Geschwister und andere Katastrophen

Da kann man sich tausendmal vernünftigerweise sagen, dass Blut nicht dicker als Wasser ist und nur weil man mit jemandem genetisch verwandt ist, man nicht automatisch mit ihm verbunden ist: Die Beziehung zwischen Geschwistern ist und bleibt speziell, zwischen Schwestern, die sich altersmäßig kaum unterscheiden, extrem.

Lauren Oliver hat mit Als ich dich suchte ein besonderes Buch über zwei Schwestern geschrieben. Ein Roman, der gleichzeitig auch Krimi, Psychothriller und zarte Liebesgeschichte ist. Ein Buch, das einen gleich packt und nicht mehr loslässt, weil es provokativ beginnt: „Das Komische daran, beinahe gestorben zu sein, ist, dass anschießend alle meinen, du müsstest ununterbrochen auf dem Glückstrip sein, Schmetterlingen im grünen Gras nachjagen oder in jeder Ölpfütze auf dem Highway einen Regenbogen entdecken. Das Leben ist ein Geschenk, um das du nie gebeten hast, das du dir nie gewünscht hast, nie haben wolltest.“

Wer jetzt glaubt oder auch fürchtet, dass nach diesem lakonisch-abgeklärtem Auftakt die große Glücksbärchi-Geschichte folgt und zum Schluss die Erzählerin Nick mit Schmetterlingen tanzt und das Leben begeistert umarmt, dass es nur so kracht, der wird zum Glück enttäuscht. Zur Zeit ist es bei Prominenten jeden Alters angesagt, permanent von „Demut“ zu sprechen, die sie angesichts ihres Lebens empfinden, von „Dankbarkeit“ für das, was sie haben.

Nick aber hat allen Grund, stinksauer auf ihr Leben zu sein: Ihre knapp ein Jahr jüngere Schwester Dara, die immer im Mittelpunkt steht, die alle lieben, die jeden haben könnte, hat ausgerechnet Nicks besten Freund seit Kindertagen geküsst. Ihr Vater hat die Familie für eine schönheitsoperierte, flachsinnige Witwe verlassen, die Mutter ist seitdem ein tablettengesteuerter Schatten ihrer selbst. Beide Schwestern hat es aus der Bahn einer glücklichen Kindheit geworfen. Dann erleiden die Mädchen einen schrecklichen Autounfall und fortan spricht Dara nicht mehr mit Nick. In Rückblenden und Zeitsprüngen wird aus der Sicht von Nick und Dara erzählt, wie es zu dieser Katastrophe gekommen ist. Parallel sorgt das rätselhafte Verschwinden eines neunjährigen Mädchens für zusätzliche Spannung. Und irgendwann ist auch Dara nicht mehr da. Vanishing Girls lautet der Originaltitel von Olivers neuem Jugendroman. Als ich dich suchte trifft es jedoch fast besser, weil Nick nicht nur ihre Schwester wiederzufinden versucht. Und nicht zuletzt ist da auch noch Nicks Freund, der Nachbarsjunge Parker …

Das alles verknüpft Lauren Oliver virtuos und erzählt mitreißend und unprätentiös, treffsicher übersetzt von Katharina Diestelmeier. Wiederholt finden sich so kluge, hellsichtige Sätze und Beobachtungen wie „das ist das Blöde an Therapeuten: Man bezahlt sie dafür, dass sie einem denselben Quatsch erzählen, den andere umsonst sagen.“ Oder: „Ist dir schon mal aufgefallen, dass wirklich glückliche Paare nicht das Bedürfnis haben, andauernd miteinander rumzuhängen?“

Neben dem echten Krimi, der mutmaßlichen Entführung einer Grundschülerin, spielt das wahre Drama zwischen den so unterschiedlichen Schwestern: Wie können sich zwei Menschen so nah und doch so fern sein? Nie ausgesprochene Eifersucht, Neid, Groll, Bewunderung und angeeignete Rollen führen zu grotesken Missverständnissen.

