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Grandioser Schund

formanRund 800 Seiten in knapp einer Woche – ist das schon ein Lob? Für eine notorische Langsamleserin wie mich durchaus. Obwohl es Momente gab, in denen ich nicht mehr weiterlesen wollte und nach 160 Seiten, also genau nachdem die Heldin von diesem einen Tag erzählt hat, hätte ich den ersten Band am liebsten vor Wut in die Ecke geschleudert, auf Nimmerwiedersehen, von Teil zwei ganz zu schweigen. Aber dann habe ich doch weitergelesen und es hat sich gelohnt!

Klingt nach gutem Schund, war mein erster Gedanke, als ich Gayle Formans zweibändige Liebesgeschichte in die Hände bekam. „Schund“ nenne ich liebevoll gut gemachten Kitsch, leicht konsumierbare Liebeskomödien. Im Kino hat Sandra Bullock zum Beispiel diese grundsympathischen, etwas schrägen Frauenfiguren mit reichlich Selbstironie drauf, und wenn sie dann noch auf Hugh Grants ungeschickt-schüchternen Charme trifft: perfekt. Auch die slapstikhafte Bridget Jones liebe ich in Buch und Film.

Nur ein Tag aber beginnt mit einer Überdosis Klischees: Die 18-jährige Allyson macht mit ihrer besten und einzigen Freundin Melanie eine typische Europa-Rundreise, organisiert von Teen Tours, ein Geschenk der Eltern zum High-School-Abschluss, bevor es dann aufs College geht. Melanie genießt die Freiheit, fernab von Helikoptereltern und heiler Vorstadtwelt, trägt knappe Tops, kurze Röcke, fesche Frisur und feiert ausgiebig in Kneipen und Pubs (diese verrückten Europäer, hier darf man schon mit 18 Alkohol trinken, das muss man natürlich nutzen). Die Tour endet in Stratford-upon-Avon, aber auf klassischen Shakespeare hat Mel keine Lust. Also überredet sie Allyson einmal über ihren Schatten zu springen, nicht zu allem gleich Nein zu sagen und stattdessen der Aufführung der Truppe Guerillawill zu folgen. Passenderweise gibt die statt düsterem Hamlet im Theatersaal Was ihr wollt unter Sternen in der lauen Sommernacht. Und Allyson gefällt’s, besonders der große, blonde Schauspieler, der den Sebastian spielt, hat es ihr angetan.
Und genau den trifft sie am nächsten Morgen im Zug nach London wieder.

Sie flirten. Er ist Niederländer, heißt Willem und nennt sie Lulu, nach der Stummfilmschauspielerin Louise Brooks, der die schwarzhaarige Allyson mit ihrem Pagenkopf, zu dem Melanie sie überredet hat, ähnlich sieht. Und Willem lädt sie ein, mit ihm für einen Tag nach Paris zu fahren, das Allyson und Teen Tours zuvor wegen streikenden Flugpersonals verpasst haben.
Einen Tag lang ist Allyson Lulu – eine mutige, offenherzige, spontane, authentische und witzige junge Frau mit einer screwballcomedyartigen Schlagfertigkeit. Mit Willem erlebt sie ein anderes, untourististisches Paris, begegnet lauter interessanten Menschen und beginnt, sich und das vor ihr liegende, perfekt durchgeplante Leben mit anderen Augen zu sehen. Das ganze hat den Zauber brillanter Begegnungen wie im Film Before Sunrise (wobei erst die Fortsetzung Before Sunset dann in der romantischen Kulisse von Paris spielt).

Als sie dann aber am nächsten Morgen allein in einem Atelier in einem besetzten Haus aufwacht, von Willem keine Spur, da ist Allyson plötzlich nur noch ein hilfloses, schluchzendes, heulendes Elend, das verzweifelt die pragmatische Teen-Tour-Leiterin anruft und sich von ihr nach London und letztlich nach Hause zurück helfen lässt. Oh weh, jetzt hat sie sich einmal etwas getraut und ist so enttäuscht worden, das arme Mädchen …

Da hätte ich das Buch am liebsten weggeworfen. Lulu war wieder die alte Allyson, hat nur noch genervt, Klischee, künstliches Drama, pathetisch, langweilig!

Zu meinem Glück habe ich diesem spätpubertierendem Teenager noch eine Chance gegeben und bin ihrer zwar nur langsam in Fahrt kommenden, aber immer spannender und lesenswerteren Suche nach Willem – die vor allem eine Suche nach sich selbst, nach Lulu, ist – gefolgt. Ein paar Mal hätte ich sie noch gern geschüttelt, weil sie es nicht schafft, ihrer übergriffigen Mutter Paroli zu bieten oder auch nur halbwegs normal mit ihrer Zimmermitbewohnerin oder ihren Kommilitonen zu reden. Weil sie sich erst in ihrem Schneckenhaus aus Kummer, Vorurteilen und Feigheit verkriecht.

