Von eigenen Welten und Liebestränken

Zipfel

Lucie, 13, braucht einen Job. Sie will weg von der Mutter, die sich schon wieder so einen seltsamen Typen angelacht hatte. So ein ökologisches Weichei mit Namen der Michi.
Da kommt ihr im Roman von Dita Zipfel der Zettel mit dem Angebot, als Hundesitter zu arbeiten, ganz gelegen. 20 Euro pro Stunde scheinen zudem ungemein lohnend.
Doch als sie an der Tür von einem gewissen Klinge läutet, ist da kein Hund sondern nur ein seltsamer Alter in Outdoor-Klamotten mit Sprachfehler, der sie einfach nur »Mädchen« nennt und ihr vegetarische Rezepte diktiert. Angeblich haben diese Rezepte Zauberkraft und sollen Ungeheuer fernhalten oder als Liebestrunk wirken.

Rösti des Lebens/Sterbens

Eigentlich glaubt Lucie an nichts davon, beobachtete Klinge aber überaus aufmerksam, stellt sich Fragen zu seinem Geisteszustand – und dennoch: Das mit dem Liebestrank muss sie ausprobieren, als Marvin, der angesagteste Boy der Schule, sie um ein Treffen im Freibad bittet. Er könnte schließlich funktionieren – man weiß ja nie.

Amüsante Weltbetrachtung

Lucies Beobachtungen und Schlussfolgerungen sind eine Mischung aus amüsanter Weltbetrachtung voller skurriler Menschen und der Entdeckung der eigenen Wünsche, des eigenen Weges, den Lucie schließlich einschlägt. Ihre Skepsis und ihre Verwunderung gegenüber Menschen wie Klinge oder der Michi kennen wir Lesende alle nur zu gut. Manchmal hält man einzelne Menschen für »verrückt«, manchmal auch die ganze Welt und steht mittendrin – mit seinen eigenen Zweifeln oder der leisen Ahnung, dass man vielleicht selbst »ver-rückt« ist.

Der Einfluss anderer

Dann bleibt die Frage, wie sehr man sich beeinflussen lässt, wie sehr man an gewissen Menschen hängt, wie sehr man Trends folgt – und dann feststellen muss, dass so ein Marvin vielleicht der Schwarm von vielen ist, im Grunde aber nicht gut riecht und auch ansonsten ein ziemliches A*loch sein kann.
Lucie begreift, dass es nicht nur eine objektive Welt gibt, sondern jeder von uns in seinem kleinen Kosmos lebt. Dass wir im Grunde vom anderen immer viel zu wenig wissen – und an dem Spruch »wer die Musik nicht hört, hält die Tanzenden für verrückt« ziemlich viel Wahres dran ist. Und dennoch neigen die Menschen dazu, andere immer und ständig in Schubladen zu stecken und sie zu bewerten. Lucie kann sich da gar nicht ausnehmen, aber sie lernt dazu und zwar in einer extrem steilen Lernkurve, die tatsächlich auf die Lesenden abfärben kann, wenn sie nur offen für dieses charmant wilde Buch von Dita Zipfel sind.

Anregend illustriert

Illustriert hat diese Wahnsinnsgeschichte (sorry, der passte jetzt grade!) Rán Flygenring, und es ist eine Wonne, die grellrot-schwarzen Drachen- und Punamy-Bilder zu betrachten. Und mögen die Rezepte nun Drachen im Zaum halten oder die Liebe heraufbeschwören, sie lesen sich so lecker, dass ein Nachkochen nach dieser Lektüre nur folgerichtig ist.

Dita Zipfel: Wie der Wahnsinn mir die Welt erklärte, Illustration: Rán Flygenring, Hanser Verlag, 2019, 200 Seiten, ab 12, 15 Euro

Das filmreife pralle Leben

leben

Der Mensch hat so seine Bedürfnisse, nicht nur nach Essen und Schlafen, sondern auch nach Aufmerksamkeit und Anerkennung. Der Mensch möchte gesehen werden, und das oftmals nicht nur von seinem direkten Umfeld, sondern von einer größeren Masse an anderen Menschen. Das Konzept des »Berühmtseins« ist faszinierend und selbst kleinen Kindern nicht mehr fremd, wie ich neulich feststellte, als meine Nichte, 7, mich fragte, ob ich denn berühmt sei. Ich konnte getrost verneinen.
Berühmt werden ist aber auch harte Arbeit und fällt einem nicht in den Schoß. Davon ahnt Karl, 13, im neuen Roman von Kathrin Schrocke noch nicht besonders viel. Für ihn ist es – wie vielleicht für manchen Jugendlichen heutzutage – durchaus erstrebenswert auf YouTube ein Star zu werden. Diesen Wunsch hegt Karl, seit ihm sein Opa diese Idee im Traum offenbart hat. Doch über was soll Karl Filmchen drehen? Während er darüber grübelt, grätscht ihm das Leben in all seinen Facetten in die Star-Pläne.

Familienbande

Da ist zum einen Irina, seine Nachbarin, die aber in einen anderen Jungen verknallt ist, was Karl so gar nicht verstehen kann. Dann eröffnet Oma der gesamten Familie, dass sie nun, ein Jahr nach Opas Tod, in ein Mehrgenerationenhaus ziehen will, um nicht zu vereinsamen. Karls Eltern, eine Neurowissenschaftlerin und ein Biologie-Professor, sind entsetzt, dass sie die schöne große Wohnung gegen eine Hippie-WG tauschen will.
Als Opa Karl erneut im Traum erscheint und ihn dieses Mal um Hilfe für Oma bittet, tut sich Karl mit seinen Cousins Master und Desaster zusammen. Gemeinsam organisieren die Jungs heimlich den Umzug von Oma ins Generationenhaus. Dabei lernt Karl die schräge Larissa kennen und verknallt sich in die 17-Jährige.

Ehekrise

Derweil bekommt die Ehe von Karls Eltern einen Knacks, da der neue Chef der Mutter sich scheinbar als äußerst nett herausstellt, und die Mutter nun viel öfter unterwegs ist und abends immer später nach Hause kommt. Die Eltern streiten sich heftig und einigen sich schließlich auf eine Ehe-Pause. Der Vater zieht aus der Wohnung aus … was die Lage für Karl und für Oma nicht gerade entspannt.

Das mit der Liebe im Leben hört nie auf…

Kathrin Schrocke lässt Karl als Ich-Erzähler mit einer gewissen Komik und einem Hauch von Selbstironie von den Irrungen und Wirrungen in der Familie berichten. Das ist zum einen überaus kurzweilig, zum anderen durch den beständigen YouTube-Wunsch von Karl und seinen ersten Verliebtheitsgefühlen dicht an der Realität von 13-jährigen Jungs dran. Gleichzeitig aber vermittelt sie, dass jede Generation ihre Wünsche, Sehnsüchte und Liebesbedürfnisse hat. Fast nebenbei erfährt Karl, dass auch Menschen jenseits der 60 sich noch neu orientieren und lang begangene Weg verlassen können. Das kann eine neue Behausung sein oder aber auch neue Freunde.
Die Beziehung der Eltern ist ebenfalls nicht in Stein gemeißelt. Denn auch eine Ehe ist harte Arbeit, an sich, gemeinsam mit dem Partner, aber auch im Job und in der Familie ganz allgemein.
Karl lernt zudem, dass man in Sachen Liebe manchmal einfach nur fragen muss, um zu einer Verabredung zu kommen. Und dass 17-jährige Mädchen sich eher nicht mit 13-jährigen Jungs einlassen.

Filmreif

Bei dieser lockeren Verflechtung der Schicksale der Figuren in dieser Geschichte habe ich die Verfilmung bereits vor meinem inneren Auge flimmern gesehen. Gespickt mit einem Hauch von gefühlter Tschick-Verpeiltheit drin (ohne Road-Movie und ohne dass ich das gerade genau belegen könnte). Aber es gibt genug absurde Slapstick-Szenen, die von deutschen Jungschauspielern perfekt umgesetzt werden könnten. Die Figuren im Mehrgenerationenhaus bieten die ganze Bandbreite von jungen bis alten Charakterköpfen, die nervtötende basisdemokratische Versammlungen abhalten. Es gibt genug Drama (Polizei, Krankheit), Wendungen und Herzschmerz. Und für jede Generation das richtige Identifikationspotential. Das ist beim Lesen schon ein Spaß und wäre auf der großen Leinwand sicher perfekt.

So geht Inklusion

Das liegt auch an solchen Szenen, bei denen mir das Herz aufgeht. Generationshaus-Bewohnerin Selma, die wegen der Krankheit MS an Krücken geht, bedankt sich bei Karl, dass er Yussuf beim Fliesenverlegen geholfen hat. Sie: »Jetzt ist hier alles endlich wieder behindertengerecht.«
»Wohnen hier auch Behinderte?«, fragte ich verwirrt. Bislang war ich keinem begegnet.«

Genau. So. Soll. Es. Sein. Nonchalant, ohne großes Aufhebens. Menschen mit Behinderung sind ein Teil des Ganzen, ein Teil des Lebens, die weder ausgeschlossen, noch diskriminiert werden sollten, sondern so selbstverständlich dazugehören, dass die Behinderung nicht mal mehr auffällt. Doch so weit sind wir leider noch lange nicht. Aber für diese Szene liebe ich dieses Buch besonders.

Kathrin Schrocke: Immer kommt mir das Leben dazwischen, mixtvision, 2019, 181 Seiten, ab 12, 14 Euro

Brüderlicher Beistand

gonzoSeit einiger Zeit stehen die Nominierungen für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2017 fest, worauf ich hier bis jetzt noch gar nicht eingegangen bin. Meine Mitbloggerinnen und ich haben natürlich nicht alle ausgewählten Bücher vorgestellt, aber für dieses Mal doch eine ganz gute „Trefferquote“ erreicht. Von den 28 nominierten Titeln haben wir immerhin sechs besprochen (Thé Tjong-Khings Hieronymus, Taran Björnstads Der Krokodildieb, Anna Woltz‘ Gips, Que Du Luus Im Jahr des Affen, Sarah Crossans Eins und Steven Herricks Wir beide wussten, es war was passiert.
Diesen und den anderen Nominierten sei hier – am Welttag des Buches – mit Verspätung herzlich gratuliert! Ich bin gespannt, wie sich die Jurys  dieses Jahr entscheiden.

