Über Ulrike Schimming

Ulrike Schimming übersetzt Literatur – von Kinder- und Jugendbüchern bis zu Graphic Novels und Comics – aus dem Italienischen und Englischen und arbeitet als freie Lektorin. Dieses E-Magazin entstand aus ihrer Arbeit für die Jugendzeitschrift stern Yuno. Hier stellt sie Neuerscheinungen oder Klassiker der Kinder- und Jugendbuchliteratur vor, Graphic Novels oder Buch-Perlen, denen sie ein paar mehr Leser wünscht. Weitere Infos zu Ulrike Schimming finden Sie unter www.letterata.de

Maulinas Stimme

MaulinaNachdem ich neulich Maulina von Finn-Ole Heinrich und Rán Flygenring hier vorgestellt habe, bekam ich das Angebot, auch das Hörbuch zu rezensieren. Zunächst war ich etwas skeptisch, weil bei einem Hörbuch ja die visuelle Ebene der Illustrationen wegfallen würde – und die sind bei Maulina nun einmal ein sehr wichtiger Teil. Doch dann  habe ich mich auf dieses – nennen wir es mal – Experiment eingelassen.

Normalerweise höre ich Bücher immer abends im Bett zur Entspannung und komme so in den Genuss von so manchem Buch, für das ich sonst lesetechnisch keine Zeit hätte. Meistens schlafe ich über den vorgelesenen Texten ein – was jedoch eher an mir, als an den Büchern liegt.
Maulina habe ich nicht im Bett gehört. Eigentlich wollte ich erstmal nur kurz reinhören, da ich die Geschichte ja schon kannte, um festzustellen, ob mir die Stimme, die da liest überhaupt gefällt.

Sie hat mir gefallen, und zwar so sehr, dass ich ich die erste von den zwei CDs in einem Rutsch durchgehört habe. Denn – von wegen ich kenne die Geschichte – so vorgelesen, fielen mir auf einmal wieder zig wunderbare Wörter und Sätze, Wendungen und Ideen von Finn-Ole Heinrich auf, die mich sofort und erneut in den Bann gezogen haben. Zudem verband sich die Stimme von Sandra Hüller aufs Herrlichste mit der Figur Maulina.

Die etwas tiefere und zum Glück nicht mädchenhaft quietschende Stimme der Schauspielerin, die ich vor allem aus dem eindrucksvollen Film Requiem kenne, schenkt Maulina eine sehr passende akustische Ebene. Sie ist cool und sanft, strunztrocken und maulend zugleich, ohne es zu übertreiben. Die Betonungen der Sätze stimmt perfekt, und Maulina, ihr Mauldawien, Paul und Plastikhausen werden überaus lebendig und plastisch. Maulinas gesamtes Unglück trifft so noch einmal ganz unmittelbar ins Herz des Zuhörers. Man lacht und man weint, und das ist groß.

Was mir an Sandra Hüllers Leseweise besonders gefallen hat, war die Professionalität des Vortrags. Weder schnaufen, noch atmen, noch unangenehm-zischende S-Laute sind zu hören. Das mag für eine Schauspielerin vielleicht selbstverständlich sein, aber ich habe schon so viele Hörbücher und -proben erlebt, wo genau das mir die Texte und den Vortrag verdorben hat. Hier jedenfalls stört nichts, sondern man wird von Sandra Hüller auf die beste und fesselndste Art mit nach Mauldawien genommen. So bleibt mir nur zu hoffen, dass sie neben den kommenden Maulina-Bänden noch viele weitere Bücher einliest, über denen ich im Bett dann ganz bestimmt nicht einschlafen werde.

Nachtrag am 23.10.2014: Sandra Hüller bekommt den BEO 2014 in der Kategorie II, 7-11 Jahre, für ihre Interpretation von Maulina.

Die Jurybegründung lautet:

Schon das Buch ist ein rarer Glücksfall, doch ihre Vollendung erfährt die Geschichte vom Leben-aus-den-Fugen durch die Lesung von Sandra Hüller. Die Bühnen- und Filmschauspielerin erweist sich als fulminant einfühlsame Sprech- und Sprachspielerin. Als lausche sie dem Geschriebenen nach, gibt sie wortwitzigem Ideen-Feuerwerk Form und Charakterköpfen ein Forum, schafft Räume für ungebremstes Innenleben, tobt, trotzt, turnt durch den Text und entfacht in hingebungsvoller Stimmakrobatik voll feinster Nuancen und treffsicherer Intuition eine maulend sich mausernde Heldin. Die bietet dem Irrsinn der Erwachsenen den Dickkopf, allen Verlusten ihre Wut und der Welt ihr ganzes Herz. Das berührt, bewegt. Und bleibt: „Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmitt. Mein kaputtes Königreich“ – wir verneigen uns.

Ich verneige mich ebenfalls. Herzlichen Glückwunsch!

Finn-Ole Heinrich: Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmitt – Mein kaputtes Königreich, gelesen von Sandra Hüller, 2 Audio-CDs, Hörcompany, 2013, 145 Min., ab 8, 14,95 Euro

Erdmännchens Abenteuer

tafitiErstlesebücher hat es bisher auf diesem Blog noch nicht so oft gegeben. Sicherlich ein Mangel. Doch nun habe ich eines in die Finger bekommen, das mein Herz im Sturm erobert hat. Tafiti, das Erdmännchen, und sein Freund Pinsel, erleben ihr zweites Abenteuer in Julia Boehmes Buch Tafiti und das fliegende Pinselohrschwein.

Nachdem die beiden sich in Band eins kennen- und schätzen gelernt haben, zieht Pinsel nun zu den Erdmännchen, obwohl Opapa das gar nicht lustig findet. Gerade als Tafiti von Pinsel gemalt wird, entführt der Adler Mister Gogo das Erdmännchen. Tafiti glaubt, dass sein letztes Stündchen geschlagen hat, doch dann überrascht Mister Gogo ihn mit dem Geständnis, dass er Vegetarier ist. Statt Tafiti zu verspeisen, verdonnert er ihn zum Aufräumen des Adlerhorstes.
Währenddessen schmiedet Pinsel hochfliegende Pläne, um den Freund zu retten. Denn Erdmännchen-Opapa hat ein Buch, in dem ein Heißluftballon abgebildet ist. Zusammen mit den Vögeln der Savanne baut Pinsel einen Korb und lässt sich von seinen Vogelfreunden in die Lüfte heben. Tafiti wird zwar gerettet, aber Mister Gogo lässt sich so leicht nicht abschütteln.

Wie schon in Band eins beweisen Tafiti und Pinsel auch hier wieder, dass Freundschaft jede Menge Schwierigkeiten überwinden kann. Allerdings müssen sie auch feststellen, dass nicht alles so ist, wie es scheint und dass es Kreaturen gibt, die nicht ihrer vermeintlichen Natur entsprechen. Julia Boehme zeigt den Kindern so auf sehr knuffige und sehr kluge Art, was Toleranz, Mut und Zusammenhalt bedeuten.

Flankiert wird die Freundschaftsgeschichte von den entzückenden Illustrationen von Julia Ginsbach. Tafiti mit runden Segelohren, pfiffigem Blick und rotem Halstuch schließt man sofort ins Herz. Pinsel mit seiner grünen Baskenmütze ist ganz eindeutig Künstler und Erfinder. Und das Chaos in Mister Gogos Adlerhorst ist eine Wonne. Beim Vorlesen und Selberlesen gibt es somit jede Menge Spaß bei den Entdeckungen, die man in den Illustrationen machen kann.

Diesen zweiten Band der Tafiti-Reihe kann man gut ohne das Wissen aus Band eins lesen. Die Geschichte steht auch für sich. Die klaren Sätze, die einfachen Wörter stellen auch für Leseanfänger keine großen Hürden da, so dass der Spaß am Lesen und Entdecken auf jeden Fall gegeben sind.

Julia Boehme:
Tafiti und das fliegende Pinselohrschwein
Tafiti und die Reise ans Ende der Welt
Illustration: Ginsbach, Julia, Loewe Verlag, 2013, 80 Seiten, ab 5, je 7,95 Euro

Floß in die Freiheit

huckDie Bekanntmachung auf der ersten Seite ist eigentlich alles andere als ermutigend: Motiv, Moral oder gar einen Plot in dem Buch zu suchen wird vom Autor unter Strafe verboten. So beginnt Mark Twain seine Abenteuer von Huckleberry Finn. So beginnt Olivia Vieweg ihren Graphic Novel Huck Finn – und die Lust nach einer Message oder einer Interpretation zu suchen vergeht einem sofort.

