Von Schuld und Unschuld

schuldGute Bücher über den Fall der Mauer und die Flucht aus der DDR gibt es zuhauf, zum Beispiel  Tonspur. Das Schicksal der Kinder von Stasi-Mitarbeitern wird eher selten literarisch verarbeitet. Die Lebensläufe von Kindern hauptamtlicher Stasi-Mitarbeiter hat Ruth Hoffmann vor zwei Jahren in ihrem Sachbuch Stasi-Kinder erzählt.

Nun liefert Grit Poppe einen Jugendbuch-Roman zu diesem Thema. Schuld spielt in den Jahren 1988/89 sowie 1992 und erzählt von den 15-jährigen Jugendlichen Jana und Jakob.
Jana kommt neu in eine Schule am Rande von Ostberlin. Vom ersten Moment an fühlt sie sich zu dem Außenseiter Jakob hingezogen. Dessen Eltern haben einen Ausreiseantrag gestellt. Jakob selbst schreibt und verteilt illegal Flugblätter, engagiert sich im Neuen Forum und kämpft für Meinungsfreiheit. Eines Tages gibt er Jana ein solches Flugblatt, das sie bei sich zu Hause versteckt.

Als diese Flugblätter auch in der Schule auftauchen, fliegt Jakob erst von der Schule, später finden Stasileute einen weiteren Entwurf mit einem Aufruf zur Demo bei ihm. Der Junge kommt in Untersuchungshaft, wird verurteilt und in das Jugendgefängnis Halle gesteckt.
Jana ist verzweifelt. Zum einen, weil sie nicht weiß, wann und ob sie Jakob wiedersehen wird, zum anderen, weil ihre Eltern, linientreue Sozialisten, beständig gegen sie und ihre Beziehung zu Jakob arbeiten. Sie verbieten ihr schließlich, Jakob zu schreiben.
Jana ist da jedoch schon lange in der Protestbewegung engagiert, in die Jakob sie eingeführt hat, und lässt sich von ihrem Weg nicht abbringen.

Grit Poppes Roman Schuld schildert die letzen Jahre der DDR konsequent aus den Perspektiven von Jana und Jakob. Vor allem bei Jana ist das sehr beeindruckend gelungen, den das Mädchen durchschaut erst nach und nach das Überwachungssystem der DDR. Die Rebellion gegen den Staat geht mit der Rebellion gegen die Eltern einher – das verzahnt Poppe so geschickt, dass man eigentlich nicht weiß, was zuerst war. Allerdings bleibt Jana die perfide Ausspionierung durch den eigenen Vater bis zu letzt verborgen. Nur im Leser, vor allem im erwachsenen, macht sich ein fieses Gefühl von Abscheu breit.
Mit Jakob hingegen erlebt man die grausamen Zustände, die in den DDR-Jugendknästen geherrscht haben. Nach ihren Romanen Weggesperrt und Abgehauen zeigt Poppe auch hier noch einmal, wie sehr Jugendliche in der DDR gelitten haben, wenn sie nicht dem Ideal der vorgegebenen Doktrin entsprachen.

25 Jahre nach dem Mauerfall macht Grit Poppe mit ihren Büchern die dunkle Geschichte der DDR für junge Leser anschaulich und lebendig. Was in den Schulen meist nur als Faktenansammlung vermittelt wird, reichert sie mit Gesichtern, persönlichen Schicksalen und jeder Menge Emotionen an. Schuld legt man daher nicht mehr aus der Hand, man leidet mit den beiden Helden bis zur letzten Seite mit, ist gleichzeitig erleichtert, wie frei wir heute leben, wundert sich dann aber auch, wie wenig momentan noch protestiert wird (Gründe gäbe es genug).

Grit Poppe: Schuld, Dressler Verlag, 2014, 365 Seiten, ab 14, 9,99 Euro

Jedem Ende wohnt ein Maulzauber inne

maulina 3Nein, man möchte das nicht. Dass es vorbei ist. Mit Maulinas Mama und mit dieser Geschichte. Man wünscht Maulina ein maultastisches Happy End. Und man möchte unbedingt und auf jeden Fall wissen, wie es mit Maulina weitergeht. Aber irgendwann hat alles ein Ende. Jetzt ist der letzte Teil von Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmitt von Finn-Ole Heinrich erschienen. Man weint nicht nur, weil darin Maulinas Mama schließlich wirklich stirbt.

Noch ein drittes Mal erzählt Maulina von ihrem Leben in Plastikhausen, ihrer kranken Mama, die immer schwächer wird, von ihrem Freund Paul und dessen Hund Kurt, vom General für Käse und dem Maulzauber. Das Leben schreitet voran, unerbittlich, und doch auch zauberhaft, liebens- und lebenswert. Maulina redet wieder mit dem Mann. Dieser ist mittlerweile zum zweiten Mal Vater geworden, von den Zwillingen Theo und Ron. Nur deren Mutter, der „Flamingo“, raubt Maulina noch den letzten Nerv.
Aus dem Dachboden über Mauldawien hat Maulina Maultropolis gemacht und baut dort ein Museum für Mama, in dem sie alle möglichen Erinnerungsstücke – vom Schal bis zur Haarlocke – sammelt.
Bei allen Veränderungen, den guten, wie den schlechten, steht Paul ihr rührend und unerschütterlich zur Seite, ebenso wie Ludmilla und der General für Käse. Maulina verliert ihre Mama, und das ist an Traurigkeit nicht zu überbieten. Aber sie kann auf ein dichtes Netz an Menschen zählen, die ihr Halt geben.

Maulinas Schicksal wünscht man keinem Kind, egal, wie alte es ist. Und doch genau diese Dinge passieren. Täglich. Und als Erwachsener steht man da und fragt sich, wie Trost möglich sein kann. Finn-Ole Heinrich zeigt eine mögliche Art von Trost und Trauer: erinnern, feiern, maulen. Das hört sich hier vielleicht ziemlich schräg an, aber so wie Heinrich das Maulina erzählen lässt, überzeugt es sofort. Jedenfalls mich.

Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmitt finden mit Ende des Universums ein würdiges Ende. Das geht allerdings nicht ohne Tränen. Das Herz scheint zu reißen, gleichzeitig ist es erfrischt und hoffnungsfroh. Maulina – das ist mal klar – vergisst man nicht so schnell, dafür vermisst man sie bereits, sobald die letzte Seite gelesen ist.

