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Kein Mensch ist illegal

illegal

Kaum ein Tag, an dem die Nachrichten nicht von Rettungsschiffen im Mittelmeer berichten, die Italien immer noch viel zu selten anlaufen dürfen. Das Leid der Menschen an Bord können wir uns in unseren sicheren Häusern und Wohnungen kaum vorstellen dürfen.
Und nun berichtet die UNHCR seit gestern von den noch größeren Gefahren an Land für die Flüchtenden.
Wie so eine Flucht durch den afrikanischen Kontinent aussehen könnte, zeigen uns Eoin Colfer und Andrew Donkin in der Graphic Novel Illegal, in der Übersetzung von Ulrich Pröfrock.
Colfer, eigentlich für seine Fantasy-Romane um Artemis Fowl, Warp und den nicht bellenden Hund bekannt ist, widmet sich hier dem tatsächlichen Leben.

Höllentour durch die Wüste

Colfer schildert die fiktive Geschichte des zwölfjährigen Ebo. Sein großer Bruder Kwame ist in der Nacht abgehauen, auf den Weg nach Europa zur Schwester. Kwame hat nichts gesagt und Ebo ist fest entschlossen, dem Bruder zu folgen. Aus seinem Dorf, irgendwo in Nigeria oder Ghana, nimmt er den Bus in die nächste größere Stadt: Agadez, eine riesige, labyrinthische Stadt in der Wüste. Hier sitzt Ebo erst einmal fest, er braucht Geld, ist aber noch zu jung, um für die üblichen Arbeitgeber zu schuften. Doch Ebo kann singen, und das tut er dann auf einer Hochzeit – und findet so durch Zufall seinen Bruder wieder.
Fünf Monate müssen die beiden arbeiten und sparen, bis sie die Tickets für den Lastwagen zusammen haben, der sie durch die Sahara bringen soll.

In den Fängen der Schlepper

Die Fahrt wird zur Tortur, dicht gedrängt stehen sie mit Fremden auf der Ladefläche. Die Sonne brennt ohne Schutz auf sie nieder. Als ein Mann vom Wagen fällt, hält der Fahrer nicht an. Das wenige Wasser, was mitgenommen wurde, verkauft der Schlepper für immer mehr Geld.
Bei der Übergabe an den nächsten Schlepper ist nicht mehr genug Platz für alle. Ebo, Kwame und ein halbes Dutzend weiterer Männer müssen zu Fuß durch die Wüste weiterlaufen. Die in Ligne claire gezeichneten Panels von Giovanni Rigano machen die tödliche Hitze und den Durst förmlich spürbar. Zu dritt schaffen sie es bis zur nächsten Siedlung.

Ebo wird krank. Doch die Brüder arbeiten weiter, um so von einer Stadt zur nächsten zu gelangen, bis sie schließlich Tripolis erreichen. Sie müssen sich vor Soldaten verstecken, dürfen niemandem vertrauen, nicht auffallen. Sie schlafen in einem Abflussrohr, werden von Ratten angeknabbert. Colfer erspart den Lesenden zwar die schrecklichen Lager, euphemistisch „Gefangenen-Zentren“ genannt, für die Libyen mittlerweile bekannt ist, doch das mindert den Schrecken in seiner Darstellung der Landflucht nicht.

Auf See in einem zu kleinen Schlauchboot

Und irgendwann ist der Tag bzw. die Nacht da, an dem Ebo und Kwame mit zwölf anderen Menschen auf ein Schlauchboot steigen, das nur für sechs Personen ausgelegt ist.
Ebo erzählt aus diesem Moment heraus. Die Kapitel auf dem Meer wechseln mit dem Rückblick auf Durchquerung der Wüste. Und das Meer ist nicht weniger lebensfeindlich wie die Sahara. Auch hier brennt die Sonne, das Wasser ist kalt, das Boot hat ein Leck. Diese Seefahrt ist alles andere als lustig.
Irgendwann ist der Sprit alle und das Trinkwasser auch. Die Richtung ist nicht mehr klar, in die die Jungs paddeln müssen. Die nächste Katastrophe steht kurz bevor.

Sensibilisierung für Ursachen und Gefahren einer Flucht

Colfers Geschichte, auch wenn sie fiktiv ist, orientiert sich an realen Schicksalen und kann daher als eine gelungene Illustration für jugendliche Leser_innen angesehen werden, die ihnen die täglichen Dramen auf dem Mittelmeer näher bringt. Das Verständnis und die Empathie für die Menschen, die sich nicht zum Spaß auf diesen lebensgefährlichen Weg machen, wächst. Die Ursachen, warum die Menschen die Heimat verlassen, werden zwar nur angedeutet und nicht in ihrer teilweise traumatisierenden Realität dargestellt, dennoch werden die Lesenden auf vielen Ebenen sensibilisiert.

Was heißt schon illegal

Gerade weil hier ein Kind flüchtet, wird zudem noch einmal deutlicher, dass kein Mensch illegal ist. Sie werden erst von Populisten und unmenschlichen Gesetzen dazu gemacht, eine Vorgehensweise, die unter keinen Umständen akzeptabel ist. Diese eigentlichen Banalitäten und Selbstverständlichkeiten über eine schnell zu lesende Graphic Novel auch der Jugend klar zu machen ist die Stärke dieses Buches.

