Die Untiefen der Psyche

sauerdropseDer Mensch ist ein wunderliches Wesen. Warum sind manche unserer Zeitgenossen immer gut drauf, während andere Trübsal blasen, den Kopf hängen lassen oder extrem miese Laune verbreiten? Leider ist es uns meistens nicht vergönnt, hinter die Fassaden schauen zu können. Die Beweggründe bleiben uns verborgen. Und doch sollten wir uns immer wieder daran erinnern, dass hinter jedem Verhalten ein durchaus ernsthafter oder gar trauriger Auslöser stecken kann.

Genau dies tut das Erzählbilderbuch Die Sauerdropse von den Niederländern Jaap Robben und Benjamin Leroy, wunderbar übersetzt von Birgit Erdmann. Die Brüder Harry und Hubert Sauerdrops, zwei schon ältere Herren, leben in einem grauen Haus, mit grauen Wänden, grau-betonierten Hof, dessen einziges kleines Rasenstück sie nicht betreten dürfen. Sie essen am liebsten saure Heringen, Bennnesseltee und Hühnersuppe, sie interessieren sich für künstliche Gebisse, ihre eigenen legen sie abends sorgfältig in Essig ein, und täglich um fünf Uhr rufen sie die Beschwerdestelle im Rathaus an. Der Bürgersteig vor der Haustür wird täglich gestaubsaugt. Besucher sind nicht willkommen, weil Mutter oben schläft. Alles was irgendwie bunt, laut, lebendig ist, wird von den Gebrüdern Sauerdrops gehasst. Sie sind also richtig, richtig mies drauf. Mieser geht es kaum.

Wie es in Bücher dann so ist, wird diese skurrile Tristess eines Tages durchbrochen, von einem unerträglich bunten Brief, der auch noch Musik macht. Die Brüder schieben den Brief tagelang hin und her, hoffen, dass er auf der Straße vom Wind weggeweht wird. Doch stattdessen taucht Gertie Bock von der Beschwerdestelle im Rathaus auf und bringt den Brief wieder zurück. Die Sauerdropse sind geschockt, zum einen, dass jemand auf ihre Beschwerdeanrufe reagiert, zum anderen, weil Gertie der Mutter von Harry und Hubert wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Die beiden alten Herren sind ziemlich verwirrt, lassen es aber zu, dass Gertie immer öfter vorbeikommt und etwas Farbe in das graue Leben bringt.
Schließlich taucht auch noch Niko, der Cousin der Brüder auf. Er hat den bunten Brief geschrieben, um seiner Tante, also Harrys und Huberts Mutter, zum 111. Geburtstag zu gratulieren und seinen Besuch anzukündigen. Die Sauerdropse sind völlig überfordert, denn Mutter schläft doch oben und darf auf keinen Fall gestört werden. So versuchen sie, sich aus der Bredouille zu schummeln, indem sie sich als Mutter verkleiden. Während Gertie eine Geburtstagsparty vorbereitet, bricht bei den neuen Nachbarn, die das Nebenhaus renovieren, eine Wand zu den Sauerdropsen ein, und plötzlich stehen lauter Unbekannte bei den Brüdern im Haus. Ihre Verkleidung funktioniert nicht (vier Beine sind schon sehr verdächtig) und in all dem Chaos müssen die beiden schließlich zugeben, dass die Mutter schon lange tot ist. Als der Nachbarhund aus dem Rasenstück im Hof dann auch noch einen menschlichen Unterarmknochen ausgräbt, flüchten die Bewohner und die Sauerdropse bleiben allein zurück. Erleichtert kehren sie zu ihrem geregelten grauen Leben zurück.

In diesen Plot, der voller überraschender Knaller steckt (die Brüder machen Urlaub, streiten sich so, dass die Kunstgebisse zu Bruch gehen), haben Autor und Illustrator auf ganz großartige Weise die psychologischen Abgründe der beiden Hauptfiguren verpackt. Der Leser erfährt, wie es bei Sauerdrops zuging, als der Vater noch lebte und als Bestatter bis zur Erschöpfung arbeitete. Schon damals schlief die Mutter immer, vernachlässigte die Jungs und setzte ihnen ausschließlich Hühnersuppe vor. Die Todesursache des erschöpften Vaters ist eine der absurdesten, die mir je untergekommen ist und die ich hier nicht verraten möchte, um den Spaß nicht zu verderben.
Die abwesende und doch permanent anwesende Mutter erinnert im Laufe der Lektüre die Erwachsenen unwillkürlich an Hitchcocks Psycho. Eine Dimension, die kleinen Lesern wahrscheinlich entgehen mag, doch das Gefühl, dass da etwas mit der Mutter ist, steigert sich im Laufe des Buches immer mehr und zeigt auf sehr eindrucksvolle Weise, wie sehr der Mensch unter dem Einfluss seiner Eltern steht und sich teilweise noch nicht einmal im hohen Alter davon lösen kann. Hier stecken zwei kleine Jungs in den Hautsäcken alter Männer und haben es nicht gelernt, sich von den Vorgaben und Verboten der höchstwahrscheinlich depressiven Übermutter zu verabschieden. Eigentlich traurig, und gleichzeitig doch so aufrüttelnd, die eigenen verinnerlichten Regeln einer genauen Prüfung zu unterziehen, ob sie auch der eigenen Überzeugung entsprechen.

Benjamin Leroys Bilder tragen ganz besonders zu dem Gelingen dieser tiefgründigen Geschichte bei. Sie sind eine Mischung aus Federzeichnung, Aquarell und Collage, die sich mit dem Voranschreiten der Erzählung und all den ungewöhnlichen Erlebnissen der Brüder vom Grau zum Bunt wandeln. Dabei haben die Bilder nicht nur die Aufgabe zu illustrieren, sondern sie erzählen Dinge, die die Texte nicht verraten. Sie zeigen die Träume der Brüder, ihre Erinnerungen an die Mutter oder den Spaß der Fußballjungs, die eines Tages im Hof der Sauerdropse kicken.

Robben und Leroy ist mit Die Sauerdropse eine an der Oberfläche sehr skurrile, lustige und chaotische Geschichte gelungen, die Spaß beim Vorlesen und Anschauen macht. Durch die psychologischen Hintergründe erlangt sie jedoch einen solchen respektvollen Tiefgang bei der Zeichnung der Hauptfiguren, dass man davor nur den Hut ziehen kann.

Jaap Robben/Benjamin Leroy: Die Sauerdropse, Übersetzung: Birgit Erdmann, mixtvision, 2013, 168 Seiten, ab 10, 14,90 Euro

Von Monstern und Schleuderprogrammen

psychische krankheitenPsychische Krankheiten könnte man als eine der Geißeln unserer technisierten, schnelllebigen Gesellschaft bezeichnen. Der Umgang mit diesen Übeln ist nicht leicht, weder für die Betroffenen noch für deren Angehörige. Von den Kindern betroffener Eltern oder Geschwister ganz zu schweigen. Kinder aber deshalb zu unterschätzen und mit ihnen nicht über die Zustände von Vater, Mutter oder Bruder zu sprechen wäre fatal. Denn dass die Kinder jede Menge mitbekommen und sich dazu ihre eigenen Gedanken machen, ist hinreichend bekannt. Dennoch werden die Kinder noch viel zu oft aus dem Geschehen herausgehalten, oft mit der Folge, dass sie sich die Schuld an der Krankheit des Elternteils geben. Und selbst noch mehr leiden. Damit es nicht soweit kommt, ist Offenheit immer noch das beste Mittel.

Hilfestellung bei der Erklärung von psychischen Krankheiten – die ehrlich gesagt auch für Erwachsene meisten nicht in aller Vollständigkeit zu begreifen sind – bieten drei kleine, aber sehr schlaue Bilderbücher aus der Reihe Kids in Balance. In Mama, Mia und das Schleuderprogramm lebt die 7-jährige Mia mit ihrer Mutter und Katze Yuki zusammen. Mia würde am liebsten zum Zirkus gehen. Aber Mama leidet am Borderliner-Syndrom und bekommt in der Folge ihre Gefühle nicht mehr in den Griff, so dass sie sich irgendwann selbst verletzt. Ohne zu schockieren erklärt eine Ärztin Mia, dass die Gefühle bei Mama wie im Schleuderprogramm der Waschmaschine so durcheinander gewirbelt werden, dass sie sie nicht mehr auseinanderhalten kann. Mama sucht sich Hilfe beim Arzt, und gemeinsam mit Mia macht sie schließlich bei einer Zirkusgruppe mit, die Eltern und Kindern in schwierigen Situationen im Leben hilft.

psychische krankheitenIn Mamas Monster muss die 5-jährige Rike erfahren, dass Mama plötzlich nur noch im Bett liegt und ganz traurig ist. Sie spielt nicht mehr mit Rike und ihrem kleinen Bruder, bringt sie auch nicht ins Bett und kann gar nicht mehr arbeiten. Rike denkt, dass sie etwas falsch gemacht hat, aber Mama erklärt Rike, dass sich bei ihr ein Monster eingenistet hat, dass die Gefühle klaut. Mit Hilfe eines Arztes und von Medikamenten vertreibt Mama das Monster jedoch wieder. Das dauert zwar ein paar Wochen, und Rike ist in dieser Zeit total wütend, weil sie nicht helfen kann. Doch schließlich ist das Monster so weit verjagt, dass Mama Rike wieder ins Bett bringen kann.

psychische krankheitenMein großer Bruder Matti hingegen erzählt die Geschichte von Matti. Er ist so stark, dass er ständig alles umwirft und kaputt macht. In der Schule kann er nicht still sitzen, stört den Unterricht und hört nicht richtig zu. Mattis hat ADHS.
In diesem Buch wird dem jüngeren Bruder Julius erklärt, warum bei Matti Gefühle wie Wut, Trauer oder Freude viel stärker ausgeprägt sind, als bei anderen Kindern. In Mattis Hirn gibt es nämlich zu wenige „Postboten“, die die vielen Informationen an die richtigen Adressen bringen. Zusammen mit einem Psychologen lernt Matti jedoch jede Menge Tricks, wie er zum Beispiel gegen die aufsteigende Wut angehen kann. Und auch Julius kann jetzt das Verhalten des großen Bruders besser einordnen und hofft, dass er trotzdem ganz viel Zeit mit seinem großen Bruder verbringen kann.

