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Psycho in Bologna

lucarelliNeulich in Florenz bin ich durch die verbliebenen Buchhandlungen der Innenstadt gezogen und über den neuesten Krimi von Carlo Lucarelli gestolpert. Ich musste ihn mitnehmen – den Krimi, nicht Signor Lucarelli – denn Ende der 90er Jahre habe ich mal seine zwei Jugendkrimis übersetzt und dann so gut wie alles von ihm verschlungen. Umso mehr habe ich mich gefreut, dass in Il Sogno di Volare, das noch nicht auf deutsch übersetzt ist (was aber nicht mehr lange dauern kann…), Grazia Negro wieder ermittelt. Sie hatte vor 16 Jahren bereit in Der grüne Leguan einen Serienmörder zur Strecke gebracht und dabei ihren derzeitigen Freund Simone kennengelernt. Beide Figuren trifft man jetzt wieder, in einer Beziehung, die auf der Kippe steht und nur noch von dem fast schon verzweifelten Wunsch nach einem Kind zusammengehalten wird. Dementsprechend übel ist Grazia drauf. Sie spritzt sich Hormone, um eine künstliche Befruchtung vorzubereiten, und sollte eigentlich jeglichen Stress vermeiden. Was sie natürlich nicht tut, denn die Befindlichkeiten einer Ermittlerin treten hinter der Jagd nach einem Serienmörder natürlich erstmal zurück. Der Mörder, der aus der Ich-Perspektive erzählt, offenbart sich bereits in den ersten Zeilen als psychisch ziemlich gestört. Sein erstes Opfer zerfleischt er förmlich, auch bei den nächsten geht er nicht gerade zimperlich vor, will er doch die Herzen seiner Opfer fressen. An den Tatorten lässt er Geifer wie von einem tollwütigen Hund zurück. Nichts für schwache Nerven also. Grazia und ihre Kollegen vermuten zunächst eine mafiös-orientierte Tat, doch die nächsten Opfer führen in die Misere der Wohnungswirtschaft, der illegalen Einwanderer und schließlich in die Reihen der Polizei selbst. Mehr kann ich hier eigentlich gar nicht schreiben, denn Lucarelli droht allen, die den Plot spoilern, ihnen das Herz herauszureißen … und das möchte ich dann doch nicht riskieren. Aber soviel kann erzählt werden: Lucarelli bleibt sich als Hardcore-Krimi-Noir-Autor treu. Die Morde sind drastisch, die Sprache ist derbe und durchaus vulgär, was aber die Realität perfekt wiedergibt. Grazias Frust über die scheiternde Beziehung zu Simone ist glaubhaft und mitfühlend dargestellt, man leidet mit der jetzt 30-Jährigen mit. Zudem bindet Lucarelli auch seinen Faible für Musik wieder in die Geschichte ein, hat er doch den Song Il Sogno di Volare von Andrea Buffa nicht nur zum Titel gemacht, sondern auch als wiederkehrendes Motiv und geschickte Spur in den Roman eingebaut. Das Miträtseln um den Täter gelingt, und ab circa zwei Dritteln des Buches steigt im Leser eine Ahnung auf, die so gruselig ist, dass man es nicht wirklich glauben will. Der Plot ist gekonnt und spannungssteigernd gewoben, und die verschiedenen Erzählperspektiven sind stimmig. Auch die Kritik an den italienischen Lebensverhältnissen zwischen Prekariat und mafiösen Strukturen kommt nicht zu kurz. Man gruselt sich also nicht nur aufgrund der Morde und psychotischer Mörder… Für mich war Il Sogno di Volare zwischen all den vielen schönen Kinder- und Jugendbüchern seit langer Zeit mal wieder ein perfekt gemachter und gelungener Ausflug in das Krimi-Genre, der mich nicht mehr losgelassen und mir den Flug von Florenz nach Berlin extrem verkürzt hat. Genauso möchte ich Krimis haben … Jetzt bin ich nur noch gespannt, wann das Buch auf Deutsch vorliegt. Das werde ich dann hier verlinken. Für alle, die Italienisch können, ist diese Geschichte allerbeste Unterhaltung zum Mitfiebern.

