[Jugendrezension] Das Böse außerhalb der Mauern

gatedDer Weltuntergang steht bevor. Die Menschen der Gemeinde Mandrodage Meadows treffen eifrig Vorbereitungen, denn sie wurden von den Brüdern ausgewählt, zu überleben. Mitglied der Gemeinde ist die 17-jährige Lyla Hamilton. Wie die anderen gehorcht sie dem Anführer Pioneer bedingungslos, obwohl sie insgeheim hofft, dass er sich irrt. Sie fühlt sich nicht bereit für ihre Aufgabe. Deswegen macht sie sich Vorwürfe und schwört, sich zu bessern.

Dann trifft sie Cody, einen Jungen von außerhalb, und verliebt sich in ihn. Langsam gerät Lylas Weltbild ins Wanken. Was, wenn Pioneer gar nicht von den Brüdern auserwählt wurde? Was, wenn es keinen Weltuntergang gäbe?

„Ich dachte, das Böse lebe außerhalb unserer Mauern. Ich habe mich geirrt.“ Lyla erkennt, dass sie in einem Unterdrückungssystem gefangen ist. Sie versucht, den anderen Gemeindemitgliedern die Augen zu öffnen, bis es fast zu spät ist.
Doch Pioneer ist unberechenbar.

Mit Gated – Die letzten 12 Tage hat Amy Christine Parker ein tolles Debüt geschrieben. Es behandelt das Thema Sekten so, dass es für Jugendliche interessant ist. Lyla ist eine Protagonistin, mit der sich viele identifizieren können. Sie hat, wie viele Heranwachsende, eine Identitätskrise. Sie versucht herauszufinden, was für ein Mensch sie sein will. Das macht sie sympathisch. Lyla ist keine typische Heldin. Sie hadert mit sich und hat oft Angst, aber das macht sie bewundernswert. Denn sie überwindet sich und lehnt sich auf.
Auch die anderen Figuren sind gut ausgedacht und beschrieben. Eine der interessantesten Persönlichkeiten ist Lylas Mutter. An ihrem Beispiel versteht man, wie Menschen auf jemanden wie Pioneer hereinfallen.

Lyla kann sich schwach an ein Leben vor Mandrodage Meadows erinnern. Damals lebten sie in New York. Lyla, ihre große Schwester Karen und ihre Eltern. Ihre Mutter war immer fröhlich.
Dann verschwand Karen spurlos, direkt vor dem Haus. Nie wieder hörten die Hamiltons von ihr. Seitdem glaubte Lylas Mutter nicht mehr an das Gute. Es ist nachvollziehbar, dass den Hamiltons die Weltanschauung von Mandrodage Meadows gefällt.

Es ist nicht leicht, über das Thema Sekten zu schreiben, doch Amy Christine Parker hat es gut gemeistert. Das Buch bewertet nicht, es hilft, zu verstehen. Die Geschichte ist spannend, man fiebert bis zur letzten Seite mit und hofft sehr, dass es ein Happy End gibt.

Eine gute Idee fand ich es, am Anfang jedes Kapitels ein Zitat zu schreiben. Das sind teilweise fiktionale Aussagen von Pioneer, aber auch Zitate aus der Bibel oder von Jim Jones, Anführer des Peoples Temple. Überhaupt weist die Gemeinde Mandrodage Meadows Parallelen zum Peoples Temple auf, einer neureligiöse Gruppe, die 1978 durch die Massenselbsttötung in Jonestown, Guyana, bekannt wurde.

Auch wenn das Buch oft erschreckend ist, so schenkt es zugleich Hoffnung. Denn wie bemerkt Lyla so schön am Ende, als sie in den Sternenhimmel guckt: „Wenn ein Himmel, der so dunkel ist, so voller Licht sein kann, dann gilt das vielleicht auch für diese Welt.“

Juliane (15)

Amy Christine Parker: Gated – Die letzten 12 Tage, Übersetzung: Bettina Münch, dtv, 2014, 336 Seiten, ab 14, 16,95 Euro

[Jugendrezension] Von normal zu chaotisch …

aliciaEin chaotischeres Leben als das von Alicia gibt es wahrscheinlich gar nicht. Das Buch Unverhofft nervt oft! von Ilona Einwohlt handelt von dem eigentlich ganz normalen Mädchen Alicia.
Mit ihren borstigen Haaren, der durchschnittlichen Figur und ihren „Normalo-Klamotten“ fällt sie überhaupt nicht auf. Auch in der Schule gehört sie zum Durchschnitt und schreibt zuverlässig Zweien, Dreien und Vieren. Außerdem schwänzt sie die Schule, im Gegensatz zu ihrer besten Freundin Bibi, überhaupt nie. Eigentlich also ein ziemlich normales Leben, bis die erste Fünf, die sie in Mathe schreibt, alles verändert …
Alicia versucht, ihrem Vater zu überreden, dass es ausreichend ist, sich von ihrem Nachbarn und Kumpel Daniel in Mathe helfen zu lassen und ein Gespräch zwischen ihrem Vater und ihrer Mathelehrerin Frau Froboese nicht notwendig ist.

Doch genau dieses Gespräch mit ihrer Mathelehrerin führt Alicias Vater. Leider muss der Vater dabei feststellen, dass Frau Froboese unglaublich gut aussieht. Da ihr Vater seit langem ohne Frau, dafür aber mit dauernd wechselnden Freundinnen zusammen ist, kommt es, wie es kommen muss…

Eines Nachts trifft Alicia ihre nun mittlerweile „Ex-Mathelehrerin“ nackt im Badezimmer an. Und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, zieht diese dann kurzfristig bei ihnen ein. Mit allen ihren Kindern kommt sie angerückt und nervt Alicia gewaltig. Zu allem Übel verliebt sich auch noch ihr Kumpel Daniel in die „Obertussi“ und Tochter Lynn von Frau Froboese.
Alicia versucht, sich zurückzuziehen, doch ihr Vater ist glücklich und „macht auf“ Familie. Und dann hat Frau Froboese auch noch so eine vollkommen unterirdische Idee …

Ich finde das Buch einerseits lustig und andererseits auch zum Nachdenken, da die Handlung sehr „verstrickt“ ist. Das nicht immer nur unkomplizierte Familienleben steht im Mittelpunkt und der Leser hofft auf ein „Happy End“ für alle.
Ich empfehle das Buch insbesondere allen Mädchen, die Familiengeschichten mögen oder vielleicht auch ein turbulentes Leben führen. Bestimmt gibt es auch Jungs, denen die Geschichte gefallen würde.

