Unantastbar

einsMenschen, die körperlich nicht den vermeintlichen Normen entsprechen, lösen oftmals ein voyeuristisches Bedürfnis bei uns allen aus. Man möchte schauen, vergleichen, sich abgrenzen, sich möglicherweise besser oder überlegen fühlen. Eine Geschichte, die solche Bedürfnisse auslösen könnte, hat jetzt die Britin Sarah Crossan vorgelegt. In Eins erzählt sie von den siamesischen Zwillingen Grace und Tippi.

In der Erwachsenen-Belletristik gibt es einige Romane zu diesem Thema, doch für Jugendliche ist es meines Erachtens das erste Buch, das sich mit der Lebenswelt von siamesischen Zwillingen befasst (korrigiert mich, wenn ich falsch liege). Crossan schildert die beiden 16-jährigen Mädchen als ziemlich normale Persönlichkeiten, obwohl sie an der Hüfte zusammengewachsen sind. Jede der beiden hat ihren eigenen Kopf, ihre eigenen Vorstellungen. Und sie haben eine Familie, die wie viele andere auch mit Problemen wie Arbeitslosigkeit, Alkohol- und Magersucht zu kämpfen hat. Jedes dieser Probleme ist an sich schon harter Tobak.

Wie schon in Crossans Werk Die Sprache des Wassers erzählt die Autorin die Geschichte in freien, also ungereimten Versen, erneut von Cordula Setsmann in geschmeidiges Deutsch gebracht. Jedes Wort bekommt durch die typografische Setzung, die die Worte manchmal kaskadenartig verschiebt, ein zusätzliches Gewicht. Und bleibt trotz der Schwere der Thematik ganz leicht.

Tippi und Grace, benannt nach Alfred Hitchcocks Lieblingsschauspielerinnen, müssen ab August eine öffentliche Schule besuchen, denn die Spendengelder bleiben aus, so dass die Schwestern nicht mehr zu Hause privat unterrichtet werden können. Natürlich werden die Mädchen in der neuen Schule angestarrt, mit unschönen Sätzen bedacht, aber sie finden auch zwei richtig gute Freunde, die den beiden einen Hauch von Normalität vermitteln.
Als dann jedoch auch die Mutter ihren Job verliert und die Familie fast schon das Haus verkaufen und fortziehen muss, treffen Tippi und Grace ein schwierige, aber lukrative Entscheidung.

Crossan gestaltet die Mädchen so liebevoll, dass sie dem Leser unweigerlich ans Herz wachsen, ihn aber auch ständig damit konfrontieren, wie es wäre, wenn man IMMER jemanden so dicht an seiner Seite hätte. Ich konnte es mir nicht vorstellen. Ich kann es mir aber auch im normalen Leben kaum vorstellen, ständig mit einem einzigen Menschen zusammen zu sein. Doch im Laufe der Lektüre entwickelt man ein Gefühl und eine gehörige Portion Verständnis für die Heldinnen. Da Grace als Ich-Erzählerin agiert, schaut man quasi hinter die Fassade, lernt die beiden von innen heraus kennen. Grace bewirkt, dass die Zwillinge nicht als Freaks angesehen werden, sondern als gleichberechtigte Menschen, deren Entscheidung, nicht getrennt werden zu wollen, man mit Respekt begegnen muss.
In diesem Moment stehen Tippi und Grace dann für alle Menschen in dieser Welt, die nicht irgendwelchen blöden Normen entsprechen, und sei es, weil sie eine zu große oder zu kleine Nase haben.

So selbstverständlich es sein sollte, dass man sein Gegenüber nicht nach einer Nanosekunde aufgrund seines Äußeren beurteilen sollte, so wichtig ist es, genau dies in Zeiten von medialem Schönheitswahn, aber auch medialer Vorverurteilung aufgrund von Herkunft, Haut-, Haar- und Augenfarbe sowie Glauben, immer und immer wieder zu betonen, durchzuspielen und in neuen Varianten wie in diesem besonderen Buch zu diskutieren. Denn wir alle vergessen viel zu oft und viel zu schnell, dass es letztendlich immer und ausschließlich um das Eine geht:

Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Sarah Crossan: Eins, Übersetzung: Cordula Setsmann, mixtvision, 2016, 424 Seiten, ab 12, 16,90 Euro

Hilfe für Hochbegabte

willowSeit ich diesen Blog betreibe, habe ich so einige Bücher gelesen, in denen Figuren mit einer speziellen Sichtweise auf die Welt den Leser unterhalten und sensibilisiert haben. Diese Protagonisten waren entweder von schweren Krankheiten gezeichnet oder gehörten zum Kreis der Autisten, die durch ihre Inselbegabung Alltägliches anders wahrnahmen.

In diese Reihe würde ich nun auch das Buch von Holly Goldberg Sloan, Glück ist eine Gleichung mit 7, in der Übersetzung von Wieland Freund, stellen. Nur dass die 12-jährige Protagonistin Willow weder krank noch autistisch, sondern hochbegabt ist, was ihre Umwelt jedoch nicht erkennt.

Willow hat einen Faible für die Zahl 7 und ist an medizinischen Zusammenhängen, vor allem Hautkrankheiten, interessiert. Darüber hinaus liebt sie ihren Garten, der in der Wüste Kaliforniens einer Oase gleicht. Als ihre Adoptiveltern bei einem Autounfall ums Leben kommen, bricht Willows fein austarierter Alltag zusammen. Sie steht ohne Angehörige da und wäre den Behörden heillos ausgesetzt, würden sich nicht der überforderte Sozialarbeiter Dell, Willows neue Freundin Mai und deren Mutter Pattie um sie kümmern.

Bei aller Tragik lebt diese Geschichte von Willows nüchternem, analysierenden Blick auf das Chaos und die Unvollkommenheit, das sie umgibt. Herausgerissen aus ihrem geordneten Zuhause lernt sie anderen „Lebensformen“ kennen: Mai und ihre vietnamesische Familie leben in einer Garage, Dell ist an der Schwelle zum Messie und schummelt sich so durch. Willows distanzierte, aber pragmatische Art setzt schließlich Dinge in Gang, die nicht nur ihr Leben ändern, sondern auch das ihrer Helfer.
Die Komik, die durch das Aufeinanderprallen dieser Welten unweigerlich entsteht, lässt einen das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Darüber habe ich dann auch das Übermaß an Drama – hochbegabtes Adoptivkind verliert Eltern und kämpf gegen die Behörden – mit Nachsicht akzeptieren können. Denn natürlich schließt man Willow, die als Ich-Erzählerin agiert, ins Herz.

Für junge Leser dürfte Willows Leidenschaft für Krankheiten jedoch ein sprachlich harter Brocken werden, denn sie scheut nicht davor zurück, die medizinischen Fachtermini zu benutzen, die schon Erwachsene nicht immer verstehen. Sie zeigt so zwar ihre hohe Intelligenz, beweist gleichzeitig jedoch, dass Wissen nicht vor Trauer schützt. Der Zusammenhalt von Menschen, so unterschiedlich sie auch sein mögen, ist in jedem Fall wichtiger als 7er-Reihen.

Holly Goldberg Sloan: Glück ist eine Gleichung mit 7, Übersetzung: Wieland Freund, Hanser Verlag, 2015, 303 Seiten, ab 12, 16,90 Euro

Leuchtende Traumwelten

träumeDie Novembernächte gehören bekanntlich zu den ungemütlichsten und düstersten, sind sie doch nach dem langen Sommer und dem strahlenden Herbst echt gewöhnungsbedürftig. Vielleicht wird auch deshalb erst einmal Halloween gefeiert, damit das Unbehagen vor diesen Nächten gar nicht erst aufkommen kann.