Trotzdem muss man Viewegs Umsetzung von Mark Twains Klassiker gelesen haben. Sie versetzt die Südstaatengeschichte mal eben nach Halle an der Saale im Jahr 2013 und erzählt in rostroten Panels die Geschichte von Huck Finn, der eigentlich bei der Witwe wohnt, vor seinem trinkenden Vater flüchtet und schließlich das Mädchen Jin kennenlernt, die in einem Bordell als moderne Sklavin gehalten wird. Gemeinsam fliehen sie auf einem Floß den Fluss hinab und überstehen üble Familienfehden und lebensgefährlichen Schiffsverkehr.

Wie so oft musste ich auch bei dieser Lektüre wieder einmal feststellen, dass ich zwar weiß, wer Huck Finn ist, ich bin auch über den Sklaven Jim im Bilde, aber das Buch von Mark Twain habe ich nie gelesen. Viewegs Graphic Novel ist eine wunderbare Annäherung an den Klassiker, der jetzt mal auf meiner To-Read-Liste steht. Bis dahin schwelge ich in Viewegs Fluss-Comic (gibt es eigentlich ein Comic-Pendant zum Begriff Road-Movie?), denn neben den Panels, in denen Huck und Jin vor fiesen Zuhälter-Typen fliehen, tauchen immer wieder ganzseitige Landschaftsportraits auf, die ostdeutsche Flachlandidylle zeigen. Dort sitzen dann Frösche und Käuzchen auf Stein und Baum, der Fisch schnappt nach der Fliege, der Mond spiegelt sich im Wasser. Dann atmet man als Leser und Betrachter durch, vergisst beinahe das Elend, das die beiden Helden forttreibt und das an Land zu bösem Blut und Toten führt. Man wünscht sich einen Fluss herbei und ein Floß, um mit Huck und Jin in den Sonnenuntergang zu treiben. In das schöne Leben – in dem die schulmeisterlichen, streitenden, trinkenden Erwachsenen keine Macht mehr über die Kinder haben. Und die man sich auch als Erwachsener in seiner Umgebung nicht wünscht.

Mark Twain wäre mit dieser respektvoll-frechen Transposition in unser Hier und Jetzt sicherlich sehr zufrieden gewesen. Anders kann ich es mir gar nicht vorstellen, denn sie macht ihm alle Ehre.

Olivia Vieweg: Huck Finn, nach Mark Twain, Suhrkamp, 2013, 141 Seiten, 19,99 Euro

Die Vertreibung aus dem Paradies

finn-ole HeinrichEigentlich glaube ich ja nicht an Liebe auf den ersten Blick. Doch jetzt ist es mir passiert. Und zwar mit einem Buch. Das auserwählte trägt den unglaublich langen Titel Die erstaunlichen Abenteuer der einzigartigen, ungewöhnlich spektakulären, grenzenlos mirakulösen Maulina Schmitt – Mein kaputtes Königreich. Der Einfachheit halber werde ich hier aber nur von Maulina sprechen. Entsprungen ist die etwa zehnjährige Heldin dem fantastischen Genius von Finn-Ole Heinrich.

Um mich war es geschehen, als ich das Buch aufschlug und die Aufforderung im Innendeckel fand, mit wachen Augen 84 Topfpflanzen in der Geschichte auszumachen und hier anzukreuzen. Bei den vielen großen und kleinen, geraden und krummen, üppigen und kümmerlichen Gewächsen ging mir einfach das Herz auf. Beim Lesen habe ich an die Topfpflanzen dann zwar erst wieder gedacht, als ich das Buch zugeschlagen wollte und im hinteren Innendeckel die restlichen Ankreuz-Blumentöpfe sah. Doch das war gar nicht schlimm, denn in der Zwischenzeit war ich aufs Großartigste zum Lachen und Weinen gebracht worden.

Denn Maulina, die ein großes Talent zum Maulen hat, erzählt von den Unbill in ihrem jungen Leben. Sie wurde aus ihrem Paradies Mauldawien, in dem sie die Prinzessin ist, vertrieben, nachdem die Eltern sich getrennt haben. Statt im Altbau mit allesfressenden Holzdielenfugen, einem blau-weißen Turnsofa und großem Garten mit Maulhöhle muss sie nun mit der Mutter in einer winzigen Wohnung namens Plastikhausen leben. Dort sind überall Plastikgriffe angebracht, Fenster und Boden sind aus Plastik, der Garten vor der Tür ist so winzig, dass Maulina fast alle vier Ecken berührt, wenn sie sich auf den Rasen legt. Platz für die beiden Schildkröten gibt es kaum. Es ist einfach nur schrecklich. Da helfen auch der Super-Zimt-Kakao von Mama oder der Bienenstich-Kaffee-Klatsch mit dem Großvater nichts. Maulina will zurück nach Mauldawien, obwohl sie mit „dem Mann“, wie sie ihren Vater nur noch nennt, kein Wort mehr redet.
Glücklicherweise lernt sie in der neuen Schule Paul kennen. Auch bei Paul ist die Familie zerrüttet, jedoch auf eine ganz andere Art, die in ihren Einzelheiten jedoch noch im Dunkeln bleiben. Er erzählt Maulina, dass vor ihnen eine Frau im Rollstuhl in Plastikhausen gewohnt hat. Und dieses Wissen wird für Maulina ein paar Tage später plötzlich sehr wichtig.

Aha, Trennungsgeschichte, könnte man jetzt denken. Doch Maulina ist viel mehr. Maulina ist ein Wirbelwind, der einen von der ersten Seite an mitreißt und nicht mehr loslässt. Finn-Ole Heinrich gelingt das zusammen mit der Illustratorin Rán Flygenring in einer kongenialen Mischung aus Poesie und Schnodderigkeit, Drama und Tragödie kombiniert mit Witz und Humor. Bilder und Texte verweben zu einer Einheit, in der Comic-Elemente und „Lexikalische Einschübe“ die Geschichte auf der visuellen Ebene anreichern.
Die Heldin Maulina nimmt den Leser mit ihrer unnachahmlichen Art über sich selbst zu reflektieren, die zwischen Größenwahn und echter Selbsterkenntnis changiert, sofort gefangen. In Momenten der größten Not bekommt sie meist einen Maulanfall, der zu Stimmverlust und Erschöpfung führt. Daneben backt Maulina den besten Maulwurfskuchen und schenkt der Mutter all ihre Liebe und Wärme. Und regt zum Nachdenken über Beziehungen, Krankheit und das Leben in seiner ganzen Wucht an. Bei alldem kann man, muss man Maulina einfach nur lieb haben, etwas anderes geht gar nicht. Zumal sie sich mit einer ungeheueren Kraft und einem ungebrochenen Optimismus gegen die Schicksalsschläge des Lebens stellt, die da auf sie niedergehen.

Und als ob Maulina an sich nicht schon Geschenk genug wäre, schafft es Finn-Ole Heinrich mit seinem Sprachkönnen, dass man endgültig vor Verehrung auf die Knie fällt. Zwischen die locker leichte Umgangssprache mit Dialogen, die den Ton auf den Punkt  treffen, mischen sich zutiefst poetische Wendungen und Wortneuschöpfungen. Da „brummeln und grummeln die Hummeln“, Paul ist aufgeregt wie ein „Kolibri auf Koffein“, da gibt es die „Fleischwurststrumpfhose“. Es ist eine Wonne, auf allen Ebenen: inhaltlich, erzählerisch, sprachlich, bildlich – ein ebenso großes Kompliment gebührt Rán Flygenring, die eine liebenswert-lockige Maulina von großer Ausdruckskraft erschaffen hat, samt dieser 84 Topfpflanzen.

