Parole Emil!

kerrWer LETTERATUREN einigermaßen regelmäßig besucht, weiß, dass Erich Kästner hier einen festen Platz hat. Währen der Feiertage bin ich auf zwei verschiedene Arten mit Erich Kästner konfrontiert worden – und das mit sehr anregenden Folgen.
Zum einen lief vor Kurzem Erich Kästner und der kleine Dienstag im TV und lieferte eine bewegende Teil-Biografie dieses großartigen Schriftstellers, die sich auf sein Leben während der Nazi-Diktatur konzentrierte. Wer diesen Fernsehfilm noch irgendwo sehen kann, sollte dies unbedingt tun.

Eine ähnliche Geschichte findet sich im Kinderbuch des Briten Philip Kerr. In Friedrich der große Detektiv stellt er Erich Kästner einen fiktiven Nachbarsjungen zur Seite. Friedrich ist großer Kästner-Fan, hat Emil und die Detektive seit Erscheinen jeden Monat einmal gelesen und möchte nun ebenfalls Detektiv werden. Bis es soweit ist, spürt er zusammen mit seinen Freunden Albert und Viktoria verlorene Gegenstände auf und bringt sie zur Polizei. Doch die Zeiten sind im Wandel und das Vertrauen in die Polizei geht verloren. Das müssen die Kinder feststellen, als sie einen toten Maler (und Freund Kästners) im Tiergarten finden. Denn die Nazis haben die Macht übernommen, und Erich Kästner macht Friedrich und seinen Freunden klar, dass es nicht klug wäre, weiter Detektiv zu „spielen“.

Was Kerr hier auf sehr charmante und respektvolle Weise gelingt, ist es, einen Einblick in die Veränderungen des Alltags während der Nazi-Herrschaft zu geben. Friedrich ist ein aufgeweckter Junge, der durchaus mitbekommt, wie sich die Gesellschaft ziemlich schnell wandelt. Sein eigener Bruder wird erst Mitglied der HJ, später tritt er der SS bei. Durch die Freundschaft zu Kästner erlebt Friedrich die Bücherverbrennung auf dem Opernplatz mit und erkennt nach und nach, dass immer mehr Menschen (Kommunisten, Schwule, Juden) verschwinden.
Er bekommt zudem mit, dass Kästner nicht mehr arbeiten darf, aber das Land aus Rücksicht auf seine alte Mutter nicht verlassen will.

Kerr zeichnet ein eindrückliches Bild vom Berlin der 1930er-Jahre. Neben Erich Kästner lässt er Walter Trier, den Illustrator von Kästners Büchern, aber auch Max Liebermann und die Darsteller der Billy-Wilder-Verfilmung von Emil und die Detektive auftreten. Er schreibt jedoch keine Fortsetzung des Kästner-Buches, sondern verneigt sich respektvoll vor Kästner. Gleichzeitig macht er den jungen Leser_innen anschaulich klar, wie schwierig und gefährlich das Leben unter den Nazis war. Kästners kritischen Ton schlägt er an, ohne moralisch zu werden.

Ohne Bitterkeit geht es jedoch auch bei Kerr nicht aus – dafür ist die Zeit damals einfach zu grausam gewesen. Junge Leser_innen lernen hier jedoch, die Zeichen zu erkennen, die solchen Katastrophen, in die die Nazi die Menschen gestürzt haben, frühzeitig zu erkennen.
Bei der allgemeinen rechtslastigen Lage in der Welt ist das eine Fähigkeit, die heute gar nicht hoch genug geschätzt werden kann.

Für mich bedeutet dieses zufällige Kästner-Doppel zudem, dass ich mich endlich mehr mit dem Menschen Kästner beschäftigen möchte, mal wieder Fabian sowie Drei Männer im Schnee als Hörbuch genießen könnte. Und dann endlich mal die restlichen Kinderbücher von ihm lese, die ich immer noch nicht kenne. Ich glaube, das könnte als Literatur-Challenge für das noch junge Jahr durchgehen!

Philip Kerr: Friedrich der große Detektiv, Übersetzung: Christiane Steen, Illustration: Regina Kehn, Rowohlt Verlag 2017, 256 Seiten, ab 11, 14,99 Euro

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Von der Last des schlechten Gewissens

BlumaMit dem schlechten Gewissen ist das so eine Sache. Wenn man nicht völlig abgebrüht ist, lässt es einen nicht so schnell wieder los und frisst ganz schön viel Energie.

Das muss auch die neunjährige Bluma im Kinderroman von Silke Schlichtmann erleben. Darin schreibt sich die Protagonistin selbst ihren ganzen Kummer von der Seele, von einer Sache, die Erwachsene vielleicht erst mal als nicht so schlimm empfinden würden – denn wer hat nicht schon mal eine Süßigkeit stibitzt?

Bluma jedoch macht sich fürchterliche Sorgen, weil sie ihrer Nachbarsfreundin Alice, einer unkonventionellen älteren Künstlerin, eine ihrer seltenen, superleckeren, bitzelnden Gummischlangen geklaut hat. Und alles nur, weil Bluma zwei Sorgen auf einmal quälen: Sie hat eine Fünf in Mathe geschrieben und möchte den Hund Flocki der alten Thea Quast bei sich aufnehmen, die ins Altersheim soll. Doch den Eltern beides auf einmal zu sagen, das traut sich Bluma nicht, also wollte sie erst einmal Alice um Rat fragen. Doch die hat ausgerechnet an diesem Tag keine Zeit für Bluma. Allerdings gibt es bei Alice selbstgemachte magische Gummischlangen, die dafür bekannt sind, dass sie bei der Lösung von Problemen helfen.

Das dies jedoch nicht für heimlich geklaute Exemplare gilt, merkt Bluma ganz schnell – zum Glück noch bevor sie die Gummischlange ganz verspeist hat. Irgendwie muss sie jetzt versuchen, das nun allerdings kopflose Tier wieder an seinen Platz zu schaffen. Bei diesem Unterfangen verstrickt sich Bluma jedoch in immer mehr Ausreden, Notlügen und peinliche Situationen, sodass aus dem einst kleinen Fehltritt eine immer größere Last an schlechtem Gewissen wird. Denn alle Versuche, den Fehler unbemerkt wieder gutzumachen, gehen schief.

Silke Schlichtmanns Kinderroman, mit den atmosphärischen, rot-schwarzen Illustrationen von Ulrike Möltgen, ist ein gelungenes Beispiel dafür, wie man Kinder an die Fragen der Moral heranführen kann. Hier wird nicht von oben herab doziert, was richtig und was falsch ist, sondern Ich-Erzählerin Bluma zeigt, wie sehr ein schlechtes Gewissen intrinsischer Antrieb sein kann, den richtigen Weg zu suchen. Das große Herz der Heldin dürfte jede_n Leser_in entzücken.
Gleichzeitig erlebt Bluma aber auch, dass nicht alles, was wir aus der Beobachtung und durch die Erzählungen anderer erfahren, der Wahrheit entsprechen muss. Viel wichtiger ist es, den Mut aufzubringen, sich anderen gegenüber zu öffnen und das Gespräch zu suchen – egal, wie sehr man sich davor fürchtet.

Blumas Beispiel, wie sie den Weg zu dieser Offenheit und dem Vertrauen zu anderen Menschen findet, dürfte in jungen Leser_innen lange nachklingen und zusätzlich, wenn beide Seiten sich daran halten, zu einem gestärkten Eltern-Kind-Verhältnis führen.
Das hoffe ich zumindest.

Silke Schlichtmann: Bluma und das Gummischlangengeheimnis, Illustration: Ulrike Möltgen, Hanser, 2017, 176 Seiten, ab 8, 12 Euro

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Eine herzerwärmende wirbelverstürmte Weihnachtsgeschichte

steinhöfelNormalerweise steige ich in bestehende Serien, die sowieso schon zu den gefeierten Bestsellern gehören, nicht mehr ein. Doch nun konnte ich nicht anders und habe endlich mal eine Lücke in meinem Kinderbuchwissen geschlossen. Und das mit allergrößtem Vergnügen.