Die argentinische Autorin und Illustratorin Isol hat ihr ganz eigenes Rezept mit dunklen Nächten entspannt umzugehen: Man stelle ihr Umklappbuch Nachts leuchten alle Träume neben das Bett auf den Nachttisch, lasse vor dem Einschlafen, beim Lesen also, noch etwas Licht auf die Seiten fallen – und genieße dann später im Dunkel die fluoreszierende Magie, die sich entfaltet.

Zwölf Rezepte, also Bilder, hält Isol parat und entführt die Betrachter in Traumwelten. Da öffnen sich verbotene Türen, Meeresbewohner tauchen aus den Tiefen auf, Schmusekätzchen verwandeln sich, langweilige Bücher geben ihre Geheimnisse preis, verborgende Lebensräume werden sichtbar, aus dem Samenkorn erwächst etwas.
Und wer diese Leuchtgebilde auf sich wirken lässt, träumt womöglich etwas ganz Besonderes ins diesen Nächten.

Isols einfache Strichzeichnungen funktionieren auf zwei Ebenen. Tagsüber sieht man die klar umrissene Ausgangssituation und liest pro Seite einen Satz, der die Fantasie bzw. den Traum anregt. Nachts leuchtet dann – erstaunlich lange, wie ich feststellen konnte, als ich irgendwann mal zwischendrin wieder aufwachte – die fluoreszierende Beschichtung und offenbart ihre Geheimnisse. Und selbst, wenn der eine Satz auf der Seite etwas Gruseliges ankündigt, so sind die Auflösungen doch immer so liebenswert, dass kein Betrachter schlimme Alpträume befürchten muss.

Die Gefahr, dass man durch das Leuchten zu lange wach gehalten wird, kann ich nicht bestätigen. Es ist viel mehr ein sanftes Hinübergleiten in den wohltuenden Schlaf. Auf Kleine Schlafverweigerer könnten diese vergänglichen Bilder möglicherweise beruhigend wirken. Die kommenden Novembernächte werden für mich jedenfalls in diesem Jahr zu einem traumhaften Vergnügen.

Isol: Nachts leuchten alle Träume, Übersetzung: Karl Rühmann, Fischer Sauerländer, 2015, 36 Seiten,  ab 4, 15,99 Euro

[Jugendrezension] Im Drogensumpf

cecelia„Manchmal fängt man damit an, ein Leben zu leben, das man niemals erwartet hätte zu leben.“

Cecelia Price ist 17 Jahre alt und geht auf ein ganz normales College. Sie hat eigentlich keine Probleme, bis sie merkt, dass ihr älterer Bruder Cyrus, der immer ihr Vorbild war, drogenabhängig geworden ist. Da er immer mehr Drogen nimmt, will Cecelia ihm unbemerkt helfen, davon loszukommen. Sie rutscht dabei aber selbst immer weiter ab und dealt letztendlich auch mit Drogen, um ihrem Vater zu helfen, denn dieser hat massive Geldprobleme. Dann wird ein Notruf von Cecelia abgesetzt, indem sie sagt, dass ihr Bruder tot sei und sie schuld daran wäre. Kurz darauf überschlagen sich die Ereignisse …

In dem Buch „Der tiefe Fall der Cecelia Price“ schreibt die Autorin Kelly Fiore abwechselnd zwischen Rückblenden und der Gegenwart.
Die Sprache ist sehr einfach gehalten, und ich dachte, ich würde mich ziemlich schnell einlesen. Daraus ist leider nichts geworden und zwar das ganze Buch über nicht. Bis zum Ende konnte ich mich nicht in die Personen hineinversetzen und konnte dem Geschehen nur schwer folgen. Deshalb hat mich dieses Buch leider nicht gefesselt, und ich habe es oft weggelegt, weil ich manche Stellen zu langatmig fand und sie sich sehr gezogen haben.
Für mich war es nicht das richtige Buch.

Laura (16)

Kelly Fiore: Der tiefe Fall der Cecelia Price, Übersetzung: Sonja Häußler, Coppenrath, 2015, 320 Seiten, ab 14, 14,95 Euro

[Gastrezension] Wachgerüttelt

hellwach„Hellwach“ assoziiert man nicht als erstes im Zusammenhang mit einem jungen Mädchen, das in seinen besten Freund verliebt ist und regelmäßig fette Joints durchzieht. Aber die knapp 17-jährige Kiri hat ein drastisches Erweckungserlebnis, und von da an laufen ihre Gedanken Amok und an Schlaf ist nicht zu denken. „Wild Awake“ heißt Hilary T. Smiths Romandebüt im Original, ein sehr treffendes Wortspiel.

Eigentlich will Kiri in den Ferien, die sie allein zu Hause verbringen darf, weil ihre Eltern zu einer Kreuzfahrt rund um die Welt aufgebrochen sind und der ältere Bruder die Semesterferien im Labor verbringen wird, erst mit Lukas einen Bandwettbewerb gewinnen und anschließend sein Herz. Außerdem möchte sie für einen nationalen Klavierwettbewerb üben.
Doch ein unbekannter Anrufer reißt die talentierte Pianistin und Keyboarderin aus ihren Träumereien: Er habe Kiris große Schwester Sukey gekannt, die vor fünf Jahren ums Leben gekommen ist und über die seitdem nicht mehr gesprochen werden darf.

Kiri, deren Eltern von ihr nicht mehr wollen, als „keine Flecken auf dem Teppich und eine nette Telefonstimmen“, also dass das Kind höflich, unkompliziert und zurückhaltend ist, geht dem Anruf nach und findet heraus, dass Sukey, eine leidenschaftliche Malerin, nicht bei einem Autounfall gestorben ist, wie alle immer behaupten. Sie beginnt Fragen zu stellen, hinterfragt sich und ihre Familie. Und wird dabei immer wütender auf ihre Eltern, weil sie die widerspenstige, freigeistige Sukey nicht akzeptiert und unterstützt haben: „Wenn ihnen ihre Scheißteppiche nicht so wahnsinnig wichtig gewesen wären, wäre Sukey jetzt nicht tot.“

Die Autorin beschreibt die Veränderung der Ich-Erzählerin in prägnanten Sätzen und findet starke Bilder. „Ich stehe da und hasse“, sagt Kiri voller lähmender Wut nach einem frustrierenden Streit mit ihrem Bruder. Später klingt sie versöhnlich: „Vielleicht sollte man Menschen nicht danach beurteilen, was aus ihnen geworden ist, sondern danach, was sie trotz allem geblieben sind.“ Und fasst schließlich die Sprachlosigkeit der Familie nach dem Tod der Schwester und Tochter in der Erkenntnis zusammen: „Wir stehen unsicher an der Kreuzung von Liebe und Vermeidungsverhalten, wie ein paar Touristen, die sich verlaufen haben und nicht wissen, welche Straße nach Hause führt.“

Bunte Farbspritzer auf dem alten Teppich halten Kiris Erinnerung an Sukey lebendig, ein schönes, fast poetisches Leitmotiv, das sich wie ein vielfarbiger Faden durch die Geschichte zieht. Das Buchcover spiegelt diese Idee allerdings nur halbherzig als pseudopsychedelische Kleckserei wider, die am Anfang jedes Kapitels als graugetönter Abklatsch zitiert wird, eigentlich nett gedacht, jedoch schlecht gemacht.

