Goldrichtig

dumplinWillodean, 16, ist dick. Sie sagt es selbst von sich, am liebsten noch bevor andere sie merkwürdig anschauen oder einen dummen Spruch machen. Dicke Menschen haben es nicht einfach, das ist bekannt, in Zeiten von Magermodels und TV-Formaten wie „GNTM“ oder „The Biggest Loser“. Man nennt so etwas auch Gewichtsdiskriminierung.

Julie Murphy erzählt in ihrem Roman Dumplin‘. Go big or go home von eben so einem Mädchen, das nicht den angeblichen Schönheitsidealen der Gesellschaft entspricht. Will arbeitet im Burger-Laden, liebt Dolly Parton und trauert um ihre früh verstorbene Tante Lucy, die zum Schluss 225 Kilo wog. Von ihrer Mutter wird sie Dumplin‘, also Kloß, genannt, was Will mehr und mehr ärgert. Denn sie fühlt sich wohl in ihrem Körper und hat nicht vor, sich zu verändern oder ihre Essgewohnheiten aufzugeben. Will ist bei allem aber nicht das verschüchterte, unsichere Mädchen, sondern hat Ecken, Kanten und viel Selbstbewusstsein, weshalb sie nicht immer nur nett und zurückhaltend ist. Dann lernt sie im Job den schönen Bo kennen und verknallt sich. Bei Bo ist jedoch nicht ganz klar, ob er es ehrlich mit Will meint oder nur mit ihr spielt.

Als Will schließlich unter den Hinterlassenschaften ihrer Tante ein Anmeldeformular für den Schönheitswettbewerbs des Ortes findet, den ihre Mutter seit Jahren voller Leidenschaft und mit viel Selbstdisziplin leitet, meldet sie sich an. Mag es am Anfang eine Laune, ein nostalgischer Akt sein, doch sie tut es ganz bewusst und in dem Wissen, dass sie nie eine Chance haben wird.

Hier kommt beim Lesen zum ersten Mal extremer Klischeeverdacht auf, man möchte ahnen, dass sich hier eine Cinderella-hässliches-Entlein-Verwandlungs-Errettungsgeschichte anbahnt. Doch in diese Fallen tappt die Autorin glücklicherweise nicht. Sie stellt Will viel mehr drei weitere Mädchen an die Seite, allesamt Außenseiterinnen wegen ihres nicht normgerechten Aussehens, die sich, durch Will ermutigt, ebenfalls zu dem Wettbewerb anmelden. Auch sie sind natürlich chancenlos. Doch darum geht es den Mädchen – und den Leserinnen – dann irgendwann auch gar nicht mehr.

In diesem locker erzählen Unterhaltungsroman emanzipieren sich diese vier Heldinnen von den Zwängen der Gesellschaft, erobern sich ihren Platz, zeigen, was sie jenseits ihres Aussehens drauf haben. Ja, doch, in diesem Sinne bleibt es beim Klischee, aber es ist so liebevoll gemacht, so geschmeidig geschrieben, auch durch die Übersetzung von Kattrin Stier, dass man als Leserin nicht umhinkann diese vier zu lieben. Sie sind die eigentlichen Schönen der Geschichte, gegen die die anderen Teilnehmerinnen des Schönheitswettbewerbs wie Hungerhaken und überzeichnete Karikaturen der Modelszene daherkommen.

Allen Mädchen, die mehr Gewicht auf die Waage bringen oder nicht den Medien-Idealen entsprechen, schreibt Julie Murphy aus dem Herzen. Denn in einer Gesellschaft, in der die Medien mager als schön definieren, in denen verzerrende Kameras vorgeben, wie man vermeintlich besser auszusehen hat, und in der dicke Menschen öffentlich in Abnehm-Shows wie Freaks vorgeführt werden, ist es verdammt schwierig, sich selbst zu mögen, wenn man genau diesem Bild nicht entspricht. Sich mit seinen eigenen Pfunden und Rundungen der Öffentlichkeit zu stellen, sich dem Fat- und Bodyshaming-Storm auszusetzen gilt immer noch als mutig. Doch Will, die mit ihrer Teilnahme am Schönheitswettbewerb genau das tut, sagt: „Ich will nicht, dass es mutig ist. Ich will, dass es normal ist.“

Genau darin liegt die Stärke dieses Romans. Er macht Mut, sich zu stellen, er feiert die Differenz, aber er fordert auch von den anderen, den angeblich „Normalgewichtigen“, ihre Beurteilungen und Wertungen, ihre angeblichen „Normen“ und oberflächlichen Standards zu hinterfragen und sie endlich abzulegen. Der Mensch ist nämlich mehr als seine Kleidergröße.