Die Nominiertenliste ist für mich dann neben dieser Rückschau auch immer ein Anreiz, das nachzuholen, was ich im vergangenen Jahr versäumt habe. Gerade habe ich Dave Cousins Warten auf Gonzo, in der wunderbaren Übersetzung von Anne Brauner, beendet – und bin noch ganz selig berauscht.

Cousins, von dem ich vor zwei Jahren 15 kopflose Tage besprochen habe, widmet sich in seinem Roman, der in England bereits 2012 erschienen ist, dem Thema der Teenie-Schwangerschaft. Allerdings macht er das nicht auf voyeuristisch-betroffenheits-heischend-anklagende Art, sondern auf seine ganz spezielle, überaus komisch-liebenswerte Weise. Er wählt für dieses doch sehr weibliche Thema nämlich die Perspektive des 15-jährigen Ich-Erzählers Oz. Seines Zeichens Bruder von Meg, die mit 17 ein Kind von ihrem Ex-Freund erwartet.

Oz ist das, was man landläufig wohl eher als Loser bezeichnen würde. An der neuen Schule – er ist gerade mit seiner Familie irgendwo aufs Land in Nordengland gezogen – fällt er sofort auf, weil er den Rucksack mit der Schmutzunterwäsche seiner Schwester dabei hat, weswegen ihm umgehend der Spitzname „Slips“ verpasst wird. Davon ist nur schwer wieder runterzukommen, vor allem, wenn man sich dann mit dem Obernerd der Schule anfreundet, der auf Fantasy und Rollenspiele steht, sich die angebliche Schulpsychopatin zur Feindin macht und irgendwann das Handy mit all seiner Lieblingsmusik und kompromittierenden Fotos vom Obernerd verliert. Das pubertäre Schulelend nimmt unaufhaltsam seinen Lauf – so dass man Warten auf Gonzo auf den ersten Seiten zunächst für einen witzigen, aber relativ gewöhnlichen Schulroman halten könnte.

Doch Cousins Roman ist alles anderes als das: Als Oz per Zufall herausfindet, dass seine Schwester Meg schwanger ist, bekommt die Erzählung einen soghaften Drive. Denn Oz wundert sich zwar über seine Schwester, aber er verurteilt sie nicht. Viel mehr fängt er an, in seinen Gedanken mit dem Ungeborenen, das er Gonzo nennt zu kommunizieren. Mit einer gehörigen Portion Selbstironie schildert Oz die Entwicklung in seinem Leben und dem seiner Familie, die mit dem kommenden Neuzuwachs einhergeht. Das sind keine dramatisch-überzogenen Ereignisse, doch allein, dass Meg eine Abtreibung plant, macht Oz schon ziemlich fertig.

Cousin hat hier einen Roman vorgelegt, der sich dadurch absetzt, dass er nicht die Perspektive und das Innenleben eines schwangeren Teenagers offenlegt und diskutiert. Gerade dadurch, dass er den frechen jüngeren Bruder in den Fokus rückt, bekommt die Geschichte eine angenehme Leichtigkeit, die aber dennoch die Schwierigkeiten einer Teenie-Schwangerschaft spiegelt. Meg nimmt das Ganze mitnichten auf die leichte Schulter. Ihr Hadern und ihre Verzweiflung bekommt Oz unmittelbar mit – und steht seiner Schwester dabei auf aller großartigste Weise zur Seite.Durch seine lakonisch-ironischen Kommentare trägt er schließlich zu Megs endgültiger Entscheidung bei.

Ohne erhobenen Zeigefinger oder Besserwisserei feiert Cousins das Leben. Er stellt sich ohne wenn und aber hinter seine jugendlichen Helden, so dass man als Leserin sowohl Oz, als auch Meg ins Herz schließt und beiden sagen möchten, dass sie das alles echt cool meistern.

Das Einzige, was ich mich nach der Lektüre gefragt habe, ist, wer dieses Buch wohl liest? Es ist zielgruppentechnisch ein echtes Rätsel: 15-jährige Jungs werden sich wohl kaum freiwillig für schwangere Mädchen interessieren, schwangere Teenager hingegen werden ganz andere Sorgen haben und in ihrer Lage vermutlich nicht noch ein Buch über eine Teenie-Schwangerschaft lesen, und schon gar nicht eins, das aus Sicht eines frechen Bruders erzählt ist. Erwachsene, die all diese Problemzeiten lange hinter sich gelassen haben, werden die Geschichte vermutlich lieben. Aber werden sie sie im Jugendbuchbereich auch finden?

Umso großartiger und verdienstvoller finde ich den Mut des Verlages, Warten auf Gonzo herausgebracht zu haben. Durch die Nominierung zum Jugendliteraturpreis in der Sparte Jugendbuch, in der Erwachsene die Wahl treffen, ist jetzt jedenfalls schon mal für die Aufmerksamkeit gesorgt. Und das hat diese Geschichte richtig verdient.

Dave Cousins: Warten auf Gonzo. Jeder kann einen Fehler machen. Um alles zu versauen, muss man ein Genie sein, Freies Geistesleben, 2016, Übersetzung: Anne Brauner, 304 Seiten, ab 12, 19,90 Euro

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Die 17-Jährige in uns

schomburgVor ein paar Tagen stellte Jan Schomburg in Hamburg seinen ersten Roman vor und ließ dabei den Satz fallen, dass in uns allen doch ein 17-Jähriges Mädchen stecke. Der Mann ist 40.

Und trotzdem hat er mit dieser Behauptung nicht ganz Unrecht, wie ich in den Diskussionen nach der Lesung feststellen konnte. Irgendwie fühlen wir uns alle, egal wie alt wir eigentlich sind, drin doch immer noch jung. Mit allem, was dazu gehört.
Genau dieses Gefühl hat Schomburg in seiner Geschichte eingefangen. Darin lässt er die 17-jährige Johanna erzählen, die mit Boris befreundet ist, gut befreundet, aber nicht seine Freundin ist. Boris‘ Freundin heißt Ana-Clara und kommt aus Portugal.

Johanna und Boris machen ziemlich alltägliche Dinge zusammen, eine Radtour an die Nordsee, eine Studienreise nach Barcelona, sie gehen tanzen und Döner essen, in einem See schwimmen. Doch sie küssen sich nie. Johanna konstatiert das mit einem gewissen Befremden. Sie beobachtet die Dinge um sich herum sehr genau, hat Mitleid mit gewissen kläglichen Figuren, kann aber auch nicht alles durchblicken.

Warum hält der eine Mitschüler auf der Studienfahrt einen anderen wie einen Sklaven? Warum wird Boris in der Disco verprügelt und später stellt sich der Schläger im Döner-Laden als der größte Spießer heraus? Warum schaut Ana-Clara so stumpf vor sich hin?
Manchmal begibt sich Johanna ganz angstfrei und neugierig in neue Situationen, später wundert sie sich wieder über sich selbst. Ein Ahnung von Unheil liegt über allem. Dann verschwindet Boris.

Schomburg erzählt in vielen Szenen von vielen Dingen, die nicht passieren. Und liefert damit einen rätselhaften und gleichzeitig faszinierenden Coming-of-Age-Roman, in dem sich vieles um die Machtspielchen in unserem Alltag dreht, in der Familie zwischen dem eiskalten Vater und dem Sohn, in der Klasse zwischen den Mitschülern, auf den Tanzflächen von angesagten Clubs.
Johanna, die ja alles aus ihrer Sicht erzählt, erkennt vieles davon, doch sie urteilt nicht. Sie probiert aus. Sie ist noch nicht wie wir erwachsen und festgelegt, sondern offen für die Möglichkeiten des Lebens – und landet irgendwann mit Ana-Clara im Bett.

Vieles an der Geschichte von Johanna, Boris und Ana-Clara ist konstruiert. Manches kann ich gar nicht richtig einschätzen, beispielsweise die gewollt-verwirrende Anordnung der Szenen, die nicht chronologisch ist, sondern bunt durcheinander. Sicher, chronologisches kann langweilig wirken, durch dieses Hin und Her in den Zeiten und Abläufen baut Schomburg natürlich eine gehörige Portion Suspense auf. Trotzdem frage ich mich, ob  mehr dahinter stecken kann.
Schomburg ist Filmemacher und Drehbuchautor, und genau das merkt man auch seinem Text an: Mit relativ schnellen Schnitten erzählt er sehr bildlich von seinen drei Helden. Als Leser schaut man fast mehr, als das man liest. Das erzeugt einen Sog, der einen durch die Geschichte trägt, die dann aber auch viele Fragen offen lässt. Und das ist schon gut – und schreit schon förmlich nach einer Arthaus-Verfilmung.

Denn das Leben liefert uns nicht immer klare Antworten, sondern fordert uns immer wieder auf, uns selbst in Frage zu stellen, so wie Johanna es beständig macht. Sie erinnert uns, dass wir alle mal 17 waren und mit Neugierde und Hoffnung in diese Welt geschaut haben. Schomburg weckt diese 17-Jährige in uns tatsächlich wieder auf.

Seine Geschichte, die im Erwachsenenprogramm von dtv erscheint, ist trotz seiner jugendlichen Helden kein Jugendbuch in dem Sinne, wie wir sie hier auf dieser Plattform sonst immer vorstellen. Es ist für mich aber ein Roman, der Jugendlichen, die genug von reinen Jugendbüchern haben, den Weg in die deutsche Gegenwartsliteratur eben kann. Schomburgs Sprache ist jugendlich und rotzig genug, um zu fesseln, die Geschichte selbst so geheimnisvoll und vielschichtig, dass sie lange nachhallt und man über viele Aspekte diskutieren und nachdenken kann. Und das finde ich ja ganz fein.