Smith, die zuvor anonym über ihre Erfahrungen als Dauerpraktikantin in der Buch- und Medienbranche gebloggt hat, macht in ihrer furiosen, warmherzigen Geschichte vom Erwachsenwerden, von Liebe und Tod, Kreativität und psychischen Krisen sehr vieles sehr gut: Zum Beispiel lesen sich glückliche Knutschszenen überhaupt nicht albern, verunglückte Annäherungsversuche aber fühlen sich exakt so peinlich an, wie sie für ihre Heldin sind. Dies ist auch der feinfühligen und nie überdrehten Übersetzung von Jenny Merling zu verdanken.

Situationen, die in anderen Romanen gern zu dramatischen Höhe- und Wendepunkten hochstilisiert werden, fügt Smith realistisch und schlüssig in die Geschichte ein: Kiri wird nicht gleich vergewaltigt, als sie trotzig und zugedröhnt zu einem älteren Mann ins Auto steigt. Und nach einem nächtlichen Zusammenstoß mit einem PKW kommt der Teenager mit lädiertem Rad, zerrissenen Leggins, etlichen blauen Flecken und blutigen Schrammen davon, und erleidet nicht gleich eine Querschnittslähmung oder ein schweres Schädelhirntrauma. So ist das Leben nämlich in Wirklichkeit: Man kriegt vom Schicksal immer wieder eine gewischt, aber dass „danach nichts mehr ist wie zuvor“ kommt eher selten vor, kleine Wachrüttler sind dagegen häufiger. Und dann liegt es an einem selbst, was man daraus macht.

Apropos Fahrrad: Man merkt gleich zu Anfang, dass dieses Buch nicht in den USA spielt, wo das Fahren von Spritfressern scheinbar zu den Grundrechten gehört und jeder Jugendliche ab 16 einen Führerschein hat. Kiri fährt viel Fahrrad im kanadischen Vancouver (sogar ohne Helm) und ihr flottes Zweirad wirkt einige Male entscheidend und wegweisend.

Insgesamt gleicht Kiris Sommer und Hilary T. Smiths Roman einer nächtlichen Fahrradspritztour durch die Stadt, im eigenen Rhythmus, ohne dass Ampeln und Autoverkehr das Tempo bestimmen. Man fährt durch vermeintlich bekannte Gegenden und entdeckt nachts ganz neue Facetten. Mal gleitet man genießerisch dahin, mal legt man einen erfrischenden Sprint ein, mal droht man ins Schleudern zu geraten. Man spürt alles viel deutlicher, unmittelbarer: den Wind in den Haaren, die vom Asphalt abgestrahlte Wärme, die plötzliche Kälte nach einem Schauer, die nächtliche Stille. Ein Trip, bei dem man leicht neben sich zu stehen scheint und doch hellwach ist, „sowas von da“, wie einst Tino Hanekamp treffend sein in einer Silvesternacht spielendes Debüt betitelt hatte. Ein Trip, bei dem man immer weiter mitfahren will.

Elke von Berkholz

Hilary T. Smith: Hellwach, Übersetzung  Jenny Merling, FJB Fischer Verlag, 2015, 367 Seiten, ab 14, 14,99 Euro

 

[Gastrezension] Bewegendes Vermächtnis

keeganEs ist nicht so einfach, das posthum erschienene Buch einer jung gestorbenen Autorin zu besprechen: 2012, fünf Tage nach ihrem Abschluss in Yale stirbt die 22-jährige Marina Keegan bei einem Autounfall. Zwei Jahre später haben ihre Eltern, gemeinsam mit Marinas Dozentin, mit Freunden und Familie unter dem Titel Das Gegenteil von Einsamkeit einen Band mit neun Geschichten und ebenso vielen Essays veröffentlicht. Auf dem Einband lächelt uns eine hübsche, junge Frau mit hellbraunen Haaren, in kurzem, blau geblümten Rock und kanariengelber Jacke entgegen, sympathisch, klug, ein wenig verschmitzt. Man will mit ihr befreundet sein, mit ihr ausgehen, über Bücher, Filme und Reisen quatschen, Ausstellungen und Theateraufführungen besuchen – und auf keinen Fall sie als Schriftstellerin kritisieren müssen. Oder noch schlimmer: Ihr „Potenzial“ bescheinigen.

Aber alle Bedenken sind sofort mit den ersten Zeilen (und nach der ebenso respekt- wie liebevollen, gänzlich unpathetischen Einleitung ihrer Dozentin Anne Fadiman) weggewischt. Weil hier eine junge Autorin schreibt, die wirklich gut ist, eine Stimme, eine Haltung und viel zu sagen hat. Die ersten Geschichten handeln von jungen Menschen wie Marina Keegan: Studenten, Anfang 20, gewitzt, suchend, wankelmütig, besonders in Liebesdingen, mutig und übermütig, mal frustriert, mal merkwürdig distanziert, mit Eltern und den beruflichen Aussichten hadernd, doch voller Neugier auf das Leben, das vor ihnen liegt. Das sind brillant beobachtete, leicht spöttische, manchmal wehmütige Porträts und Impressionen der College-Zeit.

Ebenso einfühlend kann Keegan von einer vereinsamten, alten Balletttänzerin erzählen, die ein wenig Zuneigung und Zärtlichkeit empfindet, wenn sie einem blinden, jungen Mann vorliest und sich dabei heimlich auszieht. Spannend und erschütternd beschreibt sie in E-Mails die zunehmende Verzweiflung eines jungen Architekten, der sich für ein Siedlungsprogramm im Irak hat anwerben lassen und in dem Wunsch, etwas zu bewirken, einen katastrophalen Fehler macht. Berührend ist auch die außergewöhnliche Weihnachtsgeschichte einer 42-Jährigen, die ein Baby adoptiert, 20 Jahre, nachdem sie ihr neugeborenes Mädchen zur Adoption freigegeben hat. Eine fünfköpfige U-Boot-Besatzung versinkt 11.000 Meter tief im Ozean in totaler Finsternis, harrt dem sicheren Ende entgegen. Und doch umschließt einen diese Endzeit-Metapher, die an Kathrin Passigs preisgekrönte Erzählung eines Erfrierenden erinnert, sanft und beruhigend.

Lustig und skurril preist Keegan ihr Auto als erweitertes Wohnzimmer und Teil ihrer Biografie. In einem anderen Essay beschreibt sie höchst anschaulich, mal wütend, mal witzig, selbstironisch und nie Mitleid heischend ihr Leben mit der Krankheit Zöliakie: Sie ist eine der wenigen Kranken, für die glutenfreie Lebensmittel lebenswichtig und nicht nur ein modischer Trend sind.

Marina Keegan schreibt erfrischend anders, klug, witzig, gefühlvoll und angriffslustig, ohne ein falsches Wort oder ein Wort zu viel. Weder eifert sie literarischen Vorbildern nach noch klingt sie manieriert oder bildungsbeflissen. Sie wollte etwas bewegen, verändern, Menschen mitreißen, nicht vernünftig handeln, weder karrieretechnisch oder einkommensmäßig. Im letzten Essay geht sie der Frage nach, warum ein Viertel aller Yale-Absolventen im Finanz- und Consulting-Sektor landet – obwohl doch so viele von ihnen ursprünglich Theaterprojekte leiten, die Bildung reformieren, den Wohnungsbau demokratisieren oder alternative Restaurants eröffnen wollten. Zu Recht hält sie das für ein Verschwendung von Geist, Kreativität, Leidenschaft und Wissen. Man spürt, wie wütend und fassungslos sie dieses normierte Aufgeben von Idealen macht.

Ihr Werk ist ein Plädoyer dafür, Dinge auszuprobieren, etwas zu wagen, ungewisse Wege zu gehen, offen zu bleiben für Neues – auch mit der Chance, zu scheitern. Genau deshalb wollte sie auch Schriftstellerin werden, obwohl sogar etablierte Autoren davon abrieten und sie wusste, dass sie ihren Kindern nicht die finanziellen Möglichkeiten bieten können würde, die sie selbst genossen hat.

