Überfrachtetes Meisterwerk

mcCloudIn meinem Regal steht Scott McClouds Comics richtig lesen und fällt mittlerweile komplett auseinander. Die Seiten rutschen aus der Bindung, der Buchrücken knackt, sobald ich es in die Hand nehme. Vor zwanzig Jahren habe ich es beackert, studiert, darin hin und her geblättert und für meine Doktorarbeit analysiert, bzw. an Hand von McClouds Standardwerk dann die italienischen Fotoromane, über die ich promoviert habe, untersucht. Es war großartig. Und McClouds Abhandlung hat meine Liebe zum Comic verstärkt und zu etwas Dauerhaftem gemacht. Viele Comics und, wie sie seit ein paar Jahren heißen, Graphic Novels habe ich seit dem gelesen, faszinierende und abstruse, anrührende und langweilige. McCloud war in meinem Hinterkopf immer mit dabei. Keine Frage also, dass ich sein neuestes Werk – Der Bildhauer – auch lesen musste.

Es ist wie das Wiedersehen mit einem alten Bekannten, obwohl der Strich und die Farbgebung anders sind als bei Comics richtig lesen. Die schwarzen Außenlinien kombiniert McCloud mit zarten graublauen Schattierungen und Schraffuren, so dass die Panels an Tiefe und Plastizität gewinnen, gleichzeitig jedoch fast leicht erscheinen. Unschärfen und sich aufhellende Flächen rücken Figuren und Geschehnisse in den Fokus, lenken den Blick des Betrachters. McCloud spielt mit dem Handwerkszeug der Comiczeichner, lässt die Zeit schneller oder langsamer vergehen, fängt in langen Sequenzen die Gefühlslage seines Protagonisten ein, reißt den Betrachter mit dynamischen Strichführungen mit und zeigt seine handwerkliche Perfektion.

Und genau da kommt für mich das Aber, das merkwürdige Gefühl, der schale Beigeschmack, der während der Lektüre bei mir aufgekommen ist. Denn diese Perfektion des Comiczeichnens findet sich für mich nicht im Inhalt wieder.
McCloud erzählt die Geschichte des Bildhauers David Smith. Einst war dieser ein gefeiert Shootingstar der Kunstszene, dann fiel er in Ungnade. Weil er sich geschworen hat, keine Almosen anzunehmen, krebst David in New York vor sich hin, bis er eines Tages dem Tod in Gestalt seines verstorbenen Großonkel Harry begegnet. Dem Faust-Motiv entsprechend gibt David sein Leben für die Kunst: Er bekommt die Gabe mit bloßen Händen alles zu erschaffen, was er will, wird dafür aber nach zweihundert Tagen sterben.
Im Überschwang produziert David einen Haufen Skulpturen, die jedoch bei den Kritikern durchfallen, da sie zu ungerichtet sind und zu sehr nach „polynesischem Geschenkeladen“ aussehen. David ist am Boden zerstört, fliegt aus seinem Atelier, landet auf der Straße, lernt die erfolglose Schauspielerin Meg kennen, verliebt sich in sie, macht sich auf die Suche nach „echter“ Kunst, wird zum Superhelden-Streetart-Bildhauer, erstaunt die Bevölkerung, schwängert Meg, die jedoch bei einem Fahrradunfall stirbt, und verewigt sich schließlich an seinem letzten Tag mit einer Mega-Mutter-und-Kind-Skulptur.

Entschuldigt, wenn ich hier spoilere, aber hier liegt für mich der Knackpunkt: Es ist alles ein bisschen viel. Natürlich bereut David seinen Deal mit dem Tod in dem Moment, als er die Liebe findet und Vater werden soll. Natürlich ist der Kunstbetrieb ein gnadenloses Geschäft. Natürlich ist der Grat zwischen hoher Kunst und fürchterlichem Kitsch sehr schmal. Jedes dieser Themen hätte für eine eigene Geschichte ausgereicht und seine Berechtigung gehabt. Ein bisschen kommt mir McCloud gerade vor wie sein Held David, der in der Begeisterung über seine Fähigkeit viel zu viel produziert. Man steht zwar nicht im „polynesischen Geschenkeladen“, aber man verliert sich doch etwas in den Genres Fantasy, Romance, Superheldenepos, Künstlerschicksal. Und die Mutter-Kind-Verherrlichung am Schluss hat mich in ihrer Klischeehaftigkeit dann leider nur noch genervt.

Trotz allem wird Scott McCloud mein Comic-Hero bleiben, ich liebe seine Zeichnungen und Bilder weiterhin, aber der Plot dieser Geschichte ist mir einfach zu überfrachtet.

Scott McCloud: Der Bildhauer, Übersetzung: Jan-Frederik Bandel, Carlsen, 2015, 496 Seiten, ab 14, 34,99 Euro