Jan Schomburg: Das Licht und die Geräusche, dtv, 2017, 256 Seiten, 20 Euro

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Von der Idylle zum wahren Horror

seeAuf der Nominierungsliste für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2016 steht in der Sparte Jugendbuch auch die Graphic Novel Ein Sommer am See der US-amerikanischen Cousinen Mariko und Jillian Tamaki. Jetzt hatte ich Gelegenheit, diese Geschichte noch vor der Preisverleihung im Oktober zu lesen. Ich habe sie genossen. So viel kann ich vorab verraten.

Die Tamakis erzählen von der 15-jährigen Rose und ihrer Sommerfreundin Windy, die sich seit Jahren immer in den Sommerferien an einem See wiedertreffen. In dem winzigen Dorf, in dem es gerade mal einen Kiosk gibt, können die Mädchen eigentlich nichts machen, etwas was Erwachsene ja durchaus als erholsam bewerten.
Die beiden gehen schwimmen, hören Musik, belauschen die Dorf-Jugend und rätseln, wer Sarah ein Kind gemacht hat. Außerdem leihen sie sich aus dem Kiosk Horror-Filme aus, für die sie eigentlich noch viel zu jung sind.

Doch rasch merken sie, dass der eigentlich Horror nicht in den Filmen, sondern im realen Leben zu finden ist. Rose‘ Mutter ist depressiv, ihr Vater hält es zwischendrin nicht mehr aus und verschwindet für ein paar Tage. Als es fast zur Katastrophe am See kommt, erfahren sie, was hinter der übergroßen Traurigkeit der Mutter steckt.

In dunkelblau, fast schwarzen Bildern, die in geordneten Panels angeordnet sind, entführen die Tamakis den Leser in eine scheinbare Idylle. Still ruht der See und birgt jede Menge Geheimnisse, die die Bewohner und Besucher mit sich herumtragen. Man möchte diese Ferien genießen, so wie Rose und Windy. Doch die beiden sind in dem Alter, wo man immer mehr Fragen stellt, wo die eigenen Gefühle Achterbahn fahren und man gewisse Sachen einfach nicht mehr überhören kann. Es ist der Sommer, in dem ihre Kindheit definitiv zu Ende geht. Die Spiele von einst sind nicht mehr interessant, da reizt selbst der picklige, freche Jüngling aus dem Kiosk mehr. Rose ist ein ganz klein bisschen verliebt.

Auch wenn es bei den Mädchen noch nicht sexuell zur Sache geht, dringt genau das in die Ferienstimmung. Dabei geht es nicht um den Akt selbst, sondern viel mehr um die Folgen – die unglaublich bitter sein können. Sei es, dass das Kind nicht gewollt war oder eine Schwangerschaft nicht gut ausgeht. Rose und Windy beobachten all dies und stehen dann am Ende der Sommerferien fast sprachlos vor dem Ende ihrer Kindheit. Sie reisen zurück in eine neue erwachsene Welt. Und da kommt dann wirklich kein noch so gruseliger Horror-Film mit.

Mariko Tamaki/Jillian Tamaki: Ein Sommer am See, Übersetzung: Tina Hohl, Reprodukt, 2015, 320 Seiten, ab 14, 29 Euro

Die Vertreibung aus dem Paradies

postertGeschwister sind etwas Besonderes – für jeden, der das Glück hat, Bruder und/oder Schwester zu haben. Keine Frage, sie können unglaublich nerven und nicht immer ist man einer Meinung mit ihnen. Doch, wenn man sich nicht völlig dämlich anstellt, hat man mit Geschwistern Alliierte fürs Leben.

Kein Wunder also, dass sich die 10-jährige Franka in Petra Posterts Roman Piratenschwestern riesig freut, als endlich ihre große Halbschwester Kim bei Mama, Papa und ihr einzieht. Kim ist Papas erste Tochter, die er aus einer Beziehung mit der Französin Anne hat. Franka malt sich aus, wie sie gemeinsam Sachen machen, Klamotten tauschen, Schwimmen und Shoppen gehen. Die einzige Sorge von ihr ist, dass Kim eine Tussi sein könnte.
Zu ihrem Glück ist Kim alles andere als das. Kurze Haare, große Kreolen, Lederjacke, Boots – Kim ist definitiv cool, eine Piratin eben. Franka findet sogar ziemlich schnell die ersten Gemeinsamkeiten – beide lieben Schokolinsen und das Schwimmbad.

Franka öffnet Kim all ihre Türen. Doch Kim hat natürlich ihr eigenes Leben, eine Clique und sogar einen festen Freund. So bleiben Enttäuschungen bei Franka nicht aus, wenn Kims Freund plötzlich im Schwimmbad auftaucht und die große Schwester mit Beschlag belegt.
Immer wenn Kim nicht im Haus ist, schaut Franka sich in ihrem Zimmer um, probiert heimlich die Sachen der großen Schwester an – auf der Suche nach Nähe. Als Kim sie dabei eines Tages überrascht, schämt sich Franka sehr. Wenig später ist Kim verschwunden. Franka macht sich Vorwürfe und glaubt, dass sie schuld an Kims Verschwinden ist. Sie macht sich auf die Suche nach der Schwester …

Postert verpackt in dieser ungewöhnlichen Patchwork-Schwestern-Kombination sehr geschickt, wie bei Franka das Bewusstsein erwacht, dass es nicht nur ein harmonisches Familienleben gibt, so wie sie es bis zu diesem Moment erlebt hat. Durch Gespräche mit Papa, Mama und der Oma geht der Heldin langsam auf, dass Papa mal eine andere Familie hatte, Mama sich eigentlich noch ein weiteres Kind gewünscht hatte, und Oma nicht glaubt, dass mit dem Backfisch Kim alles bestens läuft.
So wird Franka ganz sanft aus der paradiesischen Kindheit in die komplexere Zeit der Jugend befördert. Dass dabei nicht alles sofort verständlich ist, illustriert Postert ganz wunderbar an Begriffen, die Franka nicht sofort versteht. Sie erfährt, dass Begriffe wie „Schluss machen“, „Backfisch“ oder „Erdbeerwoche“ nicht immer wörtlich zu nehmen sind, sondern durchaus mehr dahinter steckt. So wie bei vielen Dingen im Leben. Sehr häufig ist eben etwas nicht immer das, für was wir es halten. Das Leben ist nun mal eine komplizierte Sache. Das begreift Fanka und mit ihr die Lesenden im Laufe der Lektüre.

Die Geschichte von Franka und Kim geht gut aus – so viel darf ich hier durchaus verraten. Und selbst wenn Franka aus dem Paradies vertrieben wird, so macht Petra Postert klar, dass das Leben mit einer großen Schwester und einer Patchwork-Familie auch in Zukunft herrliche Momente bereithalten wird. Denn manchmal kann auch die kleine Schwester der großen beistehen und helfen. Piratenschwestern ist ein wunderbares, tiefgründiges Buch für kleine Schwestern mit einem großen Vorbild.

Petra Postert: Piratenschwestern, Tulipan, 2016, 188 Seiten, ab 10, 13 Euro

Grandioser Schund

formanRund 800 Seiten in knapp einer Woche – ist das schon ein Lob? Für eine notorische Langsamleserin wie mich durchaus. Obwohl es Momente gab, in denen ich nicht mehr weiterlesen wollte und nach 160 Seiten, also genau nachdem die Heldin von diesem einen Tag erzählt hat, hätte ich den ersten Band am liebsten vor Wut in die Ecke geschleudert, auf Nimmerwiedersehen, von Teil zwei ganz zu schweigen. Aber dann habe ich doch weitergelesen und es hat sich gelohnt!

Klingt nach gutem Schund, war mein erster Gedanke, als ich Gayle Formans zweibändige Liebesgeschichte in die Hände bekam. „Schund“ nenne ich liebevoll gut gemachten Kitsch, leicht konsumierbare Liebeskomödien. Im Kino hat Sandra Bullock zum Beispiel diese grundsympathischen, etwas schrägen Frauenfiguren mit reichlich Selbstironie drauf, und wenn sie dann noch auf Hugh Grants ungeschickt-schüchternen Charme trifft: perfekt. Auch die slapstikhafte Bridget Jones liebe ich in Buch und Film.

Nur ein Tag aber beginnt mit einer Überdosis Klischees: Die 18-jährige Allyson macht mit ihrer besten und einzigen Freundin Melanie eine typische Europa-Rundreise, organisiert von Teen Tours, ein Geschenk der Eltern zum High-School-Abschluss, bevor es dann aufs College geht. Melanie genießt die Freiheit, fernab von Helikoptereltern und heiler Vorstadtwelt, trägt knappe Tops, kurze Röcke, fesche Frisur und feiert ausgiebig in Kneipen und Pubs (diese verrückten Europäer, hier darf man schon mit 18 Alkohol trinken, das muss man natürlich nutzen). Die Tour endet in Stratford-upon-Avon, aber auf klassischen Shakespeare hat Mel keine Lust. Also überredet sie Allyson einmal über ihren Schatten zu springen, nicht zu allem gleich Nein zu sagen und stattdessen der Aufführung der Truppe Guerillawill zu folgen. Passenderweise gibt die statt düsterem Hamlet im Theatersaal Was ihr wollt unter Sternen in der lauen Sommernacht. Und Allyson gefällt’s, besonders der große, blonde Schauspieler, der den Sebastian spielt, hat es ihr angetan.
Und genau den trifft sie am nächsten Morgen im Zug nach London wieder.