Alle drei Bücher erklären mit leicht verständlichen Texten und liebevollen Illustrationen überaus schwierige und belastende Situationen in den Familien. Wut und Tränen gehören dazu, es wird nichts tabuisiert. Die Bitte um Hilfe und ihre Annahme in Form von Therapiestunden wird als etwas Notwendiges, aber vor allem auch Selbstverständliches dargestellt. Niemand muss sich schämen, wenn er zum Psychologen geht oder das Jugendamt eine Mitarbeiterin vorbeischickt.
Die Kinder von Betroffenen erleben so, dass niemand Schuld an diesen psychischen Krankheiten hat und dass es Möglichkeiten der Behandlung gibt. Für erkrankte Elternteile erleichtern diese Bücher ein offenes Gespräch über die eigene Krankheit.

Christiane Tilly/Anja Offermann/Anika Merten: Mama, Mia und das Schleuderprogramm. Kindern Borderline erklären, Balance buch + medien, 2012,  40 Seiten,  ab 4, 12,95 Euro

Erdmute Mosch: Mamas Monster. Was ist nur mit Mama los? Balance buch + medien, 4. Auflage 2011, 44 Seiten, ab 3, 12,95 Euro

Anja Freudiger: Mein großer Bruder Matti. Kindern ADHS erklären, Balance buch + medien, 2013, 28, Seiten, ab 5, 12,95 Euro

Das Dilemma

Die aktuelle Diskussion über die Modernisierung von Otfried Preußlers Die kleine Hexe hat mich kurzfristig dazu bewogen,  das Original zu lesen. Ich vermute, dass ich das Buch in meiner Kindheit zumindest einmal in der Hand hatte – die Illustrationen kamen mir jedenfalls sehr vertraut vor – aber an die eigentliche Geschichte konnte ich mich nicht mehr erinnern.

Jetzt bin ich inhaltlich wieder im Bilde: Die kleine Hexe ist mit ihren 127 Jahren noch zu jung für die Walpurgisnacht, will aber unbedingt mittanzen. Sie schleicht sich ein, wird erwischt und anschließend übel bestraft. Wenn sie im nächsten Jahr mitmachen will, muss sie beweisen, dass sie das auch verdient. Also strengt sie sich über ein Jahr an, eine gute Hexe zu werden und die Hexenprüfung zu bestehen. Angestiftet vom Raben Abraxas hext sie fortan nur gute Dinge, hilft Armen, Verfolgten, Geschundenen. Die Prüfung besteht sie schließlich mit Links, nur ist sie leider doch keine gute Hexe, weil sie nur Gutes getan hat, was eine gute Hexe, die nur Böses tut, eben nie tun würde. Mit ihren neuen Fähigkeiten schafft sie es dann jedoch, die bösen Althexen zu überlisten und doch Walpurgisnacht zu feiern.

Das Kapitel, das nun einer Modernisierung unterzogen wird, beschreibt eine Fastnachtsszene bei den Kindern, die sich so exotisch wie möglich verkleiden: als Türke, Chinese, Eskimo, Neger, Hottentotte. Sicher, all das liest sich heutzutage schon befremdlich – und dennoch habe ich meine Schwierigkeiten damit, wenn hier nach 55 Jahren in den Text eingegriffen wird. Die kleine Hexe ist ein Kind ihrer Zeit, und das merkt man dem Buch nicht nur in diesem einen Kapitel, sondern im ganzen Text an. Nichtsdestotrotz ist Die Kleine Hexe ein Gesamtkunstwerk. Und Kunstwerke sollten so genommen werden, wie sie sind. Man ändert ja auch nichts an Gemälden oder schneidet bei alten Filmen unliebsame Szenen heraus. Man ordnet sie ein. Gemälde werden wissenschaftlich zu geordnet und erklärt. Filme in Retrospektiven dem heutigen Publikum zugänglich gemacht. Und manches verschwindet auch schon mal in der Versenkung. Und das ist dann auch okay.

Die kleine Hexe nun ist eine Dame im besten Alter, und dieses Alter darf man ihr auch ruhig anlesen. Es ist auch gar nicht zu überlesen, selbst wenn die Negerlein und das Durchwichsen verschwinden, der Schindelmacher und der Bierkutscher jedoch bleiben. Viele Begriffe und Redewendungen bei Preußler zeugen von einer vergangenen Zeit, die so gut wie nichts mehr mit unserer Gegenwart zu tun hat. Eine Text-Modernisierung, so vorsichtig sie auch sein mag, kommt mir ein bisschen vor wie das Face-Lift von eitlen Damen. Die mögen durch straffe Hautpartien im Gesicht scheinbare Jugend zu zeigen, doch spätestens wenn man auf die Hände achtet, lässt sich das eigentliche Alter nicht mehr verbergen.
Kindern sollte man dieses Alter erklären, anstatt es zu leugnen. Das ist beim Vorlesen sicherlich hinderlich, aber ein Gespräch außerhalb dieser Situation könnte durchaus funktionieren. Es ist ja nicht so, dass man Kindern nichts zutrauen darf. Sie werden heute in so vielen Situationen bis zum Anschlag gefordert – Frühförderung, Musikunterricht, Museumspädagogische Führungen, Englisch oder gar Chinesisch schon im Kindergarten – nur die Geschichte unserer Gesellschaft gehört scheinbar nicht dazu. Doch diese Geschichte hat uns geprägt, ist die Wurzel unserer Gegenwart. Diese historische Wurzel abzukappen, und sei es nur auf der Sprachebene, empfinde ich als eine Verarmung.
Sicher ist der Gebrauch von einem Wort wie „Neger“ heute nicht mehr tragbar, doch im Kontext eines alten Textes wird es zu einem Marker für die Entstehungszeit. Solche Marker, man könnte sie auch Stolpersteine nennen, machen aufmerksam. Sie bieten eine Reibungsfläche, mit der man sich auseinandersetzen muss. Das erfordert per se erst einmal die Anstrengung, sich aus der Komfortzone eines geglätteten Denkens heraus zu bewegen. Die Trägheit des Geistes muss überwunden werden, wenn man so ein Wort einem kleinen Menschen erklären muss. Und man wird gezwungen, sich Nachfragen zu stellen und sich womöglich mit seiner eigenen Haltung erneut auseinanderzusetzen. Bequem ist das sicher nicht.
Ich kann verstehen, dass Eltern dieses Wort nicht vorlesen möchten, weil ihr Kind es in der Kita einem Spielkameraden an den Kopf werfen könnte. Das mag man wirklich nicht wollen. Hier liegt das Dilemma. Doch es nicht vorzulesen, es nicht zu erklären verschiebt das Problem nur um eine gewisse Zeit und baut derweil ein Tabu auf, was möglicherweise eine ganz fatalere Verlockung entwickeln kann, die dann das genaue Gegenteil von dem bewirkt, was die erzieherische Intention beabsichtigt hatte.

Möchte man solche Themen aussparen, sollten die Vorleser sich überlegen, auf die alten Texte zu verzichten, die ihre eigene Kindheit geprägt haben. Es wäre ein Abschied von der Nostalgie und der Sentimentalität – und von der eigenen Kindheit. Vielleicht hängen wir Erwachsenen deshalb immer noch so an den Klassikern, die WIR den Kindern vorschlagen, weil wir unsere eigene Kindheit auch über die alten Kinderbücher idealisieren. Sich davon zu verabschieden fällt immer schwer. Aber die Auswahl an neuen Kinderbüchern ist riesig und bietet den nächsten Generationen genügen Fantasie- und Identifikationsgeschichten, die ihre Kinderjahre prägen werden.
Die kleine Hexe ginge dann irgendwann den Weg, den alle Klassiker einschlagen, respektiert, in Würde gealtert, aber vielleicht auch vergessen.

Otfried Preußler: Die kleine Hexe, Illustrationen: Winnie Gebhardt-Gayler, Thienemann Verlag, 1957, 127 Seiten, ab 6, 11,90 Euro

Fragen des Lebens

bauchentscheidungEs gibt Momente im Leben, da könnte man meinen, es gäbe keinen Ausweg mehr. Für Teenage-Mädchen sind ungewollte Schwangerschaften sicherlich so ein Moment. Was macht man jetzt? Wie soll man sich entscheiden? Fragen über Fragen tun sich plötzlich vor den Mädchen auf.

All diese Fragen und die möglichen Antworten hat Lucy Hay in ihrem Roman Bauchentscheidung zu einem außergewöhnlichen Erzählkonzept zusammengestellt. Protagonistin Lizzie ist 17 und will demnächst auf die Uni gehen. Sie ist mit Mike zusammen und hat neulich nach einem Abend mit zuviel Alkohol mit ihm ungeschützten Sex gehabt. Dieses eine Mal reicht, und Lizzie ist schwanger. Die Bestätigung erhält sie durch einen Schwangerschaftstest, den sie auf einer versifften öffentlichen Toilette macht. Das Mädchen ist schockiert, weil sie nie dachte, dass gerade ihr so etwas passieren könnte. Sie will mit jemandem reden – da klingelt ihr Handy.