In seinem vierten Band der Rico-und-Oskar-Reihe lässt Andreas Steinhöfel nun seinen tiefbegabten Protagonisten Rico die Ereignisse eines Tages erzählen. Doch es ist – wie man sich durch Titel und Schneeflockencover fast denken kann – nicht irgendein Tag, sondern Heiligabend.
In Berlin braut sich an diesem Tag ein ausgewachsener Schneesturm zusammen, dennoch müssen Rico und Oskar trotzdem noch mal raus, um die letzten Weihnachtsgeschenke zu besorgen. Dabei kommen die beiden Freunde an einem Haus in der Urbanstraße vorbei, das in Rico die Erinnerung an die Erlebnisse vom vergangenen Sommer weckt: In einem vergessenen Hinterhof hat er eine Clique neuer Kinder kennengelernt und festgestellt, dass es ihm immer leichter fällt, Freunde zu finden. Sogar Oskar hat sich mit den neuen Freunden wohlgefühlt. Bis eines Tages sein geliebtes Souvenir aus dem Sommerurlaub verschwand.

Bei diesen bittersüßen Erinnerungen stellt sich im Wintersturm dann erstmal nicht so richtig besinnliche Stimmung ein. Alles wirbelt um Rico herum, seine Bingokugeln im Kopf scheinen schier zu explodieren. Doch in all dem Chaos, das zudem noch in der Dieffe 93 ausbricht, zwischen Weihnachtsbaumgeschleppe, verschwundenen Lebensmitteln und seltsamen Einkäufen, die Oskar tätigt, setzt Rico dann schließlich die entscheidenden Puzzleteile richtig zusammen.

Selbst wenn man – wie ich – die ersten Bände von Steinhöfels Reihe nicht kennt, kann man auch mit dieser Weihnachtsgeschichte ganz wunderbar in Ricos Kosmos einsteigen. Die Bewohner der Dieffe 93 und Ricos sich verändernde Familienkonstellation lernt der Leser auch hier rasch und umfassend kennen, die Hinterhofclique als Neuzugang bringt freche Mädchen ins Spiel, die bei den Jungs zusätzliche vorhormonelle Verwirrung stiften. Die zwei gegensätzlichen Helden, die Intelligenzbestie Oskar und den empathisch hoch begabten Rico, schließt man schon nach den ersten Sätzen ins Herz.
Ganz nebenbei beweisen Rico und Oscar ganz weihnachtsadäquat, was Nächstenliebe heißt und wie wichtig Entschuldigungen und Versöhnungen unter Freunden sind.

Die Leichtigkeit und der überbordende Sprachwitz von Andreas Steinhöfel inklusive Ricos naiv-großartigen Umdeutungen von schwierigen Wortzusammenhängen dürfte den vielen Fans hinlänglich bekannt sein. Ich habe mich so wunderbar unterhalten und sprachlich inspiriert gefühlt, dass ich die Vorgängerbände nun auch noch lesen muss, um diesen Genuss noch zu verlängern.

Kleinen Leser_innen dürften Ricos und Oskars Abenteuer gerade in der Vorweihnachtszeit jede Menge Spaß am Lesen vermitteln. Und damit hat Andreas Steinhöfel unter dem Aspekt der Leseförderung, die neulich auf der Jahrestagung der Bücherfrauen als eine wichtige Komponente unserer Gesellschaft angemahnt wurde, mal wieder alles richtig gemacht.

Andreas Steinhöfel: Rico, Oskar und das Vomhimmelhoch, Carlsen, 2017, 272 Seiten, ab 10, 14,99 Euro

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Der Kinderbuchblogger-Adventskalender 2017

Nachdem ich neulich an anderer Stelle den Advent fälschlicherweise um eine Woche vorverlegt habe, gibt es nun wirklich etwas vorweihnachtlich Schönes zum Advent zu berichten.

Ab dem 1. Dezember öffnen 13 Kinderbuchbloggerinnen jeden Tag ein Türchen am virtuellen Adventskalender und stellen Euch jeweils ein winterlich-weihnachtliches Kinderbuch vor – und verlosen es.
So könnt Ihr Euch vorweihnachtlich entspannt über schöne Lektüren beraten und inspirieren lassen – und ganz nebenbei auch noch jede Menge engagierte Buchmenschen kennenlernen, die ihre Passion für Bücher mit Euch teilen.

Die Blogtour wird dabei folgende Route nehmen:

1. Dezember bei Kinderbuch-Detektive
2. Dezember bei Kids&Cats
3. Dezember bei Lütte Lotte
4. Dezember bei Papillionis liest
5. Dezember bei Kinderbuch-Detektive
6. Dezember bei Die Bücherwelt von Corni Holmes
7. Dezember bei Favolina & Junior
8. Dezember bei Juli liest
9. Dezember bei Lütte Lotte
10. Dezember bei Buchverzückt
11. Dezember bei Familienbücherei
12. Dezember bei Geschichtenwolke Kinderbuchblog
13. Dezember bei Mint & Malve
14. Dezember bei Kunterbuntes Bücherregal
15. Dezember bei Familienbücherei
16. Dezember bei Letteraturen – also hier!
17. Dezember bei Papillionis liest
18. Dezember bei Kids&Cats
19. Dezember bei Kinderbuch-Detektive
20. Dezember bei Mint & Malve
21. Dezember bei Juli liest
22. Dezember bei Familienbücherei
23. Dezember bei Buchverzückt
24. Dezember bei Kinderbuch-Detektive

Um 0 Uhr des jeweiligen Tages gehen die Blogbeiträge online. Falls Euch das Buch des Tages dann total verzückt und Ihr es gewinnen wollt, müsst Ihr nur innerhalb von 48 Stunden einen Kommentar unter dem jeweiligen Post hinterlassen. Das ist also gar nicht schwer … und wird mit etwas Glück mit einem Buchpäckchen belohnt!

Wir alle freuen uns, wenn Ihr klickt, lest, schaut, kommentiert, weiterempfehlt, verlinkt – oder in Euren Lieblingsbuchladen geht und die vorgestellten Bücher an Weihnachten verschenkt!

Im Netz werden wir auf den bekannten Kanälen (also Facebook, Twitter, Instagram & Co.) unter dem Hashtag #kinderbuchadvent berichten.

Freut Euch auf einen wunderbuchmäßigen Advent & sagt es weiter…

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Kosmos für Kunst

MuseumSoeben hat Ulrike hier Bücher vorgestellt, die jungen Menschen nicht nur Kunst nahe bringen können, sondern auch selbst zu Stift und Pinsel greifen lassen  und – wer weiß – den einen oder anderen Künstler hervorbringen.
Was dann tatsächlich Kunst ist, darüber lässt sich vortrefflich streiten. Und wo kann man das besser als im Museum? Wo sich ganz viele Bilder, Objekte und Installationen befinden, die als Kunst gelten, weil sie sich in einem besonderen Gebäude befinden, auf dem fett Museum steht. Und wo ganz viele Menschen die Werke betrachten können.

Aber was ist ein Museum? Und: Wie kommt die Kunst ins Museum? Diese Fragen beantworten die Kuratoren und Kunsthistoriker Ondřej Chrobák, Rostislav Koryčánek und Martin Vaněk unter anderem in ihrem erstaunlichen, gleichnamigen Wimmelsachbuch.

Dies ist kein klassisches Kunstbuch mit Künstlerbiografien oder Darstellung von Epochen und Richtungen. Hier wird die Institution Museum als besonderer Kosmos mit vielen Beteiligten gefeiert. Und man spürt auf jeder der von David Böhm mit viel subtilem Witz illustrierten, teils auf Panoramabreite aufklappbaren Seiten die Begeisterung der Autoren für ihre Arbeit und Museen an sich. Dabei haben sich die tschechischen Kunstkenner nicht auf ein tatsächliches Gebäude kapriziert, sondern vom Architekten Svatoplik Sládecek einen puristischen Kubus, eine kühne Spielfläche für die Kunst, entwerfen lassen.