Die Lösung und gleichzeitig Katharsis der Geschichte kommt überraschend. Cineasten fühlen sich an einen Psychothriller vom Ende der 90er Jahre erinnert, aber der ist für die jugendliche Zielgruppe sicher entschieden zu lange her. Als ich dich suchte startet durch seine atmosphärisch dichte Erzählweise, plastische Charaktere und intensiv beschriebenen, widersprüchlichen Gefühle sofort ganz großes Kopfkino. Und sollte auch dieses Buch wie aktuell Lauren Olivers Debüt Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie (Carlsen 2010, Originaltitel Before I fall) verfilmt werden, wird es selbst für begnadete Schauspielerinnen schwer, die emotionale Vielfalt zu spielen.

Dieser mit schlagkräftiger Direktheit, lakonischem Witz und berührender Zartheit geschriebene Roman über Geschwisterhassliebe, Schuld und Sühne ist ein Plädoyer fürs Lesen. Und nicht zuletzt hervorragende Ferienlektüre.

Elke von Berkholz

Lauren Oliver: Als ich dich suchte, Übersetzung: Katharina Diestelmeier, Carlsen, 2017, 368 Seiten, ab 13, 19,99 Euro

Heldenhaft offenherzig

tessaWenn man sich auf Montage freut, kann es eigentlich nur einen Grund geben: Man sieht nach einem endlos erscheinenden Wochenende einen geliebten Menschen wieder. Das jedenfalls stellt Paul, 11 Jahre, in Lena Hachs erstem Kinderbuch Ich, Tessa und das Erbsengeheimnis ziemlich verwundert fest.

Seit Tessa mit ihrem Vater im Haus gegenüber eingezogen ist, hat Möchte-gern-Detektiv Paul eine neue ZP – Zielperson – direkt vor der Tür. Paul beobachtet, macht sich Notizen und ja, man kann es nicht anders sagen, er entbrennt auf den ersten Blick für die rotgelockte Tessa, die ihn irgendwie an sein Lieblingseis, Kirsch-Sahne, erinnert.

Doch die Liebe wäre langweilig, würde sie einfach so geschehen. Paul tastet sich langsam an Tessa heran, beobachte sie auf dem Weg zur Schule und im Unterricht. Im Gegensatz zu Paul ist Tessa ein Mathegenie, allerdings mit merkwürdigen Eigenheiten: die Pause verbringt sie im Gebäude, auf der Straße macht sie merkwürdige Hüpf- und Trippelschritte, freundliche Angebote vom beliebtesten Mädchen der Klasse schlägt sie aus.

Jeder andere Junge hätte vermutlich die Segel gestrichen, sich an die Stirn getippt und wäre bolzen gegangen. Nicht so Paul. Das wohlige Gefühl im Bauch, sobald er Tessa sieht, ist einfach zu schön. Und merkwürdig sind wir doch alle ein bisschen. Also bleibt er dran und knüpft tatsächlich erste freundschaftliche Bande zu Tessa. Nach und nach bekommt er heraus, warum Tessa ständig den Inhalt ihres Schulrucksackes kontrolliert, Rillen ausweicht und die Erbsen erst zählen muss, bevor sie sie isst.