Mag Maulina auch aus ihrem Paradies Mauldawien vertrieben worden sein, für große und kleine Leser ist dieses Buch trotz all der traurigen Ereignisse das Paradies. Was für ein Glück, dass zwei bis drei paradiesische Fortsetzungen geplant sind…

Finn-Ole Heinrich/Rán Flygenring: Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmitt – Mein kaputtes Königreich, Hanser, 2013, 176 Seiten,  ab 10, 12,90 Euro

Familiengeheimnisse

familieDie Sache mit der Familie ist schon ein Kreuz. Die Familie zieht einen groß, bringt einen ins Leben – und nervt oftmals so sehr, dass man nur noch davonlaufen möchte. Dabei sind es nicht immer nur die Eltern, die eine prägen und verletzen können, sondern auch die Geschwister. Wie tief die Familienbande das eigene Leben bestimmen, beschreibt Mirjam Pressler in ihrem neuesten Roman Wer morgens lacht.

Die 22-jährige Studentin Anne ist von ihrer Schwester Marie wie besessen, seit diese vor sieben Jahren mit fast 18 von Zuhause weggelaufen ist. Anne versucht, sich von der Schwester zu lösen, indem sie ihre Geschichte aufschreibt und später ihrer Mitbewohnerin Ricki erzählt. Heraus kommt dabei das Portrait einer deutschen Familie in einem Münchner Vorort, die von der Vertreibung der Großmutter aus dem Sudetenland geprägt ist. Die Enkelin Anne liebt ihre Omi, die in einer seltsamen Sprache redet und von der alten Heimat wie von einem Märchenland erzählt. Doch die Oma hat die jegliche Lebensfreude verloren und definiert das Leben von Frauen nur über Schmerzen. So kann sie den beiden Enkelinnen nur alte, düstere Moralsprüche wie „Wer morgens lacht und mittags singt, abends in die Hölle springt“ mit auf den Weg geben.
Anne ist fasziniert und abgestoßen zugleich. Doch lässt sie auf ihre Oma nichts kommen. Stattdessen sieht sie sich in ständiger Konkurrenz zur großen Schwester Marie, der die Eltern immer alle Wünsche erfüllen. Marie darf alles, bekommt alles, ist der Liebling des Vaters, während Anne die alten Kleider auftragen muss und nicht beachtet wird. Anne ist das Musterkind, das gute Noten bringt und keinen Ärger macht. Innerlich jedoch brodelt es in ihr.
Dann verschwindet Marie eines Tages, und die Familie schweigt. Der arbeitslose Vater sucht zwar seine Tochter in der Stadt, doch kommt es zu keiner Diskussion am heimischen Tisch, warum Marie diesen Schritt gegangen ist. Scheinbar wird nicht einmal getrauert. Anne flüchtet drei Jahre später nach Frankfurt, in ein Studium der Biologie, mit Schwerpunkt Pilze.

Mirjam Presslers Roman ist keine leichte Kost. Psychologisch fundiert und hintergründig lässt sie Anne aus der Ich-Perspektive die Familiengeschichte erzählen. Die intelligente Studentin thematisiert dabei immer wieder auch die Wahrnehmungsfilter, mit der sie als Betroffene den Verlust der Schwester Marie erlebt und erinnert. Die Erinnerung an reale Fakten verschmilzt dabei zum Teil mit den Geschichten, die sich die junge Anne ausgedacht hat, als die Schwester verschwunden war. Das Schweigen der Eltern bot ihrer Phantasie einen Nährboden, auf dem Horror- und Schundgeschichten gleichermaßen gedeihen konnten. Was Wahrheit, was Lüge, was Wunschdenken oder gar Schuld ist, verschwimmt für Anne immer mehr. Die Familie und ihre Geschichte ist wie ein Pilzgeflecht, das unterirdisch miteinander verbunden ist, selbst wenn an der Oberfläche nur Einzelpersonen wahrzunehmen sind.
Schließlich bringen das Gespräch mit ihrer Mitbewohnerin Ricki und ein Besuch bei den Eltern nach fast drei Jahren neue Erkenntnisse und die Einsicht, dass auch sie nicht alles von ihrer Schwester, ihren Eltern und ihrer Oma gewusst hat.

In Wer morgens lacht illustriert Mirjam Pressler geschickt die psychologischen Mechanismen von Familie, die sich über die Generationengrenzen hinaus auswirken.  In der Wissenschaft befasst sich die Epigenetik mit diesen Phänomen, also dass das Kriegsleid der Großeltern noch Auswirkungen auf das Leben der Enkel hat. Mirjam Pressler vermittelt genau das, ohne mit gentechnischem Fachwissen oder psychologischem Spezialvokabular zu verschrecken. Sie zeichnet ein Bild einer Familie in Deutschland, wie es viele gibt. Und sie zeigt ihnen, ohne den moralischen Zeigefinger zu erheben, dass offene Gespräche – auch Jahre später – reinigende Wirkung für alle Beteiligten haben können.

Das Einzige, was mich an diesem Text gestört hat, ist eine typographische Eigenart, die bei E-Literaten sehr beliebt ist. Die wörtliche Rede der Dialoge ist nicht durch Anführungszeichen markiert. Das mag jetzt pingelig erscheinen, doch stellt diese Art der Textgestaltung für mich ein Lesehindernis dar. Die inhaltlich schon schwierige und bedrückende Geschichte wird durch diese fehlenden Signale zu einem sperrigen Texterlebnis. Entsprechend lange habe ich für die Lektüre gebraucht.
Es mag ja sein, dass bei so einem gewichtigen Inhalt auch der Zugang gewichtig und schwierig sein sollte. Doch das hätte es meiner Ansicht nach gar nicht gebraucht. Warum ein zusätzliches Hindernis einbauen für ein so wichtiges Anliegen, das an sich doch vielen Menschen näher gebracht werden sollte? Das ist mir ein bisschen unverständlich. Und nur weil man das heute mal so macht, weil es – möglicherweise – intellektueller oder psychologischer rüberkommt, ist das für mich noch lange kein Grund, den Zugang zu einer Geschichte künstlich zu erschweren. Ich hoffe nur, dass das nicht allzu viele Leser verschreckt, denn sie würden eine ergreifende und nachdenklich machende Geschichte verpassen, die viel über den Menschen an sich, seine Ängste und seine Eigenarten erzählt.

Mirjam Pressler: Wer morgens lacht, Beltz, 2013, 264 Seiten, ab 14, 17,95 Euro

Poetik der Selbstfindung

sprache wasserManchmal spürt man bei Büchern bereits in dem Moment, in dem man sie in die Hand nimmt, dass sie etwas ganz Besonderes sind. Die Sprache des Wassers von Sarah Crossan gehört dazu: Leineneinband, Lesebändchen, poetisches Cover. Als ich es dann aufschlug, dachte ich zunächst, ich hätte mich geirrt und statt des erwarteten Romans eine Gedichtsammlung vor mir. Die Überraschung war total gelungen, denn Die Sprache des Wassers ist beides – ein Roman in Gedichtform.

Sarah Crossan erzählt darin die Geschichte der fast 13-jährigen Kasienka, die mit ihrer Mutter aus Polen nach England auswandert, auf der Suche nach dem Vater. Dieser hat aus ungenannten Gründen die Familie verlassen, womit sich die Mutter aber nicht abfinden will.
Kasienka muss sich nun ein Zimmer mit der Mutter teilen, in der Schule eine Klasse wiederholen, weil man ihr als Polin nichts zutraut. Die Mitschüler beachten sie nicht, Claire fängt an, sie zu mobben. Kasienka fühlt sich einsam, auch die Mutter ist ihr in ihrer Verzweiflung keine Stütze. Nur William nimmt sie wirklich wahr und macht ihr Mut, in das Schwimmteam der Schule einzutreten. Denn im Wasser fühlt sich Kasienka aufgehoben und ganz bei sich, im Wasser weiß sie, wer sie ist.
Als der Nachbar Kanoro, ein Kinderarzt aus Kenia, der in einem Krankenhaus als Putzkraft arbeitet, ihr eines Tages einen Zettel mit der Adresse des Vaters in die Hand drückt, findet Kasienka heraus, dass der Vater eine neue Familie hat. Das macht das Leben für sie nicht gerade leichter.