Dieses Handyklingeln katapultiert – wie das Bimmeln des Weckers beim Murmeltiertag im Film Und täglich grüßt das Murmeltier – Lizzie immer wieder in die gleiche Situation auf der Toilette. Doch jedes Mal ruft jemand anderes an – ihre Schwester Sal, die Mutter, Freund Mike, Lizzies beste Freundin Shona. Mit allen redet Lizzie über ihre Lage, und von allen bekommt sie andere Ratschläge. In der Folge trifft das Mädchen die unterschiedlichsten Entscheidungen, wie sie mit dieser ungewollten Schwangerschaft umgeht. Sie treibt ab; sie trägt das Kind aus und arrangiert sich mit dem Kindsvater; sie hat eine Eileiterschwangerschaft und verliert das Kind; sie denkt über Adoption nach; sie bekommt das Kind, trennt sich aber von Mike. Wie sie sich im Endeffekt wirklich entscheidet, bleibt zwar offen, doch Lizzie ist sich schließlich sicher, die richtige Entscheidung zu treffen.

Hays Konzept, verschiedene Wege aufzuzeigen, ist faszinierend und spannend zugleich. Die Ich-Erzählerin hadert, stellt sich Unmengen an Fragen, denkt nach und hört vor allem auch ihren Gesprächspartnern zu. So merkt sie, dass sie zum Teil die Mutter oder die beste Freundin falsch eingeschätzt hat. Die Diskussionen über Schwangerschaft und Kinderkriegen zeigen jedoch, dass sie in jeden Fall auf ihre Eltern zählen kann, auf den Freund jedoch nur bedingt.

Angesiedelt ist die Geschichte im heutigen Großbritannien. Lizzie kommt aus einer Großfamilie mit sechs Kindern und einer sozial eher niedrigeren Schicht. Den Schluss zu ziehen, dass es mit so einer Konstellation ja fast normal ist, schon als Teenager schwanger zu werden, wäre jedoch verfehlt. Lizzie hat überaus liebevolle und  verständnisvolle Eltern. Das zeigt vor allem die folgende Aussage des Vaters: „Wünsch dir nicht dein Leben weg. Dinge passieren. Manchmal ist es gut, manchmal schlecht, manchmal unerwartet. Wir müssen einfach tun, was wir können, und damit umgehen lernen.“
Genau diese Botschaft macht das Buch so wichtig. Es urteilt nicht. In keiner der Szenerien bewertet irgendjemand Lizzie und ihre Entscheidung. Dieses Fehlen von Bewertungen ist sehr befreiend, denn jeder Leser kann sich seine eigene Meinung bilden. Dieser Roman liefert viel mehr eine Hilfestellung und ermutigt auf jeder Seite, sich anderen Menschen anzuvertrauen, mit ihnen zu reden, ihren Rat und ihre Erfahrung einzuholen. Hier werden keine vorschnellen Entscheidungen allein getroffen, sondern das Leben in all seinen Facetten und Spielarten dargestellt. Denn das Leben lässt sich eben nur bedingt planen. Wendungen und Schicksalsschläge gehören bekanntermaßen dazu, doch die Haltung mit der wir sie annehmen, macht den Unterschied zwischen Katastrophe oder gelingendem Leben. Lucy Hay liefert ein hervorragendes Beispiel dafür.

Lucy Hay: Bauchentscheidung, Übersetzung: Christiane Steen, Rowohlt Verlag, 2013, 224 Seiten, ab 13, 8,99 Euro

London calling…

ashton place 2Fortsetzung sind ja manchmal so eine Sache. Die Erwartungen sind hoch, die Fallhöhe auch. Umso schöner, wenn sich auch in einem zweiten Teil das gleiche Gefühl und die gleiche Wonne wie beim Vorgänger einstellt. So geschehen gerade bei Maryrose Woods Fortsetzung von Das Geheimnis von Ashton Place.

In Teil zwei, Die Jagd ist eröffnet, reist Penelope Lumley, Gouvernante und Swanburne-Mädchen aus vollem Herzen, mit den drei Unerziehbaren Alexander, Beowulf und Cassiopeia, nach London. Dort will Penelope ihre ehemalige Erzieherin Miss Mortimer treffen. Diese hat der 15-Jährigen einen Hixby-London-Reiseführer geschickt, der sich mit seinen Berg- und Naturbildern als überaus merkwürdig und wenig hilfreich erweist. So irrt Penelope nach der Ankunft in der Großstadt durch die schmutzigen Gassen und findet den Weg in die vornehme Muffinshire Lane nicht, wo ihre Arbeitgeber Lady Constance und Lord Frederick eine hochherrschaftliche Villa angemietet haben.

Hilfe bietet ihr schließlich der junge Theaterschriftsteller Simon Harley-Dickinson, der sich im Laufe von Penelopes London-Aufenthalt zu einem unverzichtbaren Freund entwickelt. Zuvor jedoch haben die drei Kinder eine unheimliche Begegnung mit einer alten Wahrsagerin, die beim Schicksal der Unerziehbaren erschreckt ihre Sachen zusammenpackt und das Weite sucht, nachdem sie geheimnisvoll prophezeit hat: „Die Jagd ist eröffnet.“

Penelope jedenfalls ist fest entschlossen, ihren Schützlingen die Sehenswürdigkeiten und kulturellen Höhepunkte der britischen Hauptstadt näherzubringen: Buckingham Palace, die Parks, das British Museum, in dem ihr der Hixby die Abteilung 17 „Übermäßiger Symbolismus in historischen Porträts von untergeordneter Bedeutung“ ausdrücklich ans Herz legt, sowie eine Theaterveranstaltung im Westend. Zudem trifft sie sich mit Miss Mortimer im angesagtesten Hotelrestaurant der Stadt. Und die alte Erzieherin warnt Penelope, ohne genau zu sagen, vor was eigentlich. So entwickelt sich der London-Trip zu einem mysteriösen Abenteuer, bei dem die junge Gouvernante langsam erahnt, dass  hinter der Herkunft der Kinder, aber auch ihrer eigenen, etwas Größeres stecken muss.

Alexander, Beowulf und Cassiopeia, die mittlerweile annähernd gutes Benehmen erlernt haben, fallen hin und wieder in ihre alten Jagdgewohnheiten zurück. Sie belagern die Bärenmütze von einer der Palastwachen, helfen im Zoo bei der Elefantenpflege, jagen in der Theateraufführung einen Papagei und sabotieren das ganze Spektakel. Im British Museum allerdings stellt Beowulf überaus fachmännisch fest, dass eines der Bilder auch auf dem Dachboden von Ashton Place zu finden ist.

Und also ob das nicht schon genug Aufregung wäre, erleben auch die Herrschaften von Penelope durchaus Schreckliches: Lady Constance, die sich auf all die gesellschaftlichen Empfänge und Einladungen gefreut hat, katapultiert sich ins Society-Abseits, als sie unangemessen verkleidet zur Prämiere des Theaterstücke „Piraten auf Urlaub“ erscheint.   Für die Klatschpresse ein gefundenes Fressen, für Lady Constance der Absturz.
Ihr Gatte Lord Frederick hingegen entpuppt sich als ein Mensch, der ohne seinen Almanach, in dem die Mondphasen verzeichnet sind, nicht leben kann. Als dieses wichtige Büchlein verschwindet und gerade einmal wieder Vollmond ist, gebärdet sich der Lord höchst merkwürdig, heult, bellt und kratzt sich an Türrahmen, als würde ein Wolf in ihm stecken.

Die Jagd ist eröffnet ist ein kurzweiliges, extrem unterhaltsames Abenteuer in einer großen Stadt, mit einer überaus liebenswerten Penelope, die sogar überlegt, mit ihrer launischen Herrin Freundschaft zu schließen. Kulturelles vermischt sich mit Kulturkritik, die zwar den erwachsenen Lesern eher offensichtlich sein wird als den jungen. London-Kenner haben Wiedererkennungsmomente, London-Neulinge bekommen erste Hinweise auf die Sehenswürdigkeiten. Neben den vielen Irrungen und Aufregungen sind jedoch die Anspielungen auf Herkunft und verwandtschaftliche Beziehungen zwischen Penelope, den Kindern und Lord Frederick viel wichtiger. Und gerade all diese Andeutungen machen mich schon ganz kribbelig, wie dieses Geheimnis von Ashton Place wohl ausgehen mag. Bleibt nur zu hoffen, dass Band 3 nicht allzu lange auf sich warten lässt.

Maryrose Wood: Das Geheimnis von Ashton Place – Die Jagd ist eröffnet, Übersetzung: Eva Plorin, Thienemann Verlag, 2012, 336 Seiten,  ab 11,  12,95 Euro

 

Konventionen über Bord

vier beutel asche boris kochIch möchte ein neues literaturwissenschaftliches Thema zur Untersuchung vorschlagen: Welche Rolle spielt die Asche von Verstorbenen im zeitgenössischen Roman oder auch Film? Mir scheint, immer öfter taucht dieses Motiv in Geschichten auf … neuestes und sehr beeindruckendes Beispiel ist der Roman Vier Beutel Asche von Boris Koch.

Jans bester Freund, Christoph, ist kurz vor seinem siebzehnten Geburtstag bei einem Verkehrsunfall getötet worden. Jan hadert und kann sich mit dem Verlust nicht abfinden. Er sucht nach Gründen für den Tod des Freundes und will ihn rächen. Doch Jan bringt es nicht fertig, dem Autofahrer, der Christoph angefahren hat, ernsthaften Schaden zuzufügen. An Christophs Geburtstag geht Jan nachts zum Grab des Freundes und trifft dort auf Maik, einen Kumpel, der sich gerade eine Kugel in den Kopf jagen will, weil er sich für Christophs Tod verantwortlich fühlt. Jan hält ihn auf. Plötzlich tauchen auch noch Selina, Christophs Freundin, und Lena auf, von der niemand weiß, in welchem Verhältnis sie zu Christoph stand.

Jeder der Jugendlichen ist auf seine Weise über den Tod des Freundes bestürzt und sucht einen Weg, damit weiterleben zu können. Einig sind sich die vier am Grab dann aber ganz schnell, dass Christoph hier in dem kleinen Dorf bei Augsburg nicht begraben sein sollte. Er wollte weg und hatte sich als letzten Willen eine Seebestattung gewünscht. Nach anfänglichem Zaudern kommen sie überein, dem toten Freund diesen letzten Willen zu erfüllen. Sie graben die Urne aus und füllen seine Asche in vier Plastikbeutel. Noch in der Nacht machen sie sich auf einem Motorrad und einem Roller nach Frankreich auf, in das Dorf, wo Christoph Ferien gemacht hatte.