Sie flirten. Er ist Niederländer, heißt Willem und nennt sie Lulu, nach der Stummfilmschauspielerin Louise Brooks, der die schwarzhaarige Allyson mit ihrem Pagenkopf, zu dem Melanie sie überredet hat, ähnlich sieht. Und Willem lädt sie ein, mit ihm für einen Tag nach Paris zu fahren, das Allyson und Teen Tours zuvor wegen streikenden Flugpersonals verpasst haben.
Einen Tag lang ist Allyson Lulu – eine mutige, offenherzige, spontane, authentische und witzige junge Frau mit einer screwballcomedyartigen Schlagfertigkeit. Mit Willem erlebt sie ein anderes, untourististisches Paris, begegnet lauter interessanten Menschen und beginnt, sich und das vor ihr liegende, perfekt durchgeplante Leben mit anderen Augen zu sehen. Das ganze hat den Zauber brillanter Begegnungen wie im Film Before Sunrise (wobei erst die Fortsetzung Before Sunset dann in der romantischen Kulisse von Paris spielt).

Als sie dann aber am nächsten Morgen allein in einem Atelier in einem besetzten Haus aufwacht, von Willem keine Spur, da ist Allyson plötzlich nur noch ein hilfloses, schluchzendes, heulendes Elend, das verzweifelt die pragmatische Teen-Tour-Leiterin anruft und sich von ihr nach London und letztlich nach Hause zurück helfen lässt. Oh weh, jetzt hat sie sich einmal etwas getraut und ist so enttäuscht worden, das arme Mädchen …

Da hätte ich das Buch am liebsten weggeworfen. Lulu war wieder die alte Allyson, hat nur noch genervt, Klischee, künstliches Drama, pathetisch, langweilig!

Zu meinem Glück habe ich diesem spätpubertierendem Teenager noch eine Chance gegeben und bin ihrer zwar nur langsam in Fahrt kommenden, aber immer spannender und lesenswerteren Suche nach Willem – die vor allem eine Suche nach sich selbst, nach Lulu, ist – gefolgt. Ein paar Mal hätte ich sie noch gern geschüttelt, weil sie es nicht schafft, ihrer übergriffigen Mutter Paroli zu bieten oder auch nur halbwegs normal mit ihrer Zimmermitbewohnerin oder ihren Kommilitonen zu reden. Weil sie sich erst in ihrem Schneckenhaus aus Kummer, Vorurteilen und Feigheit verkriecht.

Und soviel sei verraten: Shakespeare spielt bei dieser Befreiung eine Schlüsselrolle. Denn genau darum geht es auch, dass jeder eine Rolle spielt und sich anders gibt, als er ist. Shakespeares Stücke, vor allem die Verwandlungskomödien, sind raffiniert mit der Handlung verwoben und wirken als Katalysator.
Ein bisschen fühlt man sich wie im Krimi, im Kasperletheater oder schlechtem Horrorfilm, wenn man der Heldin immer einem einen Schritt voraus ist und rufen will: „Pass auf!“, „Dreh um!“ und „Lauf nicht da lang!“ Eigentlich scheint Allyson ein bisschen zu alt für diese Coming-of-Age-Geschichte. Manche ihrer Missverständnisse sind einfach nur grotesk. Und kein bisschen komisch.

Gayle Forman findet schließlich aber auch sehr gute Bilder: Als kleines Mädchen ist Allyson mit Melanie, beides Einzelkinder, immer Hand in Hand vom Sprungbrett in den Pool gesprungen. Doch immer wenn sie wieder an die Oberfläche geschwommen sind, mussten sie sich loslassen. Und so ist es auch mit dem Freischwimmen, von Eltern, von Lebensentwürfen, die nichts mit einem selbst zu tun haben, von Ängsten und Bequemlichkeiten – hin zum eigenen Leben, mit eigenen Träumen, eigenen Erfolgen und Niederlagen. Exakt ein Jahr nach diesem einen Tag in Paris steht sie in Amsterdam vor einer Tür und sagt: „Hi, Willem, ich bin Allyson.“

forman 2Da habe ich gleich Band zwei angefangen, der geschickterweise schon mit ein paar Seiten im ersten beginnt und neugierig macht. Jetzt erzählt nämlich Willem seine Geschichte. Nicht nur, warum er am nächsten Morgen in Paris verschwunden ist. Auch, warum er mit der jungen, Louise Brooks ähnelnden Amerikanerin nach Paris gefahren ist. Wovor er wegläuft. Weshalb er ständig verliebt ist, aber noch nie jemanden geliebt hat, wie er Lulu erklärt hat. Ein blonder Schlacks mit Schlag bei Frauen. Ich bin ganz vernarrt in diesen sprachbegabten Niederländer, der Brot mit Hagelslag, mit Schokostreuseln, liebt und jung genug ist, um mein Sohn sein zu können. Bin zwar schon alt, aber nicht zu alt für ein bisschen verliebt sein. Ich werde bestimmt nie so alt, dass ich auf Mummy Porn wie Fifty Shades of Grey abfahre, mit seinen erzkonservativen Geschlechterrollen.

Willem lässt sich treiben vom Zufall, oder Unfall, wie er es nennt. Hierbei frage ich mich, ob Stefanie Schäfer bei ihrer solide wirkenden Übersetzung etwas anfügen musste, weil im Englischen „accident“ beides bedeutet („by accident“, „accidental“ heißt „zufällig“).
Willem reist kreuz und quer um die Welt, lässt sich treiben – und ist auch ein Getriebener. Man begleitet ihn mit Vergnügen und entschlüsselt seine Geheimnisse, ergründet seine Verletzungen und Narben. Nur das komplizierte Verhältnis zu seiner Mutter entspannt sich etwas zu kathartisch (das geht, „zu kathartisch“! Merkt man beim Lesen). Man spürt hier überdeutlich die Autorin Gayle Forman, Jahrgang 1971, die auch Mutter von mittlerweile vermutlich halbwüchsigen Kindern und selbst Tochter ist. Sie arbeitet sich etwas zu sehr an der Mutterrolle ab, wie man eine gute Mutter ist, wie viel Vertrauen, Freiheit und Fürsorge angemessen ist. Mit Willems Mutter hat Forman ein reizvolles, besonderes Rollenvorbild entworfen. Yäel ist eine vielschichtige und kluge Frau, die ihre Empathie und Gefühle anders zum Ausdruck bringt, wie Willem schließlich versteht. Irgendwann sprechen Mutter und Sohn eine gemeinsame Sprache.

Willems Geschichte und Band zwei dieses doppelten Entwicklungsromans aus zwei Perspektiven hat mir extrem gut gefallen. Ich will jetzt nicht so weit gehen, dass Gesamtwerk als „doppeltes Glück“, eine im Buch wiederholt auftauchende Metapher aus dem Chinesischen, zu bezeichnen. Den bald zu erwartenden Film dazu will ich nicht sehen, um mir mein Bild von dem Jungen nicht kaputt machen zu lassen, obwohl das Ganze allein schon wegen der Handlungsorte nach einer Kinoadaption geradezu schreit. Auf jeden Fall ist es grandioser und absolut empfehlenswerter Schund!

Elke von Berkholz

Gayle Forman: Nur ein Tag, 432 Seiten, und Und ein ganzes Jahr, 368 Seiten, Übersetzung: Stefanie Schäfer, Fischer FJB Verlag, 2016, ab 14, jeweils 14,99 €

[Gastrezension] Wachgerüttelt

hellwach„Hellwach“ assoziiert man nicht als erstes im Zusammenhang mit einem jungen Mädchen, das in seinen besten Freund verliebt ist und regelmäßig fette Joints durchzieht. Aber die knapp 17-jährige Kiri hat ein drastisches Erweckungserlebnis, und von da an laufen ihre Gedanken Amok und an Schlaf ist nicht zu denken. „Wild Awake“ heißt Hilary T. Smiths Romandebüt im Original, ein sehr treffendes Wortspiel.

Eigentlich will Kiri in den Ferien, die sie allein zu Hause verbringen darf, weil ihre Eltern zu einer Kreuzfahrt rund um die Welt aufgebrochen sind und der ältere Bruder die Semesterferien im Labor verbringen wird, erst mit Lukas einen Bandwettbewerb gewinnen und anschließend sein Herz. Außerdem möchte sie für einen nationalen Klavierwettbewerb üben.
Doch ein unbekannter Anrufer reißt die talentierte Pianistin und Keyboarderin aus ihren Träumereien: Er habe Kiris große Schwester Sukey gekannt, die vor fünf Jahren ums Leben gekommen ist und über die seitdem nicht mehr gesprochen werden darf.

Kiri, deren Eltern von ihr nicht mehr wollen, als „keine Flecken auf dem Teppich und eine nette Telefonstimmen“, also dass das Kind höflich, unkompliziert und zurückhaltend ist, geht dem Anruf nach und findet heraus, dass Sukey, eine leidenschaftliche Malerin, nicht bei einem Autounfall gestorben ist, wie alle immer behaupten. Sie beginnt Fragen zu stellen, hinterfragt sich und ihre Familie. Und wird dabei immer wütender auf ihre Eltern, weil sie die widerspenstige, freigeistige Sukey nicht akzeptiert und unterstützt haben: „Wenn ihnen ihre Scheißteppiche nicht so wahnsinnig wichtig gewesen wären, wäre Sukey jetzt nicht tot.“

Die Autorin beschreibt die Veränderung der Ich-Erzählerin in prägnanten Sätzen und findet starke Bilder. „Ich stehe da und hasse“, sagt Kiri voller lähmender Wut nach einem frustrierenden Streit mit ihrem Bruder. Später klingt sie versöhnlich: „Vielleicht sollte man Menschen nicht danach beurteilen, was aus ihnen geworden ist, sondern danach, was sie trotz allem geblieben sind.“ Und fasst schließlich die Sprachlosigkeit der Familie nach dem Tod der Schwester und Tochter in der Erkenntnis zusammen: „Wir stehen unsicher an der Kreuzung von Liebe und Vermeidungsverhalten, wie ein paar Touristen, die sich verlaufen haben und nicht wissen, welche Straße nach Hause führt.“

Bunte Farbspritzer auf dem alten Teppich halten Kiris Erinnerung an Sukey lebendig, ein schönes, fast poetisches Leitmotiv, das sich wie ein vielfarbiger Faden durch die Geschichte zieht. Das Buchcover spiegelt diese Idee allerdings nur halbherzig als pseudopsychedelische Kleckserei wider, die am Anfang jedes Kapitels als graugetönter Abklatsch zitiert wird, eigentlich nett gedacht, jedoch schlecht gemacht.

