Unantastbar

einsMenschen, die körperlich nicht den vermeintlichen Normen entsprechen, lösen oftmals ein voyeuristisches Bedürfnis bei uns allen aus. Man möchte schauen, vergleichen, sich abgrenzen, sich möglicherweise besser oder überlegen fühlen. Eine Geschichte, die solche Bedürfnisse auslösen könnte, hat jetzt die Britin Sarah Crossan vorgelegt. In Eins erzählt sie von den siamesischen Zwillingen Grace und Tippi.

In der Erwachsenen-Belletristik gibt es einige Romane zu diesem Thema, doch für Jugendliche ist es meines Erachtens das erste Buch, das sich mit der Lebenswelt von siamesischen Zwillingen befasst (korrigiert mich, wenn ich falsch liege). Crossan schildert die beiden 16-jährigen Mädchen als ziemlich normale Persönlichkeiten, obwohl sie an der Hüfte zusammengewachsen sind. Jede der beiden hat ihren eigenen Kopf, ihre eigenen Vorstellungen. Und sie haben eine Familie, die wie viele andere auch mit Problemen wie Arbeitslosigkeit, Alkohol- und Magersucht zu kämpfen hat. Jedes dieser Probleme ist an sich schon harter Tobak.

Wie schon in Crossans Werk Die Sprache des Wassers erzählt die Autorin die Geschichte in freien, also ungereimten Versen, erneut von Cordula Setsmann in geschmeidiges Deutsch gebracht. Jedes Wort bekommt durch die typografische Setzung, die die Worte manchmal kaskadenartig verschiebt, ein zusätzliches Gewicht. Und bleibt trotz der Schwere der Thematik ganz leicht.

Tippi und Grace, benannt nach Alfred Hitchcocks Lieblingsschauspielerinnen, müssen ab August eine öffentliche Schule besuchen, denn die Spendengelder bleiben aus, so dass die Schwestern nicht mehr zu Hause privat unterrichtet werden können. Natürlich werden die Mädchen in der neuen Schule angestarrt, mit unschönen Sätzen bedacht, aber sie finden auch zwei richtig gute Freunde, die den beiden einen Hauch von Normalität vermitteln.
Als dann jedoch auch die Mutter ihren Job verliert und die Familie fast schon das Haus verkaufen und fortziehen muss, treffen Tippi und Grace ein schwierige, aber lukrative Entscheidung.

Crossan gestaltet die Mädchen so liebevoll, dass sie dem Leser unweigerlich ans Herz wachsen, ihn aber auch ständig damit konfrontieren, wie es wäre, wenn man IMMER jemanden so dicht an seiner Seite hätte. Ich konnte es mir nicht vorstellen. Ich kann es mir aber auch im normalen Leben kaum vorstellen, ständig mit einem einzigen Menschen zusammen zu sein. Doch im Laufe der Lektüre entwickelt man ein Gefühl und eine gehörige Portion Verständnis für die Heldinnen. Da Grace als Ich-Erzählerin agiert, schaut man quasi hinter die Fassade, lernt die beiden von innen heraus kennen. Grace bewirkt, dass die Zwillinge nicht als Freaks angesehen werden, sondern als gleichberechtigte Menschen, deren Entscheidung, nicht getrennt werden zu wollen, man mit Respekt begegnen muss.
In diesem Moment stehen Tippi und Grace dann für alle Menschen in dieser Welt, die nicht irgendwelchen blöden Normen entsprechen, und sei es, weil sie eine zu große oder zu kleine Nase haben.

So selbstverständlich es sein sollte, dass man sein Gegenüber nicht nach einer Nanosekunde aufgrund seines Äußeren beurteilen sollte, so wichtig ist es, genau dies in Zeiten von medialem Schönheitswahn, aber auch medialer Vorverurteilung aufgrund von Herkunft, Haut-, Haar- und Augenfarbe sowie Glauben, immer und immer wieder zu betonen, durchzuspielen und in neuen Varianten wie in diesem besonderen Buch zu diskutieren. Denn wir alle vergessen viel zu oft und viel zu schnell, dass es letztendlich immer und ausschließlich um das Eine geht:

Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Sarah Crossan: Eins, Übersetzung: Cordula Setsmann, mixtvision, 2016, 424 Seiten, ab 12, 16,90 Euro

[Gastrezension] Altersgerechte Aufklärung

aufgeklärtReden wir über Aufklärung, und damit meine ich nicht den klassischen philosophisch-politischen Begriff, sondern Sex und Kinderkriegen. Ab welchem Alter sollte man mit Kindern darüber reden? Und wie? Schwer zu sagen, wenn schon Kindergartenkids Sexpraktiken diskutieren oder gang-bang spielen. Dass Babys nicht aus einem Sechserkarton handelsüblicher Eier, vermischt mit einer Packung Samen entstehen und dann per Express vom Storch gebracht werden, das wissen schon die Kleinsten. Auch Bienchen und Blümchen dürften schon vor einiger Zeit ausgedient haben.

Bei der Gelegenheit habe ich überlegt, wann ich aufgeklärt wurde? Auf jeden Fall nicht von meinen Eltern. Jahre später, schon als Jugendliche, haben mein Bruder und ich zu unserer großen Erheiterung, gar nicht mal versteckt, im Buchregal bei den Bildbänden Will McBrides Aufklärungsklassiker Zeig mal! gefunden, ein Geschenk eines damals noch kinderlosen, pseudoprogressiven Onkels, der wohl vor allem unsere Eltern provozieren wollte. Das vielfach ausgezeichnete und von der evangelischen Kirche abgesegnete, sogar verlegte Buch mit den stilvollen schwarz-weiß-Aufnahmen in der Anfang der 70er-Jahre angesagten, fotorealistischen „Mein-Esel-Benjamin“-Ästhetik gilt heute als nicht mehr kindergerecht und ist auch nicht mehr erhältlich. Aber wann und wie klärt man heute auf?

Zum Beispiel mit diesem ebenso klugen wie charmantem und ganz und gar unpeinlichem Buch Tante Uli ist verliebt und vermehrt sich – Aufgeklärt!?, dem ersten Band der neuen Sachbuchreihe Carlotta, Henri und das Leben von Anette Beckmann und Marion Goedelt, konzipiert für junge Leser ab sieben Jahren.

Erzählerin ist, sehr realistisch, die redegewandte vier Minuten ältere Zwillingsschwester Carlotta. Sie schwärmt von der coolen Tante Uli, die sie mit ihrem Zwillingsbruder Henri einmal in der Woche besucht, weil ihre Eltern beruflich viel unterwegs sind. Mit Uli toben sie herum und genießen viele Freiheiten. Seit neuestem ist Uli total verknallt, in Mario, den Chef der Trattoria Fussili unten im Haus. Erst benehmen sich die beiden ziemlich peinlich, was auszuhalten ist, weil Mario die besten Spaghetti der Welt macht und den Geschwistern Eis schenkt. Aber dann: „Uli ist komisch und wird immer merkwürdiger: Sie ist ständig müde, verpeilt, isst komische Dinge und schläft beim Spielen ein“. Diagnose: Tante Uli ist schwanger. Aber wie kommt das? Und wie geht es jetzt weiter mit Uli, ihrem wachsenden Bauch und dem Baby darin?