Ob man etwas über Kultur und Geschichte lernen möchte, endlich die Originale zu hundertfach gesehenen Reproduktionen sehen oder einfach nur vor dem Regen und Lärm flüchten möchte – gute Gründe für einen Museumsbesuch gibt es diverse. Mindestens ebenso vielfältig sind die Leute, die in einem Museum arbeiten und es am Laufen halten: Von der Kuratoren über die Öffentlichkeitsarbeit bis zum Restaurator und zur Raumpflegerin – ihre Aufgaben werden anschaulich und pointiert erklärt. Die Autoren zeigen, wie sie alle zusammen arbeiten und und jede und jeder wichtig ist, um eine Ausstellung auf die Beine zu stellen.

Denn es reicht noch lange nicht, dass ein Museum Kunstwerke sammelt und hortet, sei es durch Kauf, Schenkung, Leihgaben oder Nachlässe. Es geht vor allem darum, diese Werke lebendig zu präsentieren, sei es, indem man sie in einen klugen Kontext präsentiert oder sie in einem ungewöhnlichen Licht und neuen Blickwinkel ausstellt. Kunst entsteht im Auge des Betrachters: Für einige ist Kunst die täuschend echte Wiedergabe von Gesehenem und offensichtliche Kunstfertigkeit in der Pinselführung. Andere sind von in Formaldehyd eingelegten Tieren, riesigen Spinnenskulpturen oder kuriosen Kettenreaktionen fasziniert. Und hinter einem ungemachten, versifften Bett, wie es die englische Künstlerin Tracey Emin 1998 in eine Galerie stellte, kann sich eine dramatische und berührende Geschichte verbergen.

Museen sind vieles: bunt, streitbar, verstörend, unterhaltsam, spannend, erhellend – nur eins sind sie in den seltensten Fällen: langweilig.

Auf den letzten Seiten fordern die Autoren ihre Leser noch einmal heraus: In einem Glossar zeigen sie die Werke, die im Buch vorkommen. Bilder und Skulpturen aus allen Epochen, von einer Fruchtbarkeitsstatue über Meisterwerke wie Botticellis Venus, Caravaggios Rosenkranzmadonna oder van Goghs Sternennacht zu modernen Klassikern von David Hockney, Mark Rothko und Otto Dix bis zum Streetartkünstler Keith Haring und den witzigen Zeichner David Shrigley – alle bezaubernd und variationsreich wiedergegeben vom Illustrator David Böhm. Wo sich alle diese Kostbarkeiten befinden, das kann jeder Leser selbst herausfinden. Dabei spielt das Buch eine große Rolle: Es ist nämlich nicht nur ein raffiniertes Kunstwerk für sich, das spielerisch das schafft, was gute Kunst ausmacht: die Welt und in dem Fall insbesondere das Museum aus einem neuen Blickwinkel zu sehen.
Vor allem aber gelingt ihm eins: Es nimmt die Schwellenangst. Denn es gibt soviel zu sehen und zu entdecken.

Ondřej Chrobák/Rostislav Koryčánek/Martin Vaněk: Wie kommt die Kunst ins Museum, Illustrationen: David Böhm, Übersetzung: Lena Dorn, Karl Rauch Verlag 2017, 62 Seiten, ab 8, 20 Euro

Alles eine Frage der Abhärtung

Gerade fallen wieder alle Blätter von den Bäumen, die Laubbläser nerven, und die Wolken nässen nun noch öfter vom Himmel als sonst schon. Es ist die Zeit, in der Mützen, Schals, lange Unterhosen und Wollsocken rausgekramt werden und man wieder dem Zwiebellock frönt. Hauptsache nicht verkühlen.

Das passt Pauli  und seinen Freunden im neuen Kurzroman von Melanie Laibl so gar nicht. Darin überlegen die cleveren Grundschüler sich, wie sie das ganze Wollzeugs und die Unterwäsche des Grauens wieder los werden. Da man gemeinsam stärker ist als allein und auch zusammen mehr bewegt, gründen sie den Verein Verkühl dich täglich. 

Und dann geht es los: In ihrem Vereinslokal, der Terrasse des Eissalons Titanic, treffen sich die Kids und entledigen sich der kratzenden Wärmeschicht. „Kalt? Uns? Niiie!“ wird ihr Schlachtruf und toben leicht bekleidet durch den Park und die Straßen.
Dass die Erwachsenen sofort mit Gegenmaßnahmen – heißes Bad, Hokuspokus-Grippekügelchen, Lebertran und Hühnersuppe – kontern, stachelt den Ehrgeiz der Vereinsmitglieder noch zusätzlich an. Nun heißt die Herausforderung, den Erwachsenen zu zeigen, dass man sich auch ohne Wollzeugs nicht erkältet. Zum Beweis messen Pauli & Co täglich Fieber und wollen mit ihrem Verein berühmt werden. Dafür machen sie sogar einen Ausflug in die Supermarkttiefkühltruhen, was in der Lokalpresse Erwähnung findet.
Nur die Heiße Hilde vom Imbissstand hält die Kinder nicht auf, sondern unterstützt sie mit einer Thermoskanne voller Wundertrank …

Melanie Laibl ist hier ein kleiner feiner und wunderbar anarchischer Roman gelungen, der jedem Erwachsenen die  Haar zu Berge stehen lassen wird. So wage ich als Tante es kaum, diese Geschichte meinem Neffen vorzulesen, der ein würdiges Mitglied im Verein Verkühl dich täglich wäre, läuft er doch selbst zu dieser nassen Jahreszeit am liebsten noch in kurzen Hosen rum und reißt sich beständig die Mütze vom Kopf. Diesem Widerstandsgeist auch noch Vorschub zu leisten, damit tue ich mich schwer.

Aber dennoch ist es genau das, was so großartig an diesem Buch ist: Kinder, die sich nicht so leicht von Eltern und Großeltern einschüchtern lassen, die kreativen Widerstand leisten und der Überbesorgnis der Erwachsenen ein Schnippchen schlagen, schließe ich sofort ins Herz und jubele über diese wunderbare Chupze.
Und genau aus diesem Grund werde ich damit die nächste Vorleserunde bei Nichte und Neffe einleiten und einen kleinen rebellischen Samen bei ihnen aussäen.

Laibls klare Sprache gepaart mit einem trockenen Humor und die beständige Auflockerung des Textes durch die knuffigen Illustrationen von Susanne Göhlich bieten auch Erstlesern einen Anreiz, sich selbst in dieses Leseabenteuer zu stürzen.
Die Folgen sind dann nur noch eine Frage der Abhärtung.

Melanie Laibl: Verkühl dich täglich, Illustration: Susanne Göhlich, mixtvision, 2017, 80 Seiten, ab 7, 12,90 Euro

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Drachenstark

Eigentlich sage ich ja immer, ich lese keine Fantasy. Aber dann fallen mir doch so viele Titel ein, in denen mich Magier, Hexen, Drachen, fantastische Wesen und mächtige Objekte aufs Beste unterhalten haben, dass ich meine Aussage wohl etwas relativieren muss.

Nur reiht sich ein weiteres Buch in diese Gruppe ein, das mich beglückt hat: Aventurine – Das Mädchen mit dem Drachenherz der walisischen Autorin Stephanie Burgis, wunderbar übersetzt von Sigrid Ruschmeier.
Hierin erzählt Burgis die Geschichte von Aventurine, ihres Zeichens ein junger Drachen-Schlüpfling. Aventurine ist mit ihren 13 Jahren noch viel zu jung, um aus der heimischen Höhle in die Welt hinaus zu können. Doch das Drachenmädchen ist zum einen viel zu neugierig, zum anderen will sie ihrer besorgten Familie beweisen, dass sie draußen überleben kann.