Bücherwurm (12)

Ilona Einwohlt: Alicia – Unverhofft nervt oftIllustration: Martina Badstuber, Arena, 2014, 176 Seiten, ab 11, 9,99 Euro

Historiengewimmel

gitteWenn Sie die Bilder von Pieter Breugel, dem Älteren kennen, dann denken Sie jetzt bitte an eins von denen – die Bauernhochzeit beispielsweise oder Der Kampf zwischen Karneval und Fasten – und schon sind Sie in dem historischen Roman Galgenmädchen der Flamen Jean-Claude van Rijckeghem und Pat van Beirs.

So wie es auf Breugels Gemälden von Personen und Szenen wimmelt, so pulsiert es auch im Galgenmädchen. Die Protagonisten ist das Mädchen Gitte, das von seiner Mutter mit fünf Jahren in das Mädchenhaus von Antwerpen abgeschoben wird. Dort bekommt sie zwar Essen und einen Schlafplatz, aber an Liebe mangelt es. Halt gibt Gitte eine Camee, die angeblich von ihrem Vater stammt, einem spanischen Herzog. Gitte ist fest entschlossen, eines Tages ihren Vater zu suchen. Zuvor wird sie jedoch von den Heimleitern an einen fahrenden Apotheker verkauft. Dieser reist mit Frau und drei Helfern von Markt zu Markt durch Flandern. Ihren Unterhalt verdient die Truppe mit Wahrsagen, dem Verkauf zweifelhafter Gesundheitsmittel, Betrug und Diebstahl. Karl der Kirchenpisser bringt Gitte alle Kniffe und Tricks bei, wie man auf den Märkten den Menschen ihre Beutel abschneidet und sie um ihre Wertsachen bringt.

Bis es eines Tages schief geht. Gitte wird gefasst, angeklagt, verurteilt und soll am Galgen sterben. Doch der Hilfsvogt Johannes verliebt sich in sie und rettet sie, die Tochter eines spanischen Adligen, vor dem Tod. Doch ungeschoren kommt Gitte nicht davon. Sie wird als Gaunerin gebrandmarkt und verpflichtet, als Spionin für die niederländische Krone nach Sevilla zu gehen.
Dort findet sie tatsächlich ihren Vater, gewinnt sein Vertrauen, wird als Tochter in dessen Haus aufgenommen. Gitte lernt das Leben als Edelfräulein kennen, trägt plötzlich sperrige Röcke, isst die exquisitesten Speisen. Aber sie muss sich regelmäßig mit Johannes treffen und Bericht erstatten. Denn die Niederländer wollen das Wertvollste, was die Spanier besitzen: die siebenteilige Weltkarte …

Das Gewimmel im Plot von Galgenmädchen kann ich hier nur mit dürren Worten wiedergeben. Jedes Kapitel strotzt vor atmosphärischen Beschreibungen vom Leben in Antwerpen und Sevilla im 16. Jahrhundert. Es wird klar, dass das Leben auf der Straße, das Gitte anfangs führt, kein Zuckerschlecken ist. Und selbst in Spanien, im Haus des Herzogs, ist es nicht nur angenehm, da niemand dort Gittes Brandzeichen sehen darf.

Die Autoren Jean-Claude van Rijckeghem und Pat van Beirs entführen die Leser gekonnt in die Zeit vor fast 500 Jahren. Jedes Detail ist akribisch recherchiert, von der Kleidung, über die Pistolen, bis hin zu den Nachttöpfen. Die Sprache von Gitte ist oftmals derbe und unverblümt. Die Mischung aus Gaunerleben, Liebe, Krieg und Spionage, kombiniert mit der Entwicklung eines jungen Mädchens zur selbstbewussten, in jeder Hinsicht schlagfertigen Frau, macht richtig Laune, in diese vergangene Welt einzutauchen. Sie lässt einen bis zum Ende des Buches nicht mehr los.

Jean-Claude van Rijckeghem/Pat van Beirs: Galgenmädchen, Übersetzung:Mirjam Pressler,  Gerstenberg Verlag, 2014,  496 Seiten,  ab 14, 19,95 Euro

[Jugendrezension] Wenn Realität und Fiktion verschmelzen

Manchmal wird Erfundenes wahr. Das zeigt das Buch Morlot – Detektive schlafen nie von Katharina Reschke, in dem es um eine Schriftstellerin, ihren Sohn Jonathan und einen erfundenen Detektiv namens Morlot geht.

Jonathans Mutter, Wanda Holms, ist Schriftstellerin. Sie hat schon viele Bücher über Morlot geschrieben und ist gerade dabei, das letzte Buch der Detektiv-Reihe zu verfassen. Aber irgendetwas stimmt nicht. Wanda schreibt, ohne es zu wissen, immer, dass Morlot nicht mehr ermitteln will. Immer wenn sie es bemerkt, regt sie sich sehr auf, weil sie für ihr Manuskript nur begrenzt Zeit hat und sie vor allem einen Text haben will, der so ist, wie sie es will. Aber sobald sie es noch einmal probiert, passiert wieder dasselbe. Es scheint, als hätte der Detektiv einen eigenen Kopf, könne selber denken und machen, was er will. Dabei ist er doch nur erfunden.
Da Wanda einfach nicht fertig wird, können sie und Jonathan nicht in den Urlaub fahren, was Jonathan sehr ärgert. Er hält gar nichts von Morlot. Doch eines Tages ist Wanda verschwunden. Jonathan sucht sie und sieht dabei auf dem Computerbildschirm die geöffnete Detektiv-Geschichte.
Als er sie liest, erschrickt er: Seine Mutter hat geschrieben, dass sie sich zu Morlot aufmachen würde, um ihn zu bitten, ein letztes Mal zu machen, was sie will. Aber sie konnte doch nicht ihre eigene Geschichte geschrieben haben, denkt Jonathan, doch dann sieht er Beweise …

Nach dem Vorfall ändert sich die Welt um ihn herum. Die Straßen tragen auf einmal die Namen aus der Geschichte, nicht die echten. Schließlich begegnet Jonathan dem Detektiv persönlich …

Mir hat das Buch Morlot – Detektive schlafen nie sehr gut gefallen, da unmögliche Dinge passieren. Es ist sehr gut erzählt, man fiebert mit den Personen mit. Das Buch ist spannend und bleibt nicht in der Realität, sondern spielt in der erfundenen Welt von Morlot. Ich würde es ab 9 oder 10 Jahren empfehlen, weil die Handlung teilweise ziemlich kompliziert ist.