Die Texte der studierten Kommunikationsdesignerin Anette Beckmann gehen mit den witzigen Illustrationen Marion Goedelts eine kongeniale Mischung ein, die auch beim Vorlesen ein großer Spaß ist: „Damit das mit dem Ei und dem Samen klappt, muss man Sex haben. Dabei entsteht ein ganz schönes Gefühl. Das ist aufregend und kribbelig und dann wird der Penis …
NICHT lachen, habe ich gesagt!!!
… ganz groß und hart.“

Es wird mit Typographien und Schriftsetzung gespielt, freundliche Figuren, die Zwillinge, ihre Eltern und natürlich die immer runder werdende Uli, toben zwischen collageartig arrangierten Schautafeln, Ultraschallbildern und schrägen Witzbildchen über die Seiten. Spermien liefern sich Wettrennen, es gibt einen tierischen Vergleich über Schwangerschaftsdauer und ein Hund karikiert auch mal die Hochschwangere in typischer Pose: „Puh.“

In diesem Buch wird davon ausgegangen, dass beim Sex Liebe und Zuneigung im Spiel sind. Es geht hier nicht darum, das ganze Spektrum sexueller Spielarten darzustellen. Das ist für jedes Kind eine schöne Vorstellung und trifft wahrscheinlich zumindest beim Zeugungsakt meistens zu, was allerdings die spätere Trennung der Eltern leider nicht ausschließt.

Die Schreibweise mit „!?“ im Titel ist Programm, denn was erst klar wie Kloßbrühe erscheinen mag, kann einen bei näherer Betrachtung ins Grübeln bringen. Manche Frau, die wie es so schön heißt, „spontan entbunden“ hat, sprich, auf dem natürlichen Geburtsweg, fragt sich auch, wie das Neugeborene durch den engen Geburtskanal gepasst hat. Solche Fragen und Begriffe wie Befruchtung, Mutterkuchen (Henri fragt berechtigterweise: „Warum nicht Mutterpizza?“), intrauterines Wachstum, Kaiserschnitt, platzende Fruchtblasen und Wehen werden ebenso anschaulich wie sympathisch und witzig beantwortet. Und wie gesagt, absolut unpeinlich!

So schafft das Sachbuch aus dem manchmal sogar gefährlichen (Stichwort: Teenagerschwangerschaften, sexuell übertragbare Krankheiten) „oblatendünnen Eis des halben Zweidrittelwissens“ (wie TV-Moderatorin Sarah Kuttner mal sehr schön schrieb) eine solide, altersgerechte und ausbaufähige Grundlage.

Elke von Berkholz

Anette Beckmann, Marion Goedelt (Illustrationen): Carlotta, Henri und das Leben, Band 1 „Tante Uli ist verliebt und vermehrt sich – Aufgeklärt!?“, Tulipan, 2016, 60 Seiten, ab 7, 15 Euro

Alle für einen

alleEinschlafen ist eine schwierige Sache. Die fünf Brüder Martin, Pelle, Luigi, Bertil und Otto können ein Lied davon singen. In Stephanie Schneiders Bilderbuch Ich brauch euch alle! schlafen die Jungs in einem großen Bett. Zusammen mit Ottos riesiger Kuscheltiersammlung. So weit, so in Ordnung.

Doch als Otto auf dem Jahrmarkt das riesige Plüschschwein Elke gewinnt, wird es eng im Bett. Die Brüder wollen ausweichen, in den Schuppen, auf die Fernsehcouch, zum Kumpel. Otto ist entsetzt. Denn er braucht sie alle, um gut schlummern zu können. Eine Lösung entwickelt der erfindungsreiche Bertil …

Diese entzückende Einschlafgeschichte lebt von den Illustrationen von Astrid Henn. Sie hat aus den fünf Brüdern eine liebenswert internationale Combo gemacht: Bertil hat rote Locken, Pelle schwarze, Luigi ist strohblond, Martin und Otto haben glatte brauen Haare. Brüderlicher können diese Patchworkgeschwister also gar nicht sein. Jeder kleine Leser wird natürlich noch jede Menge andere Unterschiede entdecken – und es vermutlich völlig normal finden.

Diese fünf Helden zeichnen sich neben den körperlichen Merkmalen aber auch durch ihre unterschiedlichen Talente und Fähigkeiten aus: Der eine kann Knoten in Spaghetti machen, der andere regelt den Verkehr im Kinderzimmer, der dritte kann coole Zaubertrick. Gemeinsam gelingt es ihnen, Ottos großes Schlafproblem aus dem Weg zu räumen.

Die Lösung könnte in vielen Kinderzimmern zur Anwendung kommen, vor allem, wenn man nach dieser Lektüre all die knuffigen Kuscheltiere anschaffen muss, denn die sind neben den Brüdern die heimlichen Hauptdarsteller.

Ich habe lange darüber nachgedacht, ob es blöd ist, dass hier keine Mädchen vorkommen und ob das nicht ausgrenzend ist. Doch es gibt Zeiten im Leben und in der Kindheit, in denen man lieber mit seinen Geschlechtsgenossen zusammen ist. Das sollte man respektieren. Und trotzdem können auch Mädchen hier ihren Spaß mit den Kuscheltierhelden haben und sich für ihre eigenen Schlafprobleme inspirieren lassen. Dazu brauchen kleine Leserinnen nur ein bisschen Phantasie, die hier auf jeden Fall neues Futter bekommt.

Stephanie Schneider: Ich brauch euch alle! Illustration: Astrid Henn, Sauerländer, 2015, 32 Seiten, 14,99 Euro

The Art of Being Normal

transgenderSchwule und lesbische Geschichten bespreche ich hier  ja in einer gewissen Regelmäßigkeit, doch sexuelle Identität geht bekanntlich weit über Homo- und Heterosexualität hinaus. Transgender ist seit Caitlyn Jenners öffentlichen Auftritten im vergangenen Jahr mal wieder das aktuelle „Skandalthema“, über das die im Schubladendenken geschulte Welt nur schwer hinwegzukommen scheint.

Lisa Williamsons Roman Zusammen werden wir leuchten, in der Übersetzung von Angelika Eisold Viebig, kommt da genau richtig, um die Vielfältigkeit und Buntheit des Lebens zu feiern.
Sie erzählt vom 14-jährigen David, der, seit er acht ist, sich nichts sehnlicher wünscht, als ein Mädchen zu sein. Noch hat er es nicht gewagt, seinen Eltern davon zu erzählen. Seine Wünsche und Ängste schreibt er in ein Notizbuch. Dort vermerkt er auch seine körperlichen Veränderungen, die ihn mehr und mehr zum Jungen machen. Ihm läuft ein bisschen die Zeit davon, wenn er den Hormonschub der Pubertät aufhalten will. Zwar wissen seine beiden besten Freunde Essie und Felix, die Bescheid, die können ihm aber nicht helfen.
Als David eines Tages in der Schule übel gemobbt wird, schreitet der neue Schüler Leo schlagkräftig ein und kommt David zu Hilfe. Leo, der aus einer sozial schwachen Familie stammt, hat die Schule gewechselt. Über die Gründe zerreißen sich die Schüler unentwegt das Maul. Doch an Leo scheint alles abzuprallen. Nach und nach kommen sich David und Leo näher und brechen schließlich zu einem Wochenende auf, das für beide die entscheidende Wendung in ihren Leben bringen wird.

Williamson erzählt die Geschichte der Jungs jeweils aus den Perspektiven von David und Leo, so dass man als Leser immer ganz dicht bei den Gefühlen, der Sicht auf sich selbst und dem jeweiligen Wissensstand ist. So baut sich nicht nur Spannung auf, sondern auch ein hohes Maß an Mitgefühl, anfangs vor allem für David, später auch für Leo. Man kann Davids Wunsch, ein Mädchen zu sein, so gut nachvollziehen, ohne dass Williamson über genetische oder soziale Gründe für diesen Wunsch referieren muss. Diese Gründe und auch die später notwendigen medizinisch-chirurgischen Maßnahmen klammert sie völlig aus. Denn sie sind unerheblich.
Hier geht es zunächst nur darum, wie sich der Held/die Heldin selbst sieht, empfindet und wie sie/er leben möchte. Das gilt es zu respektieren. Die spätere physische Umsetzung kann heute von kompetenter Seite begleitet werden, nur die Vorurteile der Gesellschaft, die Sensationslust der Menschen, ihre Häme und ihre Gewalt gegenüber Transgendermenschen kann leider noch nicht so kompetent beseitigt werden. Dieses Buch jedoch kann ein Schritt zu mehr Verständnis sein.

