Ein Interview mit Peer Martin
Vor genau drei Jahren habe ich hier über den preisgekrönten Roman Sommer unter schwarzen Flügeln von Peer Martin berichtet. Es war eine zutiefst bewegende Lektüre – wie mir meine eigene Rezension in Übereinstimmung mit meiner Erinnerung bestätigte.
Nun habe ich auch die Folgebände Winter so weit und Feuerfrühling gelesen. Wieder hat es extrem lang gedauert – nicht unbedingt wegen des Umfangs der beiden dicken Bände, sondern wegen des erneut sehr belastenden, extrem realitätsnahen Inhalts, den man zum Teil nur häppchenweise erträgt.
Die Geschichte von Nuri und Calvin geht nach dem dramatischen Ende des ersten Teils nämlich noch mal eine Runde heftiger weiter.
In Band 2 macht Calvin, der eigentlich in einem Zeugenschutzprogramm untergekommen ist, sich nach Syrien auf, um sein letztes Versprechen an Nuri zu erfüllen. Bei der Suche nach dem Mädchen Dschinan gerät er in so gut wie alle kämpfenden Gruppierungen im Kriegsgebiet, landet beim IS und in den Folterkellern des Assad-Regimes, gelangt aber auch zu den Kurden und YPG-Kämpfern.
Nuri, die entgegen dem Ende von Band 1 nicht tot ist, lebt nun in Berlin und arbeitet mit Flüchtlingskindern. In ihrem Erzählstrang schildert Peer Martin auch weiterhin die rechte Szene, dieses Mal mit dem Schwerpunkt auf den „deutschen Frauen“. Als Nuri schließlich erfährt, dass Calvin lebt, fliegt sie im dritten Teil zurück nach Syrien, um nun ihn dort herauszuholen. Gemeinsam treten sie, zusammen mit fünf Waisenkindern, die zu ihrer Familie werden, den mühsamen und gefährlichen Rückweg nach Deutschland an: als Flüchtende über das Mittelmeer.
Ich halte die Inhaltsangabe hier bewusst kurz – abgesehen davon, dass der Plot überaus komplex ist –, denn viel wichtiger ist es mir, hier Peer Martin, der mir ein paar Fragen per Mail ausführlich beantwortet hat, selbst über seine Bücher sprechen zu lassen.
Seine Antworten sagen mehr, als meine Zusammenfassung es je könnte.
War Sommer unter schwarzen Flügeln von Anfang an auf drei Bände ausgelegt?
Peer Martin: Zu Beginn, als die Idee entstand, nein. Aber während des Schreibens wurde rasch klar, dass keines der angerissenen Themen „beendet“ ist: Die Weltpolitik und auch der Verlauf des Krieges in Syrien änderten sich radikal, für mich beides eher unvorhersehbar. Als ich zu schreiben begann, gab es weder den IS noch Pegida oder die AfD (jedenfalls war sie noch nicht bekannt), wir waren noch weit entfernt von Trump, und die Türkei galt als beinahe-demokratischer Staat. Kein Stein scheint seitdem auf dem anderen geblieben zu sein. Daher entschied ich, dass es weitergehen muss, und das war dann schon mit dem Ende des ersten Bandes klar und wird ja auch auf den letzten Seiten durch Calvins Versprechen an Nuri, nach Syrien zu gehen und Dschinan aus dem Kriegsgebiet zu holen, angedeutet.
Waren Sie in Syrien (vor dem Krieg oder während des Schreibens)?
Lange vor dem Krieg bin ich mit Freunden durch Syrien gefahren. Was wir damals gesehen haben, wirkte wie ein moderner, fast heiler Staat, Menschen, die ihren Herrscher für seine Modernität liebten. Als Tourist bekommt man von der Unterdrückung in einem gut funktionierenden Regime beschämend wenig mit.
Wie schreibt man eine Geschichte, wenn sie von der Realität ständig eingeholt und noch übertroffen wird?
Das ist eine sehr gute Frage. Ich glaube, eigentlich ist es unmöglich, aber man könnte sagen, der Teufel reitet mich, es dennoch zu tun.