In einem unbeobachteten Moment schleicht sich sich über einen Geheimtunnel aus der Höhle und macht sich auf, die Welt zu erobern. Fest nimmt sie sich vor, der gefährlichsten Beute für Drachen, den Menschen, aus dem Weg zu gehen. So wie ihr Großvater es ihr beigebracht hat. Doch dann wird sie von einem unwiderstehlichen, köstlichen, verführerischen, unbekannten, nie-gerochenen Duft angelockt.
Auf einer Lichtung sitzt ein Mensch und kocht heiße Schokolade. Aventurine kann sich nicht losreißen und merkt zu spät, dass der Mensch ein Essensmagier ist. Zu verlockend ist die mit Zimt verfeinerte Schokolade. Aventurines Leidenschaft erwacht. Doch die bezahlt sie mit einem hohen Preis.

Hier muss ich ein kleines Bisschen spoilern, und das ist in diesem Fall durchaus nötig, um den ganzen Drive dieser Geschichte deutlich zu machen: Der Essensmagier verwandelt Aventurine in ein Menschenmädchen, und nun geht ihre Geschichte erst richtig los.
Denn Aventurine muss sich von einem Moment auf den anderen ohne ihre Familie in einer völlig fremden Welt zurechtfinden. Durch die Gelehrsamkeit, die den Drachen zu eigen ist, hat sie ein Mindestmaß an Menschensprache gelernt, doch das Wenige, was sie weiß, hilft ihr nur bedingt weiter. Wohl oder übel muss sie zunächst neue Worte lernen, wie „Haar“, „Augenbrauen“, „Schuhe“ oder „Lebensunterhalt“.

Der Zufall bringt Aventurine schon bald in die Stadt Drachenburg, wo es immerhin drei Schokoladenhäuser gibt. Für das Mädchen ist sofort klar, dass sie dort arbeiten will.

Burgis entwickelt so eine äußerst charmante Entwicklungsgeschichte eines drachenstarken Mädchens. Denn Aventurine lässt sich von den städtischen Eigenheiten und Schwierigkeiten, von hinterlistigen Stadtbewohnern oder arroganten Regierenden nicht einschüchtern. Sie lernt, Freunde zu erkennen und ihnen zu vertrauen, lernt, sich von ihrer Leidenschaft um nichts in der Welt abbringen zu lassen.
Und mit all ihrem Mut, ihrer Neugierde und ihrem unerschrockenen Drachenherz wird Aventurine so zu einem zauberhaften Role Model für junge Leserinnen.
Natürlich vermisst sie durchaus auch ihre Familie, aber sie ist mit so einer gehörigen Portion Resilienz ausgestattet, dass sie abzuwägen weiß und für ihre Leidenschaft bereit ist zu leiden. Aber Fantasy wäre nicht Fantasy, wenn es nicht doch noch ein Happy-End für Aventurine gäbe.

Von Aventurine, die trotz aller Widrigkeiten ihr Drachenherz behält und sich kommenden Herausforderungen unerschrocken stellt, können sich zehnjährigen Mädchen einen gehörigen Riegel Schokolade abbrechen – und sich den Genuss derselben von nichts und niemandem verderben lassen. Nie wieder.

Stephanie Burgis: Aventurine – Das Mädchen mit dem Drachenherz, Übersetzung: Sigrid Ruschmeier, Fischer KJB, 2017, 320 Seiten, ab 10, 14,99 Euro

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Auf der Suche nach den eigenen Wurzeln

huppertz„Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen“, hat Johann Wolfgang von Goethe einst gesagt. Wurzeln, solange sie klein sind, und Flügel, wenn sie größer werden.
Doch was, wenn der leibliche Vater nicht zur Familie gehört? Fehlt dann im Wurzelwerk nicht etwas?

Lisse, 12, vermisst zu Beginn des neuen Romans von Nikola Huppertz erst einmal nichts. Sie lebt mit ihrer Mutter und dem Comiczeichner Jamal glücklich in Hannover. Jamal ist seit elfeinhalb Jahren ihr Vater.
Doch dann erreicht ein Anruf ihre Mutter: Lisses leiblicher Vater Markus ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Und obwohl Lisse ihm niemals begegnet ist, überkommt sie doch die Trauer, die sie selbst an ihrem geliebten Schlagzeug nicht so richtig loswird.
Auch ihre Mutter muss die Nachricht erst einmal verdauen, und da gerade Sommerferien sind, machen sich Mutter und Tochter für ein paar Tage auf und reisen zu den Orten, wo sich Lisses Eltern begegnet sind. Über Berlin und die Müritz geht es nach Rostock und schließlich zum Friedwald, wo Markus‘ Asche unter einem Baum beerdigt wurde.

Im Laufe der Reise erzählt die Mutter von ihrer ersten Begegnung mit Markus, von ihrer Verliebtheit, von Markus‘ Leidenschaft für Musik, von ihrer damaligen Tour an die Ostsee. Lisse erfährt so Einiges über ihren leiblichen Vater und lernt in diesen wenigen Tagen ganz andere Seiten ihrer Mutter kennen. Auf dem Baum-Friedhof schließlich begegnen die beiden dann einem alten Ehepaar und Lisses Leben bekommt eine neue Wendung.

Feinfühlig und emotional packend entwickelt Nikola Huppertz Lisses Geschichte. Der Tod ist kein Tabu, sondern wird hier viel mehr zu einem Auslöser, sich der Vergangenheit und der Komplexität des Lebens zu stellen. Lisse lernt auf vielen Ebenen, was es bedeutet zu lieben, einander, das Kind, die Eltern, den Stiefvater. Und sie kommt mit sich selbst ins Reine, kann die Sommersprossen und die Stupsnase, die sie vermeintlich zu niedlichsten Drummerin der Welt machen, akzeptieren, weil sie begreift, dass sie das genetische Erbe ihres Vaters sind. Ebenso wie ihre Leidenschaft für Musik und das Trommeln. Sie findet ihre Wurzeln, jedoch ohne zu Verzweifeln.
Denn wenn sie auch ihren Vater nicht mehr kennenlernen wird, so treten auf diesem sommerlichen Roadtrip neue Menschen in Lisses Leben, die sie bereichern.

In Huppertz‘ Roman geht es um das große Gefühl der Trauer und wie man ordentlich Abschied nimmt, ganz egal, ob man den Menschen kannte oder nicht. Jetzt könnte man vermuten, Woher ich meine Sommersprossen habe sei ein todtrauriger Roman, doch dem ist nicht so. Denn Huppertz versteht es vorzüglich, die Hoffnung in das Geschehen einzuflechten, in Form einer neuen Freundschaft, durch wunderschöne Naturerlebnisse, durch eine neue Vertrautheit zwischen Mutter und Tochter und durch Lisses Erkenntnis, dass ihr Leben und ihre Familie in Hannover vollkommen ist.

Ich weiß natürlich nicht, wie viele Kinder genau solche Familien-Geschichten und -Konstellationen erleben, doch von Lisse können sie sich so Manches abschauen, sei es, dass Mädchen sehr coole Schlagzeugerinnen abgeben oder dass man seinen Eltern durchaus nervende Fragen über die Vergangenheit stellen sollte, um mehr über sich selbst zu erfahren.
In diesem Sinne ist dieser wunderbare Roman ein Vorbild für die Suche nach den eigenen Wurzeln. Denn auch das gehört zum Erwachsenwerden dazu.

Nikola Huppertz: Woher ich meine Sommersprossen habe, Thienemann, 2017, 176 Seiten, ab 11, 11,99 Euro

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Mehr Erna sein

ernaFast könnte die elfjährige Erna, die Heldin aus Anke Stellings erstem Kinderbuch, einem leid tun: Sie trägt einen altmodischen, total uncoolen Namen, wohnt mit Eltern und Bruder in einem gemeinschaftlichen Wohnprojekt und geht auf eine Gemeinschaftsschule.
Gemeinsamkeit ist wichtig, jedenfalls für die Elterngeneration in diesem Buch.