Crossan lässt Die Sprache des Wassers von Kasienka aus der Ich-Perspektive in freien Versen erzählen. Was sich anstrengend oder sperrig anhört, fängt einen mit seinem poetischen Ton von der ersten Zeile ein. Plätschernd wie Wasser eröffnen sich die Welten von Emigranten, die mit der Ablehnung der Einheimischen kämpfen müssen, von Familienkrisen, Trennung, Schulmobbing, Identitätskrise und erster Liebe.  Die klaren Sätze, wunderschön von Cordula Setsman ins Deutsche übertragen, berühren, auch durch ihre leisen Töne. Dennoch ersparen sie einem nicht die Wucht der schrecklichen Erfahrungen, die Kasienka auf dem Weg ins Erwachsenenleben machen muss. Die Lektion, dass sie nicht für das Unglück ihrer Mutter verantwortlich ist und ihren eigenen Weg gehen muss, hätte schöner kaum verpackt werden können.

Sarah Crossan: Die Sprache des Wassers, Übersetzung: Cordula Setsman, mixtvision, 2013, 232 Seiten, ab 14 , 13,90 Euro

Vom guten Leben

liga der gutenDas mit dem Guten ist eine schwierige Sache. Wie kann man ein gutes Leben führen, wenn um einen herum lauter schlimme Dinge passieren? Rüdiger Bertram experimentiert mit dieser philosophischen Frage in seinem Roman Die Liga der Guten – frei nach Adornos Satz: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“

Ich-Erzähler Mats berichtete rückblickend von den Ereignissen um seinen Freund Jan. Mats, Jan und Andy sind in ihrem Jahrgang die körperlich Kleinsten und werden entweder übersehen oder von Lucas und seinen Jungs gemobbt. Höhepunkt ist eine Ohrfeige, die Lucas Jan verpasst, einfach so, ohne Grund. Jan, der bis zu diesem Zeitpunkt immer alles wortlos geschluckt hat, ändert nach einer Ethik-Stunde über das Gute sein Verhalten und hält in der Umkleidekabine eine „Ansprache“ an seine Mitschüler, in der er das Böse in all seinen Ausformungen anprangert und eine kompromisslose Linie zwischen Gut und Böse zieht. Er geht vorbildhaft voran, wirft das Handy weg, weil die wertvollen Materialien darin in Afrika hart umkämpft sind, er trennt sich von seinen Klamotten, die unter unmenschlichen Bedingungen in Asien genäht werden, und er schmeißt den Laptop aus dem Fenster. Von seinen Freunden Mats und Andy fordert er ähnlich konsequentes Handeln.

Zunächst tun sich die Freunde schwer damit, doch dann schlagen sich die Sportfreaks des Jahrgangs auf ihre Seite und verteidigen sie gegen Lucas Gang. Jan haut von zu Hause ab und taucht in einer alten Gerberei unter. Seine Rede zieht in der Schule weiter Kreise und fasziniert die anderen Jugendlichen. Mats, Andy und die attraktive Paula eifern dem Vorbild von Jan nach und ziehen ebenfalls in die Gerberei. Sie gründen die „Liga der Guten“.

Nachdem ein Zeitungsartikel erscheint, der Jan zwar als Naivling darstellt, aber seine Gedanken über die Stadt hinaus bekannt machen, schließen sich immer mehr Jugendliche der Liga an. Jan wird zum Anführer, der zu kompromisslosem Handeln aufruft. Doch als sein Hund überfahren wird, beginnt Jan einen Rachefeldzug, der nichts mehr mit der Grundidee der Liga zu tun hat. Mats ist entsetzt. Die Bewegung nähert sich einem totalitären System an.
Gleichzeitig muss Mats feststellen, dass Jan nicht mehr ganz so kompromisslos ist wie am Anfang. Die Katastrophe braut sich zusammen.

Die Grundfrage von Die Liga der Guten – was ist ein gutes Leben – ist in allen Zeiten sicher eine der wichtigsten. Bertram variiert sie in diesem spannenden Roman zu einem faszinierenden Gedankenspiel. Die Jugendlichen stellen das Leben der Erwachsenen radikal in Frage: Warum fahrt ihr Spritschleudern? Warum betrügt ihr euch gegenseitig? Warum investiert ihr in Firmen, die Waffen herstellen? Warum kauft ihr billige Kleidungsstücke? Warum beutet ihr andere Länder und Menschen aus? Die Jugendlichen prangen die umweltbelastende und ausbeuterische Herstellung von Nahrung, Kleidung, Strom an, verdammen die Wegwerfgesellschaft und die Kriege um Ressourcen. Man möchte Jan sofort folgen, wenn man als Erwachsener nicht wüsste, dass es nicht so einfach ist. Der Schnitt zwischen Gut und Böse kann im wahren Leben leider nicht so klar gezogen werden. Dem Ich-Erzähler ist das relativ schnell klar, den Idealisten unter den Anhängern der Liga nicht.

Neben den Denkansätzen zu guten und fairem Konsum zeigt Bertram weiter, wie sich aus einer im Grunde gut gemeinten Idee ein faschistoides System mit einem Alleinherrscher bilden kann, für den die aufgestellten Regeln nicht mehr gelten. Hier wird man unweigerlich an Morton Rhues Die Welle erinnert – nur dass hier die Erwachsenen keinen Einfluss haben. Fast könnte man das als ein bisschen zu dick aufgetragen empfinden – hier werden gefühlt alle Probleme der Welt abgehandelt – aber Bertram weiß den Leser zu fesseln und liefert mit der Liga der Guten jede Menge Stoff für Diskussionen im Unterricht. Er führt jungen Lesern vor Augen, dass das Leben außerordentlich vielschichtig ist, rasche und einfache Lösungen nicht existieren und vorschnelle Meinungen manchmal katastrophale Folgen haben können.

Rüdiger Bertram: Die Liga der Guten, Rowohlt, 2013, 208 Seiten, ab 14, 9,99 Euro

Mehr Momo sein …

momoJubiläen sind was Tolles. Ich entdecke dabei jedes Mal Dinge wieder, an die ich oftmals sehr lange nicht gedacht habe. In diesen Tagen ist es Momo von Michael Ende. Denn Momo feiert ihren 40. Geburtstag – wenn man das für eine Romanfigur so sagen kann.

Ihr zu Ehren habe ich also meine alte Ausgabe aus dem Regal gezogen und mich wieder in das antike Amphitheater versetzt – und gestaunt.
Als ich Momo das erste Mal gelesen habe, war ich bereits erwachsen und studierte gerade Philosophie. Dementsprechend philosophisch fand ich Endes Text über die Zeit und die Zeit-Diebe.
Daran hat sich nach der aktuellen Lektüre nicht viel geändert, doch habe ich jetzt noch so viele andere Dinge entdeckt, die meine Verehrung für Michael Endes visionäres Gespür und Genie noch weiter steigern. Denn Momo merkt man ihre vierzig Jahre eigentlich nicht an. Die Dinge, die Ende dort beschreibt, finden sich aktuell noch genauso: Die Städte sind voll von „Seelensilos“ und Schnellrestaurants, die „Kinder-Depots“ nennen sich heute Ganztagsschulen (die aber zum Glück nicht so düster sind wie im Buch), die „vollkommene Puppe“ kommt momentan in Form von XBox und Smartphone in fast jedem Haushalt vor. Die Buchbranche ist voll von all den „albernen und rührseligen“ Geschichten, mit denen Gigi Fremdenführer Karriere macht und sich von seiner ursprünglichen Kunst des Erzählens entfremdet. Die grauen Herren gehören momentan wohl zur Kaste der „Selbstoptimierer“, die über Apps und Computer so sehr an der eigenen „Performance“ arbeiten, bis wahrscheinlich nur noch ein Burnout sie wieder auf ein menschliches Maß zurückholen kann.
Menschen wie Momo dagegen sind heute eher selten zu finden. Zuhören, sich Zeit nehmen für die andern und achtsam mit sich selbst umgehen sind selten gewordene Tugenden. Die Logorrhö, mit der wir uns analog und virtuell immer mehr präsentieren und vermarkten, lässt kaum noch Raum für das, was Momo ihren Freunden schenkt: ungeteilte Aufmerksamkeit.

