wie einzelne Familien mit gehörlosen Kindern umgehen, zeigt die Autorin, ohne zu urteilen: In Leas Familie kann niemand Gebärdensprache, weil Lea nicht „verwöhnt“ werden und sich in der „normalen“ Welt zurechtfinden soll. Bei Leas Freundin Franzi hingegen kommunizieren alle Familienmitglieder mit Gesten und kommen dem gehörlosen Mädchen ganz selbstverständlich entgegen. Welcher Ansatz der sinnvollere ist, muss jeder Leser für sich entscheiden. Schrocke illustriert zudem eindringlich, dass Nicht-Behinderte Menschen mit Einschränkungen – welcher Art auch immer – oftmals für intellektuell zurückgeblieben halten. Gegen dieses Vorurteil kämpft sie mit ihrem Roman auf leichte und mitfühlende Art an.

Freak City ist eine wunderbar herzergreifende Liebesgeschichte zwischen zwei Teenagern und ein wichtiges Plädoyer für eine Gesellschaft, in der auch die Menschen, die nicht der vermeintlichen Norm und der vermeintlichen Normalität entsprechen, gesehen, gehört, angenommen und vorbehaltlos akzeptiert werden. Das würde sicherlich eine Bereicherung für alle sein.

Kathrin Schrocke: Freak City, Carlsen Taschenbücher, 2013, 240 Seiten, ab 12, 6,99 Euro

Glückslektüre

Kekse und Kuchen machen bekanntlich ziemlich glücklich. Wenn man zu dem Nachmittagskaffee oder -kakao auch noch die richtige Lektüre vor der Nase hat, ist der Tag auf jeden Fall gerettet. Meine neueste Empfehlung dafür ist der Roman Die Glücksbäckerei – das magische Rezeptbuch von Kathryn Littlewood, in der liebevollen Übersetzung von Eva Rieckert.

Rosemarin Glyck, kurz Rose, wächst in Calamity Falls auf und bemerkt mit zehn Jahren, dass die Mutter in der Familienbäckerei sonderbare Dinge in ihre Kuchen- und Keksteige rührt: einen Blitz, das Gähnen eines Wiesels, den Schweif einer Wolke. Die mysteriösen Zutaten bewirken bei den Konsumenten der Glücksbäckerei-Waren eine sofortige Genesung von Stromschlag oder Schlafwandelei und befreien feststeckende Menschen aus Brunnenschächten.
Die wundersame Heilung eines an Schweinegrippe erkrankten Jungen durch einen Kürbis-Käsekuchen schafft es bis in die Zeitung. Und so werden die „berühmten“ Eltern von Rose gebeten in einer anderen Kleinstadt zur Bekämpfung der Grippe-Epidemie ihre unschlagbaren Mandelcroissants backen. So lassen die Eltern die nun zwölfjährige Rose mit ihren drei Geschwistern allein in der Glücksbäckerei zurück. Die Nachbarin und der Bäckergehilfe passen auf die Kinder auf. Zuvor jedoch vertraut die Mutter Rose den Schlüssel zur Speisekammer an. Dort liegt das magische Rezeptbuch – von dem das Mädchen jedoch die Finger lassen soll.

Natürlich lässt sie nicht die Finger davon, denn Rose träumt, auch einmal Glücksbäckerin zu werden. Sie will den magischen Rezepten der Mutter auf die Spur kommen. Gemeinsam mit den Brüdern Tymo und Basil schreibt sie ein paar Zauberrezepte ab. Diese sind in altertümlicher Sprache und als Geschichten geschrieben und haben nichts mit üblichen Rezepten gemeinsam. Die Kinder lassen sich jedoch nicht abschrecken und probieren sich an Liebesmuffins, Wahrheitsplätzchen und Umkehr-kopfüber-von-innen-nach-außen-Kuchen. Doch seltsame Maßeinheiten wie Faust, Flamme, Lied, Eichel führen zu einem unvorstellbaren Chaos …
Zu allem Überfluss taucht, kaum dass die Eltern aus dem Haus sind, die coole Tante Lily auf ihrem Motorrad auf. Angeblich gehört sie zu einem entfernten Zweig der Glycks-Familie – und interessiert sich auffallend für das geheime Backbuch. Bei Rose kommen Zweifel auf.

Kathryn Littlewoods Glücksbäckerei erzählt eine turbulent-fantastische Zaubergeschichte, die man quasi mit einem Haps verschlingt. Rose ist eine liebenswerte Protagonistin, die sich eigentlich nichts mehr wünscht, als hübsch zu sein und von allen geliebt zu werden. Geliebt wird sie von den Lesern auf jeden Fall von Anfang an. Ihre Backversuche lassen einen mitfiebern, die Entdeckung der Kammer mit den geheimen Zutaten (wie das Auge eines Hexers und der Zwerg des Ewigen Schlafes) fügt eine Prise Grusel hinzu. Rose Charakter, ihre Entscheidungen, ihre Liebe zu den Geschwistern und den Eltern, das alles ist wie eine dicke, süße Schokoglasur, die einfach glücklich macht. Diese frisch-magische Geschichte ist wunderbares Lesefutter. Sie wärmt das Herz und stimmt eine Hymne auf leckeres Backwerk an.

Kathryn Littlewood: Die Glücksbäckerei – Das magische Rezeptbuch, Übersetzung: Eva Riekert, Illustration: Eva Schöffmann-Davidov, Fischer KJB, 2013, 352 Seiten, ab 10, 14,99 Euro

Sichtbar machen


mobbing
Für den Menschen, der zur Spezies Homo Sociales gehört, ist eine der schlimmsten Pein vermutlich das Nicht-Gesehen-Werden. Mobbing-Opfer, die nirgendwo Hilfe finden gegen ihre Peiniger, werden im wahrsten Sinne des Wortes unsichtbar. So jedenfalls geschieht es im Debütroman Operation Unsichtbar von Helen Endemann.