Eigentlich hat sie mich genau deshalb gleich zu Anfang mit einem Satz im titelgebenden Text gepackt. Das Gegenteil von Einsamkeit hat Marina Keegan ihre Abschlussrede für Yale überschrieben. Damit hat sie ebenso prägnant wie geradezu poetisch diese besondere Phase und die Gemeinschaft beschrieben, umgeben von Wissen und Geistesgrößen, wenn jeder Tag eine neue Erfahrung birgt. „Herzlichen Glückwunsch, aber ihr kotzt mich an“, schleudert sie all den Kommilitonen entgegen, die von Anfang an genau wissen, was sie wollen und zielfixiert, unbeirrbar darauf zu arbeiten. Weil sie dieses „Meer von Wissenschaften“ ungenutzt lassen, weil sie für die „immense, undefinierbare potentielle Energie“ nicht empfänglich sind. „Wir haben kein Wort für das Gegenteil von Einsamkeit, aber wenn es eins gäbe, würde ich sagen, genau so fühle ich mich in Yale. Genau so fühle ich mich jetzt. Hier. Bei euch allen. Verliebt, beeindruckt, demütig, ängstlich. Und das dürfen wir nicht verlieren. Bewegen wir etwas in der Welt.“

Wie schade und tragisch, dass Marina Keegan nicht länger und mehr dazu Gelegenheit hatte. Aber wenigstens gibt es dieses Buch: Damit hat die Schriftstellerin schon mehr bewegt, als andere in einem ganzen langen Leben.

Elke von Berkholz

Marina Keegan: Das Gegenteil von Einsamkeit, Übersetzung: Brigitte Jakobeit, Fischer 2015, 285 Seiten, 18,99 Euro

Einer von tausend Toden

1000TodeZur Frankfurter Buchmesse im Oktober wird die finale Fassung von Christiane Frohmanns Mega-E-Book-Projekt Tausend Tode schreiben erscheinen. In der Version, die im März erschienen ist, ist auch ein Text von mir zu finden. Für mich ist das jetzt Anlass genug, meinen Text hier noch einmal lesbar zu machen.

Der ICE fuhr pünktlich in München ab. Ich wollte nach Hause, nach Berlin, in die Stadt des Bling-Bling. So schnell wie möglich. Keine Zeit für Zwischenstationen. Nach Seminar-Besuch, viel Input, viel Wein, viel von allem, wollte ich wieder Alltag. Berlin war nur ein paar Zugstunden entfernt. Ich hatte zwei Sitze für mich allein. Alles gut.

Hinter Nürnberg nahm der ICE Fahrt auf, Franken sauste vorbei, als es plötzlich rumpelte, schepperte, ein Ruck durch den Zug ging. Vollbremsung. Halt auf freier Strecke. Fahrgäste stöhnten, tuschelten, Zugbegleiter zogen sich grellorange Warnwesten an. Noch bevor die Durchsage kam, war klar, dass es nicht schnell nach Berlin gehen würde.

Unfall mit Personenschaden, so die Umschreibung für das, was den Zug zum Halten gebracht hatte. Ein Mensch war zu Tode gekommen, ob freiwillig oder unfreiwillig wusste in diesem Moment niemand. Die Fahrgäste im Großraumabteil bedauerten den Zugführer, nicht schön so was, der Arme.

Ich schaute aus dem Fenster. Felder, am Horizont sanfte Hügel, ein Kirchturm, ein Dorf. Der Anblick kam mir bekannt vor. Mein langjähriger Freund T. wohnte mit Frau und zwei kleinen Kindern im schicken, neugebauten Haus hier. In diesem Dorf. Wäre ich in Nürnberg ausgestiegen, hätte ich noch einen Abstecher zu ihnen machen können. Jetzt saß ich in diesem Zug, auf freiem Feld, konnte nicht aussteigen. Ein Notfallseelsorger, in grellorangener Weste, ging durch den Zug, bot an zu reden, wenn Redebedarf bestünde. Ich schüttelte den Kopf, schaute aus dem Fenster. T. litt an Depressionen. Ich hatte ihn ewig nicht gesehen. Hätte mich mal melden sollen.

Das Zugpersonal informierte über Lautsprecher, man erwäge eine Evakuierung in Busse. Auf der Landstraße reihten sich Polizei- an Krankenwagen. Es blieb ruhig im Abteil. In meinem Kopf schossen die Gedanken quer. Depression und Suizid lagen dicht beieinander. T.’s Haus lag gleich hinter dem Feld. Nein. Das konnte nicht sein. Er würde seine beiden Kinder nicht im Stich lassen. Nie. Er war bei der Arbeit, ganz sicher. Seine Frau auch. Da war bestimmt alles in bester Ordnung.

Die nächste Durchsage verkündete, die Staatsanwaltschaft habe den Zug freigegeben, der Ersatz-Zugführer sei eingetroffen, man würde nicht evakuieren, nur noch säubern und dann die Fahrt fortsetzen. Zu viel der Information, danke. Nach anderthalb Stunden fuhr der ICE weiter. Neunzig Minuten für einen toten Menschen.

Ich weiß nicht mehr, wie ich die restliche Fahrtzeit überstanden habe. In Berlin am Hauptbahnhof, zwischen all dem Bling-Bling, war mir schlecht. Der Zug, in dem ich gesessen hatte, hatte einen Menschen getötet. Zum ersten Mal im Leben kaufte ich einen Flachmann, leerte ihn, schwankte nach Hause. Hatte ich den Menschen also mitgetötet? War ich schuldig? Wieso fielen mir solche Fragen immer erst so spät ein. Ich hätte sie gern dem Notfallseelsorger gestellt. Hätte, hätte.

Ich traute mich nicht bei T. anzurufen. Suchte stattdessen im Netz nach Zeitungsnachrichten über den Vorfall. Ich fand nichts. Es gibt ein Schweigeabkommen zwischen Bahn und Presse, um Nachahmungstaten zu verhindern.

Zwei Tage später klingelte mein Handy, T.’s Name auf dem Display. Ich antwortete fröhlich, erleichtert, und hörte von einer unbekannten, schluchzenden Stimme, dass T. sich zwei Tage zuvor das Leben genommen hätte. Depressiver Schub. ICE aus Nürnberg. T. hatte sich mit ausgebreiteten Armen und einem Lächeln auf dem Gesicht auf die Gleise gestellt.

Die genauen Infos zu dem Projekt und die Downloadmöglichkeiten gibt es hier:

Christiane Frohmann (Hg.): Tausend Tode schreiben, EUR 4,99; FR 6,00

Ansteckend

fieberVor ein paar Monaten gingen die Berichte über die Ebola-Epidemie in Westafrika fast täglich durch die Presse. Nun scheint das Übel bekämpft und Normalität – soweit man das von hier aus beurteilen kann – wieder eingezogen. Wir in Nordeuropa haben das Glück, dass hier schon lange keine wirklich verheerende Krankheit mehr ausgebrochen ist, die unzählige Tote gefordert hätte. Ich weiß, es ist ein heikles Terrain, denn auch hier gibt es Opfer von Masern oder Grippe, und jedes ist eines zuviel. Doch ich möchte den Blick auf richtige Epidemien richten, die es auch in unseren Breiten gegeben hat und die sich junge Menschen wahrscheinlich nur schwer vorstellen können.