Eoin Colfer/Andrew Donkin: Illegal, Illustrationen: Giovanni Rigano, Übersetzung: Ulrich Pröfrock, Rowohlt, 2019, 144 Seiten, ab 11, 16,99 Euro

Gib Laut gegen die Angst

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Aus der Sicht von Tieren zu erzählen ist heikel. Schlimmstenfalls endet es in dräuend pseudo-philosophischem Geraune eines alten Fuchses wie in Sara Pennypackers Mein Freund Pax.
Eoin Colfer macht in Der Hund, der sein Bellen verlor alles richtig. Hund, wie er sich selbst nennt, weil es neben Mischling und Welpe das meist gehörte Wort ist, ist genau das, ein Mischlingshundewelpe. Anfangs lebt er mit seinen Geschwistern und seiner Mutter beim lauten Mann.

Eine vage Ahnung von Freiheit

Nach und nach verschwinden die anderen Welpen. Hund würde gern bei seiner Mutter bleiben. Doch er sehnt sich auch nach dem Draußen, der Außenwelt, von der seine Mutter ihm erzählt und er schon Witterung aufgenommen hat. Bisher hat er nur eine vage Ahnung durch das Gras, das im Hof zwischen den Ritzen wächst. Er strebt nach Freiheit, die so aufregend wie beängstigend scheint.
Dann wird auch er eines Tages rausgenommen, in eine Kiste gepackt und mit einem Auto weggefahren. Schnell ahnt Hund. »Es würde schlimm werden.«

Plädoyer für jedes lebendige Wesen

Eindringlich beschreibt Colfer aus der Sicht des verängstigten Tieres, wie ihn seine neuen Besitzer aus Dummheit und Gemeinheit quälen. Nicht dass sie ihn prügeln oder anketten. Aber sie geben unverständliche Laute von sich, überhaupt sind sie peinigend laut. Der Schmerz wird unerträglich, als der Junge der Familie Hund zur Belustigung am Schwanz hochzieht. Schließlich sperren sie Hund in der Waschküche ein, weil es für sie das einfachste ist.
Hund lernt, sich unsichtbar zu machen und keinen Mucks von sich zu geben. Als ihm ein unvermeidliches Malheur in seinem Gefängnis passiert, wird er auf einer wilden Müllkippe entsorgt, mit den gehässigen Worten »AUFWIEDERSEHENDUMMERKACKHUND«.

Ein Junge, der sein Bellen verlieren wird

Das traurige Hundeschicksal wäre an sich schon eine starke Geschichte. Es ist erschütternd, aber hier kindgerecht beschrieben, wie mitleidlos viele Menschen sind. Ein Plädoyer dafür, dass jedes lebendige Wesen das Recht hat, ohne Schmerz, Angst und Hunger leben und sich bewegen zu dürfen. Und ein Hund muss auch mal bellen dürfen.
Aber die Geschichte geht weiter, denn, soviel darf verraten werden, der Hund, der sein Bellen verlor, wird es wieder lernen. Und er wird nicht nur seine eigene Angst wegbellen. Denn dies ist auch die Geschichte eines Jungen, der sein Bellen verlieren wird.

Manchmal sind Mütter klüger als das Internet

Patrick entdeckt Hund, den er spontan Oz nennt, im Tierheim. Es ist Liebe auf den ersten Blick, trotz der eindringlichen Warnung des Tierpflegers, dass dieser Hund besonders intensive Betreuung bräuchte und für Kinder ungeeignet sei. Bewundernswert geduldig und mit ungewöhnlichen Methoden schafft Patrick es nach und nach, dass Oz wieder frisst und sich aus seinem Versteck wagt. Und Patricks Mutter bringt Oz mit tierischer Unterstützung sogar wieder zum Bellen: »Manchmal sind Mütter klüger als das Internet«, kommentiert sie lässig ihren klugen Einfall (danke, Eoin Colfer!).
Irgendwann sind die Ferien fast vorbei und Patricks Vater ist immer noch nicht von seiner angeblichen Tournee in Australien zurück. Also muss Patrick, der laut seinem Großvater »ganz groß im Fragen ist«, die Frage stellen, vor der er sich fürchtet, die sein abwesender Vater bei allen Chats immer unbeantwortet lässt und die Patrick durch Oz lange verdrängen konnte: Wird sein Dad jemals wieder nach Hause kommen?