Lector03 (11)

Katharina Reschke: Morlot – Detektive schlafen nieIllustration: Gerda Raidt, Boje Verlag, 2014,  224 Seiten, ab 10, 12,99 Euro

[Jugendrezension] Familienspaß

lillyHallo, ich habe das Buch Ich, Lilly und der Rest der Welt von Alexandra Maxeiner gelesen. Es ist vom Kosmos-Verlag und hat 143 Seiten und viele schöne Bilder.

Ich habe die Geschichte in einer Woche durchgelesen, immer abends ein bisschen. Weil das Buch spannend und lustig ist, gehört es jetzt zu meinen Lieblingsbüchern.

Hannah ist die Hauptperson in diesem Buch. Lilly ist auch wichtig. Sie ist Hannahs Schwester und elf Monate älter. Dann gibt es noch Cora, die älteste Schwester, und Frida, die kleinste. Und natürlich die Eltern.
Es ist sehr lustig beschrieben, was die Mädchen erleben. Zum Beispiel, als Hannah und Lilli ihre Schwester Frida an Leonie, das ist das Nachbarskind, verkaufen. Sie brauchen Geld für Himbeerbonbons.
Das zweite Kapitel ist besonders witzig: Die Familie streitet über die Farbe, in der ihr neues Haus angestrichen werden soll. Der Vater meint, die Mehrheit soll entscheiden – wie in der Demokratie. Das klappt aber nicht so, wie der Vater möchte.
Oder die Mädchen spielen im Kaufhaus „Pferd“, und Lilly vergisst dort ihr unsichtbares Pferd. Dann tun sie so, als ob das Pferd zum Auto rennt, durch die Autoscheibe kracht und sich neben Lilly setzt.

Man vertieft sich in da Buch, weil es bei vielen Familien so ähnlich ist wie bei Hannah und ihrer Familie.
Auch Eltern mögen das Buch bestimmt, wenn sie Spaß verstehen.

Emilia2 (9 Jahre)

Alexandra Maxeiner:  Ich, Lilly und der Rest der WeltKosmos, 2013, 144 Seiten, ab 8, 9,99 Euro

 

Schauen, Besinnen, Konzentrieren

walWie gelingt es einem, sich zu konzentrieren? Sich nicht ständig ablenken zu lassen? Als Kind, genauso wie als Erwachsener. Es ist nicht einfach und doch eigentlich ganz leicht. Jedenfalls, wenn man das entzückende Bilderbuch Wenn du einen Wal sehen willst von Julie Fogliano genau studiert.

Eigentlich ist dieses Buch für Kinder ab vier Jahren gedacht, doch ich möchte behaupten, dass Menschen jeden Alters von dieser Geschichte angetan sein werden und profitieren können. Es zeigt einen kleinen rothaarigen Jungen im blau-weißen Ringel-Pulli zusammen mit seinem Hund. Sie schauen aufs Meer, in der Erwartung eines Wals. Solange der nicht kommt, schnuppern sie an Rosen, betrachten Wolken, Segelboote, einen Pelikan, winzige Raupen … während der Erzähler im Text sie auffordert genau dies nicht zu tun. Sie sollen sich nicht ablenken lassen, sondern die Augen auf das Meer richten und warten … warten … warten …

Beim Betrachten der zarten Zeichnungen von Erin A. Stead gerät man unweigerlich ins Träumen, geht auf Fantasiereise, entdeckt Lebewesen, Dinge, Details … und wird immer wieder sanft von dem Text, einfühlsam aus dem Amerikanischen von Uwe-Michael Gutzschhahn übersetzt, auf das Wesentlich, das Ziel, das Wunschobjekt, den Wal, hingewiesen.
Man besinnt sich, konzentriert sich, fokussiert sich, man meditiert, man kontempliert, man ist ganz bei sich, wenn man die Bilder betrachtet und doch auch bei dem Jungen und den Ablenkungen der Welt.

Doch das Warten, das uns allen heutzutage scheinbar immer schwerer fällt, das wir nicht mehr wollen, für das wir keine Zeit mehr haben, dieses Warten jedoch führt zum Ziel, zum Wal.
Kleinen Lesern kann man so vielleicht ein bisschen die Ungeduld erleichtern, große Leser können sich wieder rückbesinnen, auf ihre Ziele, ihre Wünsche, ihre Träume. Es reicht der weite Horizont, das Meer, das Nichts. Keine Ablenkung. Man wird belohnt, vom Warten. Und von diesem kleinen, großen Buch.

Julie Fogliano: Wenn du einen Wal sehen willstÜbersetzung: Uwe-Michael Gutzschhahn, Illustration: Erin A. Stead, FISCHER Sauerländer, 2014,  32 Seiten, ab 4, 14,99 Euro

Illustrierte Geschichtsstunde

trebisandBei manchen öffentlichen Veranstaltungen tut es mir in der Seele weh, dass nur ganz wenige Menschen den Weg dorthin finden. Gestern war so eine Veranstaltung: Die Comiclesung von Treibsand im hippen Nochtspeicher auf St. Pauli in Hamburg. Die beiden Autoren Max Mönch und Alexander Lahl stellten ihr Werk einem knappen Dutzend Zuhörern vor. Sie, und vor allem ihre Geschichte, hätten wahrlich mehr Publikum verdient.