Eine Ahnung, wie es gewesen sein könnte, als vor fast 100 Jahren die Spanische Grippe ausbrach, liefert der Roman Das Fieber von Makiia Lucier, feinfühlig ins Deutsche gebracht von Katharina Diestelmeier. Erzählt werden knapp zwei Monate im Leben der fast 17-jährigen Cleo. Sie lebt in einem Internat in Portland, Oregon, hat Vater und Mutter vor Jahren bei einem Kutschenunfall verloren und nur noch ihren Bruder Jack und dessen Frau Lucy. Es ist Herbst 1918, in Europa tobt noch der große Krieg und an der Ostküste breitet sich gerade die Spanische Grippe aus. In Portland, an der Westküste, glauben sich Cleo und ihre Familie in Sicherheit. So brechen Jack und Lucy in ihre Flitterwochen auf, Cleo soll die Herbstferien im Internat verbringen.

Die Grippe schert sich natürlich nicht um irgendwelche Küstenverläufe, und wenige Tage später werden die ersten Krankheitsfälle in der Stadt gemeldet. Das Internat muss schließen. Cleo macht sich allein zum Haus des Bruders auf, obwohl dort niemand ist. Als sie in der Zeitung einen Aufruf vom Roten Kreuz liest, das Freiwillige sucht, meldet sie sich, um zu helfen.
Der Kontrast könnte nicht größer sein. Aus dem behüteten, gut bürgerlichen Zuhause erlebt Cleo auf einmal die Welt von Krankheit, Siechtum und Tod. Sie holt erkrankte Kinder und Frauen aus ihren Wohnungen, hilft im Notkrankenhaus aus, das im örtlichen Theater eingerichtet wurde – und würde nach einem Tag am liebsten weglaufen. Doch die Krankenschwestern Kate und Hannah und der junge Medizinstudent Edmund, der schwer verwundet aus Europa zurückgekehrt ist, machen ihr Mut.

Lucier versteht es meisterhaft, den Leser in die Zeit vor 100 Jahren zurückzuversetzen, wo es nicht selbstverständlich war, dass Mädchen Auto fahren oder gar allein in einem Haus wohnen, wo es noch keine Impfung gegen die Grippe gab und die Waschmaschinen noch nicht selbsterklärend waren. Und mittendrin Cleo, die ihren eigenen Kopf hat und täglich neu ihre Ängste überwindet. Das ist für eine Coming-of-Age-Geschichte sicherlich ein ungewöhnliches Setting, mit dem man sich heute vielleicht nicht besonders gut identifizieren kann. Doch es ist ein faszinierendes Beispiel dafür, wie man in nicht alltäglichen Situationen über sich hinauswachsen kann, wie in schwierigen Zeiten Freundschaft und Liebe entstehen können, wie man auf eigenen Beinen stehen kann. Eingebettet in die historische Tatsache der Spanischen Grippe und kombiniert mit einer sich zart andeutenden Liebesgeschichte ist Makiia Lucier eine sehr fesselnde Geschichte gelungen.

Makiia Lucier: Das Fieber, Übersetzung: Katharina Diestelmeier, Carlsen/Königskinder, 2015, 368 Seiten,  ab 14, 17,99 Euro

[Jugendrezension] Düstere Visionen im viktorianischen London

madisonSeit langem habe ich kein Buch mehr gelesen, über das ich so eine gemischte Meinung hatte, wie Madison Mayfield –Die Augen des Bösen von Rainer M. Schröder.

Protagonistin des Romans ist die 17-jährige Madison, die seit dem tragischen Tod ihrer Eltern bei ihren Verwandten im London des Jahres 1890 ein trostloses Dasein fristet. Zwar können ihr reicher Onkel und ihre Tante ihr materiell alles bieten, doch spürt Madison permanent, dass sie unerwünscht ist. Besonders ihre Cousinen machen ihr das Leben schwer.

Doch damit nicht genug, denn seit einem schweren Unfall wird Madison immer wieder von anfallartigen Visionen heimgesucht. Diese Visionen zeigen Madison grausame Morde – durch die Augen des Täters! Von ihrer Umwelt wird Madison zunächst verrückt gehalten. Für einige Wochen wird sie in eine Irrenanstalt eingeliefert. Madison ist heilfroh, als sie endlich entlassen wird. Doch ihre mysteriösen Anfälle haben sich herumgesprochen. Bald wird Madison von einem ehemaligen Scotland-Yard-Detective namens Blake Scarboro aufgesucht. Er glaubt, dass Madisons Visionen die Zukunft zeigen. Die Morde, die sie gesehen hat, sind tatsächlich verübt worden. Madison ist zunächst skeptisch. Doch Scarboro ist nicht der Einzige, dem Madisons Visionen zu Ohr gekommen sind …

Die Bücher von Rainer M. Schröder habe ich schon immer mit Vergnügen gelesen, da ich großer Fan von historischen Büchern bin. Als ich dann auch noch London, viktorianisches Zeitalter und Scotland Yard hörte, war ich sofort Feuer und Flamme. Doch muss ich sagen, dass es mir nicht immer leicht gefallen ist, die Geschichte zu lesen. Besonders am Anfang fand ich es schwer, mich an Schröders Schreibstil zu gewöhnen. Schröder ist für seine ausgeschmückten Beschreibungen bekannt, das war in seinen bisherigen Büchern auch so. Bisher hat mich das nie gestört. Diesmal war es anders. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass ich älter geworden bin und in letzter Zeit viele Bücher mit einfachem, knappen Satzbau gelesen habe, oder dass Schröder vielleicht tatsächlich anders geschrieben hat. Mir kam es so vor, als stünde vor fast jedem Nomen mindestens ein Adjektiv. Manche davon empfand ich als unnötig, wie zum Beispiel „dunkler Schatten“. (Ich habe noch nie einen hellen Schatten gesehen).

Auf der anderen Seite muss man sagen, dass Schröders Beschreibungen stets bis ins kleinste Detail recherchiert sind. Man merkt, dass Schröder sich ein fundiertes Wissen über die Zeit angeeignet hat. So erwacht das viktorianische London zum Leben. Ich konnte beim Lesen förmlich die Menschen und die Straßen sehen. Und obwohl ich zu behaupten wage, schon einiges über diese Epoche zu wissen, konnte ich noch vieles dazulernen. Zum Beispiel über Irrenanstalten und die Behandlung psychisch kranker Menschen (sehr schockierend!), aber auch über Indien und die Sikhs, sowie Priesterlöcher, als auch die irische Freiheitsbewegung, und noch so viel mehr. Es muss eine Heidenarbeit gewesen sein, all diese Informationen zusammenzutragen. Aber das ist es gerade, was einen historischen Roman ausmacht: nicht bloß Fakten, die kann einem auch ein Schulbuch vermitteln, die Zeit muss zum Leben erweckt werden! Man muss sie riechen, schmecken und spüren können. Das gelingt Rainer M. Schröder wie keinem anderen und macht ihn in meinen Augen zu einem der größten Autoren historischer Literatur in Deutschland.

Mit Madisons Visionen hat er dieser Geschichte ein Fantasy-Element hinzugefügt. Ich fand es gut. Es hat zu der Geschichte gepasst und sie noch interessanter gemacht. Überhaupt kann man sagen, dass die Handlung nur schwer vorhersehbar war und immer wieder überraschende Wendungen bot.

Die Charaktere der Hauptperson und auch von vielen Nebenpersonen sind vielschichtig und faszinierend. Einige Charaktere sind meiner Meinung nach wiederum zu blass geblieben, wie zum Beispiel Blake Scarboro. Auch Duffy war mir ein ewiges Rätsel und erinnerte mich eher an ein Kinderbuch, als an ein Buch für junge Erwachsene.