Bleibt nur noch zu sagen, dass die Illus von Rán Flygenring wieder einmal ganz wunderbare Ergänzungen, Leckerbissen und Schauzeug bieten. Und die liefern bei all der Trauer und Schwere die richtige Portion an visueller Leichtigkeit.

Finn-Ole Heinrich: Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmitt – Das Ende des Universums, Illustrationen: Rán Flygenring, Hanser Verlag, 2014, 192 Seiten, 12,90 Euro

Dingens … äh … supa!

lüftnerRecherche ist ja oft sehr hilfreich und manchmal unumgänglich. Ich recherchiere ganz gern … aber heute hat es mir das erst mal so richtig ein Bein gestellt.
Da wollte ich ganz harmlos nachschauen, warum mir das Phänomen Kai Lüftner bis jetzt entgangen ist, was ich so alles verpasst habe, weil ich tausend andere Dinge auf dem Zettel hatte. Ich also recherchiert, gelesen, gekuckt und irgendwann bei Lüftners Auftritt bei Markus Lanz gelandet. Darin erzählt er nicht nur von seinen Büchern, sondern muss die ziemlich unbeholfenen Fragen von Herrn L. zu seiner sehr traurigen Familiengeschichte beantworten.
Daraufhin musste ich erst einmal Wäsche waschen und bügeln und nachdenken, wie ich meine Begeisterung für sein Buch Das Kaff der guten Hoffnung mit diesen Infos zusammenbringe. Wahrscheinlich bringt man so etwas nie zusammen, und ich sollte das gar nicht erst versuchen, weil das nur zum Scheitern verurteilt ist und das Buch ja für sich stehen muss.

Und das Buch steht sehr gut für sich. Als eine durchgeknallt liebenswerte Geschichte um vier Außenseiter, auch Makel-Kids genannt, die im Waisenhaus „Zur guten Hoffnung“ auf dem Berg Gigantokatepetel untergebracht sind und so gut wie keine Chance haben je adoptiert zu werden, zu sehr sind sie mit Unvollkommenheiten, wie Stottern, Hässlichkeit, psychischen Dämonen geschlagen. Gemeinsam jedoch nehmen Kalle, Röschen, Theobald und Magda es mit skurrilen Gegenspielern wie der Heimleiterin Griselde Galgenstrick und Graf Arg von Hinterlist auf. Letzterer will aus dem Waisenhaus und dem auf dem Berggipfel gelegenen Fulminantolaboratorium von Professorprofessor Gunnar Gabriel Gagga ein Luxus-Hotel machen. (Was ein Fulminantolaboratorium ist, erfährt man im Buch… also: lesen!)

Lüftner, versierter Gag-Schreiber für landesweit bekannte Comedians, spart bei der Rettung des überaus miesen Zuhauses der vier Makel-Kids nicht mit Späßen, Wortwitz und -neubildungen. Er erzählt schnodderig, frech und erhebend respektlos. Für kleine und im Herzen junggebliebene Leser genau der richtige Stoff für Kurzweil und Lachanfälle.
Bei all dem greift Lüftner auf den klassischen Erzähler zurück, der sich immer wieder in das Geschehen einmischt. Damit verbrüdert dieser sich zum einen mit den Lesern, schlägt eine Brücke zwischen ihnen und der Geschichte, nimmt gleichzeitig aber auch all dem Schrecken (ein Waisenhaus! eine doofe Heimleiterin! Gauner! Schläger! Verbrecher! Gefahr!) die Spitzen, so dass sich niemand wirklich schlimm gruseln muss.
Das etwas abrupte Ende in Teil 1 vom Kaff wird mit Sicherheit im zweiten Teil aufgegriffen. Man ist hier eh schon so angefixt von Lüftners Schreibe und seinen Figuren, dass man auf jeden Fall weiterlesen wird. Zum Glück erscheint Teil 2 bereits im September – und Teil 3 ist angeblich auch schon geschrieben …

War ich vor meiner Recherche von Das Kaff der guten Hoffnung schon ziemlich begeistert, so trage ich nun allerhöchste Achtung vor Kai Lüftner, seiner Kunst und seiner ungebrochenen Lebensfreude in mir.  Seine Berliner Schnauze bringt mich zusätzlich immer zum Grinsen, so dass ich am liebsten einfach nur sagen möchte: Dit is knorke! Aber ich bin nun mal Hamburgerin und da heißt das dann: Dascha stahk!

Kai Lüftner: Das Kaff der guten Hoffnung – Jetzt erst recht! Illustration: Dominik Rupp, Fischer Sauerländer, 2. Aufl. 2014, 208 Seiten, ab 8, 9,99 Euro

[Jugendrezension] Gewagte Klettertour

strobelFür zehn Jugendliche – im Roman Abgründig von Arno Strobel – verläuft ihr Aufenthalt im Bergcamp Grainau anders als gedacht. Das Bergcamp Grainau ist nicht weit von der Zugspitze entfernt. 60 Jugendliche nimmt es jedes Jahr im Mai auf, die dort das Klettern lernen wollen. Das Alter der Jugendlichen variiert. Die Hälfte der Kinder sind über 14, die anderen darunter.

Ralf, ein 17-jähriger Junge aus München, war schon oft mit seinen Eltern klettern. Als er die kleinen Kletterwände sieht, an denen geklettert wird, will er etwas Spannenderes erleben: Eine Bergtour zur Zugspitze und wieder zurück, ohne Betreuer. Er kann noch neun andere Jugendliche, die alle totale Anfänger im Klettern sind, überzeugen, auf seine Tour mitzukommen. So schleichen sie sich am nächsten Morgen früh aus dem Camp und machen sich auf den Weg zur Zugspitze. Doch sie haben kein Glück, und der Weg läuft anders als gedacht ab. Ein schweres Unwetter zieht auf, und sie müssen in einer kleinen Hütte Unterschlupf suchen. Die Jugendlichen können keine Hilfe holen und müssen warten, bis das Unwetter vorbei ist.
Am folgenden Tag ist einer von ihnen verschwunden, und keiner weiß, was passiert ist. Außer Blutflecken gibt es keine Hinweise, was geschehen ist.

Ich finde Abgründig wirklich gut. Arno Strobel schreibt so lebendig, dass ich dieses Buch förmlich verschlungen und an einem Tag durchgelesen habe. Schade, dass das Buch nur 240 Seiten hat. Vielleicht ist dadurch das Ende sehr kurz geraten. Das hätte ich mir persönlich etwas anders gewünscht. Trotzdem ist das Buch wirklich klasse und sehr spannend. Deshalb kann ich es auf jeden Fall weiterempfehlen.