… und manchmal sind dumme Sachen wahr

Und dann kommt alles raus: Warum seine Mutter so traurig ist. Warum Patrick plötzlich einen Hund haben darf. Und dass sein Vater sich in jemand anders verliebt hat und die Familie verlassen wird.
»›Gaubst du, es ist endgültig?‹ Mum nickte stumm, und Patrick erstarrte wie ein Computer, der zu viele Befehle gleichzeitig bekommt und sich aufhängt«, wie Colfer sehr anschaulich schreibt und Ingo Herzke lebendig übersetzt.
Begleitet wird diese Szene von den sehr guten, vielsagenden und hyperrealistischen Illustrationen P.J. Lynchs.
»Hast du einen besseren Sohn gefunden?« schreibt Patrick seinem Vater, mit dem Gefühl, verraten worden zu sein. Und er droht einen folgenschweren Fehler zu machen: »Entweder Oz oder Dad. Er musste wählen. Das ist doch dumm, sagte eine Stimme in seinem Kopf. Und das weißt du genau. Vielleicht ist es dumm, aber manchmal waren dumme Sachen wahr.«

Zusammen gegen schlimme Dinge

Wie zum Schluss nicht alles wieder gut, aber besser wird, weil zwei verwundete Seelen ihr Bellen wiedergefunden haben, das erzählt Eoin Colfer hier absolut hinreißend. »Oz war ein kluger Hund, er wusste, dass manchmal schlimme Dinge passieren. Aber die schlimmen Dinge konnten nichts ausrichten gegen Oz und Patrick.«

Eoin Colfer, P.J Lynch (Illustrationen): Der Hund, der sein Bellen verlor, Übersetzung: Ingo Herzke, Orell Füssli, 2019, 140 Seiten, ab 8, 12,95 Euro

London gestern und heute

colferEigentlich bin ich kein großer Fan von Zeitreisegeschichten, über die genauen Gründe meiner Abneigung gegen dieses Gedankenspiel muss ich jetzt allerdings noch mal genau nachdenken. Denn Eoin Colfer hat mit WARP – Der Quantenzauberer eine Variante dieses Genres vorgelegt, die ich nicht mehr aus der Hand legen konnte.

Die 16-jährige Chevron arbeitet als jugendliche Hilfsagentin für das FBI. Nach einem misslungenen Einsatz in Los Angeles wird sie nach London strafversetzt, bis Gras über die Sache gewachsen ist. In der britischen Hauptstadt wartet ein langweiliger Bewachungsjob auf sie – was aber natürlich nicht so bleibt … denn das Objekt, das Chemie im Auge behalten soll, ist eine Zeitreisemaschine des anonymen Zeugenschutzprogramms „Witness Anonymus Relocaton Programme“ – kurz WARP. Damit schickt das FBI gefährdete Zeugen in der Zeit zurück ins 19. Jahrhundert, wo angeblich niemand an sie herankommt. Dass dieses Konzept nicht aufgeht, merkt Chevie ganz schnell, als in dem Ding plötzlich ein Toter und ein Junge aus der Vergangenheit auftauchen.

Der ebenfalls 16-jährige Riley ist Assistent des Zauberers Albert Garrick. Dieser arbeitet jedoch hauptsächlich als Auftragsmörder im London von 1898. Gerade als Riley von Garrick zu seinem ersten Mord gezwungen wird, aktiviert das Opfer einen so genannten Timekey und katapultiert sich durch ein Wurmloch in die Gegenwart. Garrick, der merkwürdigerweise an seinem Assistenten wie an einem Sohn hängt, folgt Riley später in die Zukunft. Ein rasantes Hin und Her zwischen Vergangenheit und Gegenwart entspinnt sich, bei dem Garrick durch das Zeitreisen zu einem Magier mit Superkräften mutiert und nun in James-Bond-Bösen-Manie leicht größenwahnsinnig die Weltherrschaft in seiner Zeit erlangen will.
Chevie, die mit Riley zusammen vor Garrick flüchtet, erlebt nicht nur das sehnlichst herbeigewünschte Agenten-Abenteuer, sondern lernt dabei auch den Gestank und das Elend des viktorianischen Englands kennen. In all dem Trubel von Verfolgungsjagden durch die Zeiten findet Riley schließlich heraus, wer seine Eltern getötet hat …

Eoin Colfer ist ein rasant-frecher Pageturner gelungen, der mit einem Augenzwinkern auf Charles Dickens, Arthur Conan Doyle und Jules Vernes anspielt und auch die Gegenwart mit ihren Absonderlichkeiten aufs Korn nimmt. Claudia Feldmann hat diese Geschichte entsprechend pfiffig ins Deutsche übersetzt. WARP ist spannendes Lesefutter für Liebhaber von Agentengeschichten – und wird zum Glück erst einmal nicht von einer Liebesgeschichte der Helden Chevie und Riley überlagert, sondern lebt ganz von dem Kontrast der verschiedenen Epochen in London. Das wird besonders anschaulich, wenn Riley in der Zukunft feststellt, dass er die Menschen gar nicht mehr riechen kann. Eine feinsinnigere Beobachtung, in was für einer angenehmen und bequemen Zeit wir heutzutage leben, kann es eigentlich kaum geben.

Eoin Colfer: WARP – Der Quantenzauberer, Übersetzung: Claudia Feldmann, Loewe Verlag, 201,4 352 Seiten, ab 14, 16,95 Euro

PS: Und endlich gibt es mal einen wirklich reizenden Buchtrailer, den ich hier gerne einbinde…