Lahl und Mönch lasen in verteilten Rollen aus ihrer Graphic Novel, offenbarten sich als ein eingespieltes Team. Die Bilder wurden hinter ihnen an die Wand projiziert. Gezeichnet von Kitty Kahane, die zu meinem großen Bedauern leider nicht dabei sein konnte, erzählen sie von dem amerikanischen Journalisten Tom Sandman, der von seinem Zeitungschef im Sommer 1989 zunächst nach China, dann nach Deutschland geschickt wird – immer auf der Suche nach der Story, die den Fall des Kommunismus schildert. Sandman, gequält von Zahnschmerzen und Alpträumen, erlebt das Massaker auf dem Tianamen-Platz und dann die letzten Tage der DDR.
In Berlin wird ihm Ingrid zur Seite gestellt. Die junge Frau wurde nach einem missglückten Fluchtversuch von der BRD freigekauft. Sie kennt die Verhältnisse in der DDR und instruiert Sandman. Die beiden kommen sich näher, und plötzlich steckt der Amerikaner in den komplizierten Verhältnissen einer Ostfamilie, die durch Linientreue, Flucht und Verrat auseinander gerissen wurde.
Sandman tut seinen Job als Journalist und sitzt schließlich am 9. November 1989 in der stinklangweiligen Pressekonferenz von Schabowski. Als der italienische Kollege Ricardo Ehrmann die Frage nach dem Reisegesetzentwurf stellt, Schabowski sich an „den Zettel“ erinnert und mitteilt, dass die Reiseerleichterungen unverzüglich, ab sofort gelten, da wird Sandman von seinen Zahnschmerzen besiegt. Ohnmächtig wird er in die Charité gebracht und verpennt den Fall der Mauer.

Die Graphic Novel Treibsand ist in gerade einmal acht Monaten entstanden. Allein vier davon hatte Kitty Kahane für die Zeichnungen gebraucht. Eine Mammutleistung, die meinen höchsten Respekt hat. Kahanes grober, fast krakeliger Zeichenstil passt hervorragend zu den gezeigten Geschehnissen, denn dieser Stil überhöht nicht, verherrlicht nicht, sondern bringt eine Distanz und eine Kritik mit sich, die gegenüber dem DDR-Regime nötig ist.
Mönch und Lahl haben auf der faktischen Ebene der Geschichte saubere Arbeit geleistet. Von den Ereignissen in der Prager Botschaft – Genschers berühmter Halbsatz ist hier endlich mal ausgeschrieben – über die Protestbewegung in den Kirchen bis zur Pressekonferenz und der Öffnung des Schlagbaums an der Bornholmer Straße stimmt alles. Sie schildern zudem noch die Ereignisse vom 10. November, an dem Egon Krenz die NVA in erhöhte Gefechtsbereitschaft versetzte, eine militärische Eskalation wäre durchaus möglich gewesen – was im Jubel damals wie heute gern vergessen wird. Warum nichts damals nichts passierte, wird nicht aufgelöst.
Zudem reichern die Autoren die Geschehnisse mit verschiedenen Episoden aus der DDR-Zeit an: Grenzzwischenfälle, der Fluchtversuch Ingrids, der Verrat in der Familie. Auch das beruht auf realen Tatsachen. Man bekommt einen fast sachlichen Eindruck, wie die Stimmung in der DDR gewesen war.

Dennoch hadere ich ein bisschen mit Treibsand. Was für mich an der Figur von Tom Sandman liegt. Er kommt als Betrachter von außen, erzählt in der Rückschau mit 25 Jahren Abstand, als Journalist, der perfekt recherchieren und die Leute ausfragen kann. Und obwohl er sich damals in Ingrid verliebt und zeitweise Teil ihrer Familie wird, bleibt er ein Fremdkörper. So spult sich die Geschichte sehr korrekt, sehr gradlinig, sehr informativ, sehr detailliert vor dem Leser ab, doch für mich irgendwie emotionslos. Sandman bleibt mir fremd, da helfen auch seine Alpträume nicht, von den anderen Figuren erfahre ich nur das, was er erzählt, es bleibt eine Distanz – und das finde ich bei einem der emotionalsten Momente der deutschen Geschichte ein bisschen schade.

Max Mönch/Alexander Lahl/Kitty Kahane: Treibsand, Eine Graphic Novel aus den letzten Tagen der DDR, Walde und Graf bei Metrolit, 2014, 176 Seiten, 20 Euro

Die ganz große Liebe

vater 1vater 2vater 3Wenn ich so überlege, wo meine Leidenschaft für Bildergeschichten, Comics und Graphic Novels herrührt, gibt es eigentlich nur eine Antwort: von Vater und Sohn von E.O. Plauen.

Die Sammlung der Zeitungsstrips standen bei meinen Eltern im Regal im Wohnzimmer, und es gab für mich nichts Schöneres, als sie auf dem Teppich liegend anzuschauen, drei schmale Büchlein mit lustigen Bildergeschichten. Das war vor fast 40 Jahren. Jetzt hat der Südverlag diese Schätze wieder neu aufgelegt. Und ich schwelge in diesen hintersinnigen und auf den Punkt gebrachten Erlebnissen von Vater und Sohn.

Sie feiern Geburtstag, spielen Schach, gehen in den Zoo, rauchen Pfeife, helfen einander, jagen einander, erziehen einander, lesen gemeinsam, verteidigen sich gegen Fremde, Einbrecher und Lehrer, schummeln und beschenken sich, weinen zusammen, erben Reichtümer und landen auf einer einsamen Insel. Es sind alltägliche Situationen, die E.O.Plauen ab dem 13. Dezember 1934, also vor genau 80 Jahren, in der Berliner Illustrirten veröffentlicht hat. Doch hinter dem Alltäglichen steckt im Komischen das Subversive, das gegen Spießertum und absurde Regeln aufbegehrt. Und es steckt Liebe, jede Menge Liebe, in den Strips. Die Liebe vom Vater für den Sohn, vom Sohn für den Vater. Auch wenn es in der Tradition der schwarzen Pädagogik mal Prügel setzt, so setzt es die nicht nur für den Sohn, sondern auch für den Vater.
Was auf jeden Fall jedoch überwiegt, ist der Spaß, den beide miteinander haben. Sie beweisen auch in scheinbar aussichtslosen Situationen, dass es Lösungen gibt. Und darin sind diese Strips einfach zeitlos.

In ihrer Kürze – meist braucht E.O. Plauen nur vier bis neun Panels, um eine Geschichte zu erzählen – und in ihrem schnörkellosen Strich gleichen sie kurzen Gedichten, die einem die Welt eröffnen. Ist das Lachen und Schmunzeln vergangen, kommt die Erkenntnis und das Nachdenken, darüber, wie die Welt vielleicht sein sein sollte und wie die Beziehung von Vater und Sohn, Mutter und Tochter, Sohn und Mutter, Tochter und Vater, Eltern und Kindern, Kindern und Eltern.
E.O. Plauen zeigt es eindrücklich und voller Liebe.