Laura (14)

Arno Strobel: AbgründigLoewe Verlag, 2014, 240 Seiten, ab 14, 9,95 Euro

Die Generationsbande

maxGenerationenhäuser sind ja gerade schwer in Mode. Wer kann, macht ein eigenes Wohnprojekt auf, in dem Alt und Jung unter einem Dach leben, sich umeinander kümmern und niemand vereinsamen muss. Eine schöne Vorstellung, so für mich, als Erwachsene.

Den 9-jährigen Max hat das Autoren-Duo Lisa-Marie Dickreiter und Winfried Oelsner in ein nicht ganz so hippes „Generationenhaus“ gesteckt. Um genauer zu sein, Max wohnt seit einer Woche in einem Seniorenheim, weil seine Mutter dort als Pflegekraft arbeitet. Das Heim ist zwar in einer echt coolen Ritterburg untergebracht, dennoch muss Max sich erstmal an die „alten Knacker“ gewöhnen. Meistens bringt er vor Verlegenheit keinen ordentlichen Ton heraus. Außerdem macht ihm Oberschwester Cordula mit ihren Regeln das Leben zur Hölle. Kinder im Seniorenheim sind bei ihr gar nicht gern gesehen.

Max‘ desolate Lage ändert sich erst, als ein Einbrechen den Schmuck von zwei Bewohnerinnen entwendet. Max ermittelt, und dabei helfen ihm die drei Bewohner von Tisch Nr. 7. Vera, die Schauspielerin, Kilian, der Professor, und Horst, der Fußballtrainer, haben als „Wilde Sieben“ ihren Ruf bei Oberschwester Cordula weg – denn die drei lassen sich so gut wie nichts gefallen. Die Wilde Sieben ist nämlich beileibe nicht auf den Kopf gefallen. Und Max auch nicht.

Dickreiter und Oelser lassen in dem ungewöhnlichen Schauplatz – ein Seniorenheim in einer Ritterburg – liebevoll ausgearbeitete Charaktere aufeinandertreffen. Der schlaue Max tritt zu seinem eigenen Bedauern völlig uncool und verdruckst auf. Doch die drei Alten, gestählt mit jahrelanger Berufserfahrung, bringen dem Helden die nötigen Kniffe bei, so dass sich Max im Laufe der Geschichte weiterentwickelt und aus sich raus kommt.
Hierin hat mich Max und die wilde 7 an Erich Kästners Geschichten erinnert, der auf der Seite der Kinder stehend ihnen immer von mutmachenden Vorbildern erzählt. Die jungen Leser können sich also auch hier von Max und seinen Senioren-Freunden eine Menge abschauen, ohne dabei von oben herab belehrt zu werden .
Gleichzeitig bietet die Detektivgeschichte jede Menge Spaß zum Mitfiebern und Raten. Quasi nebenbei erfahren die Leser, dass ältere Herrschaften, die in einem Seniorenheim leben, durchaus noch nicht scheintot sein müssen.

Die Verbindung zwischen den Generationen und das Verständnis für einander kann im Kinderbuch wohl nicht besser dargestellt und gefördert werden. Die treffenden Illustrationen von Ute Krause tragen ihren Teil dazu bei, dass man Max und die anderen Figuren sofort ins Herz schließt. Als Folge davon freut man sich nach diesem ersten Abenteuer der Wilden Sieben schon auf den nächsten Band.

Lisa-Marie Dickreiter/Winfried Oelsner: Max und die Wilde Sieben – Das schwarze Ass, Illustration: Ute Krause, Oetinger, 2014, 208 Seiten, ab 8, 12 Euro

[Jugendrezension] Auf der Suche

boyneDas Buch des irischen Autors John Boyne So fern wie nah handelt von dem zu Beginn kleinen Jungen Alfie, an dessen fünftem Geburtstag der erste Weltkrieg ausbricht. Sein Vater Georgie verspricht, nicht in den Krieg zu ziehen – und bricht dieses Versprechen gleich am nächsten Tag.

Vier Jahre später liest Alfie jeden Tag die Zeitung durch, auf der Such nach einer Meldung über seinen Vater, weil dieser seit längerer Zeit keine Briefe mehr geschrieben hat. Aber Alfie findet nichts: zum Glück, denn in der Zeitung stehen nur die Namen der Gefallenen und Verletzten.
Inzwischen arbeitet seine Mutter als Krankenpflegerin. Da sie aber nicht genug Geld verdient, arbeitet Alfie heimlich als Schuhputzer am Londoner Bahnhof King´s Cross. Einen Teil des Geldes gibt er seiner Mutter, den anderen Teil muss er für neue Schuhputzmittel ausgeben, denn der Vorrat in seiner Schuhputzkiste reicht nicht lange. Weil er jeden Tag junge Männer sieht, die in den Krieg ziehen – es ist inzwischen Pflicht, mit 18 Jahren Kriegsdienst zu leisten –, wird er oft an seinen Vater erinnert. Eine ganze Weile putzt er die Schuhe der Leute, bis der Name seines Vaters in der Zeitung unter den Verletzten steht. Am nächsten Tag hört Alfie zufällig am Bahnhof ein Gespräch zwischen seiner Mutter und einem Mann, in dem er erfährt, in welchem Krankenhaus sein Vater liegt: Er hat einen so genannten Granatenschock erlitten. Alfie fährt in dieses Krankenhaus, und ihm passiert nun Einiges, was ihn denken lässt, das Krankenhaus sei schlecht. Er findet seinen Vater schließlich bei den psychisch Geschädigten, wird aber nach so langer Zeit von diesem nicht erkannt. Als Alfie wieder zu Hause ist, beschließt er, seinen Vater dort herauszuholen …

Das Buch ist sehr ernst, daher ist es überhaupt nicht für Menschen geeignet, die gerne Witziges mögen. Es ist spannend und bewegend erzählt, sodass man über all die Jahre mit Alfie, der vom Kind zum Jungen wird, mitfiebert.

Ich empfehle das Buch von 10 Jahren an. Für Jüngere ist es sowohl wegen des Themas Krieg als auch wegen der Zusammenhänge, die sich beim Lesen manchmal erst hinterher ergeben, ziemlich schwer begreifbar.