Genau damit befasst sich auch der Roman Tanz der Tiefseequalle von Stefanie Höfler, der gerade für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2018 nominiert wurde.

Sie stellt jedoch den dicken Niko, 14, in den Fokus ihrer Geschichte. Niko scheint das perfekte Mobbingopfer zu sein. Durch seinen Körperumfang fällt er auf, kommt beim Sport nicht mit, steht unter Dauerbeobachtung und ist permanenten Hänseleien und Vorurteilen ausgesetzt.

Auch Sera, die Klassenschönheit mit ägyptischen Wurzeln, lacht zunächst über Niko. Doch sie, die zwar eher lakonische Sätze von sich gibt, ist eine genaue Beobachterin und stellt fest, dass Niko alle Attacken seiner Mitschüler mit stoischem Gleichmut erträgt. Als Niko dann auf dem Schulausflug Sera vor dem sexuellen Übergriff des angesagtesten Jungen schützt, kommen die beiden sich näher.

Voller Verwunderung und Unglauben nähern die beiden sich an. Sera kämpft gegen die gängigen Vorurteile gegenüber Dicken, Niko hadert, ob sich ein hübsches Mädchen wirklich für ihn interessieren kann. Höfler lässt die beiden je aus ihrer eigenen Ich-Perspektive erzählen, sodass die Leser_innen immer dicht an der Gefühlswelt der Helden dran sind – und sich durchaus ertappt fühlen können, was die eigenen Sichtweisen auf Menschen mit anderem Aussehen angeht.

Auch Niko hat, trotz aller psychischen Gründe für seine Statur, nicht vor, etwas an sich zu ändern, sondern sehnt sich nach uneingeschränkter Akzeptanz, also ebenfalls nach einem Zustand völliger Normalität. Dabei ist Normalität eigentlich der falsche Begriff, steckt doch schon wieder der Ausdruck „Norm“ darin. Viel eher sollte man von Gewichtsvielfalt sprechen und damit klar machen, dass alle Menschen, egal, wie sie aussehen, genau goldrichtig sind. Gerade in Zeiten eines Übermaßes an Selbstdarstellung, Ab- und Ausgrenzung, weil man sich dann angeblich besser fühlt (in jeglicher Hinsicht), kann man diese Aussage, die eigentlich banal ist, nicht oft genug wiederholen.

Dumplin‘ als Unterhaltungsroman wird sein Publikum finden, der Tanz der Tiefseequalle hat es schwerer, denn es ist leider kaum anzunehmen, dass dicke Jungs ein Buch mit diesem Thema lesen werden. Zumal sie ja nicht die sind, die sich ändern sollen, sondern die Menschen, die ihren Mitmenschen das Leben zur Hölle machen. So kann man eigentlich nur hoffen, dass Höflers Buch es als Schullektüre zu den Jugendlichen schafft und dort ein neues Klima im Umgang miteinander schafft. Das wäre goldrichtig.

Wer sich in Sachen Gewichtsdiskriminierung weiter informieren will – auch wie man sprachlich dicke Menschen nicht diskriminiert (z.B. durch den Verzicht auf Begriffe „Übergewicht“, was auf eine Normabweichung verweist, „moppelig“ oder „stark“, die euphemistische sind – dem sei die Website der Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung empfohlen, zu finden hier.

Julie Murphy: Dumplin‘ – Go big or go home, Übersetzung: Kattrin Stier, Fischer FJB, 2018, 400 Seiten, ab 14, 18,99 Euro

Stefanie Höfler: Tanz der Tiefseequalle, Beltz, 2017, 192 Seiten, ab 12, 12,95 Euro

 

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