Erna hingegen findet, dass in diesem ganzen Gemeinsamkeitsdingens ziemlich viel ziemlich gemein ist. Meistens regt Erna sich dann auf und kann nicht ruhig bleiben, sondern mischt sich ein. Nur kommt das nicht immer gut an, weder bei den Erwachsenen noch bei den Freunden oder Mitschülern von Erna. Dann eckt Erna an.

Doch statt sich von Unverständnis oder fiesen Sprüchen abhalten zu lassen, zieht Erna stoisch ihr Ding durch: Sie schaut genau hin, sie überlegt, sie forscht nach, sie beschäftigt sich mit der Bedeutung von Wörtern. So wird das etymologische Lexikon zu ihrer liebsten Lektüre. Und zur Stütze, die ihr hilft, sich gegen die Scheinheiligkeit der Freundinnen zu wappnen oder die Widersprüchlichkeiten der Erwachsenen zu entlarven.

Erna tritt als schlaue Ich-Erzählerin auf, die ihre Umgebung genau analysiert, die aber dennoch mit sich und ihrem Körper hadert (angeblich ist der Umfang ihrer Oberschenkel zu groß). Sie durchschaut die Nachteile von Gemeinschaftsprojekten, sehnt sich manchmal nach einer konventionellen Schule und weigert sich dennoch, einen Mitschüler zu verpetzen, der Gemeinschaftseigentum beschädigt hat. Mit anderen Worten: Erna hat es nicht leicht, obwohl sie intelligent ist.

Und genau das macht Erna so unglaublich liebenswert. Sie könnte das Ebenbild vieler Mädchen sein, die sich kurz vor der Pubertät in einer höchst komplexen und widersprüchlichen Welt zurecht finden müssen. In einer Welt, wo gebildete Städter plötzlich ein alternatives Leben führen wollen, den Kindern in der Schule aber schon das Prinzip der Selbstoptimierung einzuhämmern versuchen. Sie erkennt, dass es keine absolute Wahrheit gibt, sondern sich jeder seinen eigenen kleinen wahren Kosmos zusammenzimmert.

Anke Stelling, die mit ihrem Roman Bodentiefe Fenster 2015 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises stand, hat mit Erna einen wunderbar kritischen Geist geschaffen, den die heutige Jugend, die aktuelle Gesellschaft sehr gut gebrauchen kann. Wenn wir klagen, dass Politikverdrossenheit herrscht, dass die jungen Menschen gegen nichts mehr rebellieren, dass sie angepasst und eingespannt in das Leistungsprinzip sind, dann sollten wir uns alle eine Scheibe von Erna abschneiden. Wir sollten auf absurde Körpermaße pfeifen, kreativ und mitfühlend sein, und sehr viel mehr auf unsere Worte und deren eigentliche Bedeutung achten.

Vielleicht wäre die Welt ein besserer Ort, wenn wir alle ein bisschen mehr wären wie Erna.

Anke Stelling: Erna und die drei Wahrheiten, cbt, 2017, 240 Seiten, ab 11, 12,99 Euro

Grandiose Geschichten aus kleinen Klumpen

„Ich kann euch ganz in Ruhe meine Geschichte erzählen. Davon, wie eines Tages eine drangsalöse Misere über mich hereinbrach, die mein ganzes Leben durcheinanderbringen sollte. Hätte ich damals geahnt, was für Kalamitäten auf mich zukommen würden, ich wäre an jenem Morgen unter der Bettdecke geblieben …“

Mit diesen hübsch altmodischen Wörten beginnt der Erzähler seine Geschichte. Und während sich der eine oder andere Leser angesichts gelegentlich komplett verkorkster Tage denkt, dass es manchmal sicher die bessere Idee ist, morgens einfach liegen zu bleiben, schlägt einen Kirsten Reinhardts neuer Roman Der Kaugummigraf schon in seinen Bann: Es ist ein in vielfacher Hinsicht verblüffendes Buch. Nicht nur weil der Erzähler und Titelgeber ein alter Knorz ist, genauer der 81-jährige Eberhart von Eberharthausen. Es ist eine erstaunlich komplexe und vielschichtige Erzählung, wie man hinter dem für Reinhardts Standards sehr schlichten Titel nicht vermuten würde (frühere Titel waren Fennymores Reise oder wie man Dackel im Salzmantel macht und Die haarige Geschichte von Olga, Henrike und dem Austauschfranzosen).

Die Kalamitäten verursachende Misere tritt in Gestalt der struppigen, frechen und enorm hungrigen Ausreißerin Eli in das Leben des komischen Kauzes. Sie bringt ihn nach einigen Anlaufschwierigkeiten zum Erzählen. Und vielleicht zum ersten Mal am Ende seines langen Lebens öffnet sich Eberhart, stellt sich seinen Verletzungen, alter Schuld und lebenslanger Reue, Gedanken und Gefühlen, die er seit 20 Jahren mithilfe eines selbst auferlegten, strengen Zeitplans verdrängt und eingesperrt hat. Und natürlich sind das keine uralten Geschichten, „solche Dinge wie damals gibt es bestimmt nicht mehr“; da hofft Eberhart leider vergebens.

Aber warum nennt Eli ihn Kaugummigraf? Das hängt mit der höchst kuriosen Sammlung des betagten Helden zusammen, ein jahrelang verschlossener Raum in dem alten, vom Abriss bedrohten Bahnhof, in dem der Graf wohnt – und auch in seinem Herzen. Hier verwahrt er hunderte Kaugummis auf, die er seit seiner Kindheit gesammelt hat – gekaute, versteht sich. Denn „ein Kaugummi ist besser als ein Fingerabdruck“, wie der Graf sagt. Ein Fingerabdruck verrät nichts über seinen „Besitzer“. Ein ausgespuckter Kaugummiklumpen dagegen gibt erstaunlich viel preis: durch seine Form, die Zahnabdrücke, den Auffindeort, den Geruch, die Geschmacksrichtung, die Farbe. Und natürlich durch die präzise Erinnerung an all die kauenden Menschen, denen der Sammler begegnet ist und die sein Leben geprägt haben.

Es sind spannende, fantastische, erschütternde und rührende Geschichten, zeitlos gut und ewig wahr, Geschichten von abgeschobenen, missverstandenen Kindern, von Grausamkeit und Feigheit, von Wut und Mut. Davon, dass man stärker ist als man denkt und es nie zu spät ist, sein Leben in die Hand zu nehmen. Von der Suche nach Freundschaft, Liebe, Glück. Wahrheiten, gelassen ausgesprochen: Seine Verwandschaft kann man sich nicht aussuchen. Und es ist gar nicht so einfach, nichts zu tun. Die Freiheit, alles (oder nichts) tun zu können ist beängstigend, das muss man erst mal aushalten. Trotzdem ist sie das Beste am Leben, weil sie grenzenlose Möglichkeiten birgt.

Hat sich schon mal jemand beim Anblick der Flecken auf dem Pflaster überlegt, dass hier gelebte Geschichten kleben? Das entschuldigt natürlich nicht die Unsitte, Kaugummis in die Gegend zu spucken! Inzwischen haben Künstler die Sprengsel als winzige Leinwände entdeckt, um darauf grandiose Miniaturmeisterwerke zu schaffen, zu sehen unter anderem auf der Millenium Bridge in London.

Der Kaugummigraf ist ein Buch, so wie man sich das weltbeste Kaugummi wünscht, das es aber nie geben wird: Eine Wundertüte, ein Feuerwerk an unterschiedlichsten Geschmackerlebnissen, schönste, raumgreifende Blasen bildend, ein Genuss, sich damit zu beschäftigen und ganz lang anhaltend.