Doch die können alle gebrauchen – die Kinder genauso wie die Erwachsenen. Genau aus diesem Grund ist für mich Michael Endes Klassiker nicht nur ein Kinderbuch, sondern Belletristik für jedes Alter. Denn in jedem Alter entdeckt man in dieser Geschichte immer wieder neue, immer höchst aktuelle Aspekte, die Wegweiser und Ratgeber durch das eigene Leben sein können.
Nach dieser so bereichernden Lektüre nimmt man sich automatisch vor, ein bisschen mehr wie Momo zu werden. Denn das, was man den anderen an Aufmerksamkeit schenkt, bekommt man genauso wieder zurück. Und dieser Zugewinn an Lebensqualität und Lebenszeit ist einfach unbezahlbar.

Ich werde meine alte Retro-Taschenbuch-Ausgabe in den kommenden Jahren auf jeden Fall erneut konsultieren. Für alle, die Momo jetzt erst entdecken, gibt es eine Jubiläumsausgabe mit einem wunderschönen neuen Cover und neuen Illustrationen von Dieter Braun. Möge Momo in ihrer Zeitlosigkeit so auch noch in den nächsten Jahrzehnten unzählige Leser und Fans gewinnen, die den grausamen Zeit-Dieben – in welcher Form auch immer sie auftreten – den Garaus machen.

Michael Ende: Momo. Oder Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte.  Ausgezeichnet mit dem Deutschen Jugendbuchpreis 1974, Thienemann Verlag, 2013, 304 Seiten,  ab 12, 19,95 Euro

Das Ende einer Freundschaft

verdachtManche Bücher sind krass. Die möchte ich eigentlich gleich wieder weglegen. Und kann dann  doch nicht von ihnen lassen. Wie von Michael Northrops Roman Schieflage. Der ist krass, sowohl in Bezug auf die Story als auch krass in Bezug auf die Sprache.

Der 15-jährige Ich-Erzähler Micheal ist nicht gerade ein Glückskind. Das fängt schon mit dem falschgeschriebenen Namen an, den sein Vater kurz nach seiner Geburt verbockt hat. Später hat dieser Vater Mike so geschlagen, dass er ein schiefes Gesicht zurückbehalten hat. Und eine Leuchte in der Schule ist er auch nicht. In der Highschool steckt er in der 10F, einem Sammelbecken für die Loser seines Jahrgangs. Am liebsten hängt er mit seinen Kumpels Tommy, Mixer und Bones ab. Auch die drei stehen nicht gerade auf der Sonnenseite des Lebens. Als Tommy eines Tages von einem Lehrer wegen eines Sprachproblems gequält wird, rastet er aus und verschwindet.
Wenig später fängt der Englischlehrer Haberman im Unterricht mit den anderen Schülern das Buch Verbrechen und Strafe von Dostojewski an. Dazu bringt er eine Tonne mit, in dem irgendetwas steckt, was die Schüler erraten sollen. Er weckt den Verdacht von Mike, Mixer und Bones, als diese nach dem Unterricht die schwere Tonne zum Auto tragen sollen. Da Tommy nicht wieder auftaucht, nicht ans Handy geht und schließlich die Polizei nach ihm sucht, steigern sich die Jungs in die Vermutung hinein, der Lehrer hätte ihren Freund umgebracht und in die Tonne gestopft. Da sie mit niemanden über ihren Verdacht sprechen, kommt es schließlich zur Katastrophe.

Northrop zeichnet die Geschichte von einer Jungen-Clique, die nicht viel vom Leben zu erwarten hat. Mike hat keine Chance bei den Mädchen, Bones neigt zu Gewaltausbrüchen, Mixer klaut. Die Jungs trinken Alkohol, probieren Drogen aus, allerdings auch das ohne „Erfolg“. Und sie verweigern die Mitarbeit im Unterricht. Durch die Ich-Perspektive von Mike ist man direkt in seiner Denke und seiner Gefühlslage. Man leidet mit Mike mit, wenn er vergeblich versucht, Mädchen kennenzulernen, wenn er Bones beim Vögeln beobachtet, wenn er sich Sorgen um Tommy macht. Die Lektüre von Dostojewski stellt zusammen mit dem Unterrichtsexperiment von Haberman für ihn quasi einen Tritt in den Allerwertesten dar, der ihn aus seiner Lethargie holen soll. Zur Läuterung kommt es allerdings erst nach einem gewalttätigen Komplett-Absturz, aus dem Mike die Schlussfolgerung zieht, dass auch Freundschaften ein Verfallsdatum haben und nicht für immer halten.

Seine durchaus krassen Erlebnisse und Gedanken schildert Mike in einer ebenso krassen Jugendsprache. Die hat Übersetzer Ulrich Thiele mit viele Gespür für Umgangssprache mitreißend umgesetzt. Der „Vollpfosten“ gehört dabei eher noch zu den harmlosen Ausdrücken. Mike flucht, beleidigt, ist politisch nicht im geringsten korrekt – alles, was er doof findet, ist „schwul“. Das mag in einem Jugendbuch extrem klingen, passt aber perfekt zu Mike und seinem Leben am Rande der Gesellschaft. Es macht den Jungen authentisch und glaubwürdig, egal, ob man so einen Sprachgebrauch im Buch verwerflich findet. Hinter dieser Sprache jedoch entdeckt man einen Jungen, der natürlich genauso lern- und entwicklungsfähig ist wie alle anderen, die sich vermeintlich gewählter ausdrücken, und der sich im Laufe des Romans vom verunsicherten Teenager zu einem zwar verurteilten, aber sensibilisierten jungen Erwachsenen wandelt.

Schieflage ist ein Buch über Jungs für Jungs. Es bietet jede Menge Diskussionsstoff, wie man mit Verdächtigungen, Scheinbarem, Vermutungen und Vorurteilen umgehen sollte – und was für Konsequenz drohen, wenn die Lage eskaliert. So lösen sich Mikes Vorurteile Homosexuellen gegenüber schließlich auf, und man weiß, dass er das Wort „schwul“ nie wieder als Beleidigung benutzen wird. So zeigt Michael Northrop feinfühlig, dass ein Wandel möglich ist – wenn auch unter Schmerzen. Und das macht Hoffnung für alle Jugendlichen, die ähnlich wie Mike, Mixer und Bones meinen, nicht viel vom Leben erwarten zu dürfen.

PS: Ein schöner Nebeneffekt von Schieflage ist, dass man Lust auf Dostojewskis Verbrechen und Strafe bekommt…

Michael Northrop: Schieflage, Übersetzung: Ulrich Thiele, Loewe Verlag, 2013, 240 Seiten,  ab 13, 6,95 Euro

Beruf: Geheimagentin

rubyIhr Name ist Redfort. Ruby Redfort. Und sie kann ganz eindeutig mit James Bond mithalten. Auch ohne Waffen, Martinis oder schnelle Autos. Dafür ist das Teenage-Girl auch noch etwas zu jung. Ihr reichen Bananenmilch, ein Fahrrad und ein wacher Geist. Mit dem gewann Ruby bereits im Alter von sieben die Junior-Codeknacker-Meisterschaften und erfand bereits ein Jahr später ein Rätsel, an dem sich selbst Harvard Professoren die Zähne ausbissen.

Ruby lebt in den 70er Jahren im Städtchen Twinford an der Ostküste der USA, sammelt Telefone in Muschel-, Donut- oder Eichhörnchenform und ist definitiv nicht auf den Kopf gefallen. Ganz im Gegenteil.  Rätsel, Geheimschriften und Codes sind ihre größte Leidenschaft. Mit ihrem besten Freund Clancy Crew kommuniziert sie mit verschlüsselten Botschaften. Die besten Voraussetzungen, Karriere als Geheimagentin zu machen. Daran denkt Ruby zunächst zwar gar nicht, doch bevor sie auch nur mit den Fingern schnippen kann, hat die Geheimorganisation Spektrum sie rekrutiert. Sie soll bei der Verhinderung eines geplanten Verbrechens helfen. Hier mehr zu erzählen, wäre allerdings unverzeihlich, denn die Spannung wäre dahin.
Nur so viel noch: Es geht um viel Gold, eine Buddha-Statue aus Jade, eine fiese Verbrecherbande und einen Geheimagenten, der als Butler bei den Redforts arbeitet und ein Auge auf Ruby hat.