Smith, die zuvor anonym über ihre Erfahrungen als Dauerpraktikantin in der Buch- und Medienbranche gebloggt hat, macht in ihrer furiosen, warmherzigen Geschichte vom Erwachsenwerden, von Liebe und Tod, Kreativität und psychischen Krisen sehr vieles sehr gut: Zum Beispiel lesen sich glückliche Knutschszenen überhaupt nicht albern, verunglückte Annäherungsversuche aber fühlen sich exakt so peinlich an, wie sie für ihre Heldin sind. Dies ist auch der feinfühligen und nie überdrehten Übersetzung von Jenny Merling zu verdanken.

Situationen, die in anderen Romanen gern zu dramatischen Höhe- und Wendepunkten hochstilisiert werden, fügt Smith realistisch und schlüssig in die Geschichte ein: Kiri wird nicht gleich vergewaltigt, als sie trotzig und zugedröhnt zu einem älteren Mann ins Auto steigt. Und nach einem nächtlichen Zusammenstoß mit einem PKW kommt der Teenager mit lädiertem Rad, zerrissenen Leggins, etlichen blauen Flecken und blutigen Schrammen davon, und erleidet nicht gleich eine Querschnittslähmung oder ein schweres Schädelhirntrauma. So ist das Leben nämlich in Wirklichkeit: Man kriegt vom Schicksal immer wieder eine gewischt, aber dass „danach nichts mehr ist wie zuvor“ kommt eher selten vor, kleine Wachrüttler sind dagegen häufiger. Und dann liegt es an einem selbst, was man daraus macht.

Apropos Fahrrad: Man merkt gleich zu Anfang, dass dieses Buch nicht in den USA spielt, wo das Fahren von Spritfressern scheinbar zu den Grundrechten gehört und jeder Jugendliche ab 16 einen Führerschein hat. Kiri fährt viel Fahrrad im kanadischen Vancouver (sogar ohne Helm) und ihr flottes Zweirad wirkt einige Male entscheidend und wegweisend.

Insgesamt gleicht Kiris Sommer und Hilary T. Smiths Roman einer nächtlichen Fahrradspritztour durch die Stadt, im eigenen Rhythmus, ohne dass Ampeln und Autoverkehr das Tempo bestimmen. Man fährt durch vermeintlich bekannte Gegenden und entdeckt nachts ganz neue Facetten. Mal gleitet man genießerisch dahin, mal legt man einen erfrischenden Sprint ein, mal droht man ins Schleudern zu geraten. Man spürt alles viel deutlicher, unmittelbarer: den Wind in den Haaren, die vom Asphalt abgestrahlte Wärme, die plötzliche Kälte nach einem Schauer, die nächtliche Stille. Ein Trip, bei dem man leicht neben sich zu stehen scheint und doch hellwach ist, „sowas von da“, wie einst Tino Hanekamp treffend sein in einer Silvesternacht spielendes Debüt betitelt hatte. Ein Trip, bei dem man immer weiter mitfahren will.

Elke von Berkholz

Hilary T. Smith: Hellwach, Übersetzung  Jenny Merling, FJB Fischer Verlag, 2015, 367 Seiten, ab 14, 14,99 Euro

 

Boy sucht Girl

margoSeit gestern läuft in den Kinos die zweite Verfilmung eines Romans von John Green, amerikanischer Jugendbuchautor, über den ich vor drei Jahren hier, hier und hier berichtet habe. Da war ich natürlich neugierig, ob es wieder so ein Erlebnis wird. Folglich habe ich mir Margos Spuren, der bereits 2010 auf Deutsch erschienen ist, in diesen Tagen im Doppelpack gegeben: erst die Lektüre, dann den Film.

Green erzählt, in der Übersetzung von Sophie Zeitz, – man muss schon fast sagen – gewohnt locker-flockig die Geschichte des 18-jährigen Quentin, der seit Kindertagen in seine gleichaltrige Nachbarin Margo verknallt ist. Doch Margo will eigentlich nichts von ihm wissen. Bis sie eines Nachts Quentin als Helfershelfer für eine Rachetour an ihrem Ex-Freund braucht. Gemeinsam cruisen sie durch Orlando, Florida, verteilen Frischfisch, scheuchen Margos Ex beim Sex auf, entfernen einem anderen Klassenkameraden eine Augenbraue mit Enthaarungscreme, brechen bei Seaworld ein.
Margo geht unerschrocken und cool vor, Quentin überwindet ein ums andere Mal seine Ängste – so sehr ist er von Margo fasziniert. In ihm wächst die Hoffnung, dass Margo nun endlich seine Liebe erwidert. Doch am nächsten Morgen ist Margo verschwunden.

margoEs folgt eine Spurensuche, bei der Quentin mit seinen Freunden Ben, Radar und Lacey schließlich von Florida im Auto in den Staat New York fährt, um Margo in Agloe – einer so genannten Papierstadt, weil sie nur als Kopierschutz auf Straßenkarten existiert – aufzugabeln. Green brennt während dieser Roadtour ein Feuerwerk an Witzen und Gags ab, die im Kino den Saal zum Lachen brachte. Details verrate ich hier natürlich nicht.

Bis zu diesem Punkt ist die Geschichte ein scheinbar spaßiger Highschool-Roman und leicht naive Teenie-Liebe, die mir fast ein bisschen auf die Nerven ging, weil mir die Richtung nicht klar war, in die John Green will. Im Buch haben dann jedoch die letzten 20 Seiten die entscheidende Wendung gebracht.
Green ist ein Meister für Projektionen. Denn so wie Miles in Eine wie Alaska und Hazel Grace in Das Schicksal ist ein mieser Verräter schickt er auch hier seinen Protagonisten Quentin auf die Suche. Quentin hat dabei eine ziemlich genaue, mystifizierte Vorstellung von der gesuchten Margo. Und genau das ist der Knackpunkt. Denn es ist quasi unausweichlich, dass diese Suche nicht zu dem Ergebnis führt, das der Junge sich wünscht. Denn: „Die Vorstellung ist nie vollkommen“, schreibt Green (S. 325). Darin liegt die Lektion, die für Jugendliche vermutlich sehr viel bitterer ist als für Erwachsene mit ihrer Lebenserfahrung. Doch auch als Erwachsener kann man sich immer wieder gern an diese allzu menschliche Neigung erinnern, dass man etwas in geliebte Menschen hineinprojiziert, war gar nicht da ist, dass man sich Dinge wünscht, die nicht der Wirklichkeit entsprechen, dass man sich selbst viel zu wichtig nimmt.

Der Film ist perfekt gemachtes, sehr unterhaltsames Popcorn-Kino, mit frischen Jungschauspielern – Cara Delevingne ist zweifellos ein verdammt schönes Mädchen mit einem sehr cool-ironischen Gesichtsausdruck, allerdings habe ich im Nachhinein den Eindruck, dass sie bis jetzt eben nur diesen einen drauf hat. Nun gut, es, nach ein paar Kurzauftritten in Fernsehfilmen und Serien, ist ihre zweite große Filmrolle. Das wird also noch. Eine echte Entdeckung allerdings ist Ben-Darsteller Austin Abrams, der das Green’schen Witzefeuerwerk mit jugendlichem Verve abbrennt. Ich wünsche ihm, dass er sein Talent noch in weiteren Filmen zeigen kann.

Natürlich gibt es im Film Veränderungen im Vergleich zum Buch. Doch die sind sinnvoll und dem Medium entsprechend angepasst, gedreht und verdichtet. Da könnte man kleinlich die Unterschiede aufzeigen, doch das bringt einen nicht weiter. Die Lektüre geht natürlich in die Tiefe, bieten über 300 Seiten eben mehr Platz für Details und Hintergründe, als knapp zwei Stunden Film-Spaß. Doch so ergänzen und bereichern die beiden Medien die Geschichte von Quentin und Margo: das Buch liefert die Hintergründe, der Film eine ganz spezielle Art von Happy-End.

Und den Anteil der echten John-Green-Fans im Kino erkennt man spätestens, wenn der junge Tankwart seinen Auftritt hat …

John Green: Margos Spuren, Übersetzung: Sophie Zeitz,

Ausgezeichnet mit dem Corine – Internationaler Buchpreis, Kategorie Kinder- und Jugendbuch 2010. Nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2011,
Hanser, 2015, 336 Seiten, ab 13, 16,90 Euro (Hardcover-Neuauflage)

Das Buch zum Film: Reihe Hanser dtv Taschenbücher, 2015, 336 Seiten, 9,95 Euro

Ansteckend

fieberVor ein paar Monaten gingen die Berichte über die Ebola-Epidemie in Westafrika fast täglich durch die Presse. Nun scheint das Übel bekämpft und Normalität – soweit man das von hier aus beurteilen kann – wieder eingezogen. Wir in Nordeuropa haben das Glück, dass hier schon lange keine wirklich verheerende Krankheit mehr ausgebrochen ist, die unzählige Tote gefordert hätte. Ich weiß, es ist ein heikles Terrain, denn auch hier gibt es Opfer von Masern oder Grippe, und jedes ist eines zuviel. Doch ich möchte den Blick auf richtige Epidemien richten, die es auch in unseren Breiten gegeben hat und die sich junge Menschen wahrscheinlich nur schwer vorstellen können.

Eine Ahnung, wie es gewesen sein könnte, als vor fast 100 Jahren die Spanische Grippe ausbrach, liefert der Roman Das Fieber von Makiia Lucier, feinfühlig ins Deutsche gebracht von Katharina Diestelmeier. Erzählt werden knapp zwei Monate im Leben der fast 17-jährigen Cleo. Sie lebt in einem Internat in Portland, Oregon, hat Vater und Mutter vor Jahren bei einem Kutschenunfall verloren und nur noch ihren Bruder Jack und dessen Frau Lucy. Es ist Herbst 1918, in Europa tobt noch der große Krieg und an der Ostküste breitet sich gerade die Spanische Grippe aus. In Portland, an der Westküste, glauben sich Cleo und ihre Familie in Sicherheit. So brechen Jack und Lucy in ihre Flitterwochen auf, Cleo soll die Herbstferien im Internat verbringen.