Der Blick auf den englischen Titel legt dabei, viel schöner als der deutsche, die Message ganz klar fest: The Art of Being Normal lautet er. Ich frage mich, warum er nicht ansatzweise übernommen wurde. Denn genau darum geht es doch, eine wie auch immer geartete Normalität für Transgendermenschen zu schaffen, ihnen den Leidensdruck zu nehmen, Vorurteile abzubauen und die vermeintliche Normalität der anderen auf ihren Platz zu verweisen.

Lisa Williamson: Zusammen werden wir leuchten, Übersetzung: Angelika Eisold Viebig, Fischer TB,  2015, 384 Seiten,  ab 14, 12,99 Euro

[Gastrezension] Vom Kampf gegen die Depression

depression„Alles super!“ – das klingt irgendwie verdächtig, wenn auch noch relativ sympathisch und harmlos in Zeiten von facebook-Euphemismen, wo alles mindestens „suuupiduupi“ (schlimm), „ultratollo“ oder „megageil“ (ganz schlimm) ist. Und natürlich ist nicht alles super zu Hause bei den Geschwistern Raymond und Gloria im Roman Alles super! von Roddy Doyle.
Denn Onkel Ben, Papas jüngerer Bruder, ist bei der Familie eingezogen und wohnt nun in Glorias Zimmer. Ihre rosa Bettdecke hingegen liegt auf einer Matratze in Raymonds Zimmer. Dass sie sich jetzt ein Zimmer teilen, findet Raymond allerdings insgeheim sogar ganz gut.
Doch der geliebte Onkel Ben ist anders als sonst: Er musste seinen Malerbetrieb mangels Aufträgen dichtmachen und kann die Hypothek für sein Haus nicht mehr bezahlen. Ben ist gar nicht mehr lustig und leichtlebig, lacht nie, unternimmt nichts mehr mit den Geschwistern, ist nur noch ein schwermütiger Schatten seiner selbst.
„Der schwarze Hund, die Depression, ist diesem armen Jungen auf den Rücken gekrochen“, sagt Omi, Mamas Mutter, die auch im Haus wohnt. „Und Dublin hat sein Narrenbein verloren. Keiner lacht mehr.“

Also schleichen Raymond und Gloria sich nachts raus, um den schwarzen Hund zu vertreiben und treffen dabei Eddie, der als Schulversager das sprichwörtlich schlechte Beispiel für alle Kinder des Viertels ist und sich neuerdings als Vampir versucht. Bei der Jagd nach dem schwer zu fassenden, ständig Größe und Form ändernden Biest, das außerdem eine unheimliche Kälte ausstrahlt, treffen die drei immer mehr Kinder. Jedes von ihnen kennt einen geliebten Menschen, der vom schwarzen Hund angefallen wurde, oder wohnt in einem Haus, wo dieses fast dementorenartige Wesen vor der Schlafzimmertür des Vaters lauert, der dahinter apathisch im Bett liegt.

Die Darstellung der Depression als schwarzer Hund ist ein Klassiker der Visualisierung dieser Krankheit: Depression als ständige Begleiterin, man kann sie zähmen und in Schach halten, aber sie kann auch immer wieder gefährlich werden (sehr gut übrigens, dass im Buch konsequent der Singular verwendet wird und nicht von „Depressionen“ die Rede ist, als ob eine nicht schlimm genug sei). Roddy Doyle aber erzählt hier von mehr: Nicht nur von der psychischen Erkrankung, die einzelnen Betroffenen jede Freude und Empfindungsfähigkeit nimmt, sondern auch von der wirtschaftlichen Depression, die so viele Leute, ja eine ganze Stadt wie Dublin deprimiert. Die Finanzkrise von 2008, die alle westlichen Industrienationen erschüttert hat, hat Irland, in Anlehnung an prosperierende asiatische Staaten auch „keltischer Tiger“ genannt, besonders hart getroffen. Einst war Irland das ärmste Land Westeuropas, doch um die Jahrtausendwende waren die Iren sehr reich geworden – und fielen um so tiefer, verloren Arbeit und Häuser, kostspielige Pferde und andere Tiere wurden zu Tausenden ausgesetzt. Finanzielle Nöte deprimieren die Menschen, belasten und lähmen sie, sitzen ihnen im Nacken oder hängen wie ein Mühlstein um ihren Hals.

Kinder bekommen das sehr wohl mit und leiden ebenso unter den Auswirkungen der finanziellen Depression. Und Roddy Doyle, der sich in allen seinen Romanen mit gesellschaftlichen Problemen und Ungerechtigkeit beschäftigt, hat ein sehr eindringliches Bild für die Erschütterungen seiner Heimat gefunden und erzählt ebenso humorvoll wie eindringlich vom Kampf gegen die kollektive Depression.

Sehr gut sind Doyles Beschreibungen von typischem Erwachsenenverhalten aus Kindersicht, zum Beispiel unterscheiden die Geschwister zwischen „Reden“, „Plaudern“ und „Murmeln“ – bei letzterem geht es um sehr ernste Themen, die Kinder gar nicht wissen sollen, so wie den schwarzen Hund.
Als die Kinder das depressiv machende Wesen verfolgen, erweist sich das Wort „super“ als Geheimwaffe, als Laserschwert gegen die dunkle Macht und Beschwörungsformel gegen böse Beschimpfungen. Mit einem laut gerufenen„Super!“ zaubern sie Licht in die Nacht und machen sich Mut. Neben der Eiseskälte hat der Hund nämlich eine besonders perfide Waffe: Er beschimpft die Kinder als „unnütz“. Und da empfinden die Kinder, was Depression bedeutet: Sie fühlen sich niedergedrückt, so sehr, dass sie sich nur noch hinlegen möchten, nie wieder aufstehen und sterben, sich vom Meer wegspülen lassen. Es sind dann die Tiere, Katzen, Hunde, Möwen und Exoten im Zoo, die die Kinder daran erinnern, warum sie wichtig sind und was sie stark macht: „Ihr seid die Zukunft!“.

Das macht auch Roddy Doyles neuen Roman so charmant: Wie er von ernsten Themen mit liebenswerten Charakteren, viel Witz und intelligenten Humor erzählt und sogar noch ein überzeugendes happy ending beschert. Allein für die Nebenfiguren Ernie und die Omi lohnt es sich. Das ist leicht zu lesen (nicht zu schreiben!), aber nie seicht. Roddy Doyle ist sozusagen der irische Andreas Steinhöfel. Da passt es auch sehr gut, dass Steinhöfel mehrere Kinder- und Jugendbücher Doyles übersetzt hat. Leider nicht Alles super!, das hätte uns vielleicht das eine oder andere falsche „macht Sinn“, „von daher“ und affektiertes „oh, mein Gott“ erspart. Warum „Football“ nicht mit „Fußball“ übersetzt wurde, bleibt auch das Geheimnis von Bettina Obrecht. In Irland ist sicher nicht „American Football“ gemeint?!

Im Original heißt „super“ übrigens „brilliant“ – ein ungleich stärkeres, überzeugenderes, funkelnderes Schlagwort. Aber im Deutschen ist es schwierig, einen entsprechenden Begriff zu finden: krass, cool, voll fett? Wohl eher nicht …
Ansonsten ist alles super bei Roddy Doyles jüngstem Roman, schlicht: brillant!