E. O. Plauen: Vater und Sohn. Band 1-3
50 Streiche und Abenteuer 

Noch 50 Streiche und Abenteuer
Die letzten 50 Streiche und Abenteuer
Südverlag, 2014, je 112 Seiten, je 12 Euro

Hinter der Fassade

prinzessinManchmal bin ich ratlos. Wie soll man ein Buch beschreiben und empfehlen, dass einen in den Bann zieht und gleichzeitig unendlich traurig ist?
Das ist der Fall bei Inken Weiands Roman Ich bin eine Prinzessin.

Darin erzählt sie die Geschichte von Mellani und ihren zwei Geschwistern. Sie leben in einer Familie, die kein Glück kennt. Der Vater trinkt, ist gewalttätig und ohne Arbeit. Die Mutter kann die Kinder nicht schützen, sie wird selbst gewalttätig. Sie kann nicht einmal sich selbst schützen, sucht Schutz und Liebe bei einem anderen Mann.
Mellani wird misshandelt. Sie kann nichts dagegen tun, sie deckt die Mutter, die sie gegen die Heizung geschlagen hat. Denn sie hat Angst in ein Kinderheim zu müssen, aus dem sie nie wieder herauskommt. Mellani übersteht den Horror nur, weil sie sich in eine Fantasiewelt flüchtet, in der sie die Prinzessin ist. In dieser Traumwelt ist alles schön, alle sind lieb und zuvorkommend zu Mellani. Dort hat sie Würde und übernimmt die Verantwortung für „ihr Volk“. Mehr und mehr kümmert sie sich um die Geschwister, versucht, ihnen wenigstens ein bisschen Essen zu besorgen, und geht mit ihnen zur Jugendstunde in der Gemeinde, weil es da Kekse gibt. Gegenüber den Damen vom Jugendamt spielt sie die häusliche Situation herunter. Erst als die Lage zu Hause zu eskalieren droht, ist Mellani bereit, Hilfe zu suchen …

Mellanis Geschichte ist keine schöne Geschichte. Keine, die man Kindern zu lesen geben möchte, und doch eine, die vermutlich viel zu oft in unseren Landen tatsächlich passiert. Weiand schreibt stringent aus der Perspektive Mellanis, erzählt von der Verwahrlosung, dem Hunger, dem Problemviertel, in dem die Familie lebt. Man ist als Leser dicht bei Mellani, erlebt ihre Ängste, Sorgen, versteht, warum sie handelt, wie sie handelt, und leidet doppelt, weil man weiß, dass es Hilfe gäbe.
Doch man verzweifelt auch fast, weil so viel schief läuft: Das Jugendamt lässt sich mit Ausreden abspeisen, ein düsteres Gespensterbild, das Mellani malt, wird zwar als ausdrucksvoll bewertet, doch nicht als Hilferuf gesehen. Da möchte man die Erwachsenen schütteln und rufen: „Macht doch mal die Augen auf.“ Es ist ehrlich frustrierend, weil man weiß, dass man manchmal nicht helfen kann.

Und genau deshalb habe ich so lange gebraucht über diesen preisgekrönten Roman zu schreiben. Ich bin mir nicht sicher, ob es ein Buch für Kinder ist. Möglicherweise kann es betroffene Kinder trösten, andere jedoch durchaus schockieren. Erwachsenen kann es möglicherweise eine Hilfestellung sein, wie es in misshandelten und traumatisierten Kindern aussieht, wie sie sich zu schützen versuchen. Mag sein, dass es beim Umgang mit solchen Kindern weiterhilft. Ich muss sagen, ich kenne mich da zu wenig aus. Beschwingte Unterhaltung ist dieser Roman auf jeden Fall nicht. Er legt den Finger auf eine wunde Stelle in unserer Gesellschaft, erzählt von den misshandelten Kinder, die viel zu oft allein gelassen werden.
Weiands Roman ist trotz allem packend und hält einen auch nach der Lektüre noch lange im Bann. Er löst intensive Gefühle aus, macht nachdenklich und eben auch ratlos.

Sicher ist aber auch, dass dieser Roman ein großartiges Stück Literatur ist.

Inken Weiand: Ich bin eine Prinzessin, Ruhland Verlag, 2014,  94 Seiten, ausgezeichnet mit dem Kinder- und Jugendliteraturpreis des Landes Steiermark 2012, 14,80 Euro

Die Kunst der cucina italiana

poExkurs. Wer mich kennt, weiß, dass ich es mit Italien habe. Ich habe die Sprache und die Literatur studiert, trashige Fotoromane seziert und übersetze aus dem Italienischen. Ich gehe auch gern italienisch essen. Manchmal koche ich auch italienisch. Kochen ist aber eigentlich nicht so ganz meine Stärke, was aber eher an meiner Stressanfälligkeit liegt und ich dann doch nicht immer die Geduld aufbringe, eine Tomatensoße vier Stunden köcheln zu lassen.

Mag sein, dass sich das demnächst aber mal ändert. Denn mir sind drei ganz wunderbare Kochkompendien ins Haus geflattert, die es eventuell sogar schaffen, mich an den Herd zu treiben.

Il Po widmet sich dem gesamten Verlauf des Flusses Po und der angrenzenden Ebene. Von den Alpen im Westen bis zur Mündung mit den Lagunen im Osten. Autor Michael Langoth erzählt die Geschichten von Parmigiano Reggiano (nicht zu verwechseln mit Grana Padana), Prosciutto, Culatello und Salumi. Er zeigt, was Polenta und Risotto können. Detailliert geht er auf die verschiedenen Kochtechniken ein, so dass die Ausrede, man wüsste nicht, wie es gemacht wird, nicht mehr zieht. Die Rezepte sind am Fuß der Seite mit Fotos der Zutaten versehen – und das auf ungeschönt, ehrlich Art: das liegt dann eben auch das nackte Kaninchen, das mit Rosmarin, Thymian, Sellerie und Knoblauch in Weißwein geschmort wird. Zimperlich darf man hier nicht sein. Dafür wird es garantiert lecker.

venedigReist man vom Po-Delta ein Stück gen Norden, kommt man unweigerlich nach Venedig. In den vergangenen Jahren habe ich einen Bogen um die Stadt gemacht. Zu touristisch, zu Kreuzfahrtschiffverseucht. Doch Venedig. Die Kultrezepte weckt meine Sehnsucht nach dieser Perle. Laura Zavan reichert die fisch- und muschellastigen Rezepte mit Infos über Venedig und seine Stadtviertel an, bietet Rundgänge durch die Gassen, in denen ich immer die Orientierung verloren habe, und verrät, wo es die leckersten Chicheti (die Häppchen zu den Aperitifs), Antipasti, Fische oder Käse gibt. Das sind tausend gute Gründe nach Venedig zu fahren, wie ich feststelle. Tausend gute Gründe, dieses Buch genau zu studieren.