Lector03 (11)

John Boyne: So fern wie nah, Übersetzung: Brigitte Jakobeit/Martina Tichy, Fischer KJB, 2014, 256 Seiten, ab 12, 12,99 Euro

 

Gegen das Schweigen

gensichenDie Zahlen sind erschreckend: Jedes Jahr werden in Deutschland 20.000 Fälle von Kindesmissbrauch angezeigt. Die Dunkelziffer liegt schätzungsweise bei dem zehn- bis zwanzigfachen. Viel zu oft schweigen die betroffenen Kinder und Jugendlichen, aus Scham, aus Angst, aus Abhängigkeit, aus Liebe.

Der Hamburger Psychotherapeut Simon Gensichen will mit seinem Buch Anpfiff Kindern und Eltern helfen und zwar auf doppelte Weise. Zum einen liegt es ihm am Herzen, sexuelle Gewalt zu verhindern, zum anderen zeigt er auf, wo Betroffene Hilfe finden und wie sie das quälende Schweigen überwinden können.
Gensichen nutzt dafür eine ungewöhnliche Mischung aus fiktiver Erzählung und Ratgeber.

Im ersten Teil des Buches erzählt Gensichen die Geschichte des 10-jährigen Olek und des etwa 15-jährigen Jan. Beide spielen im selben Verein Fußball.
Jan ist in Bente verliebt, kann jedoch mit seinen Emotionen nicht gut umgehen. Schnell rastet er aus, Nähe erträgt er nur schwer. Warum das so ist, weiß Jan nicht.
Olek ist neu in der Stadt, seine Mutter kommt aus der Ukraine. Freunde hat Olek noch nicht, daher ist er dankbar, dass Fußballtrainer Prott so nett zu ihm ist. Prott kümmert sich um Olek, als dieser beim Training verletzt wird, nimmt ihn mit auf die Kartbahn, lässt ihn bei sich zu Hause Computerspiele spielen, erlaubt ihm, Bier zu trinken. Dabei sucht Prott immer mehr die körperliche Nähe von Olek: Er streichelt ihn, küsst ihn auf die Wange, nötigt ihn, das nasse T-Shirt auszuziehen. Von Olek verlangt er, dass er niemandem von ihren „Geheimnissen“ erzählt. Olek hält sich daran – und gerät in Gefahr.
Gerade noch rechtzeitig können Jan und Bente ihn aus Protts Fängen retten.

In diesem Erzählteil zeigt Gensichen anschaulich, wie perfide die Täter oftmals vorgehen. Hilfsbereit und kumpelhaft auf der einen Seite, erpresserisch auf der anderen. Olek, der sich Freunde wünscht, durchschaut dieses gefährliche Spiel nicht.
Wie sich sexueller Missbrauch von kleinen Kindern auswirkt, macht die Figur Jan deutlich. Er wurde von seinem Vater missbraucht, kann sich aber nicht mehr daran erinnern. Vor Jahren hat die Mutter den Vater rausgeschmissen, ohne Jan die Gründe zu erklären, für die er damals einfach zu klein war. Aber Jans Emotionen, seine unzügelbare Wut, die Angst vor Nähe, deuten an, dass etwas nicht stimmt. Allein kann Jan das jedoch nicht lösen. Erst als die Mutter mit ihm über die Vorfälle in Jans Kindheit spricht, kann sich der Junge seinem Schicksal stellen.

Im zweiten Teil seines Buches, dem eigentlichen Ratgeber, erklärt Gensichen zunächst Jugendlichen, was alles zu sexueller Gewalt zählt, seien es vermeintlich harmlose Doktorspiele oder das gemeinsame Bad von Elternteil und Kind. Sobald ein Kind damit nicht einverstanden ist, aber gezwungen wird, wird die Grenze zur Gewalt überschritten. Gensichen macht den Kindern Mut, Nein zu sagen – und zwar „ohne Begründung“ –, wenn sie etwas nicht wollen oder ein Alarmgefühl sich in ihnen bemerkbar macht.
Erwachsene Leser finden anschließend Hinweise, wie sie die oftmals nonverbalen Hilferufe von Kindern und Jugendlichen erkennen und wo sie medizinisch, psychologische und rechtliche Hilfe bekommen können. Die entsprechenden Internetadressen und Telefonnummer sind im Anhang aufgelistet.

Der Mix aus fiktiver Erzählung und Ratgeber ist außergewöhnlich. Aber er funktioniert hervorragend, denn Gensichen erläutert im Sachbuchteil die psychologischen Hintergründe der fiktiven Alltagsszenen in Schule und auf dem Sportplatz. Jugendlichen Lesern bieten sich hier Identifikationsmöglichkeiten, sie können überprüfen, ob in ihrem Umfeld etwas nicht stimmt. Sie lernen, erste Gefahren zu erkennen und Schlimmeres im besten Fall abzuwenden.
Vor allem aber lernen sie, dass reden ganz wichtig ist. Nur wer einer Vertrauensperson sein Herz ausschütten und seinen Kummer erzählen kann, ohne dafür abgestraft zu werden, kann sich von seinen Peinigern befreien und anfangen, das schreckliche Geschehen zu verarbeiten.
Gensichens Buch ist ein erster, wichtiger Schritt, das schädliche Schweigen zu durchbrechen.

Simon Gensichen: Anpfiff. Gegen sexuelle Gewalt an Mädchen und Jungen. Ein Aufklärungsbuch für Jugendliche und Erwachsene, Ellert & Richter, 2014, 192 Seiten, 12,95 Euro

[Jugendrezension] Das Geheimnis in der Fahrradwerkstatt

ariaWas der Wind so alles kann…, darüber wirst du dich in dem Buch Aria – Das Schicksal fährt Fahrrad von Miriam Dubini noch sehr wundern … Um das nette Mädchen Aria, die allein mit ihrer Mutter lebt, dreht sich die Erzählung. Aria liebt es, Fahrrad zu fahren. Sie liebt es, wenn der Wind ihr ins Gesicht bläst und sie einfach nur allein mit ihrem Fahrrad namens Merlina unterwegs sein kann. Bei einem unerwarteten Zusammenstoß lernt sie Anselmo kennen, der Arias Freude am Fahrradfahren teilt.