Das Interessante daran ist, dass es sich mehr wie ein Spiel anfühlt, eine Art global interaktives Computerspiel: Ich recherchiere, während ich schreibe, ich lese in tausend Artikeln meine eigene Geschichte und stelle sie dann zusammen bzw. schreibe sie neu, indem ich die gelesenen Informationen verwende, beispielsweise recherchiere ich einen bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit, da der Protagonist dort eigentlich vorbeikommen muss, und dann entfaltet sich vor mir ein ganzes Szenario an Dingen, die ihm offenbar dort passiert sein müssen, weil sie einfach gerade dort passiert sind.
Das Schlimme daran ist, dass die Schrecken der Realität die der Fiktion immer und grundsätzlich ausstechen.
Beim dritten Band, „Frühling“, musste ich zu Beginn teilweise in die Zukunft schreiben und war am Ende sehr, sehr nahe an der Gegenwart, die mich überholt hatte. Beim Lektorat, das ja meist erst ein oder zwei Jahre später stattfindet, hat sich die Realität natürlich schon wieder geändert … Manchmal gehen Dinge auch hin und her. Als ich mit Antonia Michaelis zusammen an „Grenzlandtage“ arbeitete, schrieben wir über ein Griechenland, das den Flüchtlingen gerade mehr Rechte und Freiheiten eingestand und über ein Europa, das sich öffnete. Der Protagonist hatte aber noch Angst vor den ihm bekannten alten Zuständen der Internierung. Als das Buch erschien, war wieder alles rückläufig, und heute sind die Ängste des Protagonisten mehr als begründet, da wir zurück bei der kompletten Internierung aller Flüchtlinge in Gefangenlager-ähnlichen Zuständen sind und vor einem vollkommen abgeriegelten Europa stehen.
Wie gelingt es Ihnen aus der Distanz über Syrien und Deutschland zu schreiben?Tatsächlich ist es leichter, aus der Distanz über Syrien als über Deutschland zu schreiben, da Syrien immer schon fern und ich auf meine Recherche und die Erzählungen von Freunden angewiesen war. Seit ich in Kanada lebe, vermische ich manchmal im Kopf Kanada und Deutschland, da es auch Parallelen in der Flüchtlingspolitik gibt, dann aber Dinge doch wieder grundlegend anders sind.
Daher kommt der Protagonist meines nächsten Romans aus Quebec, und ich hoffe, ich habe ihm nicht versehentlich irgendwo zu deutsche Eigenschaften angedichtet.
Reicht die Recherche übers das Internet aus, um ein Gefühl für die Länder zu entwickeln? Oder hatten Sie Informanden vor Ort?
Ich habe vor allem während der ersten beiden Bände viel mit Freunden aus Syrien gesprochen, die ich in Deutschland während des Studiums kennengelernt hatte, die aber währenddessen nicht „vor Ort“ in Syrien waren. Zu einem von ihnen, der zurückgegangen ist, haben wir leider jeglichen Kontakt verloren. Das ist das Problem der Informanden „vor Ort“ – sie leben sehr gefährlich, und wir können nur das Beste hoffen. Ein anderer Freund ist noch in Berlin, er hat die beiden ersten Bände für mich korrekturgelesen und zusammen mit mir den Plot zum dritten entwickelt, da er damals gerade dabei war, seine Freundin aus Syrien „herauszuholen“, während ich an diesem dritten Plot saß. Merkwürdig war dann für mich die doppelte Distanz – der Syrer in Berlin, mit dem ich telefonierte und schrieb, und ich in Kanada, der teilweise über die Netzrecherche besser über die illegalen Wege Syrien – Türkei-Griechenland – Deutschland Bescheid wusste.
Wie sehr hat Sie die Geschichte von Nuri und Calvin persönlich belastet?
Es ist weniger die Geschichte um Nuri und Calvin, die mich belastet, da ich auf sie immerhin einen gewissen Einfluss habe. Keinerlei Einfluss habe ich auf die Weltpolitik und die Realität, das belastet mich sehr viel mehr. Zu viel Recherche macht leider bitter, da es einen gewisse negative Entwicklungen vorausahnen lässt. Sie sind alle eingetroffen und haben meine Ahnungen übertroffen, das schmerzt.