Eines Tages bemerkt der 12-jährige Nikolas, dass er für seine Umwelt unsichtbar geworden ist. Niemand sieht ihn mehr. Nicht die Schulkameraden, die ihn sonst in der Pause immer quälen, noch die Eltern, die vor allem mit der kleinen Schwester beschäftigt sind. Nikolas kann sich nicht erklären, wie es dazu gekommen ist. Vor allem, dass seine Eltern nicht über ihn reden, ihn nicht vermissen, nicht nach ihm suchen, wundert und bedrückt ihn ganz besonders. Zu Hause sieht ihn nur die kleine Schwester, die aber noch nicht reden kann. Nikolas fühlt sich dort überhaupt nicht mehr wohl. Er kommt nur noch zum Schlafen nach Hause, die übrige Zeit verbringt er in der Schule. Dort ist wenigstens etwas los. Er besucht unterschiedliche Klassen und sucht sich die interessantesten Lehrer und Fächer heraus. Nachmittags geht er ins Kino – und genießt wenigstens für eine kurze Weile den Vorteil, nicht gesehen, also auch nicht kontrolliert zu werden.

Eines Tages stellt Nikolas fest, dass es noch mehr unsichtbare Kinder an der Schule gibt. Vier von ihnen wohnen sogar dort im Keller. Er freundet sich mit Alice an, die bereits seit zwei Jahren unsichtbar ist. Sie wird immer schwächer, isst immer weniger, hat Schwierigkeiten schwere Türen zu öffnen. Manchmal taucht um die Unsichtbaren ein bedrohliches kaltes blaues Licht auf, und sie scheinen endgültig zu verschwinden. Die Jugendlichen sind ratlos, ob und wie sie wieder sichtbar werden können. Einer der Jungen hält es schließlich nicht mehr aus und stürzt sich vom Schuldach. Seine Leiche ist dann plötzlich für die Umwelt wieder sichtbar. Der Schock sitzt tief, bei den Unsichtbaren wie bei den Sichtbaren.

Mit der Zeit stellt Nikolas fest, dass immer wenn er starke Gefühle empfindet, er für empfindsame, aufmerksame Lehrer sichtbar wird. So bemerkt ihn schließlich die Religionslehrerin – und organisiert Hilfe.

Helen Endemann hat in ihrem Debüt das schwierige Thema Mobbing durch die Kombination mit dem fantastischen Element der Unsichtbarkeit zu einem richtig gehenden Page-Turner gemacht. Diese Unsichtbarkeit ist natürlich ein offensichtliches Symbol für die Folgen von Mobbing, doch es ist eingängig und überzeugend dargestellt, so dass sich das Fantastische fast wie selbstverständlich in einen realen Schulalltag fügt. Als Leser nimmt man Endemann diese großartige Idee sofort ab und verfolgt mit wachsender Spannung die Entwicklung von Nikolas und den anderen unsichtbaren Kindern.

Den Ausweg, den die Autorin liefert, orientiert sich an realen Konflikt-Lösungsstrategien, die an manchen deutschen Schulen tatsächlich schon durchgeführt werden. Neben der pädagogischen Absicht, Jugendliche für das Thema Mobbing zu sensibilisieren, sie davor zu schützen und sie davon abzuhalten, kommt somit auch für erwachsene Leser ein Lerneffekt hinzu. Man erfährt in Grundzügen, wie man Mobber möglicherweise ausschalten und den Mobbing-Opfern helfen kann. Dass die Mobber selbst zum Teil aus problembelasteten Familien kommen und auf eine andere Art selber leiden, vergisst Endemann dabei auch nicht.

Ein wichtiger Aspekt in diesem Roman ist zudem der Glaube. Nikolas glaubt an Gott und zieht aus Bibelgeschichten Hoffnung. Ihm gegenüber steht Alice, die trotz atheistischem Zweifel dennoch auf einen guten Ausgang der Geschichte hofft und die Zeit bis dahin mit Unterricht nutzt. Endemann flicht hier das Thema Resilienz, also die Widerstandsfähigkeit des Menschen in Krisensituationen, geschickt in die Geschichte ein. Sie zeigt, dass sowohl der Glaube, als auch ein starkes Selbstwertgefühl für Kinder und Jugendliche Wege sein können, Hindernisse im Leben zu meistern.

All diese vielen Schichten der Geschichte machen Operation Unsichtbar auch zu einer passenden Schullektüre, die den Lehrern eine spannende Geschichte an die Hand gibt, die die Schüler mit Sicherheit bis zur letzten Seite lesen werden. Diskussionsstoff gibt es danach jede Menge.
Der Höhepunkt des Romans ist zudem so anrührend und filmreif geschrieben, dass man heulen möchte … vor Glück.

Helen Endemann: Operation Unsichtbar, Brunnen-Verlag, 2013, 192 Seiten, ab 12, 9,99 Euro

Cinemascope-Reise

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Es gibt Reisebücher, die punkten mit genauen Infos zu Sehenswürdigkeiten, Unterkünften, Klima und landestypischen Sitten. Das ist wichtig, und das möchte ich auf gar keinen Fall missen. Aber es gibt auch Reisebücher, die überraschen mit ganz anderen Dingen – mit Atmosphäre, genialen Bildern und charmanten Details. Wenn sich das dann auch noch in einem Comic wiederfindet, bin ich hin und weg. Geschafft hat das der Reise-Comic Was kostet ein Yak? von Philipp Cassirer. Am liebsten hätte ich jetzt geschrieben: „Nach Lektüre verreist …“ In diesem Fall Richtung Nepal, Indien, Himalaya … Doch da das gerade nicht geht, erfreue ich mich an Cassirers Bildern. Und beschränke mich darauf, dieses Buch am 60. Jahrestag der Erstbesteigung des Mount Everest durch Edmund Hillary und Tenzing Norgay vorzustellen.