Auf dem Weg ans Meer erlebt das Quartett all das, was zu einem klassischen Road Roman dazugehört: Das wenige Geld, das sie für Lebensmittel und Benzin dabei haben, wird ihnen geklaut, Essen und Sprit müssen also geschnorrt werden. Sie treffen auf feierwütige Franzosen, gehen der Polizei aus dem Weg, weil sie fürchten wegen Grabschändung und Leichenraub verhaftet zu werden – wobei sie nicht einmal wissen, ob bei der Asche von einer Leiche gesprochen werden kann. Und sie kommen sich näher. Sie erzählen, wie sie Christoph kennengelernt und was sie mit ihm erlebt haben. Draufgänger Maik ist mit ihm nackt einen Berg heruntergeskatet, Selina hat mit ihm auf der Müllhalde Frösche und Schrott fotografiert, für Jan war Christoph wie ein Bruder, mit dem er gekickt hat, und Lena hat miterlebt, wie Christoph sich schützend vor die Mutter stellte, als sein Vater mal wieder zugeschlagen hat. Peu à peu kommen die Geheimnisse der Jugendlichen heraus, und sie müssen feststellen, dass niemand von ihnen Christoph bis ins Kleinste gekannt hat.

Jan ist erleichtert, dass Lena, in die er sich im Laufe der Tour immer mehr verliebt, nichts mit Christoph hatte. Denn für ihn wäre die Freundin des besten Freundes tabu. So jedoch entwickelt sich zwischen den beiden eine zarte Liebe – die wiederum den Unwillen von Selina erregt.
Nach einem Abstecher nach Paris gelangen die vier schließlich nach Finistere und lassen Christophs Asche in den Atlantik gleiten. Verändert und gereift kehren sie nach Hause zurück.

Boris Koch rührt mit Vier Beutel Asche an einem Tabu: Darf man das? Darf man die Asche eines Toten wieder ausgraben, um einen letzten Willen zu erfüllen? Manchen Menschen wird das sicherlich zu weit gehen, gegen die Konvention und den guten Ton. Die sollten dann die Finger von diesem Buch lassen. Für alle anderen werden sich diese Fragen ganz schnell nicht mehr stellen. Denn ja, man darf das, wenn das Motiv so eine Herzensangelegenheit ist wie bei diesen vier Helden. Der Konventionsbruch wird zum fesselnden Startpunkt für eine Reise ins Erwachsenen-Dasein. Die Jugendlichen lernen sich nicht nur gegenseitig kennen, sondern auch die Facetten des Lebens – das Gefühlschaos der Jugend, die Gewalt der Erwachsenen, die Nähe des Todes und das Recht auf Geheimnisse, das jeder Mensch hat.

Koch erzählt schnörkellos, geradeheraus und bringt damit den großen Lebens-Themen den nötigen Respekt entgegen. Herausgekommen ist dabei ein Pageturner, den man nicht eher aus den Händen legt, bevor die letzte Seite erreicht ist und man als Leser endlich sicher ist, dass Christophs letzter Wunsch erfüllt ist und Jan und seine neuen Freunde auf dem richtigen Weg ins Leben sind.
Und Kochs Hommage an The Big Lebowski und die gegen den Wind verstreute Asche von Donny ist einfach überaus charmant …

Boris Koch: Vier Beutel Asche, Heyne fliegt, 2012,  384 Seiten,  ab 15, 17,99 Euro

Kunterbunter Erkenntnisgewinn

fabelhafte Entdeckung Ranga Yogeshwar34 Sätze. Mehr stehen nicht in diesem Buch. Gut, es ist ein Bilderbuch, da braucht man meist nicht viele Sätze. Aber diese 34 Sätze reichen aus, eine der universellen Weisheiten auf eine herzallerliebste  Weise zu erzählen.

Der Physiker und Fernsehmoderator Ranga Yogeshwar hat zusammen mit der Illustratorin Nina Dulleck ein indisches Märchen in das lebenskluge Bilderbuch Die fabelhafte Entdeckung einer kleinen Weisheit von großer Bedeutung verwandelt. Darin ziehen die beiden Hunde Kala und Lakshimi durch den Wald. Kala ist klein und ängstlich. Lakshimi stolz und furchtlos. Sie kommen an einen Tempel und im Inneren erleben sie Sonderbares. Kala trifft dort lauter knurrende Hunde, die ihn fürchterlich anfletschen. Als Lakshimi jedoch hineingeht begegnet sie nur netten schwanzwedelnden Artgenossen. Die Auflösung ist großen und auch kleinen Lesern, wie ich neulich beim Vorlesen feststellen musste, natürlich sofort klar: Die Hunde stehen in einem Spiegelsaal. Und der wird zum Sinnbild unseres Sprichwortes „Wie es in den Wald hineinschallt, schallt es hinaus“.

Ist diese Geschichte an sich schon eine ganz wunderbare Fabel, so wird sie durch die Illustrationen zu einem wahrlich fabelhaften Kunstwerk. Bereits das erste der doppelseitigen Bilder versetzt den Betrachter in den indischen Dschungel – und macht klar, dass es sich lohnt, ganz genau hinzuschauen. In dem grünen Blattwerk lauert nicht nur der Tiger, sondern flattern Schmetterlinge und andere großäugige Insekten zwischen wunderschönen Blumen. Im Hintergrund schimmern märchenhafte Paläste. Flora und Fauna werden immer vielfältiger und exotischer, ganz allmählich schleicht sich ein Elefant ins Bild, hangelt sich ein Affe herab. Es ist eine Wonne. Die beiden Helden sehen zudem so knuffig aus, dass man sie auf der Stelle adoptieren möchte. Und wenn am Ende noch Chamäleon, Pfau und Tapir Lakshimis liebvoll vorgetragener Moral lauschen, hat man sein Herz vollends an dieses Bilderbuch verloren und freut sich ungemein aufs erneute Vorlesen und Entdecken.

Ranga Yogeshwar/Nina Dulleck: Die fabelhafte Entdeckung einer kleinen Weisheit von großer Bedeutung. Ein indisches Märchen, Fischer Schatzinsel, 2012, 32 Seiten, Kindergartenalter, 14,99 Euro

Pünktchen des 21. Jahrhunderts

roxy sauerteig
Eigentlich hätte ich schon längst mal wieder einen Roman von Erich Kästner lesen wollen, so zur Entspannung und Erbauung, doch neulich habe ich eine ebenbürtige Geschichte aus dem aktuellen Herbstprogramm entdeckt, nämlich Roxy Sauerteig von Katharina Reschke.

Darin zieht Roxy mit ihrer Mutter in ein kanarienvogelgelbes Haus mit delfinblauer Tür in Berlin-Mitte. In dem etwas heruntergekommenen Haus bewohnen sie das luxussanierte Dachgeschoss mit eigenem Lift und allem Drum und Dran. Aber das ist Roxy, im Gegensatz zu ihrer Etepetete-Mutter, völlig schnuppe. Das Mädchen ist ganz wild auf „Abendteuer“. Nein, kein Tippfehler, sondern einer von Roxys Spezialausdrücken, von denen es im Buch nur so wimmelt. Roxy ist überzeugt, dass sich Abenteuer hauptsächlich abends abspielen, wenn es schon dunkel ist, und daher sollten sie nach Roxys Meinung auch so genannt werden.

Gleich in der ersten Nacht macht sich Roxy auf und erkundet die Hintertreppe, von der die Hauswartsfrau gesagt hat, dass die eigentlich niemand benutzt, außer … So ein unfertiger Satz reizt das Mädchen ungemein, und schon steht sie eine Etage tiefer bei Herrn Grindelmann in der Wohnung. Dort ist alles bis unter die Decke mit Dingen vollgestellt, denn Herr Grindelmann sammelt Dinge von der Straße auf, die andere weggeworfen haben, die aber noch zu gebrauchen sind, und gibt ihnen ein Zuhause. Grindelmann ist Einzelgänger, trinkt „Äußere-Ruhe-und-innere-Ordnung-Tee“ und kann mit Kindern so gar nicht. Das wiederum schreckt Roxy überhaupt nicht. Mit Vorwitz und Neugierde drängt sie sich in das Leben des Nachbarn und steckt schneller, als sie denken kann, in einer richtigen Detektivgeschichte.

Dabei spielen ein entwendeter Schokoladenbrunnen, das Bild eines Feldblumenstraußes sowie die anderen geheimnisvollen Nachbarn aus dem Haus wichtige Rollen. Ich könnte jetzt den Inhalt des Buches noch weiter ausführen, aber das würde eigentlich viel zu viel von der Spannung nehmen und dem Charme dieser Geschichte ganz und gar nicht gerecht. Denn das Tolle daran ist die kleine Protagonistin. Roxy läuft immer mit einer quietschgrünen Taucherbrille und Gummistiefeln herum, hat ihr rosanes Rüschenkleid, das der Mutter so gefällt, grün gefärbt und von allem Firlefanz befreit. Außerdem ist Roxy ein Sprachgenie. Sie schreibt an einem Lexikon mit ganz besonderen Ausdrücken: Da findet sich der „Blütaniker“, der sich selbstverständlich mit Blüten beschäftigt; „dov“ steht für „D.epp o.hne V.erstand“ und „Wissenschaffer“ sind Menschen, die eben Wissen schaffen. Alles herrlich einleuchtend und ganz im Sinne und in der Tradition von Erich Kästners Pünktchen. Mit ihrem unkonventionellen und frischen Denken betrachtet Roxy also die Umwelt und bringt die Erwachsenen um sie herum ziemlich aus dem Tritt. So kommt sie am Ende nicht nur einem Kunstfälscher-Skandal auf die Schliche und befreit einen Goldfisch, sondern sie löst im Leser auch den unstillbaren Drang aus, es ihrem leuchtenden Beispiel sofort nachzutun. Man möchte seine Mitmenschen auf ihre verschrobenen Verhaltensweisen ansprechen, immer und überall nachbohren und sich auf gar keinen Fall mit den scheinbar unabänderlichen Gegebenheit zufrieden geben.