Die Grippe schert sich natürlich nicht um irgendwelche Küstenverläufe, und wenige Tage später werden die ersten Krankheitsfälle in der Stadt gemeldet. Das Internat muss schließen. Cleo macht sich allein zum Haus des Bruders auf, obwohl dort niemand ist. Als sie in der Zeitung einen Aufruf vom Roten Kreuz liest, das Freiwillige sucht, meldet sie sich, um zu helfen.
Der Kontrast könnte nicht größer sein. Aus dem behüteten, gut bürgerlichen Zuhause erlebt Cleo auf einmal die Welt von Krankheit, Siechtum und Tod. Sie holt erkrankte Kinder und Frauen aus ihren Wohnungen, hilft im Notkrankenhaus aus, das im örtlichen Theater eingerichtet wurde – und würde nach einem Tag am liebsten weglaufen. Doch die Krankenschwestern Kate und Hannah und der junge Medizinstudent Edmund, der schwer verwundet aus Europa zurückgekehrt ist, machen ihr Mut.

Lucier versteht es meisterhaft, den Leser in die Zeit vor 100 Jahren zurückzuversetzen, wo es nicht selbstverständlich war, dass Mädchen Auto fahren oder gar allein in einem Haus wohnen, wo es noch keine Impfung gegen die Grippe gab und die Waschmaschinen noch nicht selbsterklärend waren. Und mittendrin Cleo, die ihren eigenen Kopf hat und täglich neu ihre Ängste überwindet. Das ist für eine Coming-of-Age-Geschichte sicherlich ein ungewöhnliches Setting, mit dem man sich heute vielleicht nicht besonders gut identifizieren kann. Doch es ist ein faszinierendes Beispiel dafür, wie man in nicht alltäglichen Situationen über sich hinauswachsen kann, wie in schwierigen Zeiten Freundschaft und Liebe entstehen können, wie man auf eigenen Beinen stehen kann. Eingebettet in die historische Tatsache der Spanischen Grippe und kombiniert mit einer sich zart andeutenden Liebesgeschichte ist Makiia Lucier eine sehr fesselnde Geschichte gelungen.

Makiia Lucier: Das Fieber, Übersetzung: Katharina Diestelmeier, Carlsen/Königskinder, 2015, 368 Seiten,  ab 14, 17,99 Euro

[Gastinterview] Jeder Augenblick zählt

brownerHeute gibt es die Premiere einer quasi Gemeinschaftsrezension. Ausgangspunkt ist das Buch Alles geschieht heute des New Yorker Autors Jesse Browner, dem ich im ersten Moment mit Skepsis begegnet bin. Ohne Kapitel und dafür mit Bandwurmsätzen entfaltet sich die  Gefühlswelt von Wes, zwischen Party, der MS-kranken Mutter, dem gescheiterten Vater und einem Kalbsbries-Rezept, im Zeitraum eines Tages. Auch wenn ich Bandwurmsätze nicht besonders mag, war ich nach den ersten Seiten gefesselt von Wes‘ Welt, die kurz vor dem Kollaps zu stehen scheint, nur weil er zum ersten Mal mit einem Mädchen geschlafen hat. Dem falschen, wie er glaubt …

Nach der mitreißenden Lektüre erfuhr ich auf der Buchmesse in Frankfurt, dass die Tochter der Übersetzerin Anne Brauner den Autor in New York getroffen und interviewt hat. Großartigerweise hat Tabea Brauner sich bereit erklärt, ihr Interview auf letteraturen zu veröffentlichen. Herzlichen Dank dafür!

 

Everything Happens Today – Alles geschieht heute!
“It’s a frame that I love, because it makes every moment count!”

Wie der Titel schon sagt, porträtiert Jesse Browner einen einzigen Tag im Leben des 17- jährigen Wes, eines philosophischen, intelligenten New Yorkers, der hin und hergerissen ist zwischen der intellektuellen, unnahbaren Delia und der verführerischen, frechen Lucy, die Gerüchten zufolge eine Schlampe sein soll. Als gäbe ihm das nicht genug zu denken, muss er sich auch noch mit seiner schwer kranken Mutter und seinem wortkargen Vater herumschlagen und sich um seine jüngere, süße Schwester kümmern, die sich manchmal wohl eher um ihn zu kümmern scheint. Gleichzeitig möchte er in der Schule seinen Ruf als bester Literat aufrechterhalten und sucht sich für eine Hausarbeit ausgerechnet Krieg und Frieden von Leo Tolstoi aus.

Tabea Brauner: Jesse, für wen würden Sie sich entscheiden, Delia oder Lucy?

Jesse Browner: Die Inspiration zu Delias Charakter stammt von einem Mädchen, in das ich verliebt war, als ich so alt war wie du. Ich war total verrückt nach ihr, aber sie hat mir nicht gut getan. Mir gefällt Lucy (außer, dass sie zu jung für mich ist), und ich hätte gern so jemanden wie sie kennengelernt, der es mir gesagt hätte, wenn ich mich in Gefühlsdingen dämlich anstelle. So jemand kann sehr hilfreich sein!

Was hat Ihre Jugend mit der von Wes gemeinsam?

Meine Mutter war genau wie Wes’ Mutter sehr krank und starb, als ich 15 war. Natürlich verdrängt man diese schrecklichen Erinnerungen, und in meinem Alter ist es, als würde ich in einem Koffer wühlen und das Gesuchte wäre ganz unten vergraben.
Ich habe schon immer viel gelesen und mich in die Geschichten hinein geträumt. Meine Intellektualität ist ähnlich ausgeprägt wie bei Wes, aber auch meine bescheuerten Seiten finde ich in ihm wieder.

Welche Bedeutung haben die Flirt-SMS zwischen Lucy und Wes auf der Party?

Ich habe meine Töchter beobachtet. Wir alle haben iPhones, aber sie benutzen ihre nicht zum Telefonieren, sondern ausschließlich zum Simsen. Das Handy sollte sozusagen einen eigenen Charakter haben, mit dem ich nicht nur die natürliche Verständigung darstellen kann, sondern auf symbolische Art auch die Nicht-Kommunikation beim SMS-Schreiben.

Wes durchlebt einen ganz besonderen Tag voller verschiedener Gefühle – gab es so einen auch in Ihrem Leben?

Nein. Ich bezweifele, dass viele Menschen im wirklichen Leben einen solchen Tag erlebt haben. Es geht auch nicht darum, dass alles unbedingt an einem Tag geschehen sollte, sondern darum, dass die Dinge wahrheitsgetreuer erscheinen, wenn sie nicht der Wirklichkeit entsprechen.
Die Handlung in meinem Roman The Uncertain Hour findet ebenfalls innerhalb von zwölf Stunden statt. Ich liebe diesen Rahmen!

Jesse Browner, Schriftsteller, ausgezeichneter Übersetzer und Food-Journalist wurde in London geboren. In den vergangenen Jahren sind von ihm die Romane The Uncertain Hour (Bloomsbury 2007) und The Duchess Who Wouldn’t Sit Down: An Informal History of Hospitality (Bloomsbury 2003) erschienen. Zudem übersetzt er unter anderem Werke von Jean Cocteau, Paul Éluard und Rainer Maria Rilke. Journalistische Beiträge Browners finden sich in Magazinen wie The New York Times Book Review, New York magazine sowie in Food & Wine und Gastronomica.
Der Autor wohnt mit seiner Frau und zwei Töchtern in Lower Manhattan.

Tabea Brauner (18) führte das Interview in New York.

Jesse Browner: Alles geschieht heuteÜbersetzung: Anne Brauner,  Freies Geistesleben, 2014, 249 Seiten, 19,90 Euro, als E-Book 16,99 Euro.

Im Strudel der Gefühle

danteAch, die Pubertät. Eine schwierige Zeit, alles verändert sich, der Körper vor allem, aber auch der Geist. Die Sicherheiten gehen verloren, die Richtung im Leben wird unklar. Alles gerät durcheinander. Von diesen Zuständen im Leben des 15-jährigen Aristoteles, genannt Ari, erzählt Benjamin Alire Saenz in seinem Roman Aristoteles und Dante entdecken die Geheimnisse des Universums.

Ari trifft 1987 in El Paso, Texas, gleich an der Grenze zu Mexiko, Dante im Schwimmbad. Die Jungen könnten unterschiedlicher nicht sein: Ari ist introvertiert, verunsichert, hat keine Freunde. Er ist schwermütig, unter anderem, weil sein Vater nicht über seine Erlebnisse aus dem Vietnamkrieg berichtet. Zudem wird in der Familie nicht über Aris älteren Bruder gesprochen, der im Gefängnis sitzt.
Dante hingegen ist selbstsicher, liebt Poesie und Kunst, in seiner Familie gibt es keine Geheimnisse – und er weiß, dass er Jungs liebt. Nach und nach freunden sich die beiden an. Dante bringt Ari das Schwimmen bei, aber nicht nur das. Sie verbringen immer mehr Zeit miteinander, fahren in die Wüste und beobachten die Sterne, lesen Gedichte, diskutieren über ihre mexikanischen Wurzeln und ihr Leben in einer weißen Gesellschaft.

Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht von Aristoteles, und so stehen vor allem die Zweifel und Unsicherheiten des Heranwachsenden im Vordergrund. Lange, ganz lange kann und will er sich nicht eingestehen, dass er Dante liebt, zu außergewöhnlich ist das doch für einen Jungen, der aus einer katholischen Familie mit mexikanischen Wurzeln stammt. Aris Hadern, seine Wut, seine Suche, sein Übergang vom Kind zum Erwachsenen bekommt der Leser hautnah mit. Seine Gefühle werden quasi zu den Gefühlen des Lesers, so unmittelbar erzählt Saenz, in der lässigen deutschen Übersetzung von Brigitte Jakobeit. Und gerade das macht diesen Roman für pubertierende Jungen interessant. Hier finden sie eine Identifikationsfigur, die ihnen zeigt, dass all dieses Gefühlschaos zum Erwachsenwerden dazugehört, dass es okay ist, nicht dem Mainstream anzugehören, dass es in Ordnung ist, sich von familiären und gesellschaftlichen Traditionen zu verabschieden.
Gerade Jugendliche mit Migrationshintergrund finden in Ari und Dante zwei Helden, die sich aus ihrem alten Kontext lösen und um der Liebe willen ihren eigenen Weg gehen.