Außerdem lernt Aria noch jemand anderen kennen, Emma, ein Mädchen, das neu in ihre Klasse kommt. Emma ist wild und steht auf shoppen. Einkaufen mag auch Lucia, die ebenfalls in ihre Klasse geht. Gemeinsam mit Aria wollen die beiden einen Bummel unternehmen, bei dem sie zufällig Anselmo begegnen. Lucia ist hin und weg von Anselmo, den sie unbedingt wiedersehen möchte. Und Aria?
Aria weiß nicht so genau, was mit ihr los ist. Mag sie Anselmo vielleicht auch? Auf jeden Fall tun die drei alles, um Anselmo wiederzutreffen. Und es findet sich auch direkt eine gute Möglichkeit für ein Wiedersehen. Anselmo arbeitet bei seinem Vater in einer Fahrradwerkstatt, in die sie Arias Fahrrad Merlina für völlig unnötige Reparaturaufträge bringen. Anselmo begegnen sie in der Werkstatt zwar nicht, dafür finden die Mädchen etwas sehr Merkwürdiges heraus. Was? Das wird an dieser Stelle nicht verraten, dass musst du schon selbst entdecken!

Mir gefällt das Buch Aria – Das Schicksal fährt Fahrrad sehr gut, denn es ist an einigen Stellen spannend, an manchen romantisch und an anderen Stellen wiederum witzig. Es gibt Abschnitte, an denen ich gezittert und gehofft habe, dass ALLES gut geht, bei anderen Abschnitten konnte ich mich wirklich mit Aria freuen. Die Geschichte ist so schön geschrieben, dass ich gefühlsmäßig beim Lesen live dabei war.

Ich empfehle das Buch für Mädchen im Alter von 11 bis 16 Jahren. Ich hoffe, dass viele von euch dieses Buch lesen werden, denn die Beschreibungen sind wirklich wunderschön und ich habe es als etwas Besonderes empfunden.

Bücherwurm (12)

Miriam Dubini: Aria – Das Schicksal fährt Fahrrad, Übersetzung: Ulrike Schimming, Thienemann Verlag, 2014, 208 Seiten, ab 12, 12,99 Euro

Zauberhafte Unterhaltung

ZauberladenDer neue Roman von Pierdomenico Baccalario, Der Zauberladen von Applecross, war für mich quasi Pflichtlektüre. Und zwar aus mehreren Gründen. Als Übersetzerin aus dem Italienischen, vornehmlich von Kinder- und Jugendbüchern, schaue ich mir immer gern an, was es Neues aus Italien in unseren Buchläden gibt. Zudem habe ich von Baccalario bereits selbst zwei, eigentlich drei Bücher übersetzt. Dazu später aber noch.

Baccalario ist ein Vielschreiber. In Deutschland kann man ihn als Verfasser der Ulysses-Moore-Reihe und der Century-Serie kennen. Von Ulysses Moore weiß ich, dass diese Zeitreisegeschichten bei den Kids sehr beliebt sind. Alle anderen Geschichten von Baccalario gehen hierzulande immer irgendwie unter – und das ist schade.

Der Zauberladen von Applecross ist nun einen gute Gelegenheit, sich von Baccalario eine kurzweilige Fantasy-Geschichte erzählen zu lassen. Der 13-jährige Finley lebt im schottischen Applecross, einem Marktflecken, der aus zwei Straßen besteht und in dem so rein gar nichts passiert. Finleys Vater züchtete Schafe, der ältere Bruder Doug nervt. Die schönste Abwechslung für Finley ist das Angeln im Fluss. Dafür schwänzt er so ausgiebig die Schule – bis er deswegen sitzen bleibt und zur Strafen in den Sommerferien im Dorf arbeiten soll. Als er bei der Post aushilft und den verletzten Postboten ersetzt, muss er einen mysteriösen Brief an eine geheimnisvolle Adresse ausliefern.
In einer felsigen Bucht an der Küste trifft er so auf einen noch mysteriöseren Zauberladen und das Mädchen Aiby und ihren seltsamen Vater. In Nullkommanichts steckt Finley zwischen magischen Artefakten, unlösbaren Rätseln, Riesen, Vergessenspulver und unheimlichen Begegnungen auf dem Friedhof. Bestes Lesefutter also, vor allem für Jungs. Der nächste Band ist bei den Übersetzerinnen Barbara Neeb und Katharina Schmidt auch schon in Arbeit.

Baccalario versteht es zu unterhalten. Da gibt es keinen erhobenen Zeigefinger, sondern jede Menge Humor, Selbstironie und fantasievolle Details. Diese sind von Iacopo Bruno in faszinierenden Illustrationen im Buch verbildlicht, so dass die jungen Leser nach vielen Textseiten auch was zu schauen und zu entdecken haben. Für mich als Teil der Generation Lesebrille waren in den Illus manche Texte jedoch viel zu klein gedruckt, um sie noch bequem entziffern zu können. Das ist allerdings eher ein Problem der Graphik, denn des Erzählers.

Ich würde es mir ja wünschen, wenn von Baccalario noch mehr auf Deutsch erscheint. In Italien sind so viel Bücher von ihm auf dem Markt, dass ich langsam den Überblick verliere. Aber darunter gibt es sicherlich noch so Einiges zu entdecken.
Was ich richtig schade finde, ist, dass von seiner Serie Will Moogley’s Geisteragentur nur Band 1 erschienen ist. Vor Jahren habe ich Band 1 und 2 in einem Schwung übersetzt. Band 2 liegt immer noch beim Verlag in der Schublade. Dabei sind dieser und die Nachfolgebände dieser Serie so liebenswert komisch und skurril, dass ich es wirklich nicht verstanden habe, warum diese Reihe nicht fortgesetzt wurde.

Pierdomenico Baccalario: Der Zauberladen von Applecross – Das geheime Erbe, Übersetzung: Barbara Neeb/Katharina Schmidt, Illustrationen: Iacopo Bruno, Coppenrath Verlag, 2014, 224 Seiten, ab 10, 12,95 Euro

[Jugendrezension] Was für ein Mensch willst du sein?

safierWenn ich an David Safier denke, kommen mir zuerst Komödien wie Mieses Karma oder Jesus liebt mich in den Sinn. Doch sein neues Buch 28 Tage lang ist anders: eine Geschichte über junge Leute im Widerstand gegen die Nazis. Safier hat es geschrieben in Gedenken an seine Großeltern, die in Buchenwald und Lodz umgekommen sind.