Der Grafiker hat nach seinem Studium mit zwei Freunden eine dreimonatige Reise unternommen – auf der Suche nach einem Diplomthema und natürlich, um ein bisschen zu chillen. Im ligne-claire-Stil mit schwarzen Konturen und realistischen Details erzählt Cassirer von seinen Reiseerlebnissen in der Himalaya-Region. Angefangen bei unbequemen Schlafpositionen in Flugzeugen, über allgegenwärtige Taxi-Unternehmer an den Zielorten, Verstopfung am Berg, notgeile Italiener, einheimische Menschentypen und Freelancer, Kamikaze-Busfahrer, Dealer und Bartmoden.
Und so laufen die drei Helden schließlich mit den abgefreaktesten Bärten durch den Himalaya, die sie eher wie Porno-Darsteller aus den 1970er Jahren erscheinen lassen, als neugierige Studenten aus Hamburg. Das kommt alles sehr cool daher. Cassirer erzählt seine Geschichte auf Deutsch und Englisch, was die Authentizität der Erlebnis noch erhöht, vom Leser allerdings einigermaßen ordentliche Englischkenntnisse abverlangt (was durchaus vertretbar ist).

Bei den Panels wechselt Cassirer zwischen Einzelpanels mit abgerundeten Ecken (konsequent 70er Jahre) oder aber mit querformatigen, ganzseitigen Bildern. Dort gehen manche Szenen in einander über oder zeigen eine einzige Ansicht von atemberaubender Landschaft. Schneebedeckte Bergspitzen vor tiefblauem Himmel. Man bekommt sofort Sehnsucht.
Umgekehrt überkommt den Betrachter bei den Darstellungen von Verkehrsregelung und Rushhour Beklemmung in Anbetracht des Chaoses auf dem Subkontinent. Das man in der Detailfülle dann jede Menge Dinge entdecken kann, fällt einem spätestens nach dem zweiten Lesen auf.

Cassirer liefert einen Reisebericht mit allen Höhen und Tiefen, voller Anekdoten und Skurrilitäten, kaputten Mountainbikes, Gewaltmärschen, dubiosen Drogen. Im Nachwort berichtet er, dass er noch mal soviel hätte erzählen können, den Leser jedoch nicht langweilen wollte. Hätte er nicht. Manche Szenen hätte man eventuell weiter auserzählen können und die schlechte Tranceparty hätte sicherlich lustiges Bildmaterial hergegeben …

Zum Comic wird ein Internet-Code mitgeliefert, über den man sich die Geschichte bei Carlsen als PDF herunterladen kann. Auf Tablets oder farbigen E-Book-Readern kann man dann der Reise durch den Himalaya auch auf elektronische Art sehr gut folgen.

Auf jeden Fall ist dieser unverstellte Blick auf Indien, Nepal und Bangladesh ein Augenschmaus und die Selbstironie des Erzählers sehr charmant. Auf die nächste Geschichte aus der Feder bzw. dem Computer von Philipp Cassirer bin ich jedenfalls schon sehr gespannt – je mehr Seiten, desto besser…

Philip Cassirer: Was kostet ein Yak?  Von heiligen Kühen und heiligen Bergen, Carlsen Comics, 2013, 64 Seiten, 14,90 Euro

Lehrreiche Leere

erdeBücher mit einem Loch sind definitiv etwas Besonderes. Das ist mir spätestens seit klar, seit ich als Kind vor einem gefühlten halben Jahrhundert Die kleine Raupe Nimmersatt von Eric Carle „gelesen“ habe. Jede Seite mindestens ein Loch, es war toll.

Jetzt gibt es wieder ein Buch mit Loch – und  das steht der kleinen Raupe in nichts nach. Zwar hat jede Seite immer nur ein Loch, doch das ist ein ganz besonderes. Es symbolisiert unsere Erde. Und auf der geht es hoch her. Aus einem kleinen Keim erwächst ein dichter Wald, dann kommt der gelbe Bagger und holzt alles wieder ab. Häuser entstehen, zunächst kleine, bescheidene. Doch die reichen ganz schnell nicht mehr und müssen Kran, Bagger, Zementmischer und Hochhäusern weichen. Mehr und mehr Hochhäuser drängen sich auf der Erde. Immer mehr Fabriken kommen hinzu, der Himmel verdunkelt sich durch grauen Rauch, Abfallberge schwellen an, Autos erdrücken alles. Dann schlägt die Natur zurück: Der Eisberg schmilzt, der Meeresspiegel steigt, Häuser, Autos, Müll, alles wird überflutet. Nur der Eisbär steht über allem.
Es folgt die Chance für einen Neuanfang: Ein Mädchen und ein Junge säen, und wieder wachsen Bäume heran, entstehen Häuser, auch Hochhäuser, doch alles in einem harmonischeren Maß, im Einklang mit der Natur. Und am Ende teilen sich Menschen, Tiere, Pflanzen unseren Planeten. Wale fliegen, Regenbögen bringen Farbe ins Leben, Windräder produzieren Energie, ohne die Luft zu verschmutzen.

Es ist zugegebenermaßen ein didaktisches Buch, jedoch eins, das ohne ein einziges Wort auskommt.  Die Illustrationen von Jimi Lee sind Symbole für unsere Maßlosigkeit und unsere Rücksichtslosigkeit. Und die führen dem Betrachter gnadenlos vor Augen, dass es so nicht weitergehen kann. Aber Jimi Lee macht auch Hoffnung, dass ein Wandel möglich ist – wenn wir endlich die Verantwortung für unsere Erde übernehmen.

Das Loch in der Mitte des viereckigen Buches ist Leerstelle und Mahnung zugleich. Man packt automatisch mit den Fingern hinein, hält die Erde also in Händen, und blickt man durch dieses Loch, sieht man immer einen Teil von ihr und wird sich ihr wieder ganz besonders bewusst. Die Leere füllt sich mit dem Idealbild des Globus‘ und wird zur Lehre. Eine schönere Liebeserklärung an die Erde ist mir schon lange nicht mehr untergekommen.