Das Herrliche an diesem dicken Schmöker ist ganz eindeutig die junge Heldin. Sie ist vorlaut, frech, hat immer einen Spruch auf den Lippen – und dem T-Shirt. Sie kann kombinieren, traut sich was und schreckt auch vor Einbrüchen nicht zurück, wenn sie der Sache dienen. Ruby ist der Prototyp eines unabhängigen, selbständigen Mädchens, die sich weder von bräsigen Eltern, die so rein gar nichts raffen, noch von gefährlichen Gangstern aufhalten lässt. Ruby ist cool, weiß aber auch die bodenständige Unterstützung ihres Freundes Clancy zu schätzen. Sie taugt durchaus als Vorbild – sich nämlich eine eigene Meinung zu bilden und den eigenen Weg zu gehen.

Lauren Child schreibt in einem lockeren Stil, dessen Witz und Ironie Anne Braun wunderbar ins Deutsche geholt hat, so dass man die über 400 Seiten einfach rauschhaft herunterliest. Denn bereits die prologartige Kindheitsgeschichte Rubys hat so ein Suchtpotential, dass man das Buch nicht mehr aus den Händen legt, bis das Abenteuer ausgestanden ist. Wenn man dann wieder zu Atem gekommen ist, kann man nur hoffen, dass die nächsten Fälle der Ruby Redfort nicht allzu lange auf sich warten lassen werden. Für Leseratten ist dieser rasante Serienauftakt jedenfalls ein gefundenes Fressen.

Übrigens, das verschmitzte halbe Portrait von Ruby auf dem Cover finde ich ja ganz großartig – es hat mich an die Mädchenbücher aus den 70er Jahren erinnert, die ich damals verschlungen habe. Ruby Redfort hat mir somit ein Stück meiner Kindheit zurückgebracht. Und das ist herrlich.

Lauren Child: Ruby Redfort – Gefährlicher als Gold, Übersetzung: Anne Braun, Fischer KJB,  2013, 448 Seiten, ab 12, 14,99 Euro

Die Schatten des ersten Weltkriegs

ersten WeltkriegRelativ neuen Erkenntnissen der Genforschung zufolge übertragen sich traumatische Erlebnisse nicht nur auf die Kinder, sondern auch auf die Enkel und möglicherweise sogar auf die Urenkel. Die Auswirkungen des zweiten Weltkrieges sind verhältnismäßig gut erforscht, die des ersten hingegen scheinen mehr und mehr aus unserem Fokus zu verschwinden. Doch spätestens im kommenden Jahr, wenn sich der Ausbruch des ersten Weltkrieges zum hundertsten Mal jährt, werden wir mit Dokumentationen, Spielfilmen, Serien wie Parade’s End und Büchern dazu überrollt werden.
Ein erstes Buch für Jugendlich zu dem Thema ist gerade herausgekommen: Feldpost für Pauline von Maja Nielsen. Es ist aus dem gleichnamigen Hörspiel entstanden, das 2009 mit dem Deutschen Kinderhörspielpreis ausgezeichnet wurde.

Die 14-jährige Pauline bekommt eines Tages Post: einen Feldpostbrief aus dem Jahr 1916 aus Verdun. Die Überraschung ist natürlich groß, fast hundert Jahre Verspätung für einen Brief kommt auch nicht alle Tage vor. Mühsam entziffert Pauline die in Sütterlin geschriebene Nachricht eines gewissen Wilhelm an Pauline, in diesem Fall die Urgroßmutter des Mädchens. Die Liebeserklärung von Wilhelm weckt Paulines Neugierde, was damals in den düstersten Zeiten des ersten Weltkrieges eigentlich geschehen ist und was es mit der Geschichte um Wilhelm und Pauline eigentlich auf sich hat.
Das Mädchen Pauline trifft sich mit ihrer Großmutter Lieschen, und gemeinsam stöbern Großmutter und Enkelin in alten Briefen und Paulines Tagebuch. Großmutter erzählt, was sie von ihrer Mutter weiß, und so wird der Schrecken des Großen Krieges wieder lebendig. Wilhelm schreibt in Briefen vom Drill in der Kaserne, vom Leben im Schützengraben, von der Materialschlacht in Verdun. Pauline notiert in ihrem Tagebuch, wie von schrecklich verletzt die Soldaten sind, die sie zu versorgen hat, und welche Angst sie um den geliebten Wilhelm hat. Die Liebe für einander und Wilhelms Liebe zur Musik trägt die beiden durch die Kriegsjahre.
Eingebettet in die gegenwärtige Geschichte der jungen Pauline, die eine begnadete Cello-Spielerin und gerade unglücklich in Nick verliebt ist, entsteht eine Verbindung zu den Geschehnissen von vor hundert Jahren. Wilhelm spielte Cello und rettete sich damit vor den Franzosen, Pauline hat diese Leidenschaft von ihm geerbt. Durch die Nachmittage mit der Großmutter wird ihr bewusst, was im Leben wirklich zählt.

Die Schrecken des ersten Weltkrieges sind in Feldpost für Pauline durchaus drastisch geschildert. Die Idee, über Feldbriefe und Tagebuch-Einträge die Stimmen aus der Vergangenheit wieder lebendig werden zu lassen, funktioniert gut, zumal Maja Nielsen durch die Rahmenhandlung einen Bezug zur heutigen Lage Deutschlands als Kriegsteilnehmer in Afghanistan zieht. Sie schärft damit nicht nur das Bewusstsein für die deutsche Geschichte, sondern auch für die Soldaten, die heute am Hindukusch kämpfen.
Dieses Anliegen finde ich so wichtig, dass ich hier über die manchmal etwas betuliche Erzählart hinwegsehen konnte. Das Mädchen Pauline erzählt mir in ihrer Ich-Perspektive hin und wieder zu aufgesetzt jugendlich.

Feldpost für Pauline
 ist ein gelungenes Beispiel dafür, wie man den Teenies von heute auch den ersten Weltkrieg näher bringen kann. Und dass der auf die eine oder andere Art immer noch in uns nachwirkt, dürfte unbezweifelbar sein.

Maja Nielsen: Feldpost für Pauline, Gerstenberg Verlag, 2013, 96 Seiten, ab 13, 9,95 Euro

Haustier-Chaos

drachenHaustiere machen glücklich, heißt es. Das kennt man von Hunden, Katzen, Meerschweinchen, Vögeln und durchaus auch Fischen. Aber kann man das auch von Drachen sagen?

Der etwa 9-jährige Edward in dem Roman Drachensitter von Josh Lacey hat da so seine Zweifel. Sein Onkel Morton hat seinen Drachen bei ihm abgegeben und ist in den Urlaub verschwunden. Eine „Pflegeanleitung“ hat er nicht dagelassen. Und nun benimmt sich das Urzeitvieh ziemlich rüpelhaft: Es frisst den Kühlschrank leer, brennt Löcher in Gardinen und Teppiche, hinterlässt Kackhäufchen in Schuhen. Alles ziemlich unschön.
In seiner Verzweiflung schreibt Edward seinem Onkel E-Mails und bittet um Hilfe. Doch Onkel Morton ist wie vom Erdboden verschluckt – und bis er sich nach gefühlten hundert Mails endlich meldet, geht es der Nachbarkatze an den Kragen, wird der Briefträger in die Flucht geschlagen und die Feuerwehr rückt an. Edwards Mutter sammelt derweil alle Quittungen der zerstörten Dinge, die sie sich von ihrem Bruder ersetzen lassen will. Dabei ist der Drache mit einem relativ einfachen Snack zu zähmen …

Josh Laceys kurzer Roman gehört zum Genre humoristische E-Mail-Geschichten, bei denen jede Mail mit einem frechen Schwarzweißbild von Gary Parsons illustriert ist. Die kurzen Mails lassen sich gut vorlesen, sind aber auch für Erstleser in der klaren, einfachen Übersetzung von Anu Stohner gut geeignet. Edwards Abenteuer mit seinem Drachen-Haustier sind kurzweilig, wundervoll lustig und ein ganz charmanter Leserspaß für Jungs.
Und wer dann noch nicht genug hat von Drachen und ihren Eigenarten: Teil zwei, Der Drachensitter hebt ab, kommt schon in den nächsten Tagen in die Buchläden und verspricht genauso vergnüglich zu werden …

Josh Lacey: Der Drachensitter, Übersetzung: Anu Stohner, Illustrationen: Garry Parsons, Sauerländer, 2013, 64 Seiten,  ab 6, 9,99 Euro