Benjamin Alire Saenz: Aristoteles und Dante entdecken die Geheimnisse des Universums,  Übersetzung: Brigitte Jakobeit,  Thienemann Verlag, 2014, 384 Seiten,  ab 14, 16,99 Euro

Bis ans Ende der Welt

FluchtIn diesen Wochen häufen sich in den seriösen Medien wieder einmal die Berichte über Flüchtlinge aus Afrika, die vor der italienischen Insel Lampedusa Schiffbruch erleiden. Die Glücklicheren unter ihnen schaffen es ans Ufer, viele, zu viele, sind dieser Tage im Mittelmeer ertrunken. Sie ermahnen uns, die wir wohlig, warm und behütet zu Hause sitzen, dass Flucht kein Spaß ist. Niemand flüchtet aus seiner Heimat aus Jux und Dollerei, sondern aus überlebenswichtiger Notwendigkeit.

Auch Deutschland kann auf eine – vielschichtige und komplizierte – Geschichte der Flucht zurückblicken. Erst zwei Generationen liegt es her, dass Juden von hier flüchteten, vertrieben von ihren eigenen Landsleuten. Ein Teil von ihnen nahm ebenfalls den Weg über das Mittelmeer, nur in umgekehrte Richtung, weiter nach Shanghai. Von diesen Menschen erzählt Anne Voorhoeve in ihrem neuen, eindrucksvollen Roman Nanking Road.
Wie schon in ihrem Buch Liverpool Street geht es um die Familie Mangold, die nun in einer anderen Variante des Lebens, die Möglichkeit bekommt auszuwandern.

Mit wenigen Dingen machen sich Ziska und ihre Eltern im Winter 1938 auf den Weg nach Genua, wo sie einen Dampfer besteigen wollen. Onkel Ernst mit Familie bleibt zurück, ebenso Ziskas beste Freundin Bekka. Obwohl die Mangolds gültige Ausreisepapiere haben müssen sie immer wieder mit den Schikanen der Nazis kämpfen, bis sie auf dem Schiff sind. Hatte die 11-jährige Zizka bis dahin geglaubt, dass das Klassendenken ein Ende hat, sobald Deutschland hinter ihnen liegt und sie sich auf dem Schiff befinden, so sieht sie sich auch an Bord mit dauerhaften Vorurteilen und Anfeindungen konfrontiert. Trost bietet da zumindest der zwei Jahre ältere Mischa Konitzer, ebenfalls Jude, der allerdings aus einer reichen Zahnarztfamilie stammt. Gemeinsam durchstehen die Jugendlichen die dreiwöchige Seereise, schmieden Pläne, wo sie sich im Notfall verstecken, und erleben die Ankunft in Shanghai.
In der von den Japanern besetzten Stadt fanden europäische Juden ohne Visum Aufnahme. In Sicherheit waren sie deshalb jedoch noch nicht. Zunächst kommen sie in einer überfüllten Flüchtlingsunterkunft unter, in der Privatsphäre nicht existiert. Ziska erlebt Hunger und Armut, sowohl bei den jüdischen Flüchtlingen, als auch  bei den chinesischen Einheimischen. Mühsam schlagen sich ihre Eltern mit körperlich anstrengenden Jobs durch. Der Vater, der eigentlich Anwalt ist, besserte Kleidungsstücke aus, die Mutter arbeitet als Abwäscherin. Die kleine Familie lebt in zwei winzigen Zimmern ohne Toilette und Küche.
Konitzers hingegen beziehen eine großzügige Altbauwohnung im französischen Sektor und scheinen ihr altes Leben fortführen zu können. Sie helfen den Mangolds, wo sie nur können.
Während all der Zeit versucht Ziska, brieflichen Kontakt zu ihrer besten Freundin Bekka und ihrem Onkel Ernst zu halten. Mit Hilfe eines Engländers, den sie auf dem Schiff kennengelernt hat, schafft sie es, Bekka auf die Liste für die Kinderverschickung nach England zu setzten. Ernst hingegen schlägt sich mit der Transsibirischen Eisenbahn und dem Schiff nach Shanghai durch. Monate später er will seine Frau Ruth, Ziskas Tante, und seine Tochter aus Berlin herausholen. Doch mittlerweile ist der Krieg ausgebrochen.

Anne Voorhoeve, die mich bereits mit Unterland begeisterte, erzählt in Nanking Road eine hochkomplexe Fluchtgeschichte, die enorm viele Aspekte des zweiten Weltkriegs und des Schicksals der Juden thematisiert. Sie verwebt die Plotstränge so geschickt, dass sich alles wie selbstverständlich ergibt und nachvollziehbar bleibt. Ziskas Sicht auf die Geschehnisse und Zustände macht die Absurdität von Judenhass, Klassengesellschaft, Arm und Reich deutlich. Ziska, die aus einer zum evangelischen Glauben konvertierten und eigentlich nicht sehr religiösen Familie stammt, erlebt, wie unterschiedlich jüdische Flüchtlinge auf der Suche nach ihrer Identität und Heimat sind. Für manche ist Shanghai nur eine Zwischenstation auf dem Weg nach Amerika, andere wollen unbedingt nach Palästina. Ziska hingegen fühlt sich auch am Ende der Welt immer noch deutsch.

Neben dem Flüchtlingsschicksal und der Coming-of-Age-Geschichte von Ziska, in der es auch um Freundschaft über Jahre und Entfernungen hinweg geht, schafft Anne Voorhoeve es, die weltweite Dimension des Krieges differenziert zu illustrieren. Sind die Mangolds auch dem Krieg in Europa und dem Holocaust entkommen, so müssen sie in Shanghai den Ausbruch des Pazifischen Krieges miterleben. Die Japaner greifen die USA an, in der Folge wird auch das japanisch besetzte Shanghai bombardiert. In Ziskas Bekanntenkreis gibt es Tote und Verletzte. Flucht wird hier also nicht gleichgesetzt mit Rettung.
In vielen Dingen hat mich Voorhoeves Roman an Judith Kerrs Flucht-Trilogie-Klassiker Als Hitler das rosa Kaninchen stahl erinnert. Voorhoeve führt das Flucht-Genre weiter, und dies auf eine moderne und packend zu lesende Art – und mit sehr viel Respekt und historischem Wissen. Emotional fiebert man mit Ziska und ihrer Familie mit, gleichzeitig lernt man unglaublich viel über eine Facette des zweiten Weltkriegs, die meines Wissens im Jugendbuchbereich noch nicht thematisiert wurde. Diese Erinnerung an die Shanghailänder ist ein wichtiger Beitrag, um jungen Lesern die globale Dimension dieser Katastrophe begreifbar zu machen.

In Bezug auf die Lampedusa-Flüchtlinge könnte sich die deutsche Gesellschaft von diesem Roman eine gehörige Scheibe abschneiden, wenn es um die Aufnahme von Menschen in Not geht. Denn im Gegensatz zum China der 30er und 40er Jahre ist Deutschland ein reiches Land, das durchaus mehr Flüchtlingen Schutz gewähren und ihnen eine Chance auf ein menschenwürdiges Leben ermöglichen könnte.

Anne Voorhoeve: Nanking Road, Ravensburger Buchverlag,  2013, 480 Seiten, ab 14, 16,99 Euro

Das Leben ist (k)ein stinkender Kanal

fische fütternEine gute Geschichte legt auf den ersten Seiten einen Köder aus. Einen Köder, den der Leser schluckt und der ihn dann bei der Stange hält. Einen extrem guten Köder gibt es in der Geschichte Fische füttern von Fabio Genovesi.

Der anfangs 14-jährige Protagonist Fiorenzo geht mit seinen Freunden Stefano und Silvia in dem öden toskanischen Kaff Muglione fischen. Doch diesmal nicht wie gewöhnlich mit der Angel, sondern mit einem Megaböller. Damit wollen sie das angebliche Kanalmonster erlegen. Den Megaböller haben sie aus sechs Böllern, „Modell Magnum, Profiqualität“, zusammengebaut und gut mit Isolierband umwickelt. Fiorenzo soll den Böller werfen, vorher jedoch bis zehn zählen, damit die brennende Lunte im Wasser nicht absäuft. Bei acht explodiert der Böller.

Den Rest der Geschichte, die fünf Jahre später spielt, berichtet Fiorenzo als Ich-Erzähler folglich einhändig. Seine aussichtsreiche Radsportkarriere fand nach dem dramatischen Böller-Vorfall ein jähes Ende, sein Vater und Trainer ist am Boden zerstört, nicht so sehr wegen der fehlenden Hand des Sohnes, als wegen des verpassten Ruhms als Radsportler. Fiorenzo ist so was wie der Loser schlechthin. Nichts in seinem Leben scheint glatt und erfolgreich zu verlaufen. Seine Mutter starb unvermittelt mit 43. In der Schule versaut er sich kurz vor dem Abi sämtliche Noten, mit seiner Band „Metal Devastation“ wird er auf einem Schülerband-Konzert von der Bühne gebuht, noch bevor er einen Ton singen konnte. Als sein Vater dann den radsportbegabten Teenager Mirko aus Molise bei sich aufnimmt und trainiert, verliert Fiorenzo auch noch sein Zuhause.