Elke von Berkholz

Roddy Doyle: Alles super!, Übersetzung: Bettina Obrecht, cbj Verlag, 2015, 192 Seiten, ab 8, 12,99 Euro

Let’s do it in style

Graphic NovelZugegeben: Wie sich die aktuellen Jugendkulturen gerade genau definieren, musste ich erstmal nachlesen: Cosplayer, Gamer und Skater sind heute angesagt und mir in gewisser Weise auch ein Begriff. Aber irgendwie sind sie im Stadtbild nicht so präsent wie Popper, Punker und Rocker zu „meiner“ Zeit in den 80ern, die mir ziemlich lebhaft im Gedächtnis haften. Immer noch. Das liegt wahrscheinlich in der Natur der Erinnerungen an die eigene Jugend. Aber vielleicht treibe ich mich momentan auch einfach nicht auf den entsprechenden Conventions und in Halfpipes herum und bin einfach zu alt …

Einen fast nostalgischen Rückblick in „meine“ Zeit hat mir jetzt die Graphic Novel Fahrradmod von Tobi Dahmen gewährt. Darin schildert er seine Jugend in den 70er und 80er-Jahren in einer westdeutschen Kleinstadt. Die Landschaft drum herum war weit und karg, nur die Hochspannungsmasten boten Orientierungspunkte … und die Musik, die aus England kam und Mode und Abwechslung mitbrachte. Tobi wird folgerichtig Mod. Auch wenn seine Klamotten immer einen Tick daneben liegen, und es für die coole Vespa nicht reicht. Aber es gibt Parties, Zusammengehörigkeitsgefühl und vermeintliches Ansehen.

In nuancierten Grautönen portraitiert Dahmen die Jugend der jetzt Mitt-Vierziger und die Zeit, als durchtanzte Nächte noch das höchste aller Gefühle darstellten, man wegen der falschen Schuhe schon mal Ärger bekam und die Pubertätshormone einem noch ganz schön die Sicht auf das Wesentliche verstellen. Eine geile Zeit. Eine Zeit, in der die eigene Befindlichkeit das Zentrum des Universums war, das politische Geschehen ein unklares Hintergrundrauschen war und die Musik alles. Vielleicht kann man hier die Gründe für so manche Gleichgültigkeit in unserer heutigen Gesellschaft finden, hatte diese Generation, die im Westen groß geworden ist, doch keine wirkliche Revolution zu verantworten. Manche Panels von Dahmen bekommen so einen faden Beigeschmack und lösen fast ein Gefühl von Trauer über diese merkwürdige Jugend aus.

Doch neben den manchmal jämmerlichen Partyexzessen seiner Helden zeichnet Dahmen sehr geschickt die Entstehung und Entwicklung der Musikströmungen nach, die heute allesamt als Oldies abgefeiert werden. Der Jazz und die Modernists, Rhythm & Blues, Ska und Motown, Garage Rock und Garage Punk, Disco und Heavy Metal, Psychobilly und The Smith. Er zitiert die Songs, zeigt, dass die Skins ursprünglich keine rechte Schlägertruppe waren, wie alles im Fluss und alles miteinander verbunden war und ist – und wo es dann doch gefährlich und rassistisch wurde.

Obwohl ich nur einen Bruchteil der Musik kenne und längst nicht alle Feinheiten der Geschichte aufdecke, da meine Jugend noch viel unspektakulärer verlaufen ist als die von Tobi hier, ist Fahrradmod in meinen Augen und Ohren ein gelungenes Portrait (m)einer Generation (vor allem von deren männlichem Teil), das mich amüsiert, gut unterhalten und musikwissenstechnisch sehr bereichert hat.
Vermutlich wäre es clever, diese Graphic Novel gleich mit dem entsprechenden Soundtrack im Hintergrund zu lesen. Eine Liste mit den Songs findet sich am Ende des Buches oder im Netz direkt hier.

Tobi Dahmen: Fahrradmod, Carlsen, 2015, 480 Seiten, 24,99 Euro

Gemeinsam stark

lesbeVor einiger Zeit habe ich hier das neueste Buch von David Levithan besprochen und mir gewünscht, des möge doch auch mal Geschichten über lesbische Liebe geben. Das Thema lag wohl in der Luft, denn nun ist Maike Steins Roman Wir sind unsichtbar im Handel.

Stein erzählt die Geschichte von Valeska und Inken. Die 15-jährige Leska färbt sich gern die Haare bunt, betreibt einen Blog und weiß, dass sie Mädchen liebt. Ihrer Familie hat sie das bereits gesagt, nur hat sie noch nie ein Mädchen geküsst. Nichts würde sie gerade lieber tun.
Auf einer Party darf sie schließlich beim Flaschendrehen Inken küssen – was eigentlich so gar nicht nach Leskas Geschmack ist, hält sie Inken doch für „traumalos“, also langweilig und uninteressant. Der Kuss ist zwar nicht besonders weltbewegend und doch merkt Leska, dass hinter Inkens makelloser Fassade etwas steckt. Die beiden Mädchen nähern sich an und verlieben sich, was jedoch – laut Inken – niemand erfahren darf. Mehr und mehr entdeckt Leska, was Inken verbirgt und was ihr Angst macht. Da Leska ein Mädchen der Tat ist und Ungerechtigkeiten nicht ausstehen kann, greift sie schließlich zu Farbe und Pinsel, um Inken zu rächen …

Maike Stein schafft es mitreißend, die zarte und zerbrechliche Gefühlswelt zweier Jugendlichen in Worte zu fassen. Leskas Blogeinträge wechseln mit der Ich-Erzählung von Leska und kurzen Flashbacks auf Inkens Erfahrungen. In den kurzweiligen Kapiteln trifft so der Mut der einen auf die Angst der anderen, doch gemeinsam entsteht schließlich eine große Liebe. Gleichzeitig macht Stein klar, dass es in unserer ach-so-vermeintlich liberalen und aufgeklärten Welt alles andere als liberal zugeht. Die Vorurteile gegenüber gleichgeschlechtlich Liebenden sind immer noch tief in unzähligen Köpfen unserer Gesellschaft verankert. Es ist nicht selbstverständlich, schon gar nicht als Teenager-Mädchen sich offen zu seiner sexuellen Identität zu bekennen, solange sie eben nicht hetero ist. Den jungen Leserinnen dieses Buches jedoch macht Maike Stein durch ihre Heldinnen mit allen Mitteln Mut, zu sich und ihrer Liebe zu stehen. Sie macht Mut, sich zu zeigen, sichtbar zu werden, nicht nur in den entsprechenden Communitys oder am CSD, sondern tagtäglich. Das ist nicht einfach, erfordert Überwindung und viel Kraft. Doch Leska zeigt Inken, dass es immer wieder auch Menschen gibt, die zu einem stehen und helfen.

Und so sollte es im wahren Leben viel öfter sein.

Maike Stein: Wir sind unsichtbarMitarbeit: Kathrin Schüler, Oetinger Taschenbuch, 2015, 192 Seiten, ab 12, 8,99 Euro

Das Leben in Bildern

babySo unterschiedlich Bilderbücher auch sind, manchmal kann man sie in einen Zusammenhang stellen. Bei diesen vier tut sich beispielsweise die ganze Bandbreite unseres Lebens auf.