Elke von Berkholz

Kirsten Reinhardt: Der Kaugummigraf, mit Vignetten von Marie Geißler, Carlsen, 2017, 224 Seiten, ab 10, 12,99 Euro

 

P.S. Es gab schon mal ein besonderes Buch mit Kaumasse im Titel: Der quergestreifte Kaugummi von Ephraim Kishon, von 1977, eine unvergessene Erzählungssammlung.

Frühjahrslesetage in Hamburg

lutherIn Hamburg gibt es ja so einige Lesefeste, das Harbour Front Literaturfestival, die Lange Nacht der Literatur und Lesefeste der Seiteneinsteiger, allesamt im Herbst. Nun versucht Rainer Moritz, der Chef des Hamburger Literaturhauses, ein neues Leseevent im Frühjahr zu platzieren. Vom 20. bis 26. April 2017 finden die „High Voltage“-Lesetage zum ersten Mal an verschiedenen Orten in der Hansestadt. Zwölf Veranstaltungen soll es insgesamt geben, unterstützt vom Stromnetz Hamburg.

Letzteres erinnert natürlich an die Vattenfall Lesetage, die nach heftiger Kritik wegen Greenwashing und Markenbranding 2013 zum letzten Mal stattfanden. Bereits 2011 gab es die 1. Anti-Vattenfall-Lesung, aus ihr entstanden die Lesetage „Lesen ohne Atomstrom“, die gerade zum 7. Mal stattgefunden haben – allerdings ziemlich unbemerkt von der Öffentlichkeit (an mir sind sie komplett vorbei gegangen…). Das lag vielleicht daran, dass nur sieben Lesungen stattfanden, die keine Kinder- und Jugendliteratur beinhalteten.

Anders sieht es bei den High Voltage Lesetagen aus. Die zwölf Veranstaltungen sind zu gleichen Teilen Kinderbüchern und Erwachsenenlektüre gewidmet. Eine ganz wunderbare Aufteilung, wie ich finde. So lesen immer vormittags Maja Nielsen, Ute Wegmann, Joachim Hecker, Uticha Marmon, Arne Rautenberg und Jan von Holleben für Kinder zwischen 6 und 12 Jahren. Abends kann man Jostein Gaarder, Clemens Meyer, Sarah Bakewell, Zsuzsa Bánk oder Eva Menasse lauschen.

Zwei Bücher aus dieser kleinen, aber feinen Kinderbuch-Auswahl haben es mir angetan – und wenn ich nicht anderweitig vergeben wäre, würde ich zu den beiden Lesungen gehen. Passend zum Lutherjahr darf der Reformator natürlich nicht fehlen. Maja Nielsen hat ihm in ihrer Reihe „Abenteuer! Maja Nielsen erzählt“ einen Band gewidmet. Sie schildert das Leben von Luther in klar verständlichen Sätzen, erzählt von dem Leben vor 500 Jahren und macht die Zweifel und Ängste Luthers anschaulich, die ihn schließlich dazu brachten, sich gegen die katholische Kirche aufzulehnen. Margot Käßmann, Lutherbotschafterin 2017, liefert in kurzen Statements die heutige Sicht der Evangelischen Kirche zu ihrem Gründungsvater. Auch dies macht ganz gut deutlich, wie sehr eine Kirche und der Glauben auch in heutiger Zeit immer im Wandel sind.
Fotos von Luthers Wirkungsorten, Illustrationen von Anne Bernhardi und die Abbildungen von vielen Gemälden und Stichen zeigen Luther auf vielfältige Art, so dass sich schon für junge Lesende ein differenziertes Bild des Reformators ergibt.

wegmannEinen Tag nach Maja Nielsen liest Ute Wegmann aus ihrem Kinderbuch Dunkelgrün wie das Meer, das mir vergangenes Jahr leider durch die Lappen gegangen ist. Mit umso mehr Freude habe ich die zarte Geschichte von Linn jetzt gelesen.
Die Sommerferien stehen vor der Tür. Linn fährt wie jedes Jahr mit den Eltern nach Holland in ein Schiffshaus am Meer. Doch dieses Mal ist es nicht so schön wie sonst. Papa muss noch mal zurück in die Stadt, wegen der Arbeit. Mama ist sauer. Und auch Linns Ferienfreundin Smilla will dieses Mal gar nichts von ihr wissen.

Linn erkennt, dass auch in den Ferien nicht immer alles schön und unbeschwert ist. Manche Probleme von zu Hause verfolgen einen bis an den Strand. Vor lauter Kummer macht Linn einen langen Spaziergang und wird schließlich von einem heftigen Gewitter überrascht.

Ute Wegmann paart in ihrem Text die sommerliche Ferienhitze mit dem Unbehagen Linns über all die Veränderungen und schafft trotz der Trauer, die Linn empfindet, eine poetische Stimmung. Diese wird von den zarten dunkelgrün und orangen Illustrationen von Birgit Schössow ganz zauberhaft eingefangen. Man ahnt, dass es für Linn noch ein glückliches Ende gibt, auch wenn diese Erfahrung sie ein Stück reifer hat werden lassen.

Zwei ganz unterschiedliche Bücher, die jedoch die wunderbare Bandbreite des neuen Lesefests spiegeln. Möge es für die Macher von High Voltage diesmal keinen Ärger wegen ihres Sponsors geben. Ich werde das jedenfalls verfolgen.

Am 20. April liest Maja Nielsen um 10 Uhr in der Bramfelder Chaussee 130 in Hamburg, im Haus 12 des Betriebshof Stromnetz Hamburg. Ute Wegmann liest am 21. April um 10 Uhr am selben Ort. Der Eintritt kostet jeweils 4 Euro.

Das gesamte Programm der High Voltage Frühjahrslesetage findet sich hier.

Maja Nielsen: Martin Luther. Glaube versetzt Berge, Gerstenberg, 2016, 62 Seiten, ab 11, 12,95 Euro

Ute Wegmann: Dunkelgrün wie das Meer, Illustration: Birgit Schössow, dtv, 2016, 80 Seiten, ab 8, 12,95 Euro

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Vom Glück des Tüchtigen

schomburgPaul, der Held im neuesten Buch von Andrea Schomburg, ist ein wenig ängstlich, etwas dick und außerdem gerade erst umgezogen. In der neuen Schule findet er sich schwerlich zurecht, was vor allem an Matze Motzmann liegt. Der hat einen Pick auf Paul, führt ihn vor, wo immer er kann. Manchmal weiß sich Paul keinen anderen Rat, als sich auf dem Schulklo zu verstecken. Da wartet er dann einsam auf das Ende der großen Pause oder des Unterrichts.
Doch heute ist etwas anders. Heute spricht ihn eine fremde Stimme an! Nach einigem Herumblinzeln entdeckt Paul eine Winzlingsfrau in rotkarierter Schürze, mit Brille und Libellenflügeln — und jeder Menge Flüchen auf den Lippen. Ohne Punkt und Komma stellt sie sich als Elvira Meier vor und macht Paul unmissverständlich klar: So wird das nie was mit Matze! Dann entfleucht sie, und Paul schleicht gedankenverloren nach Hause. Nachmittags zeigt er beim Springen vom Drei-Meter-Brett große Klasse, trotzdem macht ihm Matze den Triumph streitig. In Paul wallt es gewaltig.

Nachts kommt es zu einem zweiten Treffen. Elvira Meier entpuppt sich als Fee und stellt in Aussicht, dass sich Grundlegendes verändern kann. Was Paul braucht, sei das Blaue Wunder, und das findet sich in Bielefeld, im Rathaus, dritter Stock, Zimmer 314. Bedingung: Er hat nur drei Tage Zeit, dafür wird ihm ein Gefährte zur Seite stehen. Mehr überrascht, als überzeugt, stimmt Paul zu. Als er merkt, dass sein Begleiter ein kleiner, dicker Elefant mit grauer Schrumpelhaut und ewig schlechter Laune ist, hat die Uhr bereits angefangen zu ticken.