Psycho in Bologna

lucarelliNeulich in Florenz bin ich durch die verbliebenen Buchhandlungen der Innenstadt gezogen und über den neuesten Krimi von Carlo Lucarelli gestolpert. Ich musste ihn mitnehmen – den Krimi, nicht Signor Lucarelli – denn Ende der 90er Jahre habe ich mal seine zwei Jugendkrimis übersetzt und dann so gut wie alles von ihm verschlungen. Umso mehr habe ich mich gefreut, dass in Il Sogno di Volare, das noch nicht auf deutsch übersetzt ist (was aber nicht mehr lange dauern kann…), Grazia Negro wieder ermittelt. Sie hatte vor 16 Jahren bereit in Der grüne Leguan einen Serienmörder zur Strecke gebracht und dabei ihren derzeitigen Freund Simone kennengelernt. Beide Figuren trifft man jetzt wieder, in einer Beziehung, die auf der Kippe steht und nur noch von dem fast schon verzweifelten Wunsch nach einem Kind zusammengehalten wird. Dementsprechend übel ist Grazia drauf. Sie spritzt sich Hormone, um eine künstliche Befruchtung vorzubereiten, und sollte eigentlich jeglichen Stress vermeiden. Was sie natürlich nicht tut, denn die Befindlichkeiten einer Ermittlerin treten hinter der Jagd nach einem Serienmörder natürlich erstmal zurück. Der Mörder, der aus der Ich-Perspektive erzählt, offenbart sich bereits in den ersten Zeilen als psychisch ziemlich gestört. Sein erstes Opfer zerfleischt er förmlich, auch bei den nächsten geht er nicht gerade zimperlich vor, will er doch die Herzen seiner Opfer fressen. An den Tatorten lässt er Geifer wie von einem tollwütigen Hund zurück. Nichts für schwache Nerven also. Grazia und ihre Kollegen vermuten zunächst eine mafiös-orientierte Tat, doch die nächsten Opfer führen in die Misere der Wohnungswirtschaft, der illegalen Einwanderer und schließlich in die Reihen der Polizei selbst. Mehr kann ich hier eigentlich gar nicht schreiben, denn Lucarelli droht allen, die den Plot spoilern, ihnen das Herz herauszureißen … und das möchte ich dann doch nicht riskieren. Aber soviel kann erzählt werden: Lucarelli bleibt sich als Hardcore-Krimi-Noir-Autor treu. Die Morde sind drastisch, die Sprache ist derbe und durchaus vulgär, was aber die Realität perfekt wiedergibt. Grazias Frust über die scheiternde Beziehung zu Simone ist glaubhaft und mitfühlend dargestellt, man leidet mit der jetzt 30-Jährigen mit. Zudem bindet Lucarelli auch seinen Faible für Musik wieder in die Geschichte ein, hat er doch den Song Il Sogno di Volare von Andrea Buffa nicht nur zum Titel gemacht, sondern auch als wiederkehrendes Motiv und geschickte Spur in den Roman eingebaut. Das Miträtseln um den Täter gelingt, und ab circa zwei Dritteln des Buches steigt im Leser eine Ahnung auf, die so gruselig ist, dass man es nicht wirklich glauben will. Der Plot ist gekonnt und spannungssteigernd gewoben, und die verschiedenen Erzählperspektiven sind stimmig. Auch die Kritik an den italienischen Lebensverhältnissen zwischen Prekariat und mafiösen Strukturen kommt nicht zu kurz. Man gruselt sich also nicht nur aufgrund der Morde und psychotischer Mörder… Für mich war Il Sogno di Volare zwischen all den vielen schönen Kinder- und Jugendbüchern seit langer Zeit mal wieder ein perfekt gemachter und gelungener Ausflug in das Krimi-Genre, der mich nicht mehr losgelassen und mir den Flug von Florenz nach Berlin extrem verkürzt hat. Genauso möchte ich Krimis haben … Jetzt bin ich nur noch gespannt, wann das Buch auf Deutsch vorliegt. Das werde ich dann hier verlinken. Für alle, die Italienisch können, ist diese Geschichte allerbeste Unterhaltung zum Mitfiebern.

Update am 20.06.2014 lucarelli

Lucarellis Thriller erscheint am 19. August 2014 unter dem Titel Bestie in der Übersetzung von Karin Fleischanderl beim Folio Verlag. Am 11. September liest Lucarelli dann in Hamburg im Rahmen des Harbourfont Literaturfestivals – ich sollte hingehen …

Carlo Lucarelli: Bestie, Übersetzung: Karin Fleischanderl, Folio Verlag, 2014, 288 Seiten, 19,90 Euro

Carlo Lucarelli: Il Sogno di Volare, Einaudi, 2013, 260 Seiten, 21,95 Euro (auf italienisch!)

Zukunftsvisionen

klimakatastropheÜber nichts reden wir so gern wie das Wetter. Der düsterste Winter seit Jahrzehnten liegt hinter uns, der März ließ uns mit dem Schnee lange nicht an Frühling denken. Die Nerven lagen schon ziemlich blank, was das Wetter anging. Jetzt stöhnen wir wieder unter der Hitze. Das Klima, kaum etwas beschäftigt uns so und das täglich und eigentlich rund um die Uhr.

Nur der Klimawandel scheint uns ziemlich egal zu sein. Zu fern scheinen die Konsequenzen unseres Treibens noch zu sein. Dass wir sehenden Auges auf die Klimakatastrophe zusteuern zeigt der nachdenklich machende Comic Die große Transformation. Hierin kommen die neun Experten des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) zu Wort, die von 2008 bis Februar 2013 Mitglieder in diesem Gremium waren. Die Professorinnen und Professoren beschäftigen sich intensiv mit dem Wandel des Erdklimas, sei es in den Bereichen der Physik, der Geobiologie, der Erdsystemanlyse, oder auch als Politik-, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftler oder als Luft- und Raumfahrttechniker oder Energiewirtschafter.

In neun Kapiteln erklären sie die Zusammenhänge von Wirtschaft, Politik, Energiegewinnung, Welternährung, Finanzen, Technik, Klima – und warum wir uns dringend verändern müssen und das weltweit. 2050 werden neun Milliarden Menschen auf der Erde leben, die, wenn wir so weiter machen wie bisher, nicht mit ausreichend Nahrungsmitteln, Energie und sauberem Wasser versorgt werden können. Allein diese Vorstellung ist bedrückend. Zumal es jetzt schon ganz klar ist, dass kein Land der Welt diese Mega-Aufgabe allein bewältigen kann. Es geht nur gemeinsam. Die Verzahnung der Probleme legen die Experten sehr verständlich offen, so dass man in der Konsequenz die Regierungschefs aller Länder in einen Raum einschließen und den Schlüssel wegwerfen möchte, bis diese zur Besinnung gekommen sind und sich auf einen gemeinsamen Rettungsplan verständigt haben.

Denn was die WBGU-Experten auch ganz deutlich machen, ist die Tatsache, das die Wissenschaft die Lage der Welt bis ins Detail analysiert, durchgerechnet und untersucht hat. Man weiß genau, was passieren wird – wir merken es momentan an außergewöhnlichen Wetterveränderungen oder Überschwemmungen, die in den kommenden Jahren nicht weniger werden – und man weiß auch, was getan werden müsste, um den endgültigen Kollaps zu vermeiden. Die Wissenschaft und die Technik haben Lösungen, die machbar und jetzt noch bezahlbar sind. Dass es die Weltrettung nicht umsonst gibt, sollte eigentlich jedem klar sein, nur wird die Vogel-Strauß-Mentalität uns in Zukunft Unsummen kosten, die man jetzt noch einsparen könnte.

Die von einem Zeichner-Team klassisch schwarzweißen Panels vermitteln mit ihrer Mischung aus Comic-Zeichnungen und Infografiken sowohl die jeweilige Arbeit der Experten als auch die Inhalte und Erkenntnisse aus deren Fachgebieten.
Wer sich bis jetzt nur am Rande mit dem Klimawandel beschäftigt hat, dem sei Die große Transformation wärmstens ans Herz gelegt. Hier wird das vielleicht wichtigste Thema unserer Zeit nicht in drögem Polit-Ton in einem unverständlichem Kauderwelsch abgehandelt, sondern in eindrücklichen Bildern und verständlichen Texten für alle nachvollziehbar gemacht.