Polen, 1943: Das Leben im Warschauer Ghetto ist geprägt von Armut, Hunger und Furcht. Um ihre kleine Schwester Hannah durchzubringen, schmuggelt die 16-jährige Mira unter Lebensgefahr Nahrungsmittel. Die Mutter ist am Selbstmord des Vaters zerbrochen, der Bruder Simon lässt sich nicht blicken. Kraft gibt Mira ihr Freund Daniel, der in einem Waisenhaus lebt und sich um kleine Kinder kümmert.
Dann trifft Mira Amos. Er gehört einer jüdischen Untergrundorganisation an, die Widerstand bis in den Tod gegen die Deutschen leisten will. Amos ist überzeugt davon, dass diese sie alle töten werden.
Die Ereignisse überschlagen sich. Die Bewohner des Ghettos sollen „umgesiedelt“ werden. Mira gelingt es, rechtzeitig unterzutauchen. Sie beschließt, sich Amos und den anderen anzuschließen.
Die jüdische Untergrundorganisation kann eine Weile Widerstand leisten: 28 Tage lang. 28 Tage hat Mira Zeit, ihr Leben zu leben, ihre Liebe zu finden und herauszubekommen, was für ein Mensch sie sein will.

Den Aufstand im Warschauer Ghetto hat es wirklich gegeben. Die Hauptperson des Romans, Mira Weiss, ist ausgedacht. Sie erlebt, was die Aufständischen damals erlebt haben. Junge Leute lehnen sich gegen eine Übermacht auf, obwohl sie keine Chance haben. Sie machen Schlimmes durch, müssen Kameraden zurücklassen, sehen Menschen sterben und töten selbst. Dadurch verändern sie sich. Inmitten dieses Wahnsinns erleben sie das Gefühl der Freiheit.

David Safier schreibt in einer modernen Sprache, was aber passt. Dadurch versetzt man sich gut in die Personen hinein und bekommt das Geschehen hautnah mit. Gebannt habe ich es in einem Rutsch verschlungen.

Beim Lesen stellt sich die universelle Frage: Was für ein Mensch willst du sein? Jemand, der sich wehrt? Jemand, der sein Leben für andere opfert oder der andere für sein Leben preisgibt? Wie würde man an Miras Stelle handeln?

Auch wenn das Buch vom Zweiten Weltkrieg handelt, sind seine Themen aktuell und deshalb wirklich lesenswert.

28 Tage lang ist ein Buch über Mut und Feigheit. Über Fürchten und Wünschen. Über Liebe und Hass. Über Leben und Tod. Die Geschichte ist oft traurig und schockierend. Ich las sie trotzdem gern. Sie ist spannend, und ich habe darin viel über Menschen gelernt. Es gibt in ihr großartige Stellen von Zusammenhalt und Barmherzigkeit. „Solange es Leben gibt, gibt es Hoffnung“, sagt ein italienisches Sprichwort.

Juliane (15)

David Safier: 28 Tage lang, Rowohlt, 2014, 416 Seiten, ab 13, 16,95 Euro

[Jugendrezension] Transpazifisches Rätsel

ruthNaoko, Nao genannt, (gesprochen „now“) ist ein 16-jähriges Mädchen, das mit ihren Eltern von Sunnyvale (in den USA) nach Tokio umziehen muss. Jedoch beherrscht sie kaum die japanische Sprache und fühlt sich dort auch nicht wohl. Von ihren Mitschülern wird sie brutal gequält und schließlich ignoriert, so als wäre sie nicht da.
Auch zu Hause gibt es bei ihr nur Probleme: Ihr Vater ist arbeitslos und geht nur noch nachts aus dem Haus. Er hat schon mehrmals versucht, sich das Leben zu nehmen,  hat es aber noch nicht geschafft. Naos Mutter arbeitet und hat deshalb keine Zeit für sie. Der einzige Mensch, der wirklich für sie da ist, ist ihre 104 Jahre alte Urgroßmutter, Jiko Yasutani, die Zen-Buddhistische Nonne ist. Sie fängt Nao auf und kümmert sich um sie.

Nao und ihre Geschichte sind nur ein Teil des Buches. In dem anderen Teil lernt man Ruth kennen. Ruth lebt mit ihrem Mann Oliver auf einer kanadischen Pazifikinsel und findet Naos Tagebuch mit mehreren Briefen und einer alten Uhr in einer Hello-Kitty-Lunchbox, die in einem Gefrierbeutel verpackt ist. Ruth fängt an, das Tagebuch von Nao zu lesen. Sie interessiert sich für das Mädchen, deshalb recherchiert sie, wo sie nur kann. Immer wieder denkt sie darüber nach, ob Nao noch lebt und wie diese Hello-Kitty-Lunchbox an den Strand gekommen ist.

Ruth Ozeki, die Autorin von Geschichte für einen Augenblick, schreibt über mehrere Themen, wie zum Beispiel über Kamikaze-Piloten im Zweiten Weltkrieg, Quantenphysik und Mobbing.

Geschichte für einen Augenblick hat 559 Seiten, und Ruth Ozeki schreibt abwechselnd von Nao und Ruth. Am Schluss befinden sich noch fünf Anhänge. Trotz der vielen Seiten sollte man sich nicht abschrecken lassen und dieses Buch auf jeden Fall lesen, denn es lohnt sich.

Besonders die letzten 200 Seiten haben mir sehr gut gefallen und insgesamt regt das Buch auch zum Nachdenken an. Wird Ruth Nao finden? Lebt Nao überhaupt noch? Wie fühlt sich Nao?

Mir hat das Buch sehr gut gefallen, und ich kann es nur weiterempfehlen. 