Wenn das die Kinder, die Roxys Geschichte lesen, dann tatsächlich auch machen, werden sie sich im Laufe der Jahre – hoffentlich – zu selbstbewussten, unkonventionellen, unangepassten und kritischen Menschen entwickeln, von denen diese Welt nicht genug haben kann. Ich glaube, Erich Kästner hätte Roxy Sauerteig gefallen…

Katharina Reschke: Roxy Sauerteig. Das 4. Obergeheimnis links, Illustrationen: Susanne Göhlich, Baumhaus Verlag, 2012, 224 Seiten,  ab 8, 12,99 Euro

Suppenglück und Märchenmacht

suppe satt es war einmalJetzt ist es draußen wieder dunkel, grau und ungemütlich, da braucht der Mensch etwas Warmes. Sowohl für den Leib, als auch für die Seele. Suppe ist bekanntermaßen ideal für den Leib und wärmt so richtig schön durch. Die Seele findet immer wieder in Märchen Trost und Erbauung. Eine Kombination aus beiden ist also die perfekte Winterwohltat – und die findet man in dem Bilderbuch von Kristina Andres: Suppe, satt, es war einmal.

Mathilda lebt mit ihrer Mutter im Wald. Draußen heulen die Wölfe und würden am liebsten Ziegen und Hühner fressen und die Kinder aus dem Dorf rauben. Doch Mathilda hat keine Angst vor den Wölfen, auch als ihre Mutter weit weg zur Königin muss und das Mädchen für einige Zeit allein lässt. Denn Mathilda hat von ihrer Großmutter drei mächtige Worte gelernt: „Suppe“, „satt“ und „es war einmal“. Und so kocht sie am Abend einen großen Topf Linsensuppe mit Speck, füllt die Wölfe damit ab, dass die so satt sind, dass sie weder Ziege noch Huhn anrühren. Danach erzählt das Mädchen den struppigen Vierbeinern eine Geschichte.  Erst am nächsten Morgen schickt sie die Wölfe fort. Nur der kleinste versteckt sich unter Mathildas Bett und will nicht mehr raus.

So geht es nun Abend für Abend, bis schließlich alle Wölfe unter Mathildas Bett stecken. Sie stellt fest, dass es so nicht weitergehen kann. Also packt sie die Wölfe unter ihren warmen Wintermantel und verteilt die gebändigten Tiere im Dorf. Nachbarn, die sich weigern einen Wolf aufzunehmen, droht sie damit, ihn wieder in die Kälte zu entlassen, wo er wieder wild und feindselig werden würde. Dieses Risiko will natürlich kein Dorfbewohner eingehen.

Winter, Wölfe, Ziegen – man denkt natürlich unweigerlich an das Grimm’sche Märchen Der Wolf und die sieben Geißlein. Und wird dann von Kristina Andres mit einer ganz feinen und sehr leckeren Märchen-Variation überrascht. Ihre federleicht gezeichneten und anheimlig kolorierten Bilder versetzen den Betrachter in eine kuschelige Winterhütte, in der es jede Menge zu entdecken gibt. Denn Mathildas Häuschen beherbergt jede Menge Bewohner, und die machen es sich in allen möglichen Ecken und Winkeln bequem. Der alte Holzofen, auf dem die Suppe überkocht, verbreitet eine behagliche Wärme, die an den Wänden aufgehängten Kräuter und Tannenzweige verströmen würzigen Duft. Man kann die Wölfe verstehen, die sich vor dem Fenster drängen, dass sie in dieses kleine, behagliche Winterparadies möchten. Die Frechheit der Miniziege, die die Eindringlinge schließlich mit Äpfeln beschießt, nehmen sie dafür stoisch – oder sollte man sagen, pappsatt – in Kauf.

Suppe, satt, es war einmal von Kristina Andres geht ans Herz, wärmt das Gemüt und hat das Potential, zur Lieblingsspeise in Sachen Vorlese-Bilderbücher bei den Kindern zu werden. Denn an den Bildern kann man sich gar nicht satt sehen, immer findet man etwas Neues, und dass Mathilda den allerkleinsten Wolf schließlich „Hund“ tauft, fügt diesem Märchen einen menschheitsgeschichtlichen Aha-Effekt hinzu, der einfach genial ist.

Kristina Andres: Suppe, satt, es war einmal, Bloomsbury Verlag, 2012, 32 Seiten, ab 3, 14,99 Euro

Romeo und Julia 2.0

Okay, zugegeben, der Titel dieses Blogeintrags könnte etwas in die Irre führen. Im Roman Herbstattacke stirbt niemand, weder durch Mord noch durch Selbstmord, auch Gift kommt nicht vor. Dennoch geht es in diesem Debüt von Nataly Savina heftig zur Sache.

Leo, fast 16, ist mit seiner Mutter Rosa in eine neue Stadt gezogen. Die Eltern haben sich getrennt, Rosa leidet darunter und kratzt sich ihre Neurodermitis-geschundenen Beine immer wieder auf. Leo versucht, in der neuen Schule Anschluss zu finden, wird aber erst einmal von der Gang um der persischstämmigen Jungen Malik abgezogen und auf die Probe gestellt.

In diesen Tagen des Neuanfangs begegnet Leo der schönen Farsaneh – und verliebt sich auf den ersten Blick in das Mädchen. Sie ist jedoch meistens mit ihrem kleinen Bruder Babak unterwegs oder mit ihrer Freundin Leila. Leo kommt nicht so recht an sie heran. Dann muss er auch noch feststellen, dass sie die Schwester von Malik ist. Und der achtet streng darauf, dass Farsaneh nicht mit Jungs rummacht. So wie es in seiner Kultur eben üblich ist. Dennoch gelingt es Leo, ein paar Worte mit ihr zu wechseln und ihr Interesse zu entfachen. Sie tauschen Blicke und finden schließlich die Gelegenheit sich auch mal allein zu sehen, für kurze Minuten in einer fremden Wohnung, in der Farsaneh die Katzen füttert.

Im Laufe der Zeit verschafft sich Leo in Maliks Gang den nötigen Respekt. Er macht bei den „Wettbewerben“ mit, die die Jungs veranstalten, um sich selbst zu beweisen. Sie jagen Briefkästen mit Böllern in die Luft, brechen Autoantennen ab, klauen Liegestühle aus einem Café. Rüpeln durch die Gegend. Leo hofft dabei immer, Farsaneh zu treffen, doch die Regeln der persischen Familie sind streng und scheinen unüberwindbar für einen Deutschen.

Irgendwann will Farsaneh die heimlichen Treffen mit Leo nicht mehr und macht Schluss. Doch da ist die Leidenschaft bei beiden füreinander bereits entbrannt. Nach ein paar Tagen treffen sie sich noch einmal in der Katzenwohnung, und dort fallen sie quasi übereinander her. Als Farsaneh nach dem ersten Sex wieder zur Besinnung kommt, breitet sich die Panik in ihr aus, und sie schickt Leo weg. Dieses Mal endgültig. Leo ist darüber so frustriert, dass er seine Wut in einer Kurzschlussreaktion an einem Studenten auslässt, den die Gang wenig später foppt, und ihn brutal zusammenschlägt.

Savina schildert das Leben der Jugendlichen schonungslos, und alle haben irgendwie ihr Päckchen zu tragen: Ich-Erzähler Leo muss in dem Gefühlschaos der ersten Liebe auch noch mit der Nachricht klarkommen, dass sein Vater mit seiner neuen Freundin ein zweites Kind bekommt. In Farsanehs und Maliks Familie fehlt die Mutter, die bei der Geburt Babaks gestorben ist. Einer der Jungs aus der Gang muss für seinen drogenabhängigen Bruder klauen. Das ist zum Teil harter Tobak, aber so klar und ohne Wertung erzählt, dass es der Geschichte Tiefe und Glaubwürdigkeit verleiht. In Herbstattacke können sich Jungs und Mädchen gleichermaßen mit ihren Erfahrungen und Lebenswirklichkeiten wiederfinden. Dass es kein Happy End gibt, Farsaneh die Stadt verlassen muss und Leo sein Glück nicht findet, unterstreicht den realistischen Anspruch dieser Geschichte. Das Leben ist eben kein Ponyhof und so manche große Liebe hat in dieser Welt einfach keine Chance. Das war schon bei Romeo und Julia so. Diese Buch liefert also keine eskapistische Unterhaltung, sondern den Trost des Wiedererkennens. Und das ist seine große Stärke.

Nataly Savina: Herbstattacke, Chicken House, 2012, 135 Seiten, ab 14, 9,95 Euro

Entzückerstoff

zorgamazooEpen sind in unserer Zeit zu einer Seltenheit geworden. Außer man hegt eine Leidenschaft für die Klassiker und greift zur Ilias oder zur Odyssee. Doch es gibt Hoffnung für die Freunde von gereimten Geschichten: Robert Paul Weston hat mit Zorgamazoo ein modernes, frisch-freches Epos geschaffen, das Uwe-Michael Gutzschhahn in bewunderungswürdiger Weise ins Deutsche übertragen und nachgedichtet hat.

Zorgamazoo erzählt die Geschichte des Mädchens Katrina Katrell, die eines Tages auf den wuscheligen, aber liebenswürdigen Zorgel Mortimer Yorgel trifft. Ein Zorgel ist ein pelziges Fantasiewesen aus der Unterwelt. Morty arbeitet bei der Zorgel-Zeitung „Underwood Telegraph Rumor Review“ und soll das Verschwinden der Bewohner des Zorgel-Dorfes Zorgamazoo aufklären. Doch Morty ist alles andere als ein investigativer Reporter. Er hasst das Abenteuer und würde lieber nur  von den Zorgelball-Spielen berichten.