Was dann passiert, ist eine wahre Heldenreise. Die beiden müssen miteinander klarkommen, Stärken und Schwächen tolerieren, Streit überwinden und die Köpfe zusammenstecken, um gemeinsam das Ziel zu erreichen. Denn das Blaue Wunder wird ihr Leben verbessern!

Unangenehmes, Überraschendes, zutiefst Trauriges erwartet sie: Ein Bus, der nur alle 13 Jahre fährt. Wegweiser, verwirrend und kaum entzifferbar. Eine alte Frau mit unsagbar traurigen Augen, verwünscht und zu ewig gleicher Tätigkeit verdammt. Ein zaubernder Prinz, der Angst und Schrecken verbreitet. Schließlich müssen sie noch an F. R. Runkelschwein vorbei, der so gewaltig stinkt, dass jeder in Ohnmacht fällt. Überdies sind die Pfade schlammig, die Schluchten tief, die Wälder dicht und die Nächte tieftiefschwarz.

Mut gegen Gefahr, Cleverness gegen Zauberkraft, Menthol gegen Gestank. Und dazwischen die wachsende Vertrautheit zweier halber Helden, die das atemberaubende Abenteuer als Ganzes bestehen.

Sie hat etwas Märchenhaftes, diese Geschichte der Autorin Andrea Schomburg. Die Stationen am Weg geben immer neue Rätsel auf, aber mit jeder gefundenen Lösung wird die nächste Aufgabe leichter. Kreise schließen sich, weil Paul und Elefant mit Verstand und Herz agieren. Das furchtbare Los der Alten lässt sie ebenso aktiv werden wie die anrührende Einsamkeit des Stinkeschweins, und im Kampf gegen wirkmächtige Gegner werden sie immer stärker.

Es ist ein Vergnügen, diese beiden sympathischen Helden auf ihrer kniffligen Reise zu begleiten und mitzuknobeln. Und es ist einmal mehr die quietschvergnügte Schomburg-Lust an Wort und Reim, die mitreißt. Allein die explodierenden Fluch-Salven von Fee und Elefant sind köstlich und regen nicht nur den zunehmend selbstbewussten Paul zu eigenen Kreationen an. Sprache und Fantasie, Helden, die zur Identifikation einladen, und ein gelungener Genremix voller Literaturzitate. Dazu ein Riesenlob an die zweifarbige Gestaltungskunst und augenzwinkernde Leichtigkeit von Betina Gotzen-Beek.

Das ist LeseAugenGenuss pur!

Heike Brillmann-Ede

Andrea Schomburg: Der halbste Held der ganzen Welt, Illustration: Betina Gotzen-Beek, Sauerländer, 2017, 256 Seiten, ab 8, 13,99 Euro

Die Höhen und Tiefen des Lebens

Bekanntermaßen ist das Leben kein ununterbrochener  Kindergeburtstag. Vor allem, wenn psychische Krankheiten das Leben dauerhaft prägen. Diese Leiden Kindern zu erklären und ein Verständnis in ihnen zu wecken, ist ein schwieriges, wenn nicht gar heikles Unterfangen. Ulrich Fasshauer hat es gewagt und mit Das U-Boot auf dem Berg einen liebevoll rasanten Kinderoman zum Thema vorgelegt.

Mauritius ist zwölf und erst vor kurzem mit den Eltern aufs Land gezogen, irgendwo nach Norddeutschland, wo er von dem Hügel, auf dem ihr Haus steht, das Meer sehen kann (warum auf dem Buchcover im Hintergrund die Berge zu sehen sind, ist mir ein Rätsel…). Das Meer ist Mauritius große Leidenschaft, je tiefer und dunkler desto besser. Sein Zimmer ist dementsprechend eingerichtet und über die Bewohner der Tiefsee weiß er Bescheid. Nur redet Mauritius nicht besonders viel. Die Welt scheint ihn zu überfordern. Wenn alles extrem zu viel wird, wendet er sich an seinen imaginären Freund Herrn Glimm, einen Laternenfisch. Ihn füttert er mit allem, was ihn ärgert. Das sind momentan vor allem die neuen Klassenkameraden, die mit seinem Schweigen nicht viel anfangen können.

So bleibt es natürlich nicht. Eines Tage taucht Mauritius Onkel Christoph auf, ein gescheiterter Rockmusiker, der manisch-depressiv ist. Von dieser tückischen Krankheit bekommt Mauritius zunächst noch nicht viel mit, denn Christoph ist gerade in seiner manischen Phase und stellt das ruhige Leben der Familie gehörig auf den Kopf. Das nervt Mauritius anfangs ziemlich, so dass er den Onkel am liebsten an Herrn Glimm verfüttern würde. Wäre da nicht die anregende, mutmachende, lebensbejaende Seite von Onkel Christoph, an der sich Mauritius so gern anstecken würde. Denn Onkel Christoph ist auch ziemlich cool und erfüllt Mauritius seinen größten Wunsch zum Geburtstag, mit der Folge, dass der Kindergeburtstag völlig aus dem Ruder läuft. Onkel Christoph wird in die Psychiatrie eingeliefert, und da merkt Mauritius, wie anders der Onkel wirklich ist.

Fasshauer schreibt konsequent aus der Perspektive seines Ich-Erzählers, so dass das ungewöhnliche Verhalten des Onkels zunächst nicht unter den Beurteilungswahn der Erwachsenenwelt fällt. Erst nach und nach wird klar, dass es sich hier nicht um eine gewöhnliche Überdrehtheit handelt, sondern um wirklich krankhaftes Verhalten.
Wenn schon Erwachsene diese komplexe und unberechenbare Krankheit nicht so richtig einschätzen und angemessen damit umgehen können, ist dieses für Kinder natürlich noch um Längen schwieriger. An was soll man sich halten, wenn das Gegenüber von einer Sekunde auf die andere alles Gewohnte über den Haufen wirft, Regeln missachtet und seine eigenen Wahrheiten propagiert? Mauritius hält sich tapfer, versucht, Onkel Christoph nicht zu verurteilen, und entdeckt schließlich die liebenswerten Seiten des Onkels, die natürlich einen Einfluss auf ihn selbst haben.

In all dem Chaos, das Onkel Christoph anrichtet, erlebt Mauritius und mit ihm die jungen Lesenden, was für eine Belastung eine psychische Krankheit eines Angehörigen sein kann, aber auch, dass der Betroffenen dennoch ein liebenswerter und wichtiger Teil im Leben der Familie ist. Fasshauer schafft es so, dass Verständnis und Toleranz für psychisch Erkrankte steigt und man nicht verzweifelt. Denn es gibt immer einen Weg, wie man mit diesen Menschen und ihren Phasen umgehen kann.

Mauritius macht – mit anderen Worten – den Kindern Mut. Mut, sich einzulassen auf Ungewohntes, Mut, über den eigenen Schatten zu springen, Mut, Neues zu wagen. So wird das eigene Leben selbst durch eine Krankheit eines anderen bunter und lebenswerter.

Ulrich Fasshauer: Das U-Boot auf dem Berg, Tulipan, 2017, 188 Seiten, ab 10, 13 Euro

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Jeder Tag kann Weihnachten sein

 
Weihnachten im Januar? Das geht durchaus, und zwar im Hotel Wunderbar.

Ein Porträt über einen belgischen Hotelier, der seine Pforten für Obdachlose öffnet, brachte die Kinderbuchautorin Jutta Nymphius in Schwung für ihren neuen Roman. Ihr Tore öffnender Held heißt Mika, ist neun Jahre alt und lebt mit seinem Vater im familieneigenen Hotel „Jameel“. Mikas Mutter ist vor einiger Zeit gestorben, seitdem arbeitet Papa meist hinter verschlossenen Türen in seinem Büro, und Mika wird hauptsächlich von den Angestellten Fanny und Henry betreut. Doch egal, wie viel Mühe sich die beiden geben, die Eltern ersetzen können sie nicht. Vor allem fehlt Mikas Mutter, warmherzig, temperamentvoll und gastfreundlich. Und weil Mama überall fehlt, fehlen inzwischen auch die Gäste. Sogar an Weihnachten!