Ebenfalls mit Geschichten, um Trüffel, Artischocken, Meersalz, Grappa, Köche, Züchter, Bauern ist das Fast-Rundum-Werk Bella Italia angereichert.
italiaFast, sage ich, weil doch tatsächlich neun Regionen Italiens in diesem Riesenwerk ausgespart sind – Sardinien und Südtirol beispielsweise. Was ich nicht ganz nachvollziehen kann.
Nichtsdestotrotz sind die vorgestellten Köstlichkeiten so köstlich und Wasser-im-Mund-zusammenlaufen-lassend, dass ich eine Weile brauchen werde, um alle mal durchzuprobieren. Zumal die Fotos einen echt vom Kochen ablenken und zum Träumen bringen – wie bei den beiden anderen Werken auch schon …
Wenn Guy Grossi in der nächsten Saison dann vielleicht noch die fehlenden Regionen nachreicht, vielleicht als Teil 2 überschrieben,  könnte das Werk möglicherweise als Standardkochbuch für ganz Italien durchgehen.

Bis es soweit ist, werde ich mal öfter die Küche aufsuchen – oder gleich nach Italien reisen und mich vor Ort von den Könnern mit den Spezialitäten verwöhnen lassen.

Michael Langoth: Il Po. Kulinarische Impressionen, Edition Styria, 2014, 224 Seiten, 39,99 Euro
Laura Zavan: Venedig – Die KultrezepteAT Verlag, 2014,  272 Seiten, 29,90 Euro
Guy Grossi: Bella Italia. Das Kochbuch, Dorling Kindersley, 2014, 544 Seiten, 49,95 Euro

[Jugendrezension] Das Ende der Neuanfänge

friday„Wenn ich immer nur Anfänge hatte und meine Vergangenheit so perfekt war, dann würde die Zukunft niemals meine Erwartungen erfüllen.“

Das Leben der 17-jährigen Liliane Brown, Friday genannt, bestand bisher nur aus Neuanfängen, die sie mit ihrer Mutter Vivienne zusammen in Australien gemacht hat. Nach dem Tod ihrer Mutter wohnt Friday bei ihrem Großvater. Bei ihm ist sie gut aufgehoben, doch trotzdem fühlt sie sich nicht wohl und will weg. Sie will vergessen und wieder neu anfangen.

Durch einen Zufall kommt sie in eine Gang, die aus mehreren Straßenkindern in ihrem Alter besteht. Angeführt wird sie von der hübschen Arden. Alle fühlen sich bei Arden sicher, denn sie beschützt sie. Die Jugendlichen werden zu Fridays Freunden. Ihren einzigen Freunden. Zusammen wohnen sie in einem baufälligen Haus. Alles scheint in Ordnung, doch schnell merkt Friday, dass Arden alles bestimmt und die totale Kontrolle besitzt.
Als sie ihre Unterkunft verlassen und in eine Geisterstadt im australischen Outback fahren, passiert das Unfassbare: Einer aus der Gruppe wird tot aufgefunden. Als Friday herausfindet, wer ihn getötet hat, versucht sie mit den anderen alles, um aus der Geisterstadt hinaus zu kommen und zurück in die Stadt zu fahren. Es beginnt ein spannendes Abenteuer.

Das Buch Zeit zu gehen Friday Brown von Vikki Wakefield hat mir sehr gut gefallen. Anfangs war ich noch nicht ganz überzeugt und auch etwas skeptisch, doch nach und nach verschwanden meine Zweifel und waren schließlich komplett weg, denn die Geschichte entwickelte sich immer besser weiter. Zum Schluss war es sehr spannend und traurig zugleich, und die Geschichte war wirklich fantastisch. Somit kann ich das Buch nur weiterempfehlen.

Laura (15)

Vikki Wakefield: Zeit zu gehenFriday Brown, Übersetzung: Birgit Schmitz, FISCHER Sauerländer, 2014, 416 Seiten, ab 14, 14,99

Poetisch durchs Jahr

kinderkalenderDas Jahr neigt sich dem Ende. Man könnte langsam anfangen, Rückblick zu halten – oder sich auf das kommende Jahr freuen. Ich tu’s. Denn 2015 werde ich mich vom Arche Kinderkalender begleiten lassen.

Jede Woche gibt es da ein neues Gedicht, ein neues Bild, eine neue Überraschung. Kindergedichte und Nonsensverse aus 32 Ländern hat die Internationale Jugendbibliothek in München hier zusammengetragen. Und jedes ist eine Perle. Da trifft man auf Winterkatzen und Waschmaschinenhäuser, Möwen und Fledermäuse, Monster und Nashörner. Es spritzzt spritzzzt spritzzzzt … Wolken ziehen und Kirschen blühen.

Für mich als Übersetzerin gibt es zudem den schönen Mehrwert, dass die Gedichte aus anderen Ländern in ihrer Ursprungssprache abgedruckt sind. Sicher, ich kann kein Japanisch, Koreanisch, Hebräisch oder auch Niederländisch, aber bei Englisch, Italienisch, ein bisschen beim Spanischen, kann ich das Original lesen und dem Klang lauschen – und die Versionen der Kollegen bewundern und schätzen. Denn Gedichte zu übersetzen ist vielleicht die höchste Kunst: Musikalität, Sprachrhythmus, Reime, Verdichtung, Adaption, Übertragung von scheinbar Unübertragbarem, der Mut, ganz andere Lösungen zu finden, die aber die gleiche Wirkung im Deutschen erzeugen – die Herausforderungen bei Gedichtübersetzungen sind vielfältig und ich ziehe vor jedem den Hut, der sich daran wagt.