Jimi Lee: Unsere Erde, Minedition, 2013, ab 3, 14,95 Euro

Von ganzem Herzen

entschuldigungIm Grunde hat die Drittklässlerin Greta es nur gut gemeint. Die Lehrerin soll zu spät in die Klasse kommen, damit die Mathearbeit ausfällt, denn Lukas hatte keine Zeit zum Lernen. Also sperren die beiden die hintere Treppe mit einem Zettel und einer Schnur ab, so dass die Lehrerin den längeren Weg vorne herum nehmen muss.

Doch dann nimmt das Unglück seinen Lauf – Hausmeister, Mathelehrerin und Sportlehrer stürzen die Treppe hinunter, Knochen brechen, dann wird auch noch der Schuldirektor durch einen blöden Zufall von den Viertklässlern über den Haufen gerannt. Das Chaos kann eigentlich nicht größer sein. Kein Wunder, dass Greta von ihren Eltern dazu verdonnert wird, sich bei allen Betroffenen zu entschuldigen – und zwar schriftlich und ehrlich und von ganzem Herzen.

Also schreibt Greta Briefe an Hausmeister, Lehrer, Direktor, allerdings schreibt sie sich bei dem Versuch, alles ganz genau zu erklären, so in Rage, dass sie sogar einen Viertklässler der Erpressung verdächtigt. Dabei wollte der ihr nur helfen. Bis das jedoch alles wieder geklärt ist, muss sie weitere Briefe an die Erwachsenen und E-Mails an ihre Freunde schreiben. Sie tappt von einer Verdächtigung in die nächste und riskiert fast, ihre beste Freundin Nina zu verärgern. Und merkt bei all dem erst mal nicht, dass der Vierklässler eigentlich ganz nett ist …

Gretas Entschuldigungen ist ein amüsanter kurzer Roman, in dem die Geschichte nur aus der Sicht Gretas in ihren Briefen und E-Mails geschildert wird. Eine Art moderner Briefroman, sozusagen. Der didaktische Ansatz, sich für angerichtetes Unheil zu entschuldigen, ist offensichtlich, doch wird der erhobene Zeigefinger durch die weiteren Verwirrungen, die Greta mit ihren Vermutungen anrichtet, mit Witz und Charme torpediert. Das soll jetzt nicht heißen, dass Entschuldigungen überflüssig sind – ganz im Gegenteil, oftmals entschuldigen wir uns ja viel zu wenig – stattdessen zeigt Anu Stohner hier den kleinen Lesern, dass man mit Vermutungen und Verdächtigungen fast genauso viel Unheil und Chaos anrichten kann wie mit einer gespannten Schnur.

Abgerundet wird die Geschichte durch die pfiffigen Illustrationen von Hildegard Müller, die Greta in ihrem zunehmenden Schreib- und Erklärungsstress zeigen und so zu einem kurzweiligen Lesevergnügen beitragen.

Anu Stohner: Gretas Entschuldigungen, Illustration: Hildegard Müller, dtv/Reihe Hanser, 2013, 104 Seiten, ab 6, 9,95 Euro

Helden & Hochstapler

troiaEigentlich hätte alles so schön sein können. Neulich war ich vom Boje-Verlag zu einem Pressebrunch – meinem ersten – eingeladen. Dort wurde das neue Buch von Wolfgang Korn und Klaus Ensikat vorgestellt: Die Geheimnisse von Troja.
Leider hatte mich das Buch nicht rechtzeitig erreicht, ich war zudem auf einer Fortbildung gewesen und begab mich also ohne große Vorbereitung in die Verlagsbüros in Sichtweite des Gendarmenmarktes. Wahrscheinlich sind eh genug Leute dort, dass ich mich in eine Ecke drücken kann, ohne groß aufzufallen, dachte ich.

Falsch gedacht. Es war eine nette kleine Runde mit den beiden Machern des Buches, der Pressefrau vom Verlag und drei Buchhändlerinnen. Zu intim, um sich zu verstecken und den Mund zu halten. Also entspann sich ein Gespräch, ich stellte Fragen und bekam auch bereitwillig Antwort. Erst als ich am Abend in Ruhe noch einmal die Namen recherchierte, ging mir auf, dass mit Klaus Ensikat, der Doyen der deutschen Illustratorenszene neben mir gesessen und völlig unprätentiös meine schlichten Erkundigungen zu seinem Zeichenstil und seiner Arbeit beantwortet hatte. Herrje, wie peinlich. Dabei war ich mit Ensikats Hobbit-Illustrationen von 1974 aufgewachsen. Das heißt, Tolkiens Text habe ich als Kind nicht gelesen, der hat mich damals nicht interessiert, doch die Bilder habe ich geliebt und verinnerlicht. Auf den Namen des Illustrators habe ich natürlich nicht geachtet. Umso mehr hätte ich jetzt gern meine Verehrung kundgetan – eine verpasste Chance.

Daher muss ich das nun für seine neueste Veröffentlichung tun. Mit seinem bekannten Stil aus zarten Federzeichnung und Aquarellfarben illustriert Ensikat das Kindersachbuch Die Geheimnisse von Troja des Journalisten Wolfgang Korn. „Ich versuche jedes Mal, etwas Neues zu machen, und hinterher sieht alles gleich aus“, sagte Ensikat dazu. Er arbeitet mit Metallfeder, Holzgriff und Ausziehtusche. Mittlerweile wird es für ihn jedoch schwierig, die richtige Tusche in der gewünschten Konsistenz in den Läden zu finden. Die Digitalisierung fordert weitere Opfer. Doch noch ist der Computer für Klaus Ensikat keine Alternative. Die stimmungsvollen, ganzseitigen Bilder, die alle in Originalgröße abgedruckt sind, wechseln mit vignettenartigen Figuren, Waffen und Objekten aus Troia und dem alten Griechenland und erwecken den Text zum Leben.