Katrina hingegen ist auf der Flucht vor ihrer fiesen Ziehmutter, die ihr am liebsten das Hirn herausoperieren lassen würde. Das Mädchen fasst Vertrauen zu dem netten Morty und macht sich mit ihm zusammen auf die Suche nach den verschwundenen Zorgeln. Schon nach kurzer Zeit finden die beiden heraus, dass alle fantastischen Wesen der Erde entführt wurden – und werden selbst auf den Mond verschleppt. Dahinter stecken die Bewohner des Planeten Grauballon-Vier. Auf diesem Planeten funktioniert alles mit Langweilerdampf. Doch der Rohstoff geht zu Ende und neue Quellen müssen her. Dafür soll die Langeweile auf der Erde erhöht und dann abgepumpt werden, also müssen dort erst mal alle Fantasiewesen verschwinden. Katrina jedoch gelingt es, die Wesen – Seejungfrauen, Trolle, Zorgel, Kobolde, Feen, Yetis und das Loch-Ness-Monster – zu befreien. Aus der Absaugermaschine für Langweilerdampf macht sie ein Gerät für die Produktion von kunterbunten Entzückerstoff-Gas und bringt alle wieder auf die Erde zurück.

Das Feuerwerk der Fantasie, das in diesem Epos abgebrannt wird, sucht seinesgleichen. Fantastische Welten und fantastische Wesen drängen in den grauen Alltag. Katrina als aufgeweckte, mutige Heldin nimmt ihrem schüchternen Zorgel-Freund die Ängste. Mit ihrer Liebe für alles Ungewöhnliche und Fantastische macht sie unmissverständlich klar, dass die Welt eine bessere und buntere ist, wenn auch andere Wesen in ihr leben dürfen.  Zorgamazoo ist ein klares Plädoyer für mehr Fantasie im Alltag. Daran mangelt es uns manchmal wirklich sehr, wenn man sich so umschaut. Gleichzeitig ist Zorgamazoo für mich in seinem Subtext ein Bekenntnis für Vielfalt und Diversity, quasi ein Appell für Multikulti und die Akzeptanz des Fremden. Auch daran mangelt es in diesem Land immer noch.

Verpackt ist diese an sich schon entzückende Geschichte in konsequent gereimte Verse. In seiner Nachdichtung bedient sich Übersetzer Uwe-Michael Gutzschhahn bei den unterschiedlichsten Sprachregistern. Da wird schon mal ganz antiquiert „gewamst“ (geprügelt), aber auch ziemlich derbe geflucht oder vom „Lotto-Boss“, „Superhelden“ oder „Job“ gesprochen. Alte Sprache trifft hier auf neue; und was in anderen Texten nicht funktionieren würde, passt hier perfekt zusammen. So zeigt sich die Vielfalt und Buntheit auch in der Sprache und führt zu knuffigen Reimen in einem mitreißenden Rhythmus.

Graphisch ist der Text eine Augenweide: Verschiedenste Schrifttypen unterstreichen die Charaktere der Figuren, hüpfende und mäandernde Worte und Zeilen ziehen den Leser auf einer rasanten Achterbahnfahrt durch das Buch und machen jede Seite zu einem neuen, spannenden Leseerlebnis. Die Illustrationen des Spaniers Victor Rivas an den Kapitelanfängen runden alles zu einem höchst amüsanten Gesamtkunstwerk ab.

Am Ende der Lektüre bleibt ein wunderschöner Effekt zurück: Der Singsang der Reime begleitet einen durch den ganzen Tag – und die Welt wird bunt von diesem Entzückerstoff.

Doch so ein Entzückerstoff entsteht nicht von selbst – hinter der deutschsprachigen Variante von Zorgamazoo steckt unglaublich viel Arbeit, das Herzblut und die Disziplin des Übersetzers. Damit sich jeder Leser ein etwas genaueres Bild von dieser Leistung machen kann, habe ich Uwe-Michael Gutzschhahn zur Entstehung seines Textes befragt.

Herr Gutzschhahn, wie ist Ihre Nachdichtung entstanden: Haben Sie zuerst eine Rohfassung ohne Reime angefertigt? Oder haben Sie gleich in Reimform gearbeitet?
Nein, ich habe von der ersten bis zur letzten Zeile sofort gereimt, anders geht es nicht. Wenn ich erst den Inhalt übersetzt und dann versucht hätte, die Form zu finden, wäre ich nicht mehr frei gewesen, eine deutsche Reimfassung herzustellen. Ich hätte den ganzen Wust an Dingen, den Robert Paul Weston im Englischen leicht in einer Zeile unterbringt, in einem komplizierten deutschen Satz gehabt, der sich nicht mehr hätte schrumpfen lassen. Das heißt, man muss von Zeile zu Zeile spielen, wo eine Reimmöglichkeit auftaucht, und dann den Inhalt hineinsortieren.

Haben Sie sich auf das epische Format irgendwie vorbereitet, z.B. durch die Lektüre von anderen Epen?
Es gibt ja nicht viele neuere gereimte Romane. Und die alten Epen haben einen ganz anderen Rhythmus, eine ganz andere Metrik. Ich bin mit Balladen und allen anderen Arten von Gedichten vertraut, insofern war das eher der Zugang, nicht irgendeine romanlange gereimte Form. Das muss man einfach probieren, und dann braucht es ein musikalisches Gespür, einen Sinn dafür, wie sich Sätze in eine Form geben, wie sie klingen, ein Tempo bekommen, einen Rhythmus.

Zorgamazoo ist – für mich – kein Text, den man stundenlang runterschreiben kann. Wie sind Ihre Verse entstanden? Nur am Schreibtisch? Oder auch im Park, im Auto, unter der Dusche …
Um ehrlich zu sein, indem ich Tag für Tag stundenlang am Schreibtisch gesessen und sozusagen runtergeschrieben habe. Ohne diese Disziplin wäre es nicht gegangen, wäre ich wahrscheinlich immer noch bei den ersten zwanzig Seiten.

Wie sehr ist der Originaltext mit Wortspielen durchsetzt, die nicht übertragbar waren?
Jeder – auch ganz prosaische – literarische Text ist mit unübersetzbaren Wortspielen gespickt. In einem Buch wie Zorgamazoo hat man durch die strenge metrische Form sowieso den Zwang, auswählen zu müssen, welches die unverzichtbaren Teile des Textes sind und welches die entbehrlicheren. Denn die deutsche Sprache läuft länger, es gibt anders als im Englischen wenig einsilbige Wörter. Sie brauchen für jede Aussage des Originaltextes in der Übersetzung mehr Platz, also müssen Sie umgekehrt reduzieren, denn die Form einschließlich der Zeilenzahl pro Seite war ja vorgegeben und unverrückbar. Dass für ein Erzählgedicht, eine Ballade am ehesten ein vierhebiger Takt in Frage kommt, ist schon für das Tempo der Geschichte wichtig. All das muss man im Kopf haben und dann dort ein Wortspiel nutzen, wo es sich ergibt. Das ist vielleicht ein paar Verse später oder ein paar Verse früher als im Original, aber es muss funktionieren, darf nicht erzwungen wirken. Es gibt aber auch den umgekehrten Fall, dass man mehr Wort- oder auch Reimspiele findet als im Original stehen, dann habe ich mir die Freiheit erlaubt, das Spiel weiterzutreiben.

Wie frei haben Sie sich vom Original machen müssen, machen können?
Inhaltlich ist die Übersetzung natürlich identisch mit der Originalversion von Robert Paul Weston. Wie ich aber einen Weg finde, die Geschichte auf Deutsch zu erzählen, sodass sie glaubhaft in die gereimte Form passt, das ist immer eine Frage der Abwägung. Mein Bestreben ist es, so nah wie möglich am Originaltext zu bleiben. Jeder noch so kleine Eingriff muss begründet sein, muss sich gegenüber der Geschichte rechtfertigen lassen. Nur weil etwas schön klingt oder rhythmisch gut passen würde, gehört es nicht in die Übersetzung hinein.

Im deutschen Text treffen die unterschiedlichsten Sprachregister aufeinander – alte Sprache trifft auf ganz aktuelle Ausdrücke, es wird derbe geflucht: War das im Original auch so oder ist das ein „Zugeständnis“ an die Reimform?
Nein, genau das meine ich, wenn ich sage, nur weil etwas schön klingt oder rhythmisch passt, gehört es nicht in die Übersetzung. Die verschiedenen Sprachebenen sind auch im Englischen da. Und im Englischen kann man noch viel variantenreicher derb sein als im Deutschen.

Gab es außer den Reimen weitere Schwierigkeiten?
Die ganz üblichen, die man immer als Übersetzer hat. Vor allem, dass man im Deutschen vieles nicht so einfach und knapp formulieren kann wie im Englischen.

Wie lange haben Sie an der Übersetzung gearbeitet?
Vier Monate.

Wie viele Durchgänge haben Sie gebraucht, bis die Endfassung stand?
Acht Durchgänge plus zwei mit meinen Lektoren.

Wie sind Sie für den Text honoriert worden: pro Zeile, pro Strophe, pro Seite?
Pauschal und mit Hilfe einer Übersetzungsförderung durch das Canada Council for the Arts.

Haben Sie irgendwann in Reimen geträumt?
Nein.

Robert Paul Weston: Zorgamazoo, Nachgedichtet von Uwe-Michael Gutzschhahn, Illustration: Victor Rivas, Jacoby & Stuart,  2012, 285 Seiten, ab 10, 16,95 Euro

Verdrängen, vergessen, verstehen

Amerika liegt im OstenEigentlich weiß ich ja, dass man Bücher nicht nach ihren Covern beurteilen soll. Dennoch komme auch ich nicht umhin, immer mal wieder in diese Falle zu tappen – im Guten, wie im Schlechten. Dieses Mal lag das Buch von Heike Schmidt schon ziemlich lange auf meinem Schreibtisch. Eins von diesen leichten Mädchenbüchern, dachte ich,  und schob es von einer Seite auf die andere, bis ich neulich anfing zu lesen – und eines Besseren belehrt wurde.