In Kinderzimmern werden die Gedichte zusammen mit den großartigen Illustrationen mit Sicherheit für Stauen sorgen, wie Gudrun Pausewang in ihrem Vorwort schreibt. Denn die Bilder „brauchen nicht übersetzt zu werden. […] Man muss sich nur Zeit zum Betrachten nehmen.“

Also nehmen wir uns die Zeit für diese poetische Wundertüte und entdecken die Welt dabei. Wir haben ein ganzes Jahr dafür.

Arche Kinder Kalender 2015. Mit 53 Gedichten und Bildern aus der ganzen Welt. Herausgegeben und ausgewählt von der Internationalen Kinderbibliothek, München. Mit einem Vorwort von Gudrun Pausewang, Arche Kalenderverlag, 2014, ab 5, 18 Euro

Anders sein

lorisIn unserer Gesellschaft nicht der vermeintlichen Norm  zu entsprechen ist schwierig. Für jeden. Für Kinder jedoch ist es noch um ein Vielfaches schwieriger, müssen sie ihr Selbstbewusstsein und ihr dickes Fell erst entwickeln und sich in den Untiefen der menschlichen Verhaltensweisen erst noch zurecht finden.

Zwei Bücher nun versuchen, Kindern, die anders sind, und ihren Familien und Freunden zu helfen und den Rücken zu stärken. Bei den Lesern schaffen sie Verständnis.

In Ich bin Loris erzählt der neunjährige Loris wie er als Autist die Welt erlebt und sein Leben gestaltet. Er sammelt Uhren, mag geregelte Tagesabläufe und kann supergut Mathe. Schwieriger ist es für ihn, wenn Gruppenarbeit in der Schule ansteht. Das strengt ihn an, denn wildes Durcheinander macht ihn schwindelig. Als er jedoch mit Annika und Leo über ein Tier berichten soll, nimmt er die Herausforderung an. Durch seine besondere Beobachtungsgabe trägt Loris dazu bei, dass die Kinder die verschwundene Katze einer Nachbarin wiederfinden und dabei ein schöne Überraschung erleben. Gleichzeitig erfährt Loris, dass es manchmal gar nicht so schlimm ist, wenn ein Tag nicht genau gleich verläuft.

Jungen Lesern werden hier die Verhaltensweisen von Autisten durch den Ich-Erzähler Loris einfach erklärt. Da man Loris sofort ins Herz schließt, nimmt man auch seine „Macken“ als ganz selbstverständlich an, so wie es Annika und Leo tun. Dabei bereichern sich die Kinder gegenseitig.
Loris‘ Geschichte wird von schwarz-grauen Illustrationen flankiert, in denen Loris mit seinem rote Pulli heraussticht. Die Farbe markiert ihn zwar als anders. Doch ohne ihn würde in den Bildern etwas fehlen  – so wie im Leben und in der Gesellschaft etwas Wichtiges fehlen würde, wenn es keine Menschen gäbe, die anders sind. Sie machen das Grau bunt.

andersDas Bilderbuch Samus ganzer Stolz schildert die Geschichte des Igels Samu, einem aufgeweckten Zeitgenossen, in den alle Mädchen aus dem Dorf  verschossen sind. Doch eines Tages verliert Samu seine Stacheln. Der glücklichste Igel der Welt verwandelt sich in ein nacktes Wesen, das sich vor den anderen schämt. Zum Glück aber gibt es Ricky, die zu Samu steht und ihn so nimmt, wie er ist. Happy End und Familiengründung inklusive.

Dieses niedliche Igel-Buch entstand aus einem ernsten Grund. Der Sohn der Schweizer Autoren erkrankte mit vier Jahren an Kreisrundem Haarausfall am ganzen Körper (Alopecia areata universalis). Mit Samus Geschichte wollten sie ihm zeigen, dass Schönheit, Einzigartigkeit und Liebe nicht von so etwas „Nebensächlichem“ wie Haaren abhängt. Dieses Buch macht Mut, jungen und alten Lesern. Erkrankten Kindern gibt es Halt und eine knuffiges Vorbild, dem man gerne nachfolgt. Das Buch bringt zwar die verlorenen Haare nicht zurück, doch es steigert das Selbstbewusstsein ganz ungemein. Und das kann man in allen Lebenslagen gut gebrauchen.

Pascale Hächler/Barbara Tschirren/Martine Mambourg: Ich bin Loris
Kindern Autismus erklären, Balance buch + medien, 2014, 40 Seiten, ab  5,  14,95 Euro

Jacqueline und Daniel Kauer: Samus ganzer Stolz. Ich bin anders. Na und?, KaleaBook, 2014,  36 Seiten,  ab 4, 20 Euro

Die Leere füllen

lochBücher mit Löchern sind was Tolles. Das fand ich schon als Kind, als ich Die kleine Raupe Nimmersatt von Eric Carle rauf und runter gelesen habe. Vergangenes Jahr lieferte Jimi Lee ein weiteres Buch mit Loch, das mich begeistert hat, Unsere Erde. Und nun das: Das Loch von Øyvind Torseter.

Das Loch ist gar nicht groß. In der Mitte der fast quadratischen Seite klafft es. Anfangs ist das Loch in der Wand, als die Hauptfigur, ein mauseohriges Wesen, in seine neue Wohnung zieht. Es ist einfach da, man erfährt nicht, woher es kommt, warum es dort ist. Es ist. Einfach. Da.

Der neue Hausbewohner findet das natürlich nicht toll, das Loch in der Wand. Er geht ihm auf den Grund. Denn normalerweise ist ein Loch ein Schaden, etwas, das kaputt ist und nicht so sein soll. Und nun wandelt sich das Loch. Es wird zu Waschmaschinenöffnung, wandert von der Wand zum Boden, prangt plötzlich in der Tür, dann im Schrank. Der Bewohner fängt es ein, steckt es in einen Karton, bringt es in ein Labor, damit es untersucht wird, das Loch. Auf dem Weg dahin wird das Loch zum Rad, zur Ampel, zum Gulli, Luftballon, Auge, Nasenloch, Lampe, Mülleimer, Sonne, Mond …

Mit zarten Strichen lenkt Øyvind Torseter die Aufmerksamkeit auf die Leere, das Rund, den Kreis. Jede Seite bietet eine neue Überraschung, nicht wo das Loch ist, das ist immer in der Mitte der Seite, sondern was es ist. Die Leere füllt sich mit Bedeutung. Man kann die Geschichte schlicht als einen Tag im Leben einer mauseohrigen Figur lesen. Doch gleichzeitig fängt man an zu grübeln. Über Löcher an und für sich, über die Leere und das Nichts, und womit wir das füllen und ob das überhaupt notwendig ist.
Kleine Leser werden staunen und mit Entdeckersinn jede Seite erkunden, das philosophische Denken wird sich im Laufe der Zeit dann in ihr Bewusstsein schieben. Der Entdeckung der Welt um uns herum wird so auf ganz entzückende Weise Vorschub geleistet. Eine schönere Aufgabe kann ein Loch eigentlich nicht haben.