Lena Hach erzählt in Ich, Tessa und das Erbsengeheimnis in liebevollem, leichtem Ton und einer Extraportion Sahne-Humor vom ersten Verliebtsein und von der Großherzigkeit von Kindern, anderen ihre „Macken“ zuzugestehen. Natürlich erfährt man im Verlauf des Buches, dass Tessa diese Macken nicht einfach so hat, sondern ein ernsthaftes psychologisches Problem dahinter steckt. Doch das ist im ersten Augenblick völlig wumpe. Paul sieht die Schönheit von Tessa, ganz gleich, womit sie im Leben zu kämpfen hat. Dieser Blick geht uns Erwachsenen leider oftmals viel zu schnell verloren, bzw. wir haben ihn schon gar nicht mehr, sehen wir doch meist nur die Probleme und Hindernisse, die bei einer Begegnung mit einem Fremden angeblich auf uns zukommen. Wir sollten uns mehr von Paul und seiner Offenheit abschauen, seiner uneingeschränkten Bereitschaft zu helfen – egal, ob das dann wirklich hilft oder eher kontraproduktiv ist. Paul ist auf jeden Fall ein Held, der klar macht, dass eine psychische Krankheit nicht der einzige und ausschließliche Aspekt eines Menschen ist, nachdem dieser bewertet werden darf.

Heldenhaft finde ich zudem die Erzählperspektive, die Lena Hach gewählt hat: Offensichtlich ist Paul der Ich-Erzähler, was jetzt nicht so etwas Besonderes wäre, ABER er spricht Tessa beständig an, so dass er die meiste Zeit in der zweiten Person Singular erzählt und das alles in der Vergangenheitsform. Das ist für mich so was von erfrischend! Die ganzen Ich-Erzählungen im Präsens aus den vergangenen Jahren haben mich echt geschafft, ich konnte nicht mehr – ernsthaft, manchmal habe ich Bücher sofort wieder zugeschlagen, wenn mir eine Ich-Figur im Präsens eine Geschichte erzählen wollte. Das ist sicher nicht nett und nicht fair, aber es war wie zu viel Kuchen, den man irgendwann nicht mehr runterbekommt – und jetzt gab’s zur Abwechslung endlich mal erzähltechnisches Kirsch-Sahne-Eis, vor dem ich höchsten Respekt  habe.  Diese Ich-Du-Kombination ist nicht ganz einfach durchzuziehen, vor allem, wenn es dann um vorzeitige Geschehnisse geht. Doch hier ist es perfekt gelungen. Der Ton ist leicht, man hört Paul ununterbrochen mit Tessa quatschen, selbst wenn sie nicht anwesend ist. Er wächst einem bereits nach den ersten Sätzen an Herz. Und durch dieses „Du“ kommt dem Leser auch Tessa ganz nah. Das Ich existiert nur durch das Du, so ähnlich sagte es Martin Buber. Es zeugt für mich vom höchsten Grad der Liebe. Und den zeigt uns Paul – wie gesagt – ganz heldenhaft.

Paul und Tessas Geschichte wird von leichten, sehr treffenden schwarzweiß Illustrationen von Kerstin Meyer begleitet. Der Held und seine Angebetete sind hervorragend getroffen, sie passen perfekt zum Text.
Doch – mag sein, dass ich jetzt pingelig werde, aber ich habe vor einiger Zeit schon mal darauf aufmerksam gemacht und werde es auch in Zukunft tun – eines hat mich gestört: das Bild der Großeltern! Ja, Pauls Großeltern sind alt und schon ewig miteinander verheiratet. Das heißt aber nicht, dass sie aussehen müssen, wie vor hundert Jahren. Ich sage nur: Nena ist Großmutter. Sie ist natürlich nicht das Maß aller Dinge, doch zur Orientierung, dass Großeltern in Bilder- und Kinderbüchern auch mal etwas jünger, modischer, heutiger dargestellt werden sollten, könnte sie schon dienen.
Sollte ich je die Illustration von jugendlichen Großeltern in die Hand bekommen, jenseits von irgendwelchen Oma- und Opa-Klischees, ich werde ein Fest feiern.

Bis dahin feiere ich Paul als den unerschrockenen, offenherzigen Held und Role-Model zukünftiger (Männer)Generationen!

Lena Hach: Ich, Tessa und das Erbsengeheimnis, Illustration: Kerstin Meyer, mixtvision, 2016, 248 Seit, ab 10, 12,90 Euro