Was haben Sie zum Ausgleich zu den Schreckenskapiteln in Syrien, als Calvin in die Hände des IS fällt, gemacht? Das verdaut man ja nicht einfach so…
Die Schreckenskapitel in den Büchern sind mein Ausgleich. Es ist einfacher, über Gewalt zu schreiben, als über sie zu lesen, denn, wie oben erwähnt: Das Geschriebene kann ich beeinflussen. Gleichzeitig entwickelt man beim Schreiben eine Distanz, man möchte, dass es lesbar bleibt und sprachlich gut ist, also sieht man das Geschehen aus einem sehr sachlichen Blickwinkel, ähnlich einem Maler, der ein Bild von, sagen wir, einem KZ malt. Er denkt plötzlich über Lichtverhältnisse und Farbkombinationen nach, so wie ich über Sätze und Worte. Tatsächlich ist das wohl eine sehr intensive Art, Dinge zu verdauen, es hilft aber ungemein. Überhaupt hilft, finde ich, das Beschäftigen mit Dingen dabei, den Schrecken vor ihnen zu verlieren. Böse gesagt könnte man behaupten: Man stumpft ab.
Man braucht aber wohl ein gewisses Maß der Abstumpfung, um den Mut aufzubringen, an Themen heranzutreten und zu versuchen, die Welt zu verändern.
Wie wirken auf Sie aus der Ferne der Aufstieg der AfD, der Neokonservativismus und das rechtskonservative „Outing“ vieler Intellektueller?
Ich mache jeden Tag drei Kreuze, dass ich hier bin. Das ist sehr feige von mir und überhaupt keine Lösung, und auch in Kanada haben wir Rechte und eine sogenannte Flüchtlingsproblematik, vor allem, da seit Trumps Regierungsantritt der, sagen wir, Flüchtlings-Druck auf Kanada wächst, hier ist nicht alles eitel Sonnenschein.
Dennoch habe ich in dem ja sehr viel engeren Deutschland (zweimal war sich seitdem da) ein Gefühl des Eingesperrtseins, es wirkt kafkaesk. Und ich bin froh, dem entkommen zu sein, zumal meine Frau und ich immer wieder Parallelen zu den Zwanzigerjahren sehen, vor denen wir lieber die Augen verschließen würden. Damals waren es ihre Eltern, die, etwas später und gerade noch rechtzeitig, den Absprung geschafft haben. Wir witzeln manchmal darüber, dass wir ja ein Gästezimmer haben, und wie voll es dort wohl werden wird, wenn aus Europa wieder die Menschen fliehen.
Warum ist Band 3 bei Tredition, einem Selfpublisher-Anbieter, herausgekommen? Warum hat Oetinger den Band nicht mehr bringen wollen?
Oetinger wollte schon den zweiten Band nicht machen, weshalb er, quasi unbeworben, im Taschenbuch erschienen ist. Das Problem ist: Band eins ist ein klassisches Jugendbuch, erste Liebe, Spannung usw. Band 2 und 3 gehen eher in den Bereich der Belletristik, viele Leser haben auch so reagiert, ihnen fehlte der „Zauber“ des ersten Bandes, das, was ich Zuckerguss oder Kitsch nennen würde. Die Protagonisten und die Geschichte sind erwachsen geworden, die Helden, gerade Nuri, sind nicht mehr die strahlenden, frischen, mutigen jungen Menschen, die sie waren, sie haben mehr Ecken und Kanten, werden realer, und durchleben die nicht gerade aufbauende Entwicklung unserer Zeit. Ich kann den Verlag also durchaus verstehen, Oetinger ist kein Belletristikverlag. Dennoch wollten Tom und ich (Tom, einer meiner Berliner Freunde, ist quasi der logistische Teil des Teams) das dritte Buch nicht einfach in der Schublade liegen lassen, wenn es eine Hand voll Leuten liest, reicht das schon.
Planen Sie ein neues Buch? Falls ja, mögen Sie etwas darüber verraten?
Ja. Allerdings versuche ich gerade, drei Bände in einen zu quetschen und frage mich, ob das gut geht.