Auch in diesem Jahr, was Mika ehrlicherweise nicht weiter verwundert hat. Schon der Weihnachtsschmuck war furchtbar! Langweilige Plastiktannenbaumgirlanden baumelten am Hoteleingang. Das musste ja alle abschrecken, denkt Mika. Früher gab es echte Zweige mit bunten Kugeln, ein fröhliches Willkommen und jede Menge Gäste und Trubel, gerade an den Feiertagen. Deshalb wurde ja auch der Anbau mit sechs neuen Zimmern errichtet, doch inzwischen steht der meistens leer. Hier fehlt es an Wärme und Zuneigung, das spürt Mika ganz genau. Und während er noch seinen Gedanken nachhängt, stolpert er über Silvester, einen kleinen schwarzlockigen Hund, und dessen Besitzer Teddy. Im ersten Moment verzieht Mika die Nase, Teddy riecht ziemlich streng, und seine langen Haare zotteln genauso an ihm herum wie sein Bart. Aber er verwickelt Mika gleich in ein Gespräch, und schnell ist klar: Die beiden haben Hunger und suchen ein Quartier, denn der Winter ist kalt und streng und Teddy obdachlos. Plötzlich weiß Mika, wo er die beiden unterbringen kann: im Anbau. Natürlich heimlich. Morgen früh müssen Hund & Herrchen das Haus superpünktlich wieder verlassen — und abends steigen sie geräuschlos und unsichtbar wieder ein.

Ganz fix werden es mehr Gäste, die Hilfe brauchen, denn auch Käthe friert erbärmlich. Genau wie Herbert. Mika schließt alle fest in sein Herz, selbst wenn der Heimlichkeitsstress dadurch immer größer wird: Betten beziehen. Essen in der Hotelküche abzweigen. Früh aufstehen, um alle zu wecken, damit sie rechtzeitig wieder verschwinden. Keinen Piep zu erzählen … Mika wird immer blasser und schlapper — was Fanny und Henry schließlich nicht mehr verborgen bleibt. Die Wahrheit muss auf den Tisch, vor der auch Mikas Papa die Augen nicht mehr verschließen kann: Das Leben geht weiter, und sein Sohn braucht ihn!

Weihnachten ist zwar längst vorbei, gefeiert werden kann trotzdem. Und weil dazu Gemeinschaft gehört, verlegen Mika & Co das wunderbare Fest einfach in den Januar und holen nach, was am 24.12. nicht möglich war: mit anderen Menschen zusammen zu sein, ihre Geschichten zu teilen, die Herzen zu öffnen und einander Wärme zu geben. Bis Ende März wird Papa das Hotel von nun an für die Obdachlosen öffnen. Und Weihnachten? Da sind sich alle einig: So ein tolles Januar-Weihnachtsfest wird es auch im kommenden Jahr wieder geben.

Dieser Kinderroman — schwarz-weiß-schmunzelnd illustriert von Stephan Pricken (!) —ist nicht nur warmherzig geschrieben und verbreitet Festtagsstimmung. Mika, Papa und alle anderen Helden von Jutta Nymphius laden dazu ein, darüber nachzudenken, worauf es wirklich ankommt: Kinder brauchen Eltern, Eltern brauchen Kinder. Und Menschen, die Hilfe benötigen, sollten nicht allein durchs Leben gehen. Und Feste? Die lassen sich nicht nur feiern, wenn es der Kalender sagt. Vielleicht hat jemand Lust, das auch mal auszuprobieren? Nur Mut!

Heike Brillmann-Ede

Jutta Nymphius: Hotel Wunderbar, mit einem Nachwort und einem Spiel von Jutta Nymphius, Illustration: Stephan Pricken, Tulipan, 2. Auflage 2016, 144 Seiten, ab 9, 13,00 Euro

Die Leiden der jungen Großstadtkinder

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Unkonventionelle Familienkonstellationen gibt es in Kinderbücher ja mittlerweile in allen möglichen Formen, Farben und Varianten. Jetzt ist mit dem neuen Roman von Anne C. Voorhoeve endlich auch das Konzept der „Kinderwohnung“ hinzugekommen. Und das auf eine sehr unterhaltsame Art.

Die Geschwister Pia und Jonas stellen irgendwann fest, dass sich ihre Eltern gar nicht mehr zoffen. Eine gespenstische Ruhe ist in ihrer Wohnung im Berliner Reuterkiez (Neukölln) eingezogen. Das ist kein gutes Zeichen. Schnell wird den beiden klar: Mama und Papa lassen sich scheiden. Doch anstatt, dass die Kinder mit dem einen oder anderen Elternteil in eine andere Wohnung ziehen, dürfen sie in ihrem Zuhause bleiben – nur die Erwachsenen ziehen um und wechseln sich wochenweise in der Kinderwohnung ab. Das Konzept bewährt sich, so dass die Kids wieder ihren einigermaßen normalen Alltag leben können.
Mit ihren Freunden, Nesrin, Kasim, Finn-Ole, Mustafa und Rifat, machen Pia und Jonas ihren Kiez unsicher – und zwar in Form einer Stadtteilführung: „Neukölln für starke Nerven!“ Die etwas andere Berlin-Rundtour soll den Touristen das „harte“ Neuklölln zeigen, wo Kampfhunde herumlaufen, am hellichten Tage Fahrräder gestohlen und Passanten beklaut werden. So sollen die Fremden davon abgehalten werden, in den Kiez zu ziehen und ihn zu gentrifizieren. Die erste Führung wird leider zum Reinfall, die zweite so ein Erfolg, dass gewiefte Geschäftsleute den Kids die Idee klauen.

Zu allem Überfluss findet Pia auf der Tour heraus, dass ihr Wohnhaus bereits von einer Investorin gekauft wurde und nun luxussaniert wird. Aus dem anfänglichen Spaß wird auf einmal bitterer Ernst: Wo sollen die Bewohner nur hin, wenn sie sich die Mieten nicht mehr leisten können oder kein Geld haben, die eigene Wohnung zu kaufen?

Voorhoeven lässt die Ich-Erzählerin Pia in einem leichten Ton von all diesen Unbill des Großstadtlebens erzählen. Trotz unglaublich vieler bitteren Dinge, die die Kinder erleben müssen (Scheidung, die neuen Partner der Eltern, sie verlieren ihr Zuhause), verströmt Pia dennoch so viel Zuversicht und pragmatischen Umgang mit den immer neuen Problemen, dass man die Geschichte schon fast als heiter bezeichnen muss. Sie zeigt, dass Ideenreichtum trotz aller Rückschläge weiterhilft, dass Gespräche beim Psychologen förderlich sind, dass das Leben weitergeht, auch wenn sich so einiges ändert. Und dass es immer noch schön sein kann.

Das Leben in einer Patchworkfamilie und die Gentrifizierung von Szenekiezen sind zwar zwei hammerharte Themen, die für sich allein schon eine Geschichte tragen würden. Doch ist es ja auch so, dass man im wahren Leben diese Probleme durchaus nicht immer einzeln auf dem Tablett serviert bekommt, sondern, wenn es mal kommt, es häufig eben auch so dicke kommt, dass man sich fragt, womit man all so ein Unglück eigentlich verdient hat. Natürlich hat das niemand verdient, aber junge Lesende bekommen hier einen Vorgeschmack auf die Komplexität unseres Lebens. Das ist nicht immer schön, und geht auch nicht immer gut aus. Aber die Helden von Wir 7 vom Reuterkiez zeigen mit ihren Aktionen, dass man doch so einiges in die Hand nehmen und bewegen kann. Ausruhen und jammern ist eben nicht.

Anne C. Voorhoeve: Wir 7 vom Reuterkiez, Sauerländer, 2016, 256 Seiten, ab 10, 12,99 Euro

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