Vielleicht hätte der Geschichte ein bisschen weniger Handlung gut getan. Es sind so viele Handlungsstränge miteinander verflochten, dass man bei einigen Sachen nur an der Oberfläche bleiben konnte. Manchmal fand ich es unglaubwürdig, wie sich Personen verhielten. Zudem hätte ich mir ein anderes Ende für Madison und Leona gewünscht. Aber dann gab es in dem Buch auch wieder unglaublich starke Szenen.

Auch wenn mein Feedback nicht durchweg positiv ausgefallen ist, bereue ich es nicht, das Buch gelesen zu haben. Zwar hätte ich mir ein paar Sachen anders gewünscht, aber im Großen und Ganzen war die Handlung interessant und abwechslungsreich und mal etwas erfrischend anderes. Außerdem sollte ein Fan von historischer Literatur das Buch schon allein wegen der tollen Beschreibungen lesen!

Juliane (16)

Rainer M. Schröder: Madison Mayfield – Die Augen des Bösen, cbj, 2014, 512 Seiten,  ab 12, 18,99 Euro

Überfrachtetes Meisterwerk

mcCloudIn meinem Regal steht Scott McClouds Comics richtig lesen und fällt mittlerweile komplett auseinander. Die Seiten rutschen aus der Bindung, der Buchrücken knackt, sobald ich es in die Hand nehme. Vor zwanzig Jahren habe ich es beackert, studiert, darin hin und her geblättert und für meine Doktorarbeit analysiert, bzw. an Hand von McClouds Standardwerk dann die italienischen Fotoromane, über die ich promoviert habe, untersucht. Es war großartig. Und McClouds Abhandlung hat meine Liebe zum Comic verstärkt und zu etwas Dauerhaftem gemacht. Viele Comics und, wie sie seit ein paar Jahren heißen, Graphic Novels habe ich seit dem gelesen, faszinierende und abstruse, anrührende und langweilige. McCloud war in meinem Hinterkopf immer mit dabei. Keine Frage also, dass ich sein neuestes Werk – Der Bildhauer – auch lesen musste.

Es ist wie das Wiedersehen mit einem alten Bekannten, obwohl der Strich und die Farbgebung anders sind als bei Comics richtig lesen. Die schwarzen Außenlinien kombiniert McCloud mit zarten graublauen Schattierungen und Schraffuren, so dass die Panels an Tiefe und Plastizität gewinnen, gleichzeitig jedoch fast leicht erscheinen. Unschärfen und sich aufhellende Flächen rücken Figuren und Geschehnisse in den Fokus, lenken den Blick des Betrachters. McCloud spielt mit dem Handwerkszeug der Comiczeichner, lässt die Zeit schneller oder langsamer vergehen, fängt in langen Sequenzen die Gefühlslage seines Protagonisten ein, reißt den Betrachter mit dynamischen Strichführungen mit und zeigt seine handwerkliche Perfektion.

Und genau da kommt für mich das Aber, das merkwürdige Gefühl, der schale Beigeschmack, der während der Lektüre bei mir aufgekommen ist. Denn diese Perfektion des Comiczeichnens findet sich für mich nicht im Inhalt wieder.
McCloud erzählt die Geschichte des Bildhauers David Smith. Einst war dieser ein gefeiert Shootingstar der Kunstszene, dann fiel er in Ungnade. Weil er sich geschworen hat, keine Almosen anzunehmen, krebst David in New York vor sich hin, bis er eines Tages dem Tod in Gestalt seines verstorbenen Großonkel Harry begegnet. Dem Faust-Motiv entsprechend gibt David sein Leben für die Kunst: Er bekommt die Gabe mit bloßen Händen alles zu erschaffen, was er will, wird dafür aber nach zweihundert Tagen sterben.
Im Überschwang produziert David einen Haufen Skulpturen, die jedoch bei den Kritikern durchfallen, da sie zu ungerichtet sind und zu sehr nach „polynesischem Geschenkeladen“ aussehen. David ist am Boden zerstört, fliegt aus seinem Atelier, landet auf der Straße, lernt die erfolglose Schauspielerin Meg kennen, verliebt sich in sie, macht sich auf die Suche nach „echter“ Kunst, wird zum Superhelden-Streetart-Bildhauer, erstaunt die Bevölkerung, schwängert Meg, die jedoch bei einem Fahrradunfall stirbt, und verewigt sich schließlich an seinem letzten Tag mit einer Mega-Mutter-und-Kind-Skulptur.

Entschuldigt, wenn ich hier spoilere, aber hier liegt für mich der Knackpunkt: Es ist alles ein bisschen viel. Natürlich bereut David seinen Deal mit dem Tod in dem Moment, als er die Liebe findet und Vater werden soll. Natürlich ist der Kunstbetrieb ein gnadenloses Geschäft. Natürlich ist der Grat zwischen hoher Kunst und fürchterlichem Kitsch sehr schmal. Jedes dieser Themen hätte für eine eigene Geschichte ausgereicht und seine Berechtigung gehabt. Ein bisschen kommt mir McCloud gerade vor wie sein Held David, der in der Begeisterung über seine Fähigkeit viel zu viel produziert. Man steht zwar nicht im „polynesischen Geschenkeladen“, aber man verliert sich doch etwas in den Genres Fantasy, Romance, Superheldenepos, Künstlerschicksal. Und die Mutter-Kind-Verherrlichung am Schluss hat mich in ihrer Klischeehaftigkeit dann leider nur noch genervt.

Trotz allem wird Scott McCloud mein Comic-Hero bleiben, ich liebe seine Zeichnungen und Bilder weiterhin, aber der Plot dieser Geschichte ist mir einfach zu überfrachtet.

Scott McCloud: Der Bildhauer, Übersetzung: Jan-Frederik Bandel, Carlsen, 2015, 496 Seiten, ab 14, 34,99 Euro

rüm hart, klaar kiming*

felsNeulich verbrachte ich eine Woche an der Nordsee. Weiter Strand, immer wiederkehrende Wellen, klarer Horizont, frischer Wind. Herrlich.

Wenig später fiel mir das passende Buch dazu in die Hände: Der Fels und der Vogel der jungen Chinesin Chew Chia Shao Wei. 

Ein Fels liegt am Strand, seit Urzeiten bereits. Tagein, tagaus wird er von den Wellen umspült. Jedes Mal verliert er ein Körnchen, wird langsam, aber sicher zu Sand. Der Fels ist sich dieser Entwicklung bewusst und blickt seiner Zukunft gelassen entgegen.
Eines Tages lässt sich eine Möwe auf ihm nieder. Die beiden schließen Freundschaft. Der Vogel, mit seinem großen Herzen, ist entsetzt, als er erfährt, dass der Fels zu Sand wird. Er beschließt ihn zu retten …

Die Kombination aus Fels und Vogel als Protagonisten ist ungewöhnlich, und doch schafft es Chew Chia, die großen Themen wie Leben, Vergänglichkeit, Freundschaft und Hilfsbereitschaft anrührend zu verbinden. Sie erzählt keine fröhliche Geschichte, von Anfang ist klar, dass der Tod der ständige Begleiter im Leben ist. Es geht um die Haltung, mit der man dieser Erkenntnis begegnet und mit der man die Zeit, die einem bleibt, füllt.
Der Vogel, der bei weitem nicht so viel Zeit wie der Fels hat, gibt mit seinem großen Herzen alles, um dem Freund zu helfen. Auch wenn ihm kein Erfolg beschieden ist und er vor dem Fels stirbt, so zeigt er eindrücklich, dass Freundschaft das Leben bereichert, es mit Sinn füllt und Freude schenkt.
Der Fels hingegen bleibt unerschütterlich, auch im Bewusstsein seiner Vergänglichkeit.
Diese Kombination hat etwas Tröstliches. Für große, wie für kleine Leser.
Die zarten türkisfarbenen, poetisch-reduzierten Illustrationen von Anngee Neo tragen zudem das Ihre dazu bei, dass man noch lange nach der Lektüre über diese kleine, aber feine Geschichte nachdenkt, in der die Essenz unserer Existenz steckt.