Darin führt Wolfgang Korn sehr geschickt und nachvollziehbar in die lange und verwirrende Geschichte um den Mythos Troja (Schreibung mit j) und die archäologische Ausgrabungs- und Forschungshistorie des realen Troias (Schreibung mit i) ein. In den fiktiven Blog eines Journalisten, der von seiner Reise in die Türkei erzählt, webt er drei Hauptkapitel ein: Er fasst die Ilias von Homer und den Mythos um das Trojanische Pferd zusammen. Denn ohne das Wissen um die in der Ilias beschriebenen Kämpfe und Konflikte ist Troia nicht zu verstehen.  Dann erzählt er, wie Heinrich Schliemann sich mit Anmaßung, Hochstapelei und geschickten Marketingtricks zum Entdecker Trojas stilisiert. Ohne sich um die wirkliche Herkunft von Fundstücken zu kümmern, verpasst er Schmuckstücken und Masken so eingängige Namen, dass bis heute vom „Schatz des Priamos“ und der „Goldmaske des Agamemnon“ gesprochen wird . Wie alt diese Objekte tatsächlich sind und wie die neue Forschung sie bewertet, erörtert Korn dann im dritten Teil. Tatsächlich sind sie viel älter, als die von Homer beschriebenen Helden. Dies wissen wir mittlerweile durch die Ausgrabungen und Forschungen des 2005 verstorbenen Archäologen Manfred Korfmann.

Das hört sich nicht nur kompliziert an. Es ist kompliziert. Denn  in Troia trifft Dichtung auf Wahrheit und Größenwahn. Korn, der sich seit Anfang der 1990er Jahren mit Troia beschäftigt, dröselt die verschiedenen Ebenen selbst wie ein Archäologe auf. So wie die Forscher die neun verschiedenen Schichten Troias in den vergangenen zwei Jahrzehnten ausgegraben haben, legt auch Korn die verschiedenen Aspekte des sagenumwobenen Ortes frei. Er bedient sich dabei einer klar verständlichen Sprache und erzählt in einem fast mündlichen Stil, der einen gewissen Sog erzeugt. Bezüge zur heutigen Jugendkultur – Achill ist der Supermann; den Kampf um Troja vergleicht Korn mit World of Warcraft; der Hollywood-Film Troja von Wolfgang Petersen fehlt auch nicht – erleichtern den Kindern die Einordnung von Figuren und Ereignissen, ohne dass sie aufgesetzt oder anbiedernd wirken.

Die Herangehensweise von Wolfgang Korn thematisiert immer wieder, wie Geschichtsschreibung und Archäologie funktionieren, und sensibilisiert die Leser so zwischen Dichtung und möglicher Wahrheit zu unterscheiden. Das ist dermaßen spannend, dass man das Buch förmlich in einem Zug inhaliert. Dazu geben Ensikats Illustrationen, die in ihrer feinen Art an historische Kupferstiche erinnern, ein heimeliges Gefühl und genügend Anschauungsmaterial, um sich Troja und Troia bildlich vorzustellen. Text und Illustrationen fügen sich zu einer harmonischen Einheit zusammen, die richtigen Spaß an Geschichte vermittelt.

Wolfgang Korn: Die Geheimnisse von Troja, Illustration: Klaus Ensikat, Boje, 2013, 184 Seiten,  ab 12, 19,90 Euro

Für Freiheit und Toleranz

bücherverbrennungIn Berlin erinnert das Deutsche Historische Museum in diesem Jahr mit der Ausstellung „Zerstörte Vielfalt“ an die Vertreibung von Künstlern und Intellektuellen von 1933 bis 1938. Dafür stehen in Mitte und in anderen Stadtteilen Litfaßsäulen mit den Biografien der Vertriebenen und Ermordeten. Schräg gegenüber vom Deutschen Historischen Museum liegt der Bebelplatz, auf dem vor genau 80 Jahren Goebbels die Bücherverbrennung inszeniert hat, ein weiteres Mosaiksteinchen bei der Zerstörung von geistiger Vielfalt.

Der Atrium Verlag hat nun vier Schriften von Erich Kästner, der bekanntermaßen am 10. Mai 1933 vor der Humboldt-Uni stand und von dort aus dem unsäglichen Treiben der Nazis zusah,  unter dem Titel Über das Verbrennen von Büchern neu herausgegeben. Kästner berichtet in den Texten, die von 1946, 1947, 1953 und 1965 stammen, wie er das Ereignis als 34-Jähriger erlebt hat. In seiner klaren, scharfsinnigen Sprache schildert er den Abend des 10. Mai, und die Ungeheuerlichkeiten des Spektakels erscheinen dem Leser bildhaft vor Augen. Man bewundert Kästner für seinen Mut, sich unter die Menge zu mischen und alles mit anzusehen. Er selbst entschuldigt sich in einem Artikel fast für seine Passivität, was er durchaus nicht müsste. Denn schon sein Bleiben in Nazideutschland, wo er „Chronist der Ereignisse“ sein wollte, verlangte jede Menge Mut und verdient höchsten Respekt.

Erschreckender ist dann umso mehr der Text von 1965, in dem Kästner von einer erneuten Bücherverbrennung in Düsseldorf berichtet. Dort hatte eine Jugendgruppe des „Bundes Entschiedener Christen“ mit Genehmigung des Ordnungsamtes am Rheinufer Bücher verbrannt – unter anderem auch die von Erich Kästner. Wieder einmal. Die Jung-Christen hatten sich dabei angeblich auf einen Brief des Apostel Paulus an die Epheser berufen, der die Verbrennung von heidnischen Zauberbüchern forderte. Von der Bücherverbrennung der Nazis hatten sie angeblich nichts gewusst. Man mag es nicht glauben, und es zeigt deutlich, dass wir auch heute noch nicht genug erinnern können.