Der Roman Amerika liegt im Osten geht zur Sache und an Herz. Die 17-jährige Motte ist bis über beide Ohren in den coolen Lukas, genannt Laser, verliebt und würde alles tun, nur um mit ihm zusammen zu sein. Selbst als er auf einer Party eine Prügelei anfängt, die Schuld jedoch dem polnischen Schüler Pavel in die Schuhe schiebt, der daraufhin der Schule verwiesen werden soll, hält Motte zu ihrem Schwarm. Dabei hat sie die Schlägerei mit dem Handy gefilmt und könnte für Gerechtigkeit sorgen. Tut sie aber nicht. Stattdessen versucht sie, an Geld zu kommen, um in den Ferien Laser nach Amerika hinterher zu fliegen. Dafür ist sie sogar bereit mit ihrem ungeliebten Urgroßvater Hermann, den sie nur abfällig Ice H. nennt, in das Heimatdorf der Urgroßmutter in Tschechien zu fahren.

Urgroßmutter Liesel leidet an Demenz und versinkt mehr und mehr in das Vergessen. Ein Zustand den Ice H. nicht erträgt. Er hofft, den Verfall seiner Frau durch eine Reise in die Vergangenheit aufhalten zu können. Wenn Motte die beiden alten Herrschaften fährt, will er dem Mädchen tausend Euro geben. Motte lässt sich darauf ein – und in nur drei Tagen wandelt sich ihre Sicht, auf die Urgroßeltern, auf die deutsche Geschichte, auf ihr eigenes Verhalten in der Schule.

Von der anfänglichen Liebesgeschichte, die Heike Schmidt mit lockerer Sprache dicht an den Jugendlichen erzählt, verschiebt sich im Laufe des Buches der Fokus immer weiter zu einer eindrücklichen Schilderung von Demenz und Vergangenheitsbewältigung. Die 17-Jährige erlebt hautnah mit, wie schnell die Urgroßmutter in das Vergessen abdriftet, den eigenen Mann nicht mehr erkennt, sich aber hervorragend an Geschehnisse aus der Kindheit in Kriegszeiten erinnert. Für Motte ist das alles zunächst sehr verwirrend und irritierend, war die Vergangenheit in der Familie bis dahin nie ein Thema und wurde konsequent verdrängt. Doch die Konfrontation der alten Dame mit ihrem Geburtshaus reißt die Wunden von damals wieder auf, und Motte muss feststellen, dass selbst ihr Urgroßvater nicht alles über seine Frau weiß.

Heike Schmidt gelingt es die fernen Geschehnisse des Krieges in die Gegenwart zu holen, ohne pathetisch zu werden oder eine heroische Bewältigungsgeschichte daraus zu machen. Sie zeigt die Nöte der Überlebenden – die Urgroßmutter wurde von russischen Soldaten vergewaltigt, der Urgroßvater litt jahrelang in Kriegsgefangenschaft, beide wollten die Qualen vergessen und sprachen nicht darüber. Und sie zeigt das Unverständnis der Jugend, die davon zumeist kaum noch etwas weiß. Oder es nur abstrakt aus Geschichtsbüchern erfährt. Die Auseinandersetzung der Generationen mit dem Erlebten, die Erinnerung und die Erklärungsversuche sind schmerzlich für beide Seiten, und doch führt das alles sie näher zusammen. Mottes Groll auf den Urgroßvater verraucht, die Urgroßmutter wird zum Kind, das beschützt werden muss.

Und Motte lernt aus dem Vergangenen, wie sie sich in ihrer Gegenwart gegenüber ihren Mitschülern verhalten sollte. So gestärkt findet sie zu einer erwachsenen Haltung gegenüber Laser und lässt das pubertierende Verliebtsein hinter sich. Besser hätte man das Konzept „Lernen aus der Vergangenheit“ wohl nicht umsetzen können.

(Und hätte das Cover des Buches davon auch nur einen Hauch angedeutet, hätte ich darüber vielleicht schon viel eher gebloggt …)

Heike Eva Schmidt: Amerika liegt im Osten, Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag, 2012, 213 Seiten, ab 15, 12,95 Euro.

Art Spiegelman packt aus…

metamaus art spiegelmanLange ist es her, dass ich den Comic Maus  von Art Spiegelman in den Händen hatte. Doch jetzt musste ich die beiden Bände (ich habe noch die „Originalausgaben“ aus den 90er Jahren) aus dem Regal ziehen und mich erneut in diese schreckliche Geschichte versenken. Wieder war ich gebannt und erschüttert, genau wie vor 20 Jahren, als ich zum ersten Mal von den Erlebnissen von Spiegelmans Eltern in Auschwitz  gelesen habe. Auslöser für die Neulektüre ist das Buch MetaMaus, ebenfalls von Spiegelman, das jüngst auf Deutsch (in der Übersetzung von Andreas Heckmann) erschienen ist.

Hierin gibt Spiegelman Einblicke in die Entstehung von Maus und seine Arbeitsweise, denn mittlerweile hat er es wohl satt, die immergleichen Fragen zu seinem Opus Magnum zu beantworten. Daher hat er Hillary Chute, Professorin an der Universität von Chicago, in langen Gesprächen die die drei wichtigsten Fragen beantwortet: Warum der Holocaust? Warum Mäuse? Warum Comics?

Spiegelman holt dafür ausführlichst aus – man wird dabei ständig auf die Parallele zu den Gesprächen mit seinem Vater Wladek gestoßen, die er für Maus geführt hat. Zugleich hat er sein Archiv mit Familienfotos, ersten Maus-Skizzen, Entwürfen, Bildern, Büchern und Zeichnungen geöffnet, die ihn selbst bei seiner Arbeit inspirierten. So hat man mit MetaMaus nun beides vor sich: ein Bilderbuch, zum Blättern und Schauen, mit z.T. in Deutschland unveröffentlichten Comic-Strips von Spiegelman, und eine Dokumentation, wie Maus in 13 Jahren Arbeit aus einer kleinen dreiseitigen Urfassung zu einem der wichtigsten Bücher über die Judenverfolgung und den Holocaust geworden ist.

maus art spiegelmanDer Comiczeichner, der weiterhin von Maus als Comic spricht und sich nicht der Umetikettierung auf Graphic Novel anschließt, ja diese Begrifflichkeit eher verabscheut, berichtet von seinem Hadern, nicht nur mit dem Vater, sondern viel mehr auch mit den zeitgeschichtlichen Widrigkeiten der 70er- und 80er-Jahre, als die Aufarbeitung des Holocaust noch keine Selbstverständlichkeit war. Er fürchtete sich vor der Banalisierung des eigentlich Unaussprechlichen und vor der Verkitschung des Genozids. Dass er diesen Fallstricken gekonnt ausgewichen ist, erkennt man nun beim dem wissenden Neu-Lesen noch deutlicher.

Aber MetaMaus ist mehr als ein Werkstattbericht. Es ist eine Hommage an die amerikanische Comic-Geschichte, in der Spiegelman Krazy Kat, Little Nemo und Disneys Kreaturen seine Aufwartung macht. Zudem zeigt sich im Laufe von Spiegelmans Berichten und Erklärungen, dass sich ein Werk irgendwann von seinem Schöpfer emanzipiert und Deutung anderer Leser und Kritiker zulässt und sogar bestätigt. Hat Scott McCloud 1993 mit Comics richtig lesen die formale Entstehung eines Comics genauesten erklärt und analysiert, so entwickelt Art Spiegelman hier quasi ein Lehrbuch, wie man einen Comic inhaltlich erarbeitet und daraus formale Entscheidungen fällt.

MetaMaus liegt eine DVD, die neben der digitalisierten Form von Maus mit weiterem umfangreichen Material ausgestattet ist. Beeindruckend sind die englischen Tonbandaufnahmen von Spiegelmans Gesprächen mit seinem Vater (im Buch sind die übersetzten Transkripte abgedruckt). Wladeks Stimme bringt dem Hörer sein Schicksal und die Schrecken des Holocaust ganz nah. Man ist geschockt und berührt: Geschockt von dem Horror, den Spiegelmans Eltern überlebt haben; berührt von Art Spiegelmans Leistung, sich über lange Jahre mit seinem Vater so intensiv auseinandergesetzt zu haben. Man fragt sich, was heldenhafter war – seinen Vater auszufragen, zum Reden zu bringen, sich seine Geschichte in aller Ausführlichkeit anzuhören – oder die anschließende Auseinander- und Umsetzung in zutiefst bewegende Bilder. Eins ist ohne das andere nicht denkbar, so wie ab jetzt Maus ohne MetaMaus nicht mehr lesbar ist.

Mit MetaMaus hat Art Spiegelman ein Grundlagenwerk geschaffen – und das nicht nur für die Comic-Forschung, sondern auch für den Umgang mit dem Holocaust und seine Aufarbeitung. Ein Muss also nicht nur für Maus-Fans …

Art Spiegelman: MetaMaus. Einblicke in Maus, ein moderner Klassiker. Übersetzung: Andreas Heckmann, Fischer Verlag, 2012, 298 Seiten mit DVD, 34,00 Euro

Art Spiegelman: Die vollständige Maus. Die Geschichte eines Überlebenden. Mein Vater kotzt Geschichte aus; Und hier begann mein Unglück. Ausgezeichnet mit dem Pulitzer Prize 1992, Fischer Verlag, 2010, 293 Seiten, 14,95 Euro

Mut zur Veränderung

oma miethaie ich tanya lieskeEin unschönes Phänomen treibt seit ein paar Jahren viele Menschen in beliebten Großstadtvierteln um: Gentrifizierung, also die Verdrängung langjähriger Mieter aus ihren Wohnungen, damit diese nach einer (Luxus-)Sanierung zu einem höheren Preis neu vermietet werden können. Dass das nicht gerade eine gerechte oder soziale Sache ist, bleibt auch Kindern nicht verborgen. Die zehnjährige Salila aus dem Roman Oma, die Miethaie und ich von Tanya Lieske kann ein Lied davon singen.