Laura (14)

Ruth Ozeki: Geschichte für einen Augenblick, Übersetzung: Tobias Schnettler, S. FISCHER, 2014, 560 Seiten, 19,99 Euro

Aktuelles Erbe

Kann man zu Erich Kästner noch etwas sagen, was nicht längst schon gesagt wurde? Wahrscheinlich nicht. Aber man kann und sollte immer wieder an ihn erinnern. Und das will ich heute tun, denn vor 40 Jahren starb Kästner in München, 75-jährig. In memoriam habe ich kurzerhand noch einmal  Das fliegende Klassenzimmer und Das doppelte Lottchen gelesen.

kästner klassenzimmerDas Mutmacher-Buch über Johnny Trotz, Uli, Matze, Justus und den Nichtraucher stammt aus dem Jahr 1933. Kästner verpackt darin nicht nur die damals herrschende Armut in der Arbeiterschaft, sondern auch die Macht der Freundschaft und den Mut zu gesunden Menschenverstand. Gerade dieser Mut liegt Kästner am Herzen. Denn ohne Mut und Klugheit lässt sich das Leben nicht gut bewältigen. Das versucht er, den Kindern eindrucksvoll begreiflich zu machen. Mutig ist es demnach nicht, mit einem Regenschirm vom Turngerüst zu springen und sich dabei ein Bein zu brechen, nur weil man sonst als feige angesehen wird. Viel mutiger – und klüger – ist es, sich dem Druck der Mitschüler zu entziehen und sich im rechten Moment den Erwachsenen anzuvertrauen. Dieses Anti-Mobbing-Konzept gilt im Grunde auch heute noch. Womit man wieder bei dem unschlagbaren Punkt von Kästners Büchern ist: Selbst wenn sie über 80 Jahre alt sind, steckt in ihnen eine Aktualität, die immer wieder neu verblüfft.

kästner lottchenÄhnliches gilt für Das doppelte Lottchen. 1949 geschrieben ist das Lottchen vielleicht nicht ganz so „Problem belastet“. Hier erzählt Kästner die unterhaltsame Zwillings-Tausch-Geschichte um Luise und Lotte. Hinter der oberflächlich lustigen Verwechslungskomödie steckt das Drama von Scheidungskindern. Ist Scheidung per se schon meist eine unschöne Angelegenheit, so toppt Kästner das Elend noch, indem er die Zwillingsschwestern auseinander reißt, etwas, das uns heute unvorstellbar erscheint.
Auch hier hat Kästner ein Phänomen vorweggenommen, das heute immer mehr Familien betrifft, wird doch jede dritte Ehe geschieden. Jährlich stehen so in Deutschland über 130 000 Kinder vor zerbrochenen Familienverhältnissen. Kästner, der Moralist, der immer auf der Seite der Kinder steht, nimmt in seinem Roman die Eltern in die Pflicht. Das Wohl der Kinder hat bei ihm Vorrang vor den (Künstler)Wünschen der Eltern. So schenkt er Luise und Lotte ein herzerwärmendes Happy End.

Gibt es für die Scheidungskinder unserer Zeit meist nicht so einen glücklichen Ausgang, so können sie doch immer noch ein bisschen Trost und Rückhalt bei Erich Kästner finden. Und ohne das sollte kein Kind aufwachsen.

Erich Kästner:
Das fliegende Klassenzimmer,  Illustrationen: Walter Trier, Dressler, 169. Aufl. 2012, 174 Seiten, ab 10, 12 Euro
Das doppelte LottchenIllustrationen: Walter Trier, Dressler, 156. Aufl. 2006, 175 Seiten, ab 10, 12 Euro

 

[Jugendrezension] Leben im alten Rom

altes romWie wurde Rom zur Weltmacht? Wie lebten Kinder im alten Rom? Was haben die Römer uns hinterlassen?
Das Buch Altes Rom aus der Reihe „Wieso? Weshalb? Warum? Profi-Wissen“ von Dela Kienle gibt Antwort auf diese und viele andere Fragen. Es wird z.B. erklärt, wie die Römer ihre Freizeit verbrachten, wie das Wasser aus großer Entfernung in die Stadt kam und was die Römer zu genialen Baumeistern machte.

Die spannend und interessant geschriebenen, relativ kurzen Texte werden von vielen farbigen Abbildungen, Zeichnungen und einem Foto, in das etwas hinein gezeichnet wurde, begleitet. Die Zeichnungen sind sehr detailliert, indem sie viele kleine Einzelheiten zeigen, wie z.B. Vögel, eine in einem Fenster stehende Amphore, wehende Vorhänge (sofern es die bei den Römern schon gab…). Auf jeder Doppelseite ist ein kleiner Legionär abgebildet, der etwas zum Thema sagt. Manchmal ist das, was er sagt, witzig, aber selbst wenn das nicht der Fall ist, ist er lustig gezeichnet. Er begleitet die Leser durch das ganze Buch.

Im Buch gibt es auch ausklappbare Doppelseiten: Dort steht eine große Zeichnung im Mittelpunkt, am Rand gibt es Zusatzinformationen oder anderes, das mit dem Thema zu tun hat: Interviews mit Experten, Anregungen zu kleinen Experimenten usw. Auf den Doppelseiten werden die Themen Militär, Freizeit und der Vesuv-Ausbruch und Pompejis Untergang behandelt.

Das Buch ist für jüngere Leser sehr gut, weil es anschaulich geschrieben und bebildert ist. Es liefert dem Leser das wichtigste Allgemeinwissen zum Thema „altes Rom“ und ein paar Extras zusätzlich. Es fehlen aber ein Literaturverzeichnis oder weitere Internetlinks, wo man nachschauen könnte, wenn man sich näher zu einem Thema informieren will – denn man findet kaum Spezialwissen in diesem Buch. Es ist anschaulich und allgemein interessant, aber insgesamt trotzdem ein Römerbuch wie viele andere.
Ich empfehle das Buch zum Selberlesen ab 8 Jahren, für Interessierte und zum Vorlesen/Bilderanschauen schon ab 6/7 Jahren.

Lector03 (11)

Dela Kienle: Altes Rom, Wieso? Weshalb? Warum? Profiwissen, Band 9, Illustration: Anne Bernhardi/Sibylla Spiegelhauer, Ravensburger Buchverlag, 2014, 56 Seiten, ab 8 Jahre, 14,99 Euro

 

 

Irrfahrt ins Leben

babyTeenage-Mütter sind mittlerweile ein fester Bestandteil von Literatur, Film und TV-Formaten. Teenage-Väter hingegen kommen zumeist nur am Rande vor, wenn überhaupt.
Einen Kontrapunkt setzt nun der junge Amerikaner Emil Ostrovski mit seinem packenden Romandebüt Wo ein bisschen Zeit ist …, ins Deutsche gebracht von Thomas Gunkel.