Chew Chia Shao Wei: Der Fels und der VogelIllustration: Anngee Neo, Übersetzung: Nicola T. Stuart, Jacoby & Stuart,2014, 48 Seiten, ab 5,  12,95 Euro

*rüm hart, klaar kiming – ist friesisch und bedeutet so viel wie „weites Herz, klarer Horizont“.

[Jugendrezension] Das Ende der Neuanfänge

friday„Wenn ich immer nur Anfänge hatte und meine Vergangenheit so perfekt war, dann würde die Zukunft niemals meine Erwartungen erfüllen.“

Das Leben der 17-jährigen Liliane Brown, Friday genannt, bestand bisher nur aus Neuanfängen, die sie mit ihrer Mutter Vivienne zusammen in Australien gemacht hat. Nach dem Tod ihrer Mutter wohnt Friday bei ihrem Großvater. Bei ihm ist sie gut aufgehoben, doch trotzdem fühlt sie sich nicht wohl und will weg. Sie will vergessen und wieder neu anfangen.

Durch einen Zufall kommt sie in eine Gang, die aus mehreren Straßenkindern in ihrem Alter besteht. Angeführt wird sie von der hübschen Arden. Alle fühlen sich bei Arden sicher, denn sie beschützt sie. Die Jugendlichen werden zu Fridays Freunden. Ihren einzigen Freunden. Zusammen wohnen sie in einem baufälligen Haus. Alles scheint in Ordnung, doch schnell merkt Friday, dass Arden alles bestimmt und die totale Kontrolle besitzt.
Als sie ihre Unterkunft verlassen und in eine Geisterstadt im australischen Outback fahren, passiert das Unfassbare: Einer aus der Gruppe wird tot aufgefunden. Als Friday herausfindet, wer ihn getötet hat, versucht sie mit den anderen alles, um aus der Geisterstadt hinaus zu kommen und zurück in die Stadt zu fahren. Es beginnt ein spannendes Abenteuer.

Das Buch Zeit zu gehen Friday Brown von Vikki Wakefield hat mir sehr gut gefallen. Anfangs war ich noch nicht ganz überzeugt und auch etwas skeptisch, doch nach und nach verschwanden meine Zweifel und waren schließlich komplett weg, denn die Geschichte entwickelte sich immer besser weiter. Zum Schluss war es sehr spannend und traurig zugleich, und die Geschichte war wirklich fantastisch. Somit kann ich das Buch nur weiterempfehlen.

Laura (15)

Vikki Wakefield: Zeit zu gehenFriday Brown, Übersetzung: Birgit Schmitz, FISCHER Sauerländer, 2014, 416 Seiten, ab 14, 14,99

[Jugendrezension] … wie in schlechten Zeiten

moll„Und ich würde dich auch lieben, wenn du hässlich wärst. Hässlich. Dümmlich. Von mir aus auch mausetot.“

In dem Buch Was ich dich träumen lasse von Franziska Moll geht es um Elena und Rico, die ein glückliches Paar sind. Sie wollen zusammen Abitur machen, doch dann passiert ein tragischer Unfall. Rico fällt ins Koma. Elena ist geschockt und will nicht mehr in die Schule gehen. Sie will die Schule zusammen mit Rico beenden. Als sie in Ricos Sachen sucht, findet sie eine „Top Ten Liste“, die Rico geschrieben hat. Wie der Name schon sagt, stehen dort zehn Dinge drauf, die er vor seinem Tod noch machen will. Elena fängt an, diese abzuarbeiten, und erzählt ihm jeden Tag von ihren neuen Erlebnissen. Ob Rico stirbt oder doch überlebt, erfahrt ihr am Ende des Buches.

Was wirklich besonders an diesem Buch ist, ist, dass die Sätze manchmal extrem kurz sind. Außerdem gibt es viele Absätze und so liest man dieses Buch auch sehr schnell durch.
Franziska Moll schreibt eben durch diese kurzen Sätze sehr interessant, und man liest meistens direkt noch mehr Kapitel, als man eigentlich lesen wollte.
Was ich teilweise etwas verwirrend fand, waren kurze Dialoge zwischen zwei Personen. Auch das Ende kam schließlich sehr schnell, und ich hätte es mir noch ein bisschen länger gewünscht. Doch im Endeffekt fand ich Was ich dich träumen lasse gut und für zwischendurch genau richtig.

Es ist auf jeden Fall lesenswert und sehr interessant.

Laura (14)

Franziska Moll: Was ich dich träumen lasse, Loewe Verlag, 2014,  256 Seiten, ab 14, 14,95 Euro

Agnese, die Lagune und die Deutschen

agneseEndlich, endlich halte ich mein frisch gedrucktes, neu aufgelegtes, neu bearbeitetes italienisches Herzensbuch in Händen: Renata Viganòs Roman Agnese geht in den Tod.
Lange Jahre war dieses Buch auf Deutsch nur als antiquarische Version von 1951 oder 1959 erhältlich. Damals hatte der Ostberliner Verlag Volk und Welt den Partisanen-Roman veröffentlicht, der heute in Italien zum Schulkanon gehört. Jetzt hat editionfünf diesen Text wieder aus der Versenkung geholt. Passend zum 75. Jahrestag des Beginns des zweiten Weltkriegs.

Renata Viganò erzählt die Geschichte der einfachen Bäuerin und Wäscherin Agnese in den Jahren 1943 bis 1945. Agnese kümmert sich rührend um ihren kranken Mann Palita, bis im Spätsommer 1943, nachdem Mussolini gestürzt wurde und die deutsch-italienische Achse gefallen ist, die Deutschen durch ihr Dorf ziehen. Sie verhaften Verräter und Kommunisten und deportieren in die KZs. Palita überlebt den Transport nach Deutschland nicht. Agnese, eine äußerlich barsche, innerlich jedoch loyale und aufrichtige Frau, erschlägt einen deutschen Soldaten, nachdem dieser Palitas Katze erschossen hat. Nichts hält sie mehr auf ihrem Hof. Sie flüchtet und schließt sich den Partisanen der Gegend an.
Die Widerstandskämpfer verstecken sich zu der Zeit in der riesigen Lagune von Comacchio, die in dem Roman eine zweite Hauptrolle spielt. Von dort aus planen sie ihre Aktionen und brechen meist nachts auf, um ihre Vorräte aufzustocken, Waffen zu besorgen oder den deutschen Soldaten Fallen zu stellen. Agnese schlüpft auf der Flucht vor den deutschen Vergeltungsmaßnahmen bei ihnen unter und wandelt sich dort zur „Mutter der Kompanie“ und zu einer überzeugten Widerstandskämpferin.
Sehnsüchtig erwartet sie zusammen mit den Partisanen die Alliierten, die von Süden aus Italien befreien. Doch die Front rückt nur langsam nach Norden, zu sehr wehren sich die Deutschen und ihre letzten Verbündeten, die italienischen Faschisten. Der strenge Winter 1944/45 verzögert die Befreiung von Norditalien zusätzlich. Die Partisanen in ihren notdürftigen Unterkünften im Schilf leiden unter Regen, Schnee, Frost. Das Wasser der Lagune gefriert, einige der Genossen werden in einem überschwemmten Haus eingeschlossen.
Agnese, die mit der Organisation der „Staffette“, den Botengängerinnen, beauftragt ist, versucht alles, um den Nachschub an Lebensmittel für die Jungs zu gewährleisten. Die alte Frau wächst dabei über sich hinaus, sie wird zur „la Responsabile“, zur Verantwortlichen. Kilometer um Kilometer radelt sie über die Deiche, schleppt Körbe mit Brot, Wein und Käse, aber auch mit Sprengstoff und Flugblättern. Begegnet sie deutschen Patrouillen macht sie aus ihrer Verachtung den Besatzern gegenüber keinen Hehl. Immer wieder ist sie der Gefahr ausgesetzt, als Mörderin eines deutschen Soldaten erkannt zu werden.