Auftakt liefert das Buch von Anna Herzog, Ein Baby in Mamas Bauch, das klassisch-knuffig von Joelle Tourlonias illustriert ist. Die Zwillinge Mia und Oskar bekommen ein Geschwister. Diese umwerfende Neuigkeit nutzen die beiden Kindergartenkinder, um jede Menge Fragen zu stellen, wie das mit Babys und ihrer Herstellung eigentlich so ist. Auch so „eklige“(O-Ton Mia) Sachen wie knutschen und „sexen“ kommen ganz offen zur Sprache, dazu die Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen, was es mit den Hormonen auf sich hat, ob eine Gebärmutter platzen kann und wie das Baby schließlich auf die Welt kommt.
Die fiktive Geschichte wird durch Kästen mit Sach-Information bereichert, in denen anatomische Details, Entwicklung des Babys oder die Entstehung von Zwillingen erklärt werden. Die Erläuterungen sind so dicht an der Lebenswelt von Kindern, dass diese wie selbstverständlich an so geheimnisvolle Vorgänge wie Zeugung, Schwangerschaft und Geburt herangeführt werden. Mit so einem liebevollen und schön anzusehenden Aufklärungsbuch wird die Ankunft des neues Familienmitglieds für alle ein Fest.

bus

Dass das Leben dann später nicht immer rund läuft, davon berichten Stefanie Harjes und Marjaleena Lembcke in Der Bus mit den eckigen Rädern.

Ein Konstruktionsfehler in der Fabrik führt dazu, dass der neue Bus eckige Räder hat. Damit kann er natürlich nicht im Linienverkehr eingesetzt werden. Traurig macht sich der Bus auf den Weg – und sammelt mit der Zeit doch Menschen ein, die sich auf seinen bequemen Sitzen niederlassen: eine alte Dame, die wehmütig auf ihr Leben zurückblickt, ein alter Mann, der überprüfen möchte, ob das Rote Meer wirklich rot ist, ein Junge, der in Alaska Lachse angeln will, ein Mädchen auf dem Weg zum Tanz, ein streitendes Ehepaar, ein Priester, der keine Gemeinde mehr hat. Im Bus werden sie für eine kurze Zeit zu Schicksalsgenossen, die ihrem Ziel immer näher kommen.

Stefanie Harjes illustriert die Lebensreise im holprigen Bus mit Collagen, in denen Bleistiftzeichnungen auf Fotos, Kartenmaterial, Wortschnipsel, Stempelabdrücke und bunte Farben zusammentreffen. Ziegen haben Kinderköpfe, Schnecken schlafen auf Baumstümpfen, die Tasche der alten Frau ist größer als sie selbst. Vieles ist rätselhaft, wie das Leben eben so ist, und dadurch sehr faszinierend. Jeder Betrachter wird eigene Assoziationen und Verbindungen haben, in die Bilder eigene Geschichten hineindenken.

unfall

Einen traurigen Teil im Leben schildert das psychologische Bilderbuch Papas Unfall vom Atelier artig. Zunächst lernt man eine ganz normale vierköpfige Familie kennen, die immer etwas Neues unternimmt, schwimmen geht, Rad oder Schlitten fährt. Alles ändert sich, als Papa eines Tages mit dem Motorrad verunglückt und danach nicht mehr laufen kann. Er liegt lange im Krankenhaus, ist traurig und kann nicht richtig sprechen. Mama organisiert das Leben neu, sucht sich einen neuen Job, kümmert sich um Papa, schafft ein Krankenbett ins Wohnzimmer. Die Schwestern sind jetzt zwar mehr mit Oma zusammen, doch sie merken genau, wie traurig alles ist.

Wut und Trauer herrschen in dieser Geschichte zwar vor, aber die Kinder begreifen, dass es Gründe dafür gibt. Für Familien, die Ähnliches erlebt haben, bietet dieses Bilderbuch Identifikation und Hoffnung, denn mit der Zeit gewöhnen sich alle an dieses neue Leben, das zwar anders ist, aber dennoch Alternativen und schließlich auch schöne Momente bieten kann.

bär

Von solchen Momenten, schönen wie schlimmen, könnte man dann Geschichten erzählen. So wie der Bär. Doch der hat sich leider den falschen Zeitpunkt zum Erzählen ausgesucht, denn so kurz vor dem Winter haben Maus, Ente, Frosch und Maulwurf Wichtigeres zu tun, als Bär zuzuhören. Und so fallen die ersten Schneeflocken und Bär legt sich schlafen.
Im Frühling versammeln sich dann die Freunde alle wieder um Bär und haben endlich Zeit, die Geschichte zu hören …

Erin Stead hat die Geschichte Als Bär erzählen wollte von Philip Stead mit duftigen Aquarellen und zarten Bleistiftstrichen illustriert und dabei ganz viel Weißraum gelassen, so dass eine poetische Leichtigkeit die Szenerie bestimmt. Der Zusammenhalt der Freunde und ihre Aufmunterung von Bär am Ende zeigen, dass Freundschaft auch dann hält, wenn man einmal keine Zeit für den anderen hat oder sich lange nicht sieht. Die entzückende Abschlusspointe kann ich hier natürlich nicht verraten …

Ein abschließende Bitte hätte ich an die Illustratoren da draußen: Hier kommen in drei von vier Büchern alte Damen und Großmütter vor. Die Darstellung mit Kopftuch, Dutt und Puschen mag ja ganz heimelig und liebenswert sein, aber ich kenne heute keine Großmütter mehr, die so antiquiert herumlaufen. Es ist an der Zeit mal ein neues Großmutterbild zu entwickeln, würde ich sagen …

Anna Herzog: Ein Baby im Mamas Bauch, Illustration: Joelle Tourlonias, Sauerländer, 2015, 40 Seiten, ab 4, 14,99 Euro

Marjaleena Lembcke: Der Bus mit den eckigen Rädern, Illustration: Stefanie Harjes,
Ravensburger, 2015, 32 S.  ab 6, 15,99 Euro

Achim Kirsch: Papas Unfall, Balance Buch + medien, 2015, 40 Seiten, ab 4, 14,95 Euro

Philip Stead: Als Bär erzählen wollte, Übersetzung: Uwe-Michael Gutzschhahn,   Illustration: Erin A. Stead, Sauerländer, 2015, 32 Seiten, ab 4, 14,99 Euro

 

 

Endlich! Die Antwort auf eine immens wichtige Frage

weihnachtsmannAlle Jahre wieder … steht man vor der Frage, wie man seinen Kindern, Nichten oder Neffen erklären soll, dass der Weihnachtsmann in nur einer Nacht alle Kinder der Welt beschenken kann. Ein Drama!

Einen Lösungsvorschlag liefert nun die japanische Sachbuchautorin Hiroko Motai in dem Bilderbuch Tausend Millionen Weihnachtsmänner, übersetzt von Anu Stohner. Demnach gab es anfangs tatsächlich nur einen Weihnachtsmann. Aber es gab auch weniger Menschen auf der Erde, also auch weniger Kinder, und so schaffte er es, sein Pensum in einer Nacht zu absolvieren.
Doch die Menschen vermehrten sich, und so wurden auch die Kinder immer zahlreicher. Für den Weihnachtsmann wurde die Belastung im Job immer höher, auch das Rentier brauchte jetzt öfter eine Pause. Da wandte sich der Weihnachtsmann an Gott und bat, dass dieser aus ihm zwei Weihnachtsmänner machen sollte. Gott erfüllte ihm diesen Wunsch. Jedoch halbierte er die Weihnachtsmänner in der Größe.
Doch auch zwei Weihnachtsmänner schafften es irgendwann nicht mehr, die unzähligen Wünsche der vielen Kinder zu erfüllen. Wieder fragten sie Gott, wieder wurden sie erhört, wieder wurden sie kleiner und kleiner und kleiner …

Die Illustratorin Marika Maijala hat Motais Geschichte in Kreidezeichnungen umgesetzt, die ein ganz besonders heimeliges Weihnachtsgefühl aufkommen lassen. Zwischen Schneegestöber schleppen die rotbemützten Weihnachtsmänner Geschenke zu den Rentieren, Kinder laufen Schlittschuhe, Eltern hetzen durch die vorweihnachtliche Stadt. Die Bilder sind im Stil von Kinderzeichnungen gehalten, was durchaus nicht einfach hinzubekommen, sondern eine große Kunst ist. Sie sind dadurch jedoch ganz dicht bei den kleinen Betrachtern und sind über jeden Zweifel an dieser Erklärung erhaben.