An seinem achtzehnten Geburtstag erhält Jack einen Anruf von seiner Ex-Freundin Jess, gerade als er sich mit dem Gedanken trägt, seinem Leben ein Ende zu setzen. Sie bekomme gleich einen Sohn, den sie zur Adoption freigeben wird. Jack eilt zu ihr ins Krankenhaus, und als er seinen Sohn dann mal halten darf, brennt bei ihm so etwas wie ein Sicherung durch – vielleicht könnte man es auch den Ausbruch von ersten Vatergefühlen nennen – jedenfalls nimmt Jack das Baby einfach mit. Er will es nicht sofort den Adoptiveltern übergeben. Warum weiß er eigentlich auch nicht.
Es folgt eine Odyssee durch ein Kleinstadt-Amerika. Jack fängt dabei an, seinem Sohn, den er kurzerhand Sokrates kauft, das Leben und die Philosophie zu erklären. Er erzählt von Troja, der Unendlichkeit, zweifelt am freien Willen.
Da Jack mit dem Baby aber allein nicht wirklich weiterkommt, holt er seinen besten Freund Tommy dazu, später auch noch Jess. Gemeinsam flüchten sie vor der Polizei, kämpfen mit einem nur Deutsch sprechenden Navi, „leihen“ sich eine Yacht, werden seekrank und fahren  zu Jacks uralten, dementen Oma, um ihr den Urenkel vorzustellen. Jack besteht darauf, fühlt es sich so doch wie eine Verabschiedung von Oma und Sohn an.

Ostrovskis Roman ist eine Geschichte, die auf verschiedenen Ebenen berührt. Ein leicht depressiver Jugendlicher schnappt sich einen Neugeborenen, ohne zu wissen, welche Bedürfnisse dieser kleine Mensch eigentlich hat. Als Leser leidet man auf der Stelle mit dem Baby mit, ist es doch den Launen seines unerfahrenen Vaters ausgesetzt ist. Doch Jack wächst mit seinen Aufgaben, besorgt Windeln, Strampler, Babymilch, Kindersitz …
Neben dem Mitgefühl für das Baby reizen Jacks Trotteligkeit und die Situationskomik die Lachmuskeln. Seine philosophischen Monologe mit Sokrates liefern zusätzlichen Input, der nachdenklich macht und anregt, über das Leben an sich, Bindungen, Liebe, Freundschaft, Geburt und Tod nachzusinnen. Drunter macht es Ostrovski nicht.
Und das macht er leichtfüßig und charmant, auch Dank der Übersetzung von Thomas Dunkel. All dies erspart dem Leser jedoch eine erneute Lektüre nicht, denn die philosophischen Gedankengänge haben es in sich und können wieder und wieder gelesen werden. Hier findet (vermutlich) jeder etwas für seine ganz persönliche Lebenssituation. Aber das ist ja das Großartige an der Philosophie, so kompliziert sie erscheint, so bereichernd ist sie – für jeden. Und genau das gilt für diese oberflächlich betrachtet komische Vater-Sohn-Geschichte: In der Tiefe des Textes findet man das, was unser Dasein lebens- und liebenswert macht – nämlich die vielfältigen Beziehung zu anderen Menschen, seien es die Eltern, Großeltern, Kinder, Freunde oder Partner.

Mit dieser jugendlich-philosophischen Irrfahrt feiert Ostrovski  das Leben auf allerschönste Art.

Emil Ostrovski: Wo ein bisschen Zeit ist …, Übersetzung: Thomas Gunkel, Fischer FJB, 2014, 304 Seiten, 16,99 Euro

 

[Jugendrezension] Abenteuerlicher Amazonas

pinaGemeinsam mit Pina am Amazonas auf Erkundungstour gehen, ja, das würde ich auch gerne…
Pina, aus dem Buch Pina reist zum Amazonas von Flávia Lins e Silva, ist ein abenteuerlustiges, nettes und lebhaftes Mädchen. Gemeinsam mit ihrem besten Freund und ihrem Kater hat sie den „CUS“ (Club der unsichtbaren Spione) gegründet. Im Moment suchen die drei Pinas Vater, der vor zehn Jahren verschwunden ist und den Pina schmerzlich vermisst.

Eines Tages entdeckt Pina einen Zeitungsbericht über einen Mann, der in der Umgebung von Rio de Janeiro nach bisher unbekannten Naturschätzen sucht. Jetzt weiß Pina, was zu tun ist! Sie muss schnell ihren Kater Samba und ihren besten Freund Bruno holen und mit ihnen in ihre magische Hängematte springen. Und dann? Natürlich ganz fest hoffen, dass die Hängematte sie nach Rio befördert …

Und? Es klappt. Pina und ihre Freunde landen sicher auf einem Boot, das auf dem Amazonas schwimmt. Hier lernen sie Maiara kennen, die ihnen bei ihrer Suche helfen will. Doch die Suche nach Pinas Vater wird gar nicht so einfach, denn zumindest die Bootsreisenden haben den Mann aus dem Zeitungsausschnitt noch nie gesehen.

Auf ihrer Reise erleben die drei viele Abenteuer. Eine Flussnixe will Bruno verzaubern und ihn auf den Flussgrund ziehen. Bira, ein Junge, den die drei auf dem Boot kenngelernt haben, zeigt ihnen einen wunderschönen Zauberwald, in dem sie einen seltsamen Holzfäller, einen gefährlichen Jaguar und einen netten Professor treffen, der aussieht, wie der Mann aus dem Zeitungsartikel … Und dann verschwindet plötzlich Samba, Pinas Kater …

Doch ob Samba wieder auftaucht und wer dieser nette Professor nun in Wirklichkeit ist, das werde ich nicht verraten, dass musst Du schon selbst herausfinden! Viel Spaß dabei.

Ich fand die Geschichte interessant und lehrreich, da im ganzen Buch auch immer wieder kurze, gut verständliche Infotexte über komplizierte Sachverhalte abgedruckt sind. Außerdem sind die Beschreibungen sehr schön, so dass ich in manchen Momenten dachte, ich wäre wirklich mit auf der Reise durch Brasilien.

Ich empfehle das Buch für Mädchen und Jungen im Alter von 7 bis 12 Jahren. Das Buch ist auch zum Vorlesen geeignet. Besonders gut gefallen wird es denjenigen unter Euch, die auch gern mal ein richtiges Abenteuer am Amazonas erleben wollen und auch denen, die gern wunderschöne Beschreibungen genießen und sich wie am Amazonas fühlen möchten!

Bücherwurm (12)

Flávia Lins e Silva: Pina reist zum Amazonas, Übersetzung Claudia Stein, Fischer KJB, 2013, 192 Seiten, ab 9, 11,99 Euro