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Eine von vielen, eine wie viele, eine wie keine.

samiaDie Nachrichten dieser Wochen sind fürchterlich. Die Welt scheint ein horrender Ort zu sein. Und Abhilfe nirgends. Gefühlt zumindest. Man möchte sich verkriechen.

Und dann gibt es diese Lichtblicke, die erinnern, würdigen, aufklären, Verständnis befördern. Reinhard Kleists Graphic Novel Der Traum von Olympia ist so ein Lichtblick. In Fortsetzungen bereits im vergangenen Jahr in der FAZ erschienen, liegt die Geschichte jetzt als Buch vor.

Darin erzählt er von der Somalierin Samia Yusuf Omar, die 2008 in Peking bei den Olympischen Spielen im 200-m-Lauf ihr Land vertrat. Und Letzte wurde. Die Herzen der Zuschauer allerdings eroberte sie im Sturm, war sie doch das beste Beispiel des olympischen Gedankens „Dabeisein ist alles“. Für die damals 17-Jährige öffnete sich eine neue Welt, die nichts mit dem Krieg und den islamistischen Milizen in ihrer Heimat gemein hatte. In Samia wuchs der Wunsch, 2012 erneut bei Olympia, dieses Mal in London, anzutreten. Für diesen Traum war sie bereit alles zu tun. Sie trainierte im zerbombten Stadion von Mogadischu, versuchte, Anschluss an die Olympia-Mannschaft von Äthiopien zu bekommen. Vergeblich. Frauen waren dort im Sport nicht erwünscht.
So machte sie sich auf nach Europa. Zusammen mit ihrer Tante zahlte sie Schleppern viel Geld, die Frauen liefen zu Fuß durch die Wüste, wurden in stickigen Containern zusammengepfercht, verloren sich aus den Augen. Samia haderte, verzweifelte fast, doch der Wunsch bei Olympia anzutreten, trieb sie weiter, durch Äthiopien, den Sudan, durch Libyen, bis nach Tripolis. Dort landete sie im Gefängnis, zahlte noch mehr Geld, um schließlich auf einem viel zu kleinen Schlauchboot über das Meer zu tuckern. Samia überlebt diese Fahrt nicht.

Sie gehört zu den vielen Menschen, die seit Jahren im Mittelmeer ihr Leben lassen und die hierzulande ganz schnell in Vergessenheit geraten. Kleists Graphic Novel erzählt gegen dieses Vergessen und zeigt in eindrucksvollen handgefertigten Tuschezeichnungen, dass keiner der Menschen, die über das Meer flüchten, aus Vergnügen die körperlichen und seelischen Qualen auf sich nimmt. Das sollten wir, die wir trocken, sicher und bequem auf dem Sofa sitzen, nie vergessen.
Wir haben auf diesem Sofa zwar auch keine Lösung für diese Dramen und ihre komplexen Ursachen parat, aber wir werden nach der Lektüre von Kleists Der Traum von Olympia den Menschen, die zu uns kommen, anders begegnen. Respekt- und hoffentlich auch verständnisvoller.

Hatte ein Journalist Samia Yusuf Omar 2008 noch als „skurrile Fußnote in den Statistikbüchern“ bezeichnet, so würdigt Kleist sie nun als einen Menschen, eine junge Frau, die bereit war, für ihren Traum alles zu geben. So wird sie zu einer Stellvertreterin all derer, die sich ebenfalls auf den Weg machen, um ein sicheres, einträgliches Leben zu führen. Sie wird zur Mahnerin für die, die es nicht geschafft haben, und sie wird zum Vorbild, worum es bei Olympia einmal ging.
Reinhard Kleist kann man für diese Arbeit nicht genug danken.

Reinhard Kleist: Der Traum von Olympia. Die Geschichte von Samia Yusuf Omar, Carlsen, 2015, 152 Seiten,  ab 14, 17,90 Euro

Die Fragen der Mentalität

kriegFiktive Geschichten über den ersten Weltkrieg habe ich bereits hier, hier und hier vorgestellt. Sie lassen die Geschehnisse für junge Leser lebendig werden, können jedoch immer nur Teile einer komplizierten weltpolitischen Entwicklung anreißen.

Einen Versuch, in einem Sachbuch, die Zeitläufte um den ersten Weltkrieg verständlich zu machen, unternimmt Nikolaus Nützel in seinem Buch Mein Opa, sein Holzbein und der Große Krieg. Ausgangspunkt ist für ihn das Schicksal seines Großvaters, der bereits am 24. August 1914 so schwer im Kampf verletzt wurde, dass ihm ein Bein amputiert werden musste. Für die Familie war dies später immer ein Freudentag, denn für den Großvater war der Krieg damit bereits vorbei.

Dass dies natürlich nicht für alle Soldaten galt, schildert Nützel dann im Folgenden ausführlich, gut verständlich und sehr weitsichtig. Er beschränkt sich nämlich nicht nur auf die Jahre 1914-1918, auf Schlachtendarstellungen, Grabenkämpfe und die Not der Zivilbevölkerung, sondern bindet die Ereignisse in die politischen Strömungen ein und zeigt immer wieder deren Einflüsse bis zum 2. Weltkrieg und bis in unsere Gegenwart auf. Vor allem jedoch macht er die Mentalität und die Denkweisen der Deutschen und ihrer europäischen Nachbarn vor hundert Jahren klar.
Fällt es uns heute schon schwer manche aktuelle Überzeugungen zu verstehen, so erscheint uns das Denken von vor hundert Jahren umso fremder und ferner. Nützel jedoch versteht es, genau dieses Denken zu erklären und einzuordnen.

Das, was im Geschichtsunterricht – zumindest so, wie ich ihn noch erlebt habe – ungeklärt und mysteriös blieb und bleibt, wird hier beantwortet. Allen voran die „Hä-Frage“ (großartig!), nämlich wieso der Mord an dem österreichischen Thronfolgerpaar in Sarajevo den ersten Weltkrieg auslösen konnte. Nützel bringt immer wieder sein persönliches Unbehagen und seine Schwierigkeiten mit ein, die Mentalität von damals zu verstehen. Damit begibt er sich auf eine sehr angenehm unprätentiöse Art auf die Augenhöhe der jungen Leser, die all die geschichtlichen Fakten, die Kriegs-Grausamkeiten und die unverständlichen Winkelzüge von Erwachsenen natürlich nicht sofort verstehen können. Und genau diese Erzählweise, die immer dicht an den Wünschen und Ängsten der Menschen bleibt, macht Nützels Buch auch für Erwachsene zu einer erhellenden Bereicherung.

Das Buch Mein Opa, sein Holzbein und der Große Krieg ist mit jeder Menge Bildern, Karten, Original-Dokumenten sowie Glossar, Zeittafel und weiterführender Literatur ausgestattet – und wird damit zu einem überaus vielschichtigen und anregenden Geschichtsbuch, das Lust darauf macht, die Historie genauer zu betrachten.

Nikolaus Nützel: Mein Opa, sein Holzbein und der Große Krieg. Was der Erste Weltkrieg mit uns zu tun hat. Nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2014, Kategorie Sachbuch, arsEdition, 2014, 144 Seiten,  ab 12, 14,99 Euro