Für Kinder, die jedoch der Überzeugung sind, dass das Christkind die Geschenke bringt, dürfte Tausend Millionen Weihnachtsmänner allerdings ein harter Brocken sein. Denn auf diese Grundsatzfrage antwortete dieses Buch leider nicht. Ich bin mir auch nicht sicher, ob es überhaupt ein Bilder- oder Kinderbuch gibt, das hier mal für Aufklärung sorgt.  😉

Hiroko Motai: Tausend Millionen Weihnachtsmänner, Übersetzung: Anu Stohner, Illustrator: Marika Maijala, Sauerländer, 2015, 40 Seiten, ab 4, 14,99 Euro

Es begab sich aber zu der Zeit …

adventNeulich durfte ich im Hamburger Literaturhaus eine ganz besondere Lesung erleben. In der Reihe „Spaß mit Büchern“ las Autorin Ilona Einwohlt aus ihrem neuen Kinderbuch Advent, Advent, die Bude brennt vor etwa 60 Erst- und Zweitklässlern.
Wer jetzt denkt, dass das eine ohrenbetäubende Veranstaltung gewesen sein muss, kennt Hamburger Schulkinder nicht. Aufmerksam, gespannt schauend, mitfiebernd lauschten sie Ilona Einwohlt, die von Lucas nervenaufreibenden Erlebnissen in der Vorweihnachtszeit berichtete.

Beim 10-jährigen Erzähler geht es nämlich alles andere als besinnlich zu. Lucas chaotische Mutter, die nach der Trennung vom Mann, endlich mal alles richtig machen möchte, fackelt aus reiner Schusseligkeit die Wohnung ab. Hochschwanger muss sie sich nun mit Luca und seiner großen Schwester sowie dem fast federlosen Papagei Bruder Jakob, der sämtliche Weihnachtslieder trällern kann, auf die Suche nach einer Unterkunft machen. Im Nobelhotel fühlen die drei sich allerdings nicht besonders wohl, bei Mamas Freundin Maria ist es zu eng, bei der Oma zu laut, bei der Tante zu aufgeräumt. Ein rundlicher Taxifahrer, der – hohoho – ganz erstaunlich an den Weihnachtsmann erinnert, fährt die Familie von einer Unterkunft in die nächste. Doch schließlich finden Lucas muslimische Freunde Mayla und Ibi eine Lösung, wo die Wohnungslosen unterkommen können …

Ilona Einwohlts Adventsgeschichte ist ein großer Spaß, inhaltlich wie sprachlich. Sie vereint alle Ingredienzien, die christlich geprägte Menschen aus der biblischen Weihnachtsgeschichte kennen: eine Hochschwangere, die Suche nach einer Unterkunft, wenig christliche Mitmenschen. Dass die Rettung von muslimischer Seite kommt, ist in unseren schwierigen Zeiten mit unzähligen Flüchtlingen und immer noch andauernden und anwachsenden Ressentiments und Vorurteilen ein wichtiges Zeichen.
Für die Kinder im Roman ist es  – ganz im Sinne Lessings  – völlig unerheblich, welcher Religion man angehört. Ibi formuliert es so: „Mayla denkt, sie muss sich zwischen Allah und Gott entscheiden […]. Erklär du ihr mal, dass der ein und derselbe ist und dass es völlig egal ist, zu wem sie betet. Hauptsache, sie glaubt an irgendwen.“ Klarer kann man die Verbindung von Christentum und Islam wohl kaum auf den Punkt bringen.

Die Kinder im Literaturhaus waren eine multikulturell-globalisierte Truppe, die diese Sätze mit aller Selbstverständlichkeit und Lässigkeit akzeptierten. Von Aufregung oder Unverständnis keine Spur. Die Freundschaft zwischen Luca, Mayla und Ibi im Roman ist wichtiger als jede kleinkrämerische Unterscheidung, wer Weihnachten feiern kann, darf oder nicht. Sie feiern. Alle. Und zwar zusammen. Und genau das sollten auch die Erwachsenen. Die Kinder machen vor, wie einfach das ist.

Ilona Einwohlts Advent, Advent, die Bude brennt hat für mich das Zeug zum weihnachtlichen Dauerbre … äh … Longseller.

Ilona Einwohlt: Advent, Advent, die Bude brennt. Die Weihnachtsgeschichte nach Luca, Illustration: Tine Schulz, Klett Kinderbuch Verlag, 2015, 128 Seiten, ab 8, 12,95 Euro

Hilfe für Hochbegabte

willowSeit ich diesen Blog betreibe, habe ich so einige Bücher gelesen, in denen Figuren mit einer speziellen Sichtweise auf die Welt den Leser unterhalten und sensibilisiert haben. Diese Protagonisten waren entweder von schweren Krankheiten gezeichnet oder gehörten zum Kreis der Autisten, die durch ihre Inselbegabung Alltägliches anders wahrnahmen.

In diese Reihe würde ich nun auch das Buch von Holly Goldberg Sloan, Glück ist eine Gleichung mit 7, in der Übersetzung von Wieland Freund, stellen. Nur dass die 12-jährige Protagonistin Willow weder krank noch autistisch, sondern hochbegabt ist, was ihre Umwelt jedoch nicht erkennt.

Willow hat einen Faible für die Zahl 7 und ist an medizinischen Zusammenhängen, vor allem Hautkrankheiten, interessiert. Darüber hinaus liebt sie ihren Garten, der in der Wüste Kaliforniens einer Oase gleicht. Als ihre Adoptiveltern bei einem Autounfall ums Leben kommen, bricht Willows fein austarierter Alltag zusammen. Sie steht ohne Angehörige da und wäre den Behörden heillos ausgesetzt, würden sich nicht der überforderte Sozialarbeiter Dell, Willows neue Freundin Mai und deren Mutter Pattie um sie kümmern.

Bei aller Tragik lebt diese Geschichte von Willows nüchternem, analysierenden Blick auf das Chaos und die Unvollkommenheit, das sie umgibt. Herausgerissen aus ihrem geordneten Zuhause lernt sie anderen „Lebensformen“ kennen: Mai und ihre vietnamesische Familie leben in einer Garage, Dell ist an der Schwelle zum Messie und schummelt sich so durch. Willows distanzierte, aber pragmatische Art setzt schließlich Dinge in Gang, die nicht nur ihr Leben ändern, sondern auch das ihrer Helfer.
Die Komik, die durch das Aufeinanderprallen dieser Welten unweigerlich entsteht, lässt einen das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Darüber habe ich dann auch das Übermaß an Drama – hochbegabtes Adoptivkind verliert Eltern und kämpf gegen die Behörden – mit Nachsicht akzeptieren können. Denn natürlich schließt man Willow, die als Ich-Erzählerin agiert, ins Herz.

Für junge Leser dürfte Willows Leidenschaft für Krankheiten jedoch ein sprachlich harter Brocken werden, denn sie scheut nicht davor zurück, die medizinischen Fachtermini zu benutzen, die schon Erwachsene nicht immer verstehen. Sie zeigt so zwar ihre hohe Intelligenz, beweist gleichzeitig jedoch, dass Wissen nicht vor Trauer schützt. Der Zusammenhalt von Menschen, so unterschiedlich sie auch sein mögen, ist in jedem Fall wichtiger als 7er-Reihen.

Holly Goldberg Sloan: Glück ist eine Gleichung mit 7, Übersetzung: Wieland Freund, Hanser Verlag, 2015, 303 Seiten, ab 12, 16,90 Euro

Eine Frage der Ehre

olgaSpätestens seit Erich Kästners Emil und die Detektive haben Detektivgeschichten einen festen Platz in deutschen Kinderzimmerregalen. Eine aktuelle Ermittlerin habe ich jetzt in Barbara van den Speulhofs Buch Olga & Co kennen- und lieben gelernt.