Und soviel sei verraten: Shakespeare spielt bei dieser Befreiung eine Schlüsselrolle. Denn genau darum geht es auch, dass jeder eine Rolle spielt und sich anders gibt, als er ist. Shakespeares Stücke, vor allem die Verwandlungskomödien, sind raffiniert mit der Handlung verwoben und wirken als Katalysator.
Ein bisschen fühlt man sich wie im Krimi, im Kasperletheater oder schlechtem Horrorfilm, wenn man der Heldin immer einem einen Schritt voraus ist und rufen will: „Pass auf!“, „Dreh um!“ und „Lauf nicht da lang!“ Eigentlich scheint Allyson ein bisschen zu alt für diese Coming-of-Age-Geschichte. Manche ihrer Missverständnisse sind einfach nur grotesk. Und kein bisschen komisch.

Gayle Forman findet schließlich aber auch sehr gute Bilder: Als kleines Mädchen ist Allyson mit Melanie, beides Einzelkinder, immer Hand in Hand vom Sprungbrett in den Pool gesprungen. Doch immer wenn sie wieder an die Oberfläche geschwommen sind, mussten sie sich loslassen. Und so ist es auch mit dem Freischwimmen, von Eltern, von Lebensentwürfen, die nichts mit einem selbst zu tun haben, von Ängsten und Bequemlichkeiten – hin zum eigenen Leben, mit eigenen Träumen, eigenen Erfolgen und Niederlagen. Exakt ein Jahr nach diesem einen Tag in Paris steht sie in Amsterdam vor einer Tür und sagt: „Hi, Willem, ich bin Allyson.“

forman 2Da habe ich gleich Band zwei angefangen, der geschickterweise schon mit ein paar Seiten im ersten beginnt und neugierig macht. Jetzt erzählt nämlich Willem seine Geschichte. Nicht nur, warum er am nächsten Morgen in Paris verschwunden ist. Auch, warum er mit der jungen, Louise Brooks ähnelnden Amerikanerin nach Paris gefahren ist. Wovor er wegläuft. Weshalb er ständig verliebt ist, aber noch nie jemanden geliebt hat, wie er Lulu erklärt hat. Ein blonder Schlacks mit Schlag bei Frauen. Ich bin ganz vernarrt in diesen sprachbegabten Niederländer, der Brot mit Hagelslag, mit Schokostreuseln, liebt und jung genug ist, um mein Sohn sein zu können. Bin zwar schon alt, aber nicht zu alt für ein bisschen verliebt sein. Ich werde bestimmt nie so alt, dass ich auf Mummy Porn wie Fifty Shades of Grey abfahre, mit seinen erzkonservativen Geschlechterrollen.

Willem lässt sich treiben vom Zufall, oder Unfall, wie er es nennt. Hierbei frage ich mich, ob Stefanie Schäfer bei ihrer solide wirkenden Übersetzung etwas anfügen musste, weil im Englischen „accident“ beides bedeutet („by accident“, „accidental“ heißt „zufällig“).
Willem reist kreuz und quer um die Welt, lässt sich treiben – und ist auch ein Getriebener. Man begleitet ihn mit Vergnügen und entschlüsselt seine Geheimnisse, ergründet seine Verletzungen und Narben. Nur das komplizierte Verhältnis zu seiner Mutter entspannt sich etwas zu kathartisch (das geht, „zu kathartisch“! Merkt man beim Lesen). Man spürt hier überdeutlich die Autorin Gayle Forman, Jahrgang 1971, die auch Mutter von mittlerweile vermutlich halbwüchsigen Kindern und selbst Tochter ist. Sie arbeitet sich etwas zu sehr an der Mutterrolle ab, wie man eine gute Mutter ist, wie viel Vertrauen, Freiheit und Fürsorge angemessen ist. Mit Willems Mutter hat Forman ein reizvolles, besonderes Rollenvorbild entworfen. Yäel ist eine vielschichtige und kluge Frau, die ihre Empathie und Gefühle anders zum Ausdruck bringt, wie Willem schließlich versteht. Irgendwann sprechen Mutter und Sohn eine gemeinsame Sprache.

Willems Geschichte und Band zwei dieses doppelten Entwicklungsromans aus zwei Perspektiven hat mir extrem gut gefallen. Ich will jetzt nicht so weit gehen, dass Gesamtwerk als „doppeltes Glück“, eine im Buch wiederholt auftauchende Metapher aus dem Chinesischen, zu bezeichnen. Den bald zu erwartenden Film dazu will ich nicht sehen, um mir mein Bild von dem Jungen nicht kaputt machen zu lassen, obwohl das Ganze allein schon wegen der Handlungsorte nach einer Kinoadaption geradezu schreit. Auf jeden Fall ist es grandioser und absolut empfehlenswerter Schund!

Elke von Berkholz

Gayle Forman: Nur ein Tag, 432 Seiten, und Und ein ganzes Jahr, 368 Seiten, Übersetzung: Stefanie Schäfer, Fischer FJB Verlag, 2016, ab 14, jeweils 14,99 €