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Von Feldgrauen und Strickstrümpfen

Nesthäkchen2014 wird das Jahr der Weltkriege. Hundert Jahre ist der Ausbruch des ersten, 75 Jahre der des zweiten Weltkrieges her. Doppelter Grund, sich mit dem Thema Krieg ausführlich zu beschäftigen. Zudem ist es ja nicht so, dass unsere Welt im Frieden lebt.

Nachdem ich vor ein paar Monaten bereits über die Erst-Weltkriegs-Geschichte Feldpost für Pauline geschrieben habe, ist mir nun – mehr oder minder durch Zufall – Else Urys Band Nesthäkchen und der Weltkrieg in die Finger gekommen.
Mit den Nesthäkchen-Büchern bin ich groß geworden, als Kind habe ich sie geliebt, von diesem Band habe ich lange nichts gewusst, ist er auch nicht mehr im Buchhandel erhältlich.
Obwohl ich vor ein paar Jahren in Nesthäkchen wieder hineingelesen habe und mich mit der alten Erzählart und dem antiquierten Erziehungskonzept überhaupt nicht mehr anfreunden konnte, war meine Neugierde auf diesen zehnten Band ungebrochen.

Vielleicht liegt das an meiner Leidenschaft, Quellen, soweit es mir möglich ist, im Original zu lesen. So habe ich das Gefühl, unmittelbarer in die Zeit und die Geschehnisse eintauchen zu können. Bei Nesthäkchen und der Weltkrieg ist das eine Gratwanderung und ein zweifelhaftes Vergnügen, denn das Buch wird zu Recht nicht mehr aufgelegt, ist doch der Patriotismus, der aus jeder Seite tropft, für uns erwachsene Nachgeborene kaum zu ertragen. Da wehen beständig die Fahnen des Deutschen Reichs, die Siege der deutschen „Krieger“ werden bejubelt, feindliche Staaten – England, später Italien – verunglimpft, die polnische Mitschülerin Vera von Nesthäkchen als Feindin und Spionin gebrandmarkt. Das liest sich heute nicht schön und ist in keiner Zeile akzeptabel. Selbst wenn sie ihre Protagonisten wegen überzogenem Patriotismus auch immer mal wieder abmahnt und bestraft. Diese so leis geäußerte Kritik an dem ganzen Kriegsgerummel geht in dem Getöse jedoch fast unter, dass man sie leicht überlesen könnten.

Doch fand ich in der Geschichte um die Kriegsjahre 1914 bis 1916 in Berlin auch Details, die Aha-Momente bei mir auslösten. Das waren die Stellen, in denen Else Ury als getreue Zeitzeugin und Dokumentarin den Kriegsalltag der Frauen und Kinder schildert. Da wurden die Schulen zu Lazaretten umfunktioniert, Rohstoffe wie Kupfer und Wolle gesammelt, Lebensmittel rationiert. Nesthäkchen strickt Strümpfe für die Feldgrauen an der Front, sie steht für die eingeschränkte Butterration an, hilft ärmeren Menschen, erlebt den Tod von Bekannten und sieht sich mit dem Leid der Flüchtlinge aus Ostpreußen konfrontiert. Zudem muss sie 1916 erleben, dass die Sommerzeit eingeführt wird, um Ressourcen zu sparen.
Auch der Wandel in der arbeitenden Gesellschaft geht an dem Mädchen nicht unbemerkt vorbei: Auf einmal arbeiten Frauen als Briefträgerinnen, Schaffnerinnen und Taxichauffeurinnen. Das, was neulich die Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen im Zuge einer Forschungsarbeit über die Darstellung des Krieges im Film festgestellt hat, dass die Kriege des 20. Jahrhunderts den Frauen „gut“ taten, im Sinne, dass sie Arbeit fanden, erkennt man auch bei Ury.
Die Autorin wertet diesen Wandel allerdings nicht, so kann man also nur vermuten, dass sie diesem Faktum durchaus auch etwas Positives abgewinnen konnte. Denn Else Ury, assimilierte Jüdin, die 1943 in Auschwitz-Birkenau ermordet wurde, war geprägt durch die wilhelminische Zeit, erlernte keinen Beruf, weil das damals für Mädchen nicht üblich war – und emanzipierte sich quasi durch ihre Arbeit als Schriftstellerin. So soll sie allein von diesem Nesthäkchen-Band angeblich 300.000 Exemplare verkauft haben. Durch ihre schriftstellerische Arbeit wurde Ury zu einer der erfolgreichsten und bekanntesten Frauen der Weimarer Republik.

Wie gesagt – ich bin hin und hergerissen, wie Nesthäkchen und der Weltkrieg heute gesehen und gewertet werden kann. Anders als historisch-dokumentarisch eigentlich nicht. Ury gibt trotz all ihrer Naivität und dem Patriotismus, der bei den Intellektuellen der damaligen Zeit ja durchaus nicht ungewöhnlich war, immerhin einen authentischen Einblick in die Zeit des ersten Weltkriegs. Dabei ist ihr Text von der eigenen Biografie als Kind einer gutbürgerlichen Familie durchzogen, das spürt man deutlich. Daneben zeigt sie jedoch auch durchaus menschlich und mitfühlend, wie die Kinder weit entfernt von der Front vom Krieg betroffen waren. Dem patriotischen Nesthäkchen stellt sie die Schicksale vom Flüchtlingskind Max, der armen Trude und der Deutsch-Polin Vera entgegen. Und im Laufe der Zeit und der Lektüre werden die Schrecken des Krieges unmittelbarer, sowohl für Nesthäkchen, die aus ihrer heilen Kinderwelt ein kleines Stück vertrieben wird, als auch für den Leser.

Sind die heute noch erhältlichen Nesthäkchen-Bände von jeglichen Hinweisen auf die Historie bereinigt, so lässt sich in diesem Band die Geschichte nicht herausstreichen, ist sie doch der eigentliche Protagonist. In diesem Sinne kann man diese Nesthäkchen-Episode folglich nur als eines lesen: als einen O-Ton aus dem Jahr 1917.

Else Ury: Nesthäkchen und der Weltkrieg, Hoch Verlag, 1917/1924.