Das Mädchen wohnt bei ihrer Großmutter Henriette Meister in Düsseldorf-Bilk. Ihre Wohnung ist zwar alt, dafür aber groß und gemütlich. Im Hinterhof steht eine alte Kastanie, auf die Salila immer klettert, und dort hat Oma auch ihre Werkstatt, wo sie „Reparaturen aller Art“ durchführt. Denn Oma hasst es, Dinge, die man noch mal heil machen kann, einfach wegzuwerfen. Und so repariert sie im ganzen Viertel Kaffeemaschinen, Porzellanfiguren oder quietschende Dielen. Für Salila ist Oma eine Heldin, die leckeres Supermüsli und den besten Kaffee der Stadt macht. Gemeinsam gehen die beiden auf Trödeljagd und suchen nach Schätzen zum Aufpolieren.

Eines Tages jedoch bekommt die Idylle einen Riss, denn im Viertel macht ein Immobilienbüro auf und bietet hübsch hergerichtete Altbauwohnungen zum Kauf an. Irgendwann sind dort auch Bilder von Salilas und Omas Haus zu sehen. Gleichzeitig findet Salila bei Oma einen wichtigen Brief, in dem die Worte „Erbfall“ und „großzügiges Angebot“ stehen. Salila versteht kein Wort, wagt es aber auch nicht Oma zu fragen, da diese die Briefe immer gleich wegwirft. Zusammen mit ihrem türkischen Freund Mehmet recherchiert Salila im Internet. Aber irgendwie hilft ihr das auch nicht weiter, weil Oma sich sehr merkwürdig benimmt und ihr immer wieder ausweicht. Also hört sich das Mädchen im Viertel um: Ihre Nachbarn ziehen zwar aus, aber Oma bräuchte eigentlich nur einen Brief an den neuen Hausbesitzer zu schreiben, dass sie nicht ausziehen will. Das kommt für Oma natürlich gar nicht infrage, und immer wenn Salila mit ihr über den Brief an den neuen Besitzer in Hamburg reden will, wird sie wütend. So schreibt Salila den Brief selbst – und kommt mit Mehmet schließlich darauf, dass Oma Henriette gar nicht lesen und schreiben kann. Nun fügen sich für das Mädchen die Puzzleteile von Omas merkwürdigem Verhalten zusammen: Plötzlich hatte sie die Brille verlegt und Salila musste ihr vorlesen, auf den Zetteln, die sich die beiden auf dem Küchentisch hinterlassen, malt sie Zeichnungen, keine Worte, die Unterschrift unter Salilas Zeugnis ist ganz krakelig. Es dauert jedoch  noch eine Weile, bis Oma ihre Schwäche eingesteht und erzählt, wie es dazu gekommen ist, dass sie nie richtig lesen und schreiben gelernt hat. Jetzt ist es so, dass sie nicht mal einen neuen Mietvertrag lesen und unterschreiben könnte. Und das macht ihr Angst. Doch zum Glück entdeckt Salila im Internet auch die Schule für Erwachsene – und ihr Brief nach Hamburg zeigt schließlich Wirkung, denn irgendwann steht der Miethai aus Hamburg vor der Tür …

Oma, die Miethaie und ich ist ein liebenswertes und warmherziges Buch über große Problemthemen unserer Zeit. In charmanten Alltagsszenen lernt man zwei starke Frauenfiguren kennen, Großmutter und Enkelin,  die mit Cleverness und Lebensfreude Hindernisse aus dem Weg räumen. So macht Tanya Lieske Mut, nicht die Augen  zu verschließen vor eigenen mangelnden Fähigkeiten. Und auch dem vermeintlich Unabänderlichen sollte man sich nicht einfach beugen. Dafür muss man allerdings schon mal auf die Barrikaden gehen und sich auch an die eigene Nase fassen. Denn für vieles gibt es eine Lösung, das macht die Autorin den jungen Lesern mit ihrer Geschichte unmissverständlich klar. Es gilt jedoch, die Herausforderungen anzunehmen, sich Hilfe zu suchen und Wandel zuzulassen, sei es im Stadtviertel oder im eigenen Leben. Und manchmal geht es dann ganz anders aus, als man am Anfang vermutet …

Tanya Lieske: Oma, die Miethaie und ich, Illustrationen: Daniel Napp, Beltz & Gelberg, 2012, 207 Seiten,  ab 8, 12,95 Euro

Botschaft der Freiheit

gritt poppe abgehauenNeulich gab es im Fernsehen mal wieder eine dieser Umfragen, mit der das vermeintliche Unwissen der Bevölkerung dokumentiert werden sollte. Dieses Mal: Was wissen die Jugendlichen vom Fall der Mauer, der Wiedervereinigung und den Geschehnissen in der DDR vor 23 Jahren? Nicht viel, wie die zusammengeschnittenen Film-Schnippsel propagieren sollten. Darüber kann man sich natürlich sofort aufregen und die scheinbar mangelnde Qualität des Geschichtsunterrichts in den Schulen anprangern – oder aber die perfiden Mittel der TV-Macher, die mit Zuspitzung und Auslassung arbeiten. Bleibt die Frage, wie man geschichtliche Ereignisse und vergangenen Lebensverhältnisse so vermittelt, dass sie auch bei denen im Bewusstsein bleiben, die sie nicht selbst miterlebt haben.

Im Fall der Wendezeit und dem zum Teil schwierigen Leben der Jugendlichen in der DDR bieten die Romane Weggesperrt und Abgehauen von Grit Poppe eine alternative Möglichkeit der Geschichtsvermittlung. Hatte die Autorin, die in der DDR geboren und aufgewachsen ist, bereits 2009 in Weggesperrt die Geschichte von Anja erzählt, die im Jugendwerkhof Torgau zu einer sozialistisch angepassten Genossin geformt werden sollte, so hat sie nun die Fortsetzung dazu geliefert.

In Abgehauen schildert sie das Schicksal der 16-jährigen Gonzo, der besten Freundin von Anja. Das Mädchen ist ebenfalls in Torgau inhaftiert. Sie wird von den Aufsehern schikaniert, psychisch und physisch gequält, in der Dunkelzelle tagelang mit Isolierhaft bestraft. Erst als Gonzo sich selbst so stark verletzt, dass sie ins Krankenhaus gebracht wird, gelingt ihr die Flucht. Orientierungslos irrt sie durch das Land – auch der Leser erfährt nie, wo sie sich genau aufhält – und trifft in einem Kleingarten schließlich René. Der Junge, der zu seinem Vater in der Bundesrepublik will, hat einen Plan und nutzt den Stimmungswandel im Land. Zusammen schlagen sich die Jugendlichen nach Prag durch, um in der westdeutschen Botschaft Zuflucht zu suchen.

Zunächst müssen sich die beiden in der tschechischen Hauptstadt durchfragen, bevor sie  schließlich auf der Kleinseite zum Palais Lobkowitz gelangen. Zusammen mit anderen Flüchtlingen klettern sie über den Zaun auf der Rückseite des Gebäudes und befinden sich nun offiziell auf dem Gebiet der Bundesrepublik. Doch Gonzo, deren Seele durch die unfassbaren Erlebnisse im Jugendwerkhof Torgau Schaden genommen hat, traut dem Ganzen nicht. Immer wieder piesackt ihr innerer Punk sie mit Selbstzweifeln und der Skepsis gegenüber ihrer Umwelt. So traut sie weder den anderen Flüchtlingen noch René und auch den möglichen Veränderungen nicht.

Die Zustände in der Botschaft werden immer unerträglicher. Immer mehr Menschen flüchten auf das Gelände, die Schlafplätze werden knapp, der Botschafter selbst gräbt Zierbüsche aus, um Platz für die Flüchtenden zu schaffen, für Toilettengänge und Essensausgabe müssen die Menschen stundenlang anstehen. Gonzo bewegt sich in dieser Masse wie eine Außerirdische, vom ständigen Zweifel und dem Punk in ihrem Kopf gepeinigt. Als endlich am 30. September 1989 Hans-Dietrich Genscher auf den Balkon der Botschaft tritt und den berühmtesten Halbsatz der Geschichte spricht, keimt die erste richtige Hoffnung bei Gonzo auf …

Über die Zustände in der deutschen Botschaft in Prag habe ich so bis jetzt noch nirgendwo gelesen (vielleicht ist mir da was entgangen, dann bitte ich um Aufklärung). Die Fernsehbilder von Herrn Genscher auf dem Balkon kenne ich natürlich und irgendwie treiben sie mir jedes Mal wieder Tränen in die Augen – und genau diesen Effekt hatte nun auch die entsprechende Szene im Buch auf mich. Man ist ganz nah dran am Geschehen, wird scheinbar Teil der deutschen Geschichte, leidet und freut sich mit der Heldin. Genau das ist die Art von Geschichtsdarstellung, die sich unvergesslich ins Hirn der Leser einbrennt, denn die Kombination von Fakten und Gefühlen macht es einem leicht, Geschehnisse nachzuempfinden und somit auch zu behalten. Das ist Grit Poppe hier ausgesprochen gut gelungen. Nach der Lektüre von Abgehauen wird wahrscheinlich kein Jugendlicher mehr sagen, dass er nichts über den Mauerfall und die Deutsche Einheit weiß.

Grit Poppe: Abgehauen, Dressler Verlag, 2012, 334 Seiten, ab 14, 9,95 Euro

Grit Poppe: Weggesperrt, Oetinger Taschenbuch Verlag, 2012,  Ausgezeichnet mit dem Gustav-Heinemann-Friedenspreis 2010, 330 Seiten, ab 14, 6,95 Euro