Das schmale, aber wertvolle Büchlein liefert neben Kästners Texten einen kurzen chronologischen Abriss der Organisation der Bücherverbrennung, die von langer Hand und generalstabmäßig geplant wurde, sowie eine Liste mit den über 140 Autoren und Autorinnen, deren Bücher im Frühjahr 1933 öffentlich verbrannt wurden. Darunter u.a. Alfred Kerr, Joseph Roth, Maxim Gorki, Stefan Zweig, Nelly Sachs, Thomas, Heinrich und Klaus Mann, Carl Zuckmayer, Egon Erwin Kirsch, Schriftsteller, deren Bücher und Werke wir heute selbstverständlich aus dem Regal nehmen (eine erweiterte Liste mit den Namen findet sich auf der Website Bücherlesung). Über das Verbrennen von Büchern macht deutlich, dass es Zeiten gab, in denen das gar nicht selbstverständlich war. Diese Zeiten liegen zwar immer weiter zurück, doch das erlaubt uns nicht, sie zu vergessen.

Kästners vier kurze Texte in Über das Verbrennen von Büchern kommen in diesem Rahmen gerade recht, sind sie doch eine eindringliche Mahnung für Freiheit und Toleranz. Etwas das man nicht oft genug einfordern und verteidigen muss.

Und wer heute über den Bebelplatz in Berlin läuft, sollte den Blick auch nach unten lenken, denn im Boden ist ein Raum mit weißen Bücherregalen eingelassen. In ihnen steht kein einziges Buch.

Erich Kästner: Über das Verbrennen von Büchern, Atrium-Verlag, 2013, 56 Seiten, 10 Euro

Kunst gegen Krieg

mondrianManche Bücher kommen mit Titeln daher, die erstmal verwundern, doch dann öffnet sich beim Lesen eine ganz wunderbare Welt. Apfelsinen für Mister Orange von der Niederländerin Truus Matti ist so ein Buch.

Hinter dem aprikot-orangenen Cover verbirgt sich eine Geschichte aus dem New York Mitte der 1940er Jahre. Der Protagonist Linus übernimmt den Job seines älteren Bruders und liefert für seinen Vater die Obst- und Gemüsebestellungen aus. Linus‘ ältester Bruder Albert hat sich nämlich freiwillig zur Armee gemeldet und wird in den Krieg in Europa ziehen. Die jüngeren Brüder in der Familie rücken also alle eine Position auf. Linus bekommt daher ein neues Bett, neue Schuhe und eben auch eine neue Aufgabe im Familienbetrieb. Bei seiner Tour nördlich der 53. Straße zwischen Central Park und East River lernt der Junge einen Maler kennen, dessen merkwürdigen Namen er sich nicht merken kann. Kurzerhand nennt er den Mann Mister Orange, weil dieser alle zwei Wochen eine Kiste Orangen bestellt.

Mit der Zeit lernen sich der Maler und der Botenjunge näher kennen. Linus entdeckt ein weißgestrichenes Atelier, in dem sonderbar abstrakte Bilder stehen, auf denen nur rote, blaue und gelbe Vierecke zu sehen sind. Er ist fasziniert von der hellen, klaren Atmosphäre, die ganz anders ist als die dunklen Blümchentapeten und die vollgestellten Zimmer zu Hause. Nach und nach eröffnet der Maler, den der erwachsene Leser ganz schnell als Piet Mondrian erkennt, dem Jungen die Welt der Kunst. Er erzählt ihm, dass er vor den Nazis fliehen musste, weil denen seine Kunst nicht passte. Linus ist hin und hergerissen, zwischen dem Stolz auf seinen großen Bruder Albert, der einem Superhelden gleich für das Gute kämpft, und den neuen Gedanken, die ihm Mondrian näherbringt. Er begreift, dass man auch mit Kunst gegen den Krieg wirken kann. Denn die Kunst kämpft dafür, dass es eine Zukunft gibt, in der die Vorstellungskraft frei bleibt.
Linus ist fasziniert, zumal sein Alltag in dieser Zeit von der Angst um den kämpfenden Bruder geprägt ist. Die ganze Familie fiebert jedem Brief von ihm entgegen. Albert versucht, hoffnungsvoll zu klingen. Aber nicht immer gibt es gut Nachrichten und auch der Tod drängt sich in Linus‘ Leben.

Truus Mattis Roman Apfelsinen für Mister Orange ist ein stilles Buch. New York ist hier die Stadt der Freiheit, in der verfolgte Künstler ihre Visionen umsetzen können. Linus findet unter seinem Bett die Comic-Hefte von Albert und dessen eigene Supermann-Zeichnungen. „Mister Super“ wird zu Linus‘ mutmachenden Begleiter im Geiste, der ihn in der merkwürdigen Zeit begleitet, in der auf einem anderen Kontinent Krieg geführt wird, dessen Auswirkungen jedoch auch in den Straßen von New York hautnah zu spüren sind.
Während Linus Obst- und Gemüse ausfährt, wird er erwachsen. Nicht nur, dass er mit der Angst um den großen Bruder leben muss, er lernt zudem, dass vorhandene Zustände nicht immer so bleiben müssen und das die Kunst einen enormen Einfluss auf die Zukunft und die Freiheit der Gedanken hat. Manchmal muss man nur eine Wand dafür weiß anmalen.

Mondrian arbeitet während dieser Geschichte an seinem letzten, unvollendeten Bild „Victory Boogie Woogie“. Es wird im Buch nirgendwo gezeigt, doch wenn man es nach der Lektüre im Internet recherchiert, ist es, als ob man in Mondrians Atelier steht und die vielen kleinen Klebestreifen auf der Leinwand erkennt, die Straßen von New York vor sich sieht und am liebsten mit Linus Boogie Woogie tanzen möchte – so wie er es schließlich macht, als er das Bild nach Mondrians Tod im Museum sieht.