Update am 20.06.2014 lucarelli

Lucarellis Thriller erscheint am 19. August 2014 unter dem Titel Bestie in der Übersetzung von Karin Fleischanderl beim Folio Verlag. Am 11. September liest Lucarelli dann in Hamburg im Rahmen des Harbourfont Literaturfestivals – ich sollte hingehen …

Carlo Lucarelli: Bestie, Übersetzung: Karin Fleischanderl, Folio Verlag, 2014, 288 Seiten, 19,90 Euro

Carlo Lucarelli: Il Sogno di Volare, Einaudi, 2013, 260 Seiten, 21,95 Euro (auf italienisch!)

Die Bestie Mensch

Historische Romane haben mich schon in meiner Kindheit und Jugend fasziniert. Zwischen den Buchdeckeln auf vielen bedruckten Seiten konnte ich eintauchen in vergangene Zeiten, konnte mich wegträumen und erfuhr im besten Fall historische Fakten, die im drögen Geschichtsunterricht nie zur Sprache kamen.

Meine jüngste Zeitreise in die Vergangenheit führte mich nach Frankreich, ins Gévaudan im Jahr 1767. In ihrem Roman Wolfszeit rekonstruiert Nina Blazon in einer gelungenen Mischung aus Fakten und Fiktion eine Mordserie an Mädchen und Kindern. Eine Bestie treibt ihr Unwesen, zerfleischt und enthauptet ihre Opfer. Die Bewohner der Umgebung sind verunsichert. Ist es ein Mensch oder ein wildes Tier? Keiner hat die Bestie je gesehen. Gerüchte und Spekulationen verbreiten sich und dringen bis nach Paris und Versailles. Dort ist der junge Thomas Auvray, Zeichenschüler und Naturforscher an der königlichen Akademie, völlig von dem Untier fasziniert. Er skizziert, kombiniert und schafft es mit Verstand und Mut durchzusetzen, dass er an den offiziellen Jagden auf die Bestie teilnehmen darf.

In der Provinz begegnet er der schönen Grafentochter Isabelle. Das Mädchen ist traumatisiert, seit sie einem Angriff der Bestie entgangen ist. Thomas erhofft sich genauere Auskunft über die Bestie von ihr. Er gewinnt ihr Vertrauen und verliebt sich schließlich rettungslos in sie.

Blazon schafft aus diesem klassisch anmutenden Setting eine psychologische fundierte Aufklärungsgeschichte.  Der vernunftbegabte, aufklärerisch veranlagte Geist von Thomas trifft auf Aberglaube, Mythen und Volksglaube. Mit seiner Beobachtungsgabe sieht der junge Mann Zusammenhänge, die anderen verborgen bleiben. So löst er nicht nur das Rätsel um die Bestie, sondern kommt auch hinter das große Familiengeheimnis um Isabelle.

Über dem ganzen Roman hängt beständig ein Hauch von Mystery – die Fantasie gaukelt dem Leser trotzt Thomas’ heldenhafter Vernunft immer wieder vor, dass vielleicht doch eine Art Werwolf sein Unwesen treiben könnte. Doch Blazon gelingt es vorzüglich, diese Vermutung beständig neu zu zerstreuen und im Laufe der Geschichte deutlich zu machen, dass nicht die Wölfe die Untiere sind, sondern viel mehr der Mensch selbst zur Bestie werden kann.

Die nervenaufreibende Jagd mit ihren überraschenden Wendungen macht diesen Roman zu einem Pageturner allererster Güte, den man erst aus den Händen legt, wenn Thomas die Bestie entlarvt hat.

Nina Blazon: Wolfszeit, Ravensburger Buchverlag, 2012, 567 Seiten, ab 13, 17,99 Euro