Viganòs Roman ist harter Stoff. Der Tod ist ein beständiger Begleiter bei der Lektüre. Dazu kommen das Leiden der italienischen Partisanen, die Übergriffe und Greultaten der Deutschen, die Verschlagenheit der italienischen Faschisten, die Passivität der Alliierten. Der Krieg an und für sich ist hautnah zu spüren. Viganò schrieb in der Tradition des Neorealismus. Ihr Roman kam in Italien 1949 heraus und wurde noch im selben Jahr mit dem Premio Viareggio ausgezeichnet. Die Autorin, die selbst bei den Partisanen gekämpft hat, vermischt darin eigene Erfahrungen mit fiktiven Gestalten. Und illustriert so auf eindrucksvolle Weise, wie sich die Wehrmacht und die SS in den letzten Kriegsjahren in Italien verhalten haben.

Deutschlands Beziehung zu Italien scheint eine ewige Liebesbeziehung, seit Goethes Zeiten und den Filmschmonzetten aus den 50er Jahren (die in neuem Gewand heute immer noch produziert werden). Italien steht oftmals für Amore, Gelato, Kunst und Leichtigkeit. Die bittere Realität des Landes liefern uns Geschichten über Mafia und Korruption, manchmal spannend verpackt als Krimis, wie bei Carlo Lucarelli oder Patrizia Rinaldi, neuerdings mischen sich darunter auch vermehrt die Berichte über die Flüchtlinge aus Afrika. Gern hört man das hierzulande jedoch nicht. Dass Deutschlands Beziehung zu Italien jedoch selbst auch eine ganz düstere Seite hat, ist vielen nicht bekannt oder schon wieder vergessen. Renata Viganòs Roman erinnert nun ganz plastisch wieder daran, dass die Verbrechen der Wehrmacht nicht nur in Osteuropa stattfanden, sondern auch dort. Mit der gleichen Härte, der gleichen Unbarmherzigkeit. Aufgearbeitet sind diese Verbrechen noch viel zu wenig, wie eine deutsch-italienische Historikerkommission in ihrem Abschlussbericht im Juli 2012 festgestellt hat, und zwar auf beiden Seiten.

Mir ist Viganòs Roman zum ersten Mal 1992 während meines Studienjahres in Florenz untergekommen, und schon damals war ich fasziniert. Aus meinem Vorhaben, über den Roman meine Magisterarbeit zu schreiben, ist damals leider nichts geworden. Dann stand der Roman bei mir im Regal und lauerte in meinem Hinterkopf – bis sich editionfünf bereit erklärte, ihn in neuem Gewand herauszubringen.
Ich hätte gern eine richtige Neuübersetzung gemacht, doch wie immer ist das auch eine Frage der Finanzen. So konnte ich aber immerhin die alte Übersetzung von Ina Jun-Broda, die 1959 schon einmal von Ernst-August Nicklas redigiert worden war, gründlich überarbeiten. Es war nicht weniger Arbeit, vielmehr eine Gratwanderung zwischen drei verschiedenen Versionen (dem italienischen Original und den beiden DDR-Ausgaben). Ich glaube jedoch, dass nun Viganòs Text auch auf deutsch so frisch und hoffentlich zeitlos wirkt wie das italienische Original. Agnese geht in den Tod ist ein Puzzlestück, das eine weitere Nuance des zweiten Weltkrieges beleuchtet und damit zur Aufarbeitung beiträgt, die die Historiker einfordern.

Es bleibt die Hoffnung, dass sich das romantische Italienbild vielleicht ein winziges Bisschen zum Realistischen hin verschiebt und der nächste Italienurlaub möglicherweise mit anderen Augen genossen wird.

Renata Viganò: Agnese geht in den Tod, Übersetzung: Ina Jun-Broda, Neubearbeitung und Nachwort: Ulrike Schimming, editionfünf, 2014, 316 Seiten, 21,90 Euro

Jedem Ende wohnt ein Maulzauber inne

maulina 3Nein, man möchte das nicht. Dass es vorbei ist. Mit Maulinas Mama und mit dieser Geschichte. Man wünscht Maulina ein maultastisches Happy End. Und man möchte unbedingt und auf jeden Fall wissen, wie es mit Maulina weitergeht. Aber irgendwann hat alles ein Ende. Jetzt ist der letzte Teil von Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmitt von Finn-Ole Heinrich erschienen. Man weint nicht nur, weil darin Maulinas Mama schließlich wirklich stirbt.

Noch ein drittes Mal erzählt Maulina von ihrem Leben in Plastikhausen, ihrer kranken Mama, die immer schwächer wird, von ihrem Freund Paul und dessen Hund Kurt, vom General für Käse und dem Maulzauber. Das Leben schreitet voran, unerbittlich, und doch auch zauberhaft, liebens- und lebenswert. Maulina redet wieder mit dem Mann. Dieser ist mittlerweile zum zweiten Mal Vater geworden, von den Zwillingen Theo und Ron. Nur deren Mutter, der „Flamingo“, raubt Maulina noch den letzten Nerv.
Aus dem Dachboden über Mauldawien hat Maulina Maultropolis gemacht und baut dort ein Museum für Mama, in dem sie alle möglichen Erinnerungsstücke – vom Schal bis zur Haarlocke – sammelt.
Bei allen Veränderungen, den guten, wie den schlechten, steht Paul ihr rührend und unerschütterlich zur Seite, ebenso wie Ludmilla und der General für Käse. Maulina verliert ihre Mama, und das ist an Traurigkeit nicht zu überbieten. Aber sie kann auf ein dichtes Netz an Menschen zählen, die ihr Halt geben.

Maulinas Schicksal wünscht man keinem Kind, egal, wie alte es ist. Und doch genau diese Dinge passieren. Täglich. Und als Erwachsener steht man da und fragt sich, wie Trost möglich sein kann. Finn-Ole Heinrich zeigt eine mögliche Art von Trost und Trauer: erinnern, feiern, maulen. Das hört sich hier vielleicht ziemlich schräg an, aber so wie Heinrich das Maulina erzählen lässt, überzeugt es sofort. Jedenfalls mich.

Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmitt finden mit Ende des Universums ein würdiges Ende. Das geht allerdings nicht ohne Tränen. Das Herz scheint zu reißen, gleichzeitig ist es erfrischt und hoffnungsfroh. Maulina – das ist mal klar – vergisst man nicht so schnell, dafür vermisst man sie bereits, sobald die letzte Seite gelesen ist.

Bleibt nur noch zu sagen, dass die Illus von Rán Flygenring wieder einmal ganz wunderbare Ergänzungen, Leckerbissen und Schauzeug bieten. Und die liefern bei all der Trauer und Schwere die richtige Portion an visueller Leichtigkeit.

Finn-Ole Heinrich: Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmitt – Das Ende des Universums, Illustrationen: Rán Flygenring, Hanser Verlag, 2014, 192 Seiten, 12,90 Euro