Apfelsinen für Mister Orange, einfühlsam übersetzt von Verena Kiefer, fällt als Mischung aus Kunst- und Antikriegsroman aus dem Rahmen und ist daher ein kleines Schmuckstück. Der Roman zeigt eindringlich, dass selbst wenn der Krieg auf einem anderen Kontinent stattfindet, die Auseinandersetzung auch vor Ort gewichtige Auswirkungen hat. Und dass man nicht nur als Soldat gegen den Krieg kämpfen kann, sondern auch die Kunst eine nicht zu unterschätzende Kraft für Frieden und Freiheit ist.

Truus Matti: Apfelsinen für Mister Orange, Übersetzung: Verena Kiefer, Gerstenberg Verlag, 2013, 176 Seiten, ab 10, 12,95 Euro

Die Wunden der Vergangenheit

familieVor vielen Jahren war eine italienische Freundin von mir mit einem Israeli zusammen. Nichts Ungewöhnliches. Nur immer wenn ich die beiden in Italien traf, überkam mich eine seltsame Befangenheit. Der junge Mann war immer nett zu mir, aber auch merkwürdig distanziert. Es war offensichtlich, dass die deutsche Schuld an der Shoah unser Verhältnis trübte. Wir haben es bei unseren Treffen nicht geschafft, über die Geschehnisse von damals, den Wandel der jungen deutschen Generationen, diese Distanz und diese Beklemmung im gegenseitigen Umgang miteinander zu reden. Die Schatten der Vergangenheit reichten bis zu uns, ohne dass wir sie wirklich fassen konnten.

Von einer ähnlichen Sprachlosigkeit, allerdings in wesentlich dramatischer und zugespitzterer Art, erzählt der israelische Autor Avram Kantor in seiner ergreifenden Familiengeschichte Schalom.
Die greise Nechama trauert ihrem vor Jahren verstorbenen Mann Menachem nach und führt ein ziemlich einsames Leben in Haifa, denn ihre beiden Söhne wohnen nicht in der Stadt. Avri, der Älteste, ist mit seiner Frau nach Eilat gezogen, Jaki ist vor über zwanzig Jahren einer Deutschen nach München gefolgt. Seitdem hat Nechama keinen richtigen Kontakt mehr zu ihrem Jüngsten. Ihr Mann hatte einst das Gebot ausgegeben, dass kein Deutscher je ihr Haus betreten dürfe. Und daran hält sich Nechama auch nach seinem Tod. Die Schwiegertochter nennt sie nur „die da“, ohne sie überhaupt zu kennen. Der Hass auf die Deutschen hat sich tief in ihre Seele gebrannt, nachdem sie die Shoah überlebt und Menachem sie damals gerettet hat.

Doch nun kündigt sich ihr deutscher Enkel Gil an. Er will seinen Zivildienst in Israel in einem Altersheim ableisten – und auch bei der Großmutter vorbeischauen, die er nicht kennt. Nechama ist hin- und hergerissen, ob sie den jungen Mann einlassen soll oder nicht. Noch während sie hadert, steht Gil plötzlich vor der Tür – und Nechama trifft fast der Schlag, als sie meint, ihren Menachem wieder vor sich zu haben. Sie „verliebt“ sich stante pede in den Jungen, der seinem Großvater wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Nechama hofft, dass Gil sie nun öfter besuchen kommt. Ihre sicher geglaubte Überzeugung wird auf eine harte Probe gestellt.

Dann macht Gil mit einem deutschen Freund einen Ausflug, sagt aber niemandem, wohin er fährt. Als ein Bus verunglückt und ein toter Tourist nicht identifiziert werden kann, breitet sich Sorge in Nechamas Familie aus. Avri telefoniert seinem Neffen hinterher, redet mit dem Altersheim und der Polizei, Jaki reist mit seiner Frau aus Deutschland an, um der Polizei Genmaterial von Gil zu bringen. Nechama, die in ihrem greisen Alter nicht alle Zusammenhänge versteht, stürzt sie in die nächste Unsicherheit, denn „die da“ ist dabei, und Nechama wird sie treffen. Die Sorge um Gil führt die Familie in Eilat zusammen.

Avram Kantor erzählt diese Geschichte aus vier verschiedenen Perspektiven (von Nechama, Avri, Jaki und einem alten Nachbarn Nechamas). Er bleibt dabei sehr eng bei der jeweiligen Figur, so dass man als Leser immer nur das Wissen und die Gefühlslage der gerade erzählenden Person erfährt. Großartig schildert er Nechamas Denken als greise Frau, die in ihrer eigenen Welt lebt, wo Fantasie und Realität schon mal verschwimmen, mit Menachem Gespräche führt und der modernen Welt nicht mehr ganz folgen kann (dass beispielsweise die Telefonverbindung zwischen Israel und Deutschland glasklar ist, verwundert sie sehr).
Kantor fügt die verschiedenen Stimmen nach und nach zu einem Plot zusammen, der nicht alles verrät und durchaus Leerstellen zulässt. Das Trauma, das Nechama und Menachem während der Shoah erlebt haben, wird nur angedeutet und nicht auserzählt. Denn die beiden hatten beschlossen, nie über ihre Erlebnisse zu sprechen. Und ihre Söhne hatten nie das Bedürfnis, danach zu fragen – wie das eben so ist zwischen den Generationen, wo sich die Jungen nicht zwangsläufig für das Schicksal der Eltern interessieren. So erfährt der Leser nicht, was sich damals konkret zugetragen hat.
Zu drängend sind aber auch die aktuellen Probleme in Israel, die durch Avris Sorgen um den eigenen Sohn Guy thematisiert werden. Guy dient in der israelischen Armee und ist in den besetzten Palestinänser-Gebieten ständiger Gefahr ausgesetzt. So trägt jede Generation der Familie ihr Paket an Angst mit sich und ist nicht in der Lage, offen darüber zu sprechen. Die Beklemmung, die sich über Nechamas Familie legt, erzählt Kantor meisterhaft. In Kombination mit der feinfühligen Übersetzung der Grand Dame der Hebräisch-Übersetzungen, Mirjam Pressler, überträgt sich diese unmittelbar auf den Leser, der mit Gils Großmutter, Eltern und Verwandten mitleidet. Die Sorgen um Kind, Enkel, Neffe werden real.