Die Konsequenzen sind für jeden Menschen nach dieser Lektüre eigentlich offensichtlich: Energiesparen, das Auto stehen lassen, bewusst einkaufen, Ressourcen schonen, der Wegwerfgesellschaft eine Absage erteilen, weniger Fleisch konsumieren, Strom aus erneuerbaren Energie beziehen und, falls man doch viel fliegen oder Auto fahren muss, den eigenen CO2-Ausstoß durch den Kauf von Emissionszertifikaten ausgleichen.
Das sind im Grunde keine allzu großen Opfer, die wir da bringen müssen. Man muss es nur tun und sich seines Handelns bewusst werden. Und wenn jeder seinen kleinen Teil dazu beträgt, ist es womöglich noch nicht zu spät.

Unsere Kinder, Nichten, Neffen, Enkel und alle, die nach uns kommen, hätten dann noch die Chance auf eine einigermaßen intakte Welt und ein Leben, bei dem die elementaren Grundbedürfnisse noch befriedigt werden können. Dafür den eigenen Egoismus einzuschränken sollte eigentlich selbstverständlich sein und uns ganz leicht fallen.

Alexandra Hamann/Claudia Zea-Schmidt/Reinhold Leinfelder (Hg.): Die große Transformation Klima – kriegen wir die Kurve?Jacoby & Stuart, 2013, 144 Seiten, 14,95 Euro

 

Das Leben ist (k)ein stinkender Kanal

fische fütternEine gute Geschichte legt auf den ersten Seiten einen Köder aus. Einen Köder, den der Leser schluckt und der ihn dann bei der Stange hält. Einen extrem guten Köder gibt es in der Geschichte Fische füttern von Fabio Genovesi.

Der anfangs 14-jährige Protagonist Fiorenzo geht mit seinen Freunden Stefano und Silvia in dem öden toskanischen Kaff Muglione fischen. Doch diesmal nicht wie gewöhnlich mit der Angel, sondern mit einem Megaböller. Damit wollen sie das angebliche Kanalmonster erlegen. Den Megaböller haben sie aus sechs Böllern, „Modell Magnum, Profiqualität“, zusammengebaut und gut mit Isolierband umwickelt. Fiorenzo soll den Böller werfen, vorher jedoch bis zehn zählen, damit die brennende Lunte im Wasser nicht absäuft. Bei acht explodiert der Böller.

Den Rest der Geschichte, die fünf Jahre später spielt, berichtet Fiorenzo als Ich-Erzähler folglich einhändig. Seine aussichtsreiche Radsportkarriere fand nach dem dramatischen Böller-Vorfall ein jähes Ende, sein Vater und Trainer ist am Boden zerstört, nicht so sehr wegen der fehlenden Hand des Sohnes, als wegen des verpassten Ruhms als Radsportler. Fiorenzo ist so was wie der Loser schlechthin. Nichts in seinem Leben scheint glatt und erfolgreich zu verlaufen. Seine Mutter starb unvermittelt mit 43. In der Schule versaut er sich kurz vor dem Abi sämtliche Noten, mit seiner Band „Metal Devastation“ wird er auf einem Schülerband-Konzert von der Bühne gebuht, noch bevor er einen Ton singen konnte. Als sein Vater dann den radsportbegabten Teenager Mirko aus Molise bei sich aufnimmt und trainiert, verliert Fiorenzo auch noch sein Zuhause.

Der kleine Champion, wie Mirko nur genannt wird, gewinnt jedes Radrennen. Ein Naturtalent sozusagen. Der Vater platzt vor Stolz. Und Fiorenzo zieht wütend in die Kammer des väterlichen Anglerladens und schläft zwischen nagenden Würmern, die als Fischfutter dienen. In seiner Wut trichtert er Mirko, der dem Anschein nach nicht besonders helle ist und Nachhilfe bei Fiorenzo nimmt, eine perverse Interpretation eines D’Annunzio-Gedichtes ein.
Diese wiederum ruft die 32-jährige Tiziana auf den Plan, eine Akademikerin, die im Ausland hätte Karriere machen können, doch aus Liebe zu einem Typen in ihr Heimatdorf zurückgekehrt ist. Der Typ allerdings hat mittlerweile Frau und Kind, und nun sitzt Tiziana allein im Büro der Jugendinfo des Dorfes, in das sich nie ein Jugendlicher verirrt und das stattdessen von vier alten Herren als Treffpunkt und Bar „missbraucht“ wird. Nebenbei gibt sie Mirko Englischnachhilfe, tröstet ihre Mitbewohnerin und betreibt einen Blog, der jedoch nur von drei Menschen gelesen wird.
Als Mirko ihr von der D’Annunzio-Interpretation erzählt, sucht Tiziana Fiorenzo auf, damit dieser dem Jungen nicht solche Flausen in den Kopf setzt. Zwischen Tiziana, die sich selbst für eine blöde Kuh hält, und Fiorenzo entspinnt sich eine Liebesaffäre, die ihren Höhepunkt in einer skurril-schönen Fast-Sex-Szenen hat.

Während Fiorenzo weiterhin alles versucht, um Mirko aus dem Leben des Vaters zu verjagen, landen die vier Alten der Jugendinfo in der Lokalpresse, weil sie einen Raubüberfall verhindert und daraufhin eine Bürgerwehr gegründet haben. So wollten sie sich gegen eine altenfeindliche Jugendbande schützen, behauptet einer der vier, allerdings mehr aus Jux, weil er schlecht geschlafen hat.
Diese Behauptung nehmen die Bandkollegen von Fiorenzo nun wiederum zum Anlass, Altenfeindliche Parolen an Dorfwände zu schmieren und die eine symbolische Senioren-Puppe am Friedhof aufzuhängen. Die Bürgerwehr schreitet ein und das Unheil nimmt seinen Lauf.

Nach der Lektüre des Romans Fische füttern,  den das bewährte Übersetzer-Team Rita Seuß und Walter Kögler überaus schmackhaft eingedeutscht hat, kann man nicht mehr behaupten, auf dem Land in der Toskana läge der Hund begraben. Zwar handelt es sich bei Muglione nicht um das Idyll mit Hügeln und Zypressen und Weinbergen, sondern um ein hässliches Dorf bei Pisa mit stinkenden, trüben Kanälen, einer Müllhalde und jeder Menge Langeweile, und doch tobt hier das Leben auf seine ganz besonderes skurrile und schräge Art. Das beweist Fabio Genovesi, indem er geschickt verflochten und aus verschiedenen Perspektiven vom Erwachsenwerden der drei jungen Menschen – Fiorenzo, Mirko und Tiziana – berichtet, die mit Schicksalsschlägen, falschen Entscheidungen, Talent, Unsicherheit, Blauäugigkeit, Unwissenheit, Dummheit, Mut und Eigensinn ihren Weg ins Erwachsenenleben finden. Genovesi bricht dabei mit einigen konventionellen Ansichten, lässt die 32-Jährigen durchaus mit einem 19-Jährigen zusammenkommen, macht nebenbei einen schwulen Photoshop-Experten zum Papstberater und verteufelt Italo-Rock. Diese Dinge konterkarieren das gängige klischeehafte Italienbild in unserem Land ganz wunderbar. Das ist nicht die liebliche Toskana; das ist nicht die heile Welt; das ist nicht die klassische Liebesgeschichte; das ist das ganze, dreckige, aussichtslose Elend, das die jungen Italiener gerade erleben, denen dann oftmals nur noch die Emigration bleibt. Das ist zwar alles andere als schön, aber das auf diese komisch-ironische Art zu lesen tut verdammt gut. Denn die Helden von Fische füttern zerbrechen trotz aller Rückschläge und Zweifel nicht, sondern strahlen einen Lebensmut und eine Lebenslust aus, die ansteckend wirkt und einen das schätzen lässt, was man sonst als selbstverständlich übersieht.

Wer das Idealbild von Italien liebt, wird dieses Buch hassen. Wer Italien liebt, wird auch dieses Buch lieben. Ich jedenfalls liebe es.

Fabio Genovesi: Fische füttern, Übersetzung: Rita Seuß und Walter Kögler, Lübbe Verlag, 2012, 430 Seiten, 19,99 Euro (9,99 Euro als Taschenbuch demnächst)