Olga, eine clevere 11-Jährige, ist in diesem Band ihrem zweiten Fall auf der Spur. In ihrer Klasse geschehen nämlich ein paar ganz blöde Dinge: ein Freundschaftsbuch wird geklaut, eine Jacke wird mit Farbe besprüht, ein Kaninchen verschwindet. Die Erwachsenen haben allerdings nichts besseres zu tun, als gleich von einem Kind (dem oder der Täter_in) auf alle zu schließen und die ganze Klasse, ja die ganze Schule schlecht zu machen. Und so etwas kann Olga überhaupt nicht ab, denn das geht gegen die Ehre der Kinder.
Also ermittelt sie, spricht mit ihren Mitschülern, trägt Beweise zusammen, geht aus Berufsgründen auf eine Geburtstagsparty und telefoniert in immer kürzeren Abständen mit ihrer Freundin Co, die in Schweden wohnt, Olga aber zu Weihnachten besuchen kommt. Gemeinsam ziehen sie den Kreis um die Verdächtigen immer enger …

Van den Speulhofs Olga-Reihe ist wunderbare Spannungsliteratur für Mädchen, die allem und jedem auf den Grund gehen. Dabei kann man auch sehr gut mit Band 2 in Olgas Welt einsteigen. Olga und ihr kleiner Bruder Juri, der sich immer augenblicklich in jede neue Frau in seinem Leben verknallt, sind liebevoll gezeichnet und überzeugen als Geschwisterpaar. Die Freundschaft zwischen Olga und Co besticht dadurch, dass sie auch über die Distanz funktioniert. Sie zeigt kleinen Leserinnen, dass gute Freunde nicht immer gleich um die Ecke wohnen müssen.
Über Juri steuert die Autorin lustige Wortverdreher und Wortneuschöpfungen bei, so dass die Lektüre auch auf sprachlicher Ebene immer wieder etwas unterhaltsam Neues zu bieten hat.

Auflösung und Hintergründe der inkriminierenden Taten passen übrigens perfekt in die Weihnachtszeit. Und das Buch macht sich im Nikolausstiefel ziemlich gut.

Barbara van den Speulhof: Olga & Co. Die Sache mit dem Glücksräuber, Fischer KJB, 2015, 224 Seiten, ab 8, 10,99 Euro

[Gastrezension] Diese Bücher verkürzen den Advent …

adventJetzt, wenn die Temperaturen frostiger werden, es tagsüber gar nicht mehr hell wird, selbst auf den kleinsten Plätzen Weihnachtsmärkte eröffnen und sogar Hamburg einen Sonntagnachmittag in magischem Schneeweiß glitzerte, kommt man endlich in Weihnachtsstimmung. Aber was macht man in den kommenden Wochen? Adventskalender wirken ziemlich profan. Helfen können zwei Bücher, die die Zeit bis Heiligabend viel schöner versüßen und von denen alle etwas haben:

Ausgerechnet am ersten Dezember verfängt sich die Fliege Bisy in Kai Pannens Buch Du spinnst wohl! im Netz der Spinne Karl-Heinz. Die freut sich über den Festtagsbraten, verschnürt Bisy zum Paket und will ihn schön bis Heiligabend abhängen lassen. Aber so leicht lässt der wort- und weltgewandte Bisy sich nicht einwickeln und zum Essen degradieren. Sein Name ist nicht nur onomatopoetisch, also lautmalerisch zu verstehen. Die flotte Stubenfliege ist sehr umtriebig, also busy, weiß von Supermärkten voller Köstlichkeiten für jeden Krabbeltiergusto unter der Spüle zu erzählen, gibt Tipps für festliche Dekoration und ist eine hervorragende Netzwerkerin. Und in 24 Tagen im Advent kann viel passieren und sich viel ändern.

Kai Pannen erzählt in seiner cartoonesk illustrierten Adventsgeschichte von einer außergewöhnlichen Freundschaft. Einer unmöglichen eigentlich. Denn die Spinne hängt immer nur auf ihrem Sofa ab und bekommt nichts mit von der Welt. Das liegt an ihrem fesselnden Wesen und ihren für alle anderen extrem ungesunden Ernährungsgewohnheiten, die bisher jede Kontaktaufnahme scheitern ließen. Selbst Karl-Heinz‘ Tante Kassandra würde ihn nach Spinnenart bei Gelegenheit als Zusatzhappen goutieren, was das Verhältnis zu ihr doch sehr distanziert macht.
So verlässt Karl-Heinz nur selten das Netz, verputzt Unmengen von Süßigkeiten, bekommt Zahnschmerzen, weiß aber weder, dass es überhaupt einen Zahnarzt gibt, der ihn von seinen Schmerzen erlösen könnte, noch wo der zu finden ist. Bisy hingegen kennt sich aus und erzählt der Spinne von dem Zahnarzt, der am goldenen Bilderrahmen praktiziert. Karl-Heinz’ Kommentar: „Typisch, so eine teure Gegend kann sich auch nur ein Zahnarzt leisten.“ So locker und witzig geschrieben ist diese Adventsgeschichte, deren 24 Kapitel vom 1. Dezember bis Heiligabend zum Vorlesen einladen, wirklich ein großer Spaß, süß, aber nicht so zuckrig und wesentlich inhaltsreicher als jeder Adventskalender.

Wer jetzt meckert – „Das ist doch total unrealistisch!“ –, dem sage ich nur: Hey, das ist keine biologische Abhandlung über die Interaktion von Insekten und Spinnentieren, obwohl manche Details stimmig sind. Aber die Originalgeschichte vom Christkind erhebt auch nicht Anspruch auf historische Exaktheit, ganz abgesehen von den Abwandlungen mit Weihnachtsmann, fliegendem Rentierschlitten und Overnight-Express-Lieferung durch den Kamin. Eine Adventsgeschichte soll die Wartezeit auf Heiligabend verschönern, sie soll aufheitern, glücklich machen und an das Gute in der Welt glauben lassen. Und das gelingt Kai Pannen ganz famos!

adventBei jeder Neuerscheinung aus dem brillanten aracari Verlag sind meine Erwartungen hoch. Vor fünf Jahren starteten die Schweizer mit dem berührenden koreanischen Bilderbuch Abschied von Aika. Zwei Jahre später landete aracari einen absoluten Bestseller mit dem kunterbunten Gefühlskaleidoskop Heute bin ich der Niederländerin Mies van Hout. Auch Guido van Genechtens knuffiger Schneemann Ben hat bei den Eidgenossen seine verlegerische Heimat gefunden. Und jetzt gesellt sich mit Der kleine Christbaum die Belgierin Ruth Wielockx dazu, übersetzt von Martin Rometsch.

Die Geschichte von dem noch jungen Nadelgewächs, das auch endlich zum Zuge kommen möchte, ist niedlich. Der kleine Baum beneidet seine großen Freunde, werden diese doch zum „Bäcker-Christbaum“, „Metzger-Christbaum“ oder „Marktplatz-Christbaum“. Da möchte der Kleine natürlich mithalten. Zum Glück kommt schließlich der Weihnachtsmann persönlich vorbei und überträgt ihm quasi die Hauptrolle für Christbäume …
Das ist ganz schön, aber auch etwas schade, denn die Story hätte mehr Potenzial gehabt. Auch dass die Bäume alle Gesichter haben, die an altmodische Bilderbuchsonnen erinnern, wirkt etwas behäbig.
Allerdings ist es fast schon mutig, und das sage ich als überzeugte Atheistin, heute politisch unkorrekt von einem Christbaum zu sprechen und potenzielle Käufer abzuhalten, vielleicht aber auch andere umso mehr anzusprechen… Der Originaltitel lautet De kleene kerstboom, also eigentlich„Der kleine Weihnachtsbaum“, aber „Christbaum“ klingt natürlich auch weniger hölzern als Weihnachtsbaum oder womöglich „Jahresendzeitgewächs“.

Dieses putzige Bilderbuch passt trotzdem sehr schön zum Thema Weihnachten, illustriert es doch ganz vortrefflich, dass zu hohe Erwartungen die Freude trüben können.

Elke von Berkholz

Kai Pannen: Du spinnst wohl!, Tulipan Verlag, 2015, 99 Seiten, ab 4,14,95 Euro

Ruth Wielockx: Der kleine Christbaum, Übersetzung: Martin Rometsch, aracari Verlag, 2015, 32 Seiten, ab 4, 13,90 Euro

Auswanderungskunst

MigrarWimmelbücher stehen ja hoch im Kurs. Seit vielen Jahren schon. Nun hat mich eines erreicht, das man Kindern kaum in die Hand geben möchte, so kunstvoll ist es gemacht, und so düster ist seine Botschaft. Ein Kunstbuch für Erwachsene mehr als für Kinder. Und doch geht es auch die Kinder etwas an.
Anfangs, oben auf dieser ausklappbaren meterlangen Seite, scheint die Sonne freundlich vom Himmel. Vögel schwirren zwischen den Wolken umher, links geht schon der Mond auf. Eine Idylle, möchte man meinen. Doch was der Autor José Manuel Mateo hier in einem kurzen Text, übersetzt von Ilse Layer, erzählt und was der Illustrator Javier Martínez Pedro in schwarz-weiße Bilder umgesetzt hat, ist keine Idylle.

Mateo erzählt in Migrar.Weggehen von dem Wandel, der in einem mexikanischen Dorf vonstatten geht. Die Männer verlassen das Dorf, die Felder bleiben unbestellt, die Frauen und Kindern haben nicht mehr genug Geld. So auch die Familie des namenlosen Erzählers. Als sein Vater kein Geld mehr schickt, machen sich der Junge, seine Mutter und seine Schwester auf in die USA.
Mit dem Bus geht es zu den Bahngleisen, dort springen sie illegal auf einen Güterzug. Auf Zwischenhalts müssen sie sich vor uniformierten Männern verstecken. Die drei laufen zu Fuß weiter und überwinden den Zaun, schaffen es bis nach Los Angeles.

MIGRAR 2Das Thema der Auswanderung aus Mexiko bzw. der illegalen Einwanderung in die USA habe ich hier im Sommer schon einmal anhand von Dirk Reinhardts Buch Train Kids vorgestellt. Das Werk von Mateo und Martínez Pedro passt genau dazu. Hier werden zwar die Qualen der Reise nicht ausführlich beschrieben, der Text ist kurz und deutet die ganzen Gefahren und Hindernisse eher an, doch dafür klappt man hier ein dichtbemaltes schwarz-weißes Leporello auf.

Auf neun querformatigen Seiten hat Martínez Pedro in der Tradition des alten aztekischen Kodex‘ ein Wimmelbild gemalt, das die Stationen der Reise illustriert. Im anfänglichen Idyll sind die Häuser bewohnt, die Felder bestellt. Die vielen Menschen haben die Arme vor Freude erhoben, sie scheinen zu tanzen. Die Frauen holen Wasser vom Brunnen, die Kinder baden. Doch dann packen die Männer Taschen und Rucksäcke, verlassen das Dorf, die Fenster der Häuser werden vernagelt. Ein Leben ist dort nicht mehr möglich.
An dem Zug, den auch die Mutter mit ihren beiden Kindern nimmt, hängen viele Menschen oder sitzen auf dem Dach. Mit der Zugfahrt wandelt sich auch die Landschaft, Felder und Palmen verschwinden, Kakteen wachsen stattdessen in der Wüste.
In den USA schließlich beherrschen Autobahnen und Hochhäuser alles. Die Plattenbauten am unteren Ende des Leporello sind nicht schön, erinnern mich fast an Osterberlin, aber sie beherbergen die Hoffnung, den Vater wiederzufinden und endlich ein besseres Leben zu führen.

Dieser Leporello bietet sehr viel zum Schauen und Entdecken. In der verwobenen Gesamtkomposition macht man den Schrecken der Geschichte nicht gleich aus. Mit kleineren Kindern kann man auf visuelle Schatzsuche gehen, sollte und muss aber auch einiges erklären, damit keine Angst aufkommt, wenn die Einwanderer von den Zügen geholt werden.

Diese illustratorische Perle, edel in schwarzes Leinen gebunden, mit Satinband zum Verschließen versehen, kann man wenden und dann die Geschichte auch im spanischen Original lesen. Sie wurde mit dem Preis der Kinderbuchmesse Bologna ausgezeichnet und erinnert uns daran, dass kein Mensch seine Heimat freiwillig verlässt, dass so eine Flucht oder Reise kein Zuckerschlecken und keine Vergnügungstour ist, und dass am Ende nicht immer das Paradies steht, sondern immer noch sehr viel Kummer und Heimweh. Das sehen wir momentan täglich in den Flüchtlingsunterkünften in unserem Land … und es sollte uns immer wieder zu denken geben.

José Manuel Mateo: Migrar. Weggehen, Illustration: Javier Martínez Pedro, Übersetzung: Ilse Layer, Edition Orient, 2015, 20 Seiten, 28,90 Euro

Männersachen

paulDie Stiftung Lesen hat neulich die aktuelle Vorlesestudie 2015 veröffentlicht. Herunterzuladen ist sie hier. Nach dieser Lektüre sollte es eigentlich niemanden mehr geben, der seinen Kindern nicht täglich vorliest. Denn Vorlesen ist scheinbar ein Wundermittel für Glück, Kompetenz – soziale wie inhaltliche – und Fröhlichkeit. Also eine traumhafte Aussicht, was die Bildung und das spätere Zusammenleben der nächsten Generationen angeht. Heute ist Vorlesetag. Also ran an die Bücher!
Oft wird allerdings von Erwachsenen gejammert, dass Jungs so wenig lesen. Was ein Wunder, möchte man sagen, wenn den Jungs die Vorbilder fehlen, weil Väter anscheinend nicht so häufig vorlesen wie die Mütter.

Nun denn, liebe Väter, hier kommt ein Vorlesebuch, das Euch zu Helden Eurer Söhne macht: Paul & Papa. Autorin Susanne Weber vereint darin 20 Kurzgeschichten, die den Alltag von Vater und Sohn hochleben lassen. Die beiden machen beispielsweise einen Männertag, backen Geburtstagskuchen für Mama, räumen auf, wenn auch widerwillig, gehen Eisessen oder haben auch mal schlechte Laune. Ganz normale Sachen eben, einer ganz normalen Familie, denn die Mama gibt es auch, doch hält sie sich im Hintergrund. Denn hier stehen eben mal die Männer im Mittelpunkt. Das ist bei der Masse an Büchern, die es vor allem für Mädchen gibt, durchaus okay und wichtig.

Die unaufgeregten Geschichten sind rasch gelesen und verzaubern doch. Denn sie lenken den Blick auf die alltäglichen Dinge, die uns ständig umgeben und denen wir Erwachsene vielleicht gar keine Beachtung mehr schenken, oder von denen wir nur genervt sind.
Beim gemeinsamen Vorlesen jedoch werden Vater und Sohn vielleicht Gemeinsamkeiten herausfinden oder den jeweils anderen mit ihrer Sichtweise überraschen. Das Band, das sich so zwischen Sohn und Vater knüpft, kann in späteren Jahren vielleicht die ein oder andere Machtprobe aushalten.

Susanne Weber: Paul & Papa, Illustration: Susanne Göhlich, mixtvision, 2015, 72 Seiten, ab 4, 11,90 Euro