Neben diesem Familiendrama wird zudem deutlich, wie die deutsche Geschichte und die Shoah immer noch nachwirken und sich wie ein Riss durch die Familie ziehen. Der Schrecken von damals war so immens, dass es keine Wort dafür zu geben und der Hass unüberwindlich scheint. Dennoch fordert Kantor zum Dialog auf. Vor allem zum Dialog zwischen den Generationen: Die Opfer sollen erzählen, denn diese Generation stirbt nun immer schneller aus; die Kinder sollen fragen, was passiert ist, damit sie auch ihren Kindern bzw. den Enkeln berichten können. Denn so ein Dialog erklärt mit unter Familienkonstellationen und -konflikte, bewahrt die Erinnerung und trägt zum Verständnis bei, nicht nur der Generationen, sondern auch der Nationen. Womit einer Wiederholung der Geschichte ein Riegel vorgeschoben werden könnte.

Avram Kantors Schalom erzählt den jungen Lesern nicht, was in der Shoah passiert ist, er zeigt jedoch eindringlich, wie sich die Schrecken von vor über 70 Jahren bis in die heutige Zeit fortsetzen. Gerade auch durch diesen Bezug zur Gegenwart lässt sich über dieses herausragende Buch intensiv diskutieren und den nachkommenden Generationen die aktuelle deutsch-israelische Beziehung erklären.

Avram Kantor: Schalom, Übersetzung: Mirjam Pressler, Hanser, 2012, 237 Seiten, ab 12, 15,90 Euro

Das Leben ist ein magisches Wunschkonzert

wünscheApril scheint ein ausgesprochener Büchermonat zu sein. Neulich sind die Warum?-Darum!-Bände in meiner Übersetzung erschienen, heute ist Welttag des Buches und morgen erscheint meine nächste Übersetzung, die ich im Rahmen der Aktion Blogger schenken Lesefreude vorstelle und verlose: 99 und (m)ein Wunsch von Erica Bertelegni.

Die 13-jährige Aurora wohnt in Rom, ist eine absolute Leseratte und entdeckt eines Tages, als sie auf der Suche nach neuer Lektüre ist, eine magische Buchhandlung. Damit sie das Geheimnis der magischen Parallelwelt nicht verrät, schlägt ihr die Herrscherin des Zauberreiches einen Handel vor: Für Auroras Schweigen erhält sie die Fähigkeit 100 Wünsche zu erfüllen. Wohlgemerkt, zu erfüllen – nicht erfüllt zu bekommen. Sie muss nur mit den Finger schnippen, sich auf den Wunsch, den jemand in ihrer Umgebung geäußert hat, konzentrieren, und schon geht er in Erfüllung. Nur den letzten der 100 Wünsche darf sie sich selbst erfüllen.

Nach anfänglicher Begeisterung merkt Aurora schnell, wie und was man sich im Laufe eines Tages alles wünschen kann. Ganz bewusst oder aus reiner Unachtsamkeit. Und so sind es nicht immer schöne und angenehme Wünsche, wie fliegen, tanzen, eine Klassenreise nach Paris, die sie erfüllen muss. Da fällt dann auch schon mal der Strom aus, ihr wachsen Hörner, eine Schulkameradin fällt in einen Brunnen oder der kleine Bruder nervt.
Doch bei all dem merkt Aurora immer mehr, was sie eigentlich vom Leben will, was ihr wichtig ist und wie schrecklich sie manchmal das Verhalten ihrer Freunde und Mitschüler findet. Und sie entdeckt die Liebe …

Das, was dieses Buch besonders macht, ist die Autorin. Die Italienerin Erica Bertelegni hat diese Geschichte als 13-Jährige geschrieben – und das ist eine Leistung. Sie selbst wohnt in Norditalien und hat sich die Geschichte nach einem Besuch in Rom ausgedacht. Dann hat sie sich hingesetzt und sie aufgeschrieben. Was für Erwachsene schon keine Selbstverständlichkeit ist, weil man für das Schreiben jede Menge Disziplin und Durchhaltevermögen braucht, ist für eine 13-Jährige umso beeindruckender. Konsequent und mit klaren Vorstellungen hat Erica Bertelegni ihr Konzept durchgezogen und zeigt dabei den ganz unverfälschten Blick eines Teenagers auf ihre Altersgenossen. Sie berichtet von vorpubertären Albernheiten, Wünschen, Träumen und Verwirrungen um die erste Liebe, spart aber auch nicht mit Kritik an angepassten und oberflächlichen Mitschülern.

99 und (m)ein Wunsch ist leichte, frische Unterhaltung für Mädchen ab 10, die eine Portion Magie enthält und den jungen Leserinnen zeigt, dass man nicht alles mitmachen muss, was die Schulkameraden toll finden. Das hat Erica Bertelegni mit ihren jungen Jahren erstaunlich hellsichtig erkannt und ganz reizend in diesem Roman umgesetzt.

Erica Bertelegni: 99 und (m)ein Wunsch, Übersetzung: Ulrike Schimming, Fischer KJB, 2013, 400 Seiten, ab 10, 14,99 Euro

 

PS: Wer an der Verlosung von Erica Bertelegnis 99 und (m)ein Wunsch teilnehmen möchte, hinterlasse bitte bist zum 30. April, 12 Uhr, hier unten einen Kommentar. Vielleicht erzählt Ihr mir, welches Euer Lieblingsort in Rom ist?

PPS: Der Fischer Verlag unterstützt diese Aktion mit weiteren Exemplaren – ich werde also 5 x 99 und (m)ein Wunsch verlosen…