Wie gesagt, diesmal kommt mein Protagonist aus Kanada. Es ist ein junger Mensch, der eine Reportage über einen ganz anderen Fluchtweg plant, einen, der uns hier mehr angeht und von dem in Europa wenige Menschen wissen, wie ich festgestellt habe: Die Reise auf der Panamericana nordwärts.
Dies ist die Alternative für die Afrikaner, die nicht im Mittelmeer ertrinken wollen – und für viele andere Menschen, die den Weg schon länger nutzen. Die relativ laxen Einreisebestimmungen von Ländern wie Brasilien gestatten es beispielsweise Somaliern oder Bangalen, dorthin zu fliegen oder, von Afrika aus, mit dem Schiff zu reisen. Dann machen sich diese Menschen auf den Weg durch sämtliche Länder Süd- und Mittelamerikas bis in die USA und inzwischen bis nach Kanada. Dies ist auch der Weg des afrikanischen Jungens, mit dem ich in dem kleinen Buch „Was kann einer schon tun?“ gesprochen habe, und während ich dafür recherchierte, kam mir die Idee, über die Panamericana-Reise zu schreiben. Im Darien-Dschungel zwischen Kolumbien und Panama kommt es seit einigen Jahren zu der kuriosen Situation, dass sich, da das die engste Stelle ist und alle „da durch müssen“, Menschen aus den unterschiedlichsten Ländern und mit den unterschiedlichsten Fluchtgründen treffen, mitten im Dschungel. Dort ist ein „Loch“ in der Panamericana: Es gibt keine Straßen, nur Fuß- und Wasserwege durch dichtesten Urwald, wo einheimische „Coyoten“, Schleuser, die Menschen über die Grenze führen. Abgesehen vom Darien-Dschungel ist es aber generell eine sehr interessante und vor allem sehr weite Reise, die durch viele, viele Länder mit vielen, vielen unterschiedlichen und doch ähnlichen Problemen führt. Das Buch beleuchtet Fluchtgründe abseits vom klassischen Krieg, den man sich unter einem Krieg eben vorstellt. Es geht sehr viel um die momentane anthropogene Zerstörung der Erde: der Klimawandel und der Ausverkauf der globalen Energieresourcen ist eigentlich, wenn man genau hinsieht, der vorrangige Fluchtgrund überhaupt. Er wird eine Völkerwanderung auslösen, die wir uns heute kaum vorzustellen im Stande sind. Man vergisst oft, dass auch Kriege durch Dürre und Missernten, Streit um Wasserrechte oder Bodenschätze bedingt werden: Ein Krieg ist vorrangig ein Wirtschafts- und nur nachrangig und angeblich ein Glaubenskrieg oder eine politische Auseinandersetzung.
Aber hier sind wir schon zu tief im Thema.
Und da das alles abschreckend theoretisch klingt:
Der nächste Roman wird eine Abenteuergeschichte sein, die einen kleinen somalischen Jungen und einen 19-jährigen Kanadier mit einer unhandlichen Photokamera vom Amazonasdschungel über mexikanische Zugdächer bis ins kanadische Eis führt. Eine Geschichte über die Unmöglichkeit, „nur“ über etwas Bericht zu erstatten, ohne tief, vielleicht tödlich, darin involviert zu werden.
Und letztlich ein Aufruf dazu, dieses runde blaue Ding, auf dem wir leben, irgendwie noch zu retten.
Lieber Peer Martin, herzlichen Dank für diese umfangreichen Einblicke!
Bis also diese neue Abenteuergeschichte von Peer Martin hier auf den Markt kommt, lest Winter so weit und Feuerfrühling – aktuellere Fiktion zu den Geschehnissen in Syrien gibt es – meines Wissens – momentan nicht. Die Leser_innen von Band 1 dürften in den drei Jahren, die zwischen den Erscheinungen der Bücher liegen genauso erwachsen geworden sein wie die beiden Helden und somit auch der vom Zuckerguss befreiten Story gewachsen sein. So hart sie auch ist, sie erklärt so manches, was wir schon wieder verdrängt haben.
Peer Martin: Winter so weit, Oetinger, 2017, 560 Seiten, 16 Euro
Peer Martin: Feuerfrühling, Tredition, 2017, 524 Seiten, 15,99 Euro