Øyvind Torseter: Das Loch, Übersetzung: Maike Dörries, Gerstenberg Verlag, 2014, 64 Seiten, ab 4, 19,95 Euro

[Gastinterview] Jeder Augenblick zählt

brownerHeute gibt es die Premiere einer quasi Gemeinschaftsrezension. Ausgangspunkt ist das Buch Alles geschieht heute des New Yorker Autors Jesse Browner, dem ich im ersten Moment mit Skepsis begegnet bin. Ohne Kapitel und dafür mit Bandwurmsätzen entfaltet sich die  Gefühlswelt von Wes, zwischen Party, der MS-kranken Mutter, dem gescheiterten Vater und einem Kalbsbries-Rezept, im Zeitraum eines Tages. Auch wenn ich Bandwurmsätze nicht besonders mag, war ich nach den ersten Seiten gefesselt von Wes‘ Welt, die kurz vor dem Kollaps zu stehen scheint, nur weil er zum ersten Mal mit einem Mädchen geschlafen hat. Dem falschen, wie er glaubt …

Nach der mitreißenden Lektüre erfuhr ich auf der Buchmesse in Frankfurt, dass die Tochter der Übersetzerin Anne Brauner den Autor in New York getroffen und interviewt hat. Großartigerweise hat Tabea Brauner sich bereit erklärt, ihr Interview auf letteraturen zu veröffentlichen. Herzlichen Dank dafür!

 

Everything Happens Today – Alles geschieht heute!
“It’s a frame that I love, because it makes every moment count!”

Wie der Titel schon sagt, porträtiert Jesse Browner einen einzigen Tag im Leben des 17- jährigen Wes, eines philosophischen, intelligenten New Yorkers, der hin und hergerissen ist zwischen der intellektuellen, unnahbaren Delia und der verführerischen, frechen Lucy, die Gerüchten zufolge eine Schlampe sein soll. Als gäbe ihm das nicht genug zu denken, muss er sich auch noch mit seiner schwer kranken Mutter und seinem wortkargen Vater herumschlagen und sich um seine jüngere, süße Schwester kümmern, die sich manchmal wohl eher um ihn zu kümmern scheint. Gleichzeitig möchte er in der Schule seinen Ruf als bester Literat aufrechterhalten und sucht sich für eine Hausarbeit ausgerechnet Krieg und Frieden von Leo Tolstoi aus.

Tabea Brauner: Jesse, für wen würden Sie sich entscheiden, Delia oder Lucy?

Jesse Browner: Die Inspiration zu Delias Charakter stammt von einem Mädchen, in das ich verliebt war, als ich so alt war wie du. Ich war total verrückt nach ihr, aber sie hat mir nicht gut getan. Mir gefällt Lucy (außer, dass sie zu jung für mich ist), und ich hätte gern so jemanden wie sie kennengelernt, der es mir gesagt hätte, wenn ich mich in Gefühlsdingen dämlich anstelle. So jemand kann sehr hilfreich sein!

Was hat Ihre Jugend mit der von Wes gemeinsam?

Meine Mutter war genau wie Wes’ Mutter sehr krank und starb, als ich 15 war. Natürlich verdrängt man diese schrecklichen Erinnerungen, und in meinem Alter ist es, als würde ich in einem Koffer wühlen und das Gesuchte wäre ganz unten vergraben.
Ich habe schon immer viel gelesen und mich in die Geschichten hinein geträumt. Meine Intellektualität ist ähnlich ausgeprägt wie bei Wes, aber auch meine bescheuerten Seiten finde ich in ihm wieder.

Welche Bedeutung haben die Flirt-SMS zwischen Lucy und Wes auf der Party?

Ich habe meine Töchter beobachtet. Wir alle haben iPhones, aber sie benutzen ihre nicht zum Telefonieren, sondern ausschließlich zum Simsen. Das Handy sollte sozusagen einen eigenen Charakter haben, mit dem ich nicht nur die natürliche Verständigung darstellen kann, sondern auf symbolische Art auch die Nicht-Kommunikation beim SMS-Schreiben.

Wes durchlebt einen ganz besonderen Tag voller verschiedener Gefühle – gab es so einen auch in Ihrem Leben?

Nein. Ich bezweifele, dass viele Menschen im wirklichen Leben einen solchen Tag erlebt haben. Es geht auch nicht darum, dass alles unbedingt an einem Tag geschehen sollte, sondern darum, dass die Dinge wahrheitsgetreuer erscheinen, wenn sie nicht der Wirklichkeit entsprechen.
Die Handlung in meinem Roman The Uncertain Hour findet ebenfalls innerhalb von zwölf Stunden statt. Ich liebe diesen Rahmen!

Jesse Browner, Schriftsteller, ausgezeichneter Übersetzer und Food-Journalist wurde in London geboren. In den vergangenen Jahren sind von ihm die Romane The Uncertain Hour (Bloomsbury 2007) und The Duchess Who Wouldn’t Sit Down: An Informal History of Hospitality (Bloomsbury 2003) erschienen. Zudem übersetzt er unter anderem Werke von Jean Cocteau, Paul Éluard und Rainer Maria Rilke. Journalistische Beiträge Browners finden sich in Magazinen wie The New York Times Book Review, New York magazine sowie in Food & Wine und Gastronomica.
Der Autor wohnt mit seiner Frau und zwei Töchtern in Lower Manhattan.

Tabea Brauner (18) führte das Interview in New York.

Jesse Browner: Alles geschieht heuteÜbersetzung: Anne Brauner,  Freies Geistesleben, 2014, 249 Seiten, 19,90 Euro, als E-Book 16,99 Euro.