Der kleine Champion, wie Mirko nur genannt wird, gewinnt jedes Radrennen. Ein Naturtalent sozusagen. Der Vater platzt vor Stolz. Und Fiorenzo zieht wütend in die Kammer des väterlichen Anglerladens und schläft zwischen nagenden Würmern, die als Fischfutter dienen. In seiner Wut trichtert er Mirko, der dem Anschein nach nicht besonders helle ist und Nachhilfe bei Fiorenzo nimmt, eine perverse Interpretation eines D’Annunzio-Gedichtes ein.
Diese wiederum ruft die 32-jährige Tiziana auf den Plan, eine Akademikerin, die im Ausland hätte Karriere machen können, doch aus Liebe zu einem Typen in ihr Heimatdorf zurückgekehrt ist. Der Typ allerdings hat mittlerweile Frau und Kind, und nun sitzt Tiziana allein im Büro der Jugendinfo des Dorfes, in das sich nie ein Jugendlicher verirrt und das stattdessen von vier alten Herren als Treffpunkt und Bar „missbraucht“ wird. Nebenbei gibt sie Mirko Englischnachhilfe, tröstet ihre Mitbewohnerin und betreibt einen Blog, der jedoch nur von drei Menschen gelesen wird.
Als Mirko ihr von der D’Annunzio-Interpretation erzählt, sucht Tiziana Fiorenzo auf, damit dieser dem Jungen nicht solche Flausen in den Kopf setzt. Zwischen Tiziana, die sich selbst für eine blöde Kuh hält, und Fiorenzo entspinnt sich eine Liebesaffäre, die ihren Höhepunkt in einer skurril-schönen Fast-Sex-Szenen hat.

Während Fiorenzo weiterhin alles versucht, um Mirko aus dem Leben des Vaters zu verjagen, landen die vier Alten der Jugendinfo in der Lokalpresse, weil sie einen Raubüberfall verhindert und daraufhin eine Bürgerwehr gegründet haben. So wollten sie sich gegen eine altenfeindliche Jugendbande schützen, behauptet einer der vier, allerdings mehr aus Jux, weil er schlecht geschlafen hat.
Diese Behauptung nehmen die Bandkollegen von Fiorenzo nun wiederum zum Anlass, Altenfeindliche Parolen an Dorfwände zu schmieren und die eine symbolische Senioren-Puppe am Friedhof aufzuhängen. Die Bürgerwehr schreitet ein und das Unheil nimmt seinen Lauf.

Nach der Lektüre des Romans Fische füttern,  den das bewährte Übersetzer-Team Rita Seuß und Walter Kögler überaus schmackhaft eingedeutscht hat, kann man nicht mehr behaupten, auf dem Land in der Toskana läge der Hund begraben. Zwar handelt es sich bei Muglione nicht um das Idyll mit Hügeln und Zypressen und Weinbergen, sondern um ein hässliches Dorf bei Pisa mit stinkenden, trüben Kanälen, einer Müllhalde und jeder Menge Langeweile, und doch tobt hier das Leben auf seine ganz besonderes skurrile und schräge Art. Das beweist Fabio Genovesi, indem er geschickt verflochten und aus verschiedenen Perspektiven vom Erwachsenwerden der drei jungen Menschen – Fiorenzo, Mirko und Tiziana – berichtet, die mit Schicksalsschlägen, falschen Entscheidungen, Talent, Unsicherheit, Blauäugigkeit, Unwissenheit, Dummheit, Mut und Eigensinn ihren Weg ins Erwachsenenleben finden. Genovesi bricht dabei mit einigen konventionellen Ansichten, lässt die 32-Jährigen durchaus mit einem 19-Jährigen zusammenkommen, macht nebenbei einen schwulen Photoshop-Experten zum Papstberater und verteufelt Italo-Rock. Diese Dinge konterkarieren das gängige klischeehafte Italienbild in unserem Land ganz wunderbar. Das ist nicht die liebliche Toskana; das ist nicht die heile Welt; das ist nicht die klassische Liebesgeschichte; das ist das ganze, dreckige, aussichtslose Elend, das die jungen Italiener gerade erleben, denen dann oftmals nur noch die Emigration bleibt. Das ist zwar alles andere als schön, aber das auf diese komisch-ironische Art zu lesen tut verdammt gut. Denn die Helden von Fische füttern zerbrechen trotz aller Rückschläge und Zweifel nicht, sondern strahlen einen Lebensmut und eine Lebenslust aus, die ansteckend wirkt und einen das schätzen lässt, was man sonst als selbstverständlich übersieht.

Wer das Idealbild von Italien liebt, wird dieses Buch hassen. Wer Italien liebt, wird auch dieses Buch lieben. Ich jedenfalls liebe es.

Fabio Genovesi: Fische füttern, Übersetzung: Rita Seuß und Walter Kögler, Lübbe Verlag, 2012, 430 Seiten, 19,99 Euro (9,99 Euro als Taschenbuch demnächst)

Konventionen über Bord

vier beutel asche boris kochIch möchte ein neues literaturwissenschaftliches Thema zur Untersuchung vorschlagen: Welche Rolle spielt die Asche von Verstorbenen im zeitgenössischen Roman oder auch Film? Mir scheint, immer öfter taucht dieses Motiv in Geschichten auf … neuestes und sehr beeindruckendes Beispiel ist der Roman Vier Beutel Asche von Boris Koch.

Jans bester Freund, Christoph, ist kurz vor seinem siebzehnten Geburtstag bei einem Verkehrsunfall getötet worden. Jan hadert und kann sich mit dem Verlust nicht abfinden. Er sucht nach Gründen für den Tod des Freundes und will ihn rächen. Doch Jan bringt es nicht fertig, dem Autofahrer, der Christoph angefahren hat, ernsthaften Schaden zuzufügen. An Christophs Geburtstag geht Jan nachts zum Grab des Freundes und trifft dort auf Maik, einen Kumpel, der sich gerade eine Kugel in den Kopf jagen will, weil er sich für Christophs Tod verantwortlich fühlt. Jan hält ihn auf. Plötzlich tauchen auch noch Selina, Christophs Freundin, und Lena auf, von der niemand weiß, in welchem Verhältnis sie zu Christoph stand.

Jeder der Jugendlichen ist auf seine Weise über den Tod des Freundes bestürzt und sucht einen Weg, damit weiterleben zu können. Einig sind sich die vier am Grab dann aber ganz schnell, dass Christoph hier in dem kleinen Dorf bei Augsburg nicht begraben sein sollte. Er wollte weg und hatte sich als letzten Willen eine Seebestattung gewünscht. Nach anfänglichem Zaudern kommen sie überein, dem toten Freund diesen letzten Willen zu erfüllen. Sie graben die Urne aus und füllen seine Asche in vier Plastikbeutel. Noch in der Nacht machen sie sich auf einem Motorrad und einem Roller nach Frankreich auf, in das Dorf, wo Christoph Ferien gemacht hatte.

Auf dem Weg ans Meer erlebt das Quartett all das, was zu einem klassischen Road Roman dazugehört: Das wenige Geld, das sie für Lebensmittel und Benzin dabei haben, wird ihnen geklaut, Essen und Sprit müssen also geschnorrt werden. Sie treffen auf feierwütige Franzosen, gehen der Polizei aus dem Weg, weil sie fürchten wegen Grabschändung und Leichenraub verhaftet zu werden – wobei sie nicht einmal wissen, ob bei der Asche von einer Leiche gesprochen werden kann. Und sie kommen sich näher. Sie erzählen, wie sie Christoph kennengelernt und was sie mit ihm erlebt haben. Draufgänger Maik ist mit ihm nackt einen Berg heruntergeskatet, Selina hat mit ihm auf der Müllhalde Frösche und Schrott fotografiert, für Jan war Christoph wie ein Bruder, mit dem er gekickt hat, und Lena hat miterlebt, wie Christoph sich schützend vor die Mutter stellte, als sein Vater mal wieder zugeschlagen hat. Peu à peu kommen die Geheimnisse der Jugendlichen heraus, und sie müssen feststellen, dass niemand von ihnen Christoph bis ins Kleinste gekannt hat.

Jan ist erleichtert, dass Lena, in die er sich im Laufe der Tour immer mehr verliebt, nichts mit Christoph hatte. Denn für ihn wäre die Freundin des besten Freundes tabu. So jedoch entwickelt sich zwischen den beiden eine zarte Liebe – die wiederum den Unwillen von Selina erregt.
Nach einem Abstecher nach Paris gelangen die vier schließlich nach Finistere und lassen Christophs Asche in den Atlantik gleiten. Verändert und gereift kehren sie nach Hause zurück.

Boris Koch rührt mit Vier Beutel Asche an einem Tabu: Darf man das? Darf man die Asche eines Toten wieder ausgraben, um einen letzten Willen zu erfüllen? Manchen Menschen wird das sicherlich zu weit gehen, gegen die Konvention und den guten Ton. Die sollten dann die Finger von diesem Buch lassen. Für alle anderen werden sich diese Fragen ganz schnell nicht mehr stellen. Denn ja, man darf das, wenn das Motiv so eine Herzensangelegenheit ist wie bei diesen vier Helden. Der Konventionsbruch wird zum fesselnden Startpunkt für eine Reise ins Erwachsenen-Dasein. Die Jugendlichen lernen sich nicht nur gegenseitig kennen, sondern auch die Facetten des Lebens – das Gefühlschaos der Jugend, die Gewalt der Erwachsenen, die Nähe des Todes und das Recht auf Geheimnisse, das jeder Mensch hat.

Koch erzählt schnörkellos, geradeheraus und bringt damit den großen Lebens-Themen den nötigen Respekt entgegen. Herausgekommen ist dabei ein Pageturner, den man nicht eher aus den Händen legt, bevor die letzte Seite erreicht ist und man als Leser endlich sicher ist, dass Christophs letzter Wunsch erfüllt ist und Jan und seine neuen Freunde auf dem richtigen Weg ins Leben sind.
Und Kochs Hommage an The Big Lebowski und die gegen den Wind verstreute Asche von Donny ist einfach überaus charmant …

Boris Koch: Vier Beutel Asche, Heyne fliegt, 2012,  384 Seiten